Ein Traum

I.


Ich lebte um jene Zeit mit meinem Mütterchen in einer kleinen Seestadt. Ich war eben 17 Jahre alt geworden, meine Mutter war aber noch nicht 35; sie hatte sehr jung geheiratet. Mein Vater starb, als ich gerade 6 Jahre alt war, aber ich konnte mich seiner noch genau erinnern. Mütterchen war eine kleine blonde Frau mit einem schönen, doch ewig traurigen Gesicht, mit einer stillen, matten Stimme und schüchternen Bewegungen. In ihrer Jugend war sie als eine Schönheit berühmt und sie blieb bis an ihr Ende anziehend und anmutig. Ich habe nie tiefere, zartere und traurigere Augen, weichere und feinere Haare, nie vornehmere Hände gesehen. Ich vergötterte sie, und sie liebte mich... Doch unser Leben ging freudlos dahin: es war, als ob ein geheimer, unheilbarer und unverdienter Kummer beständig an den Wurzeln ihres Lebens nagte. Diesen Kummer konnte ich nicht nur mit der Trauer um meinen Vater erklären, so groß diese Trauer auch war, so heiß sie meinen Vater auch geliebt hatte, so heilig sie auch sein Andenken hielt... Nein, hier war noch etwas verborgen, was ich nicht wußte, was ich aber unbestimmt doch stark fühlte, so oft ich in ihre stillen unbeweglichen Augen oder auf ihre schönen gleichfalls unbeweglichen Lippen, die nicht in Verbitterung zusammengepreßt, aber gleichsam für ewig erstarrt waren, blickte.

Ich sagte eben, daß meine Mutter mich liebte; es gab aber auch Augenblicke, wo sie mich von sich stieß, wo ihr meine Gegenwart lästig und unerträglich war. Sie schien dann einen unwillkürlichen Ekel vor mir zu empfinden, – nachher erschrak sie selbst darüber, bat mich unter Tränen um Verzeihung und drückte mich an ihr Herz. Ich schrieb diese Ausbrüche von Haß ihrer zerrütteten Gesundheit und ihrem Unglück zu... Diese feindseligen Gefühle wären allerdings auch mit den seltsamen, mir selbst unbegreiflichen, bösen und verbrecherischen Regungen zu erklären gewesen, die sich manchmal in mir regten... Doch solche Anwandlungen fielen nicht mit den Augenblicken ihres Hasses zusammen. – Mütterchen kleidete sich immer in Schwarz. Wir lebten auf ziemlich großem Fuße, obwohl wir fast keine Bekannten hatten.



II.


Mütterchen hatte alle ihre Gedanken und Sorgen ständig auf mich gerichtet. Ihr Leben floß mit dem meinigen zusammen. Solche Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind für die Kinder nicht immer nützlich... eher sind sie schädlich. Außerdem war ich das einzige Kind meiner Mutter, und einzige Kinder entwickeln sich meistens höchst ungleichmäßig. Bei ihrer Erziehung sind die Eltern gewöhnlich ebensosehr um sich selbst, als um die Kinder besorgt... Und das kann unmöglich gut sein. Ich war weder verzogen noch verbittert (beides kommt bei einzigen Kindern vor), doch meine Nerven waren schon im frühen Alter zerrüttet; auch war ich von schwacher Gesundheit, wie die Mutter, der ich auch sonst nachgeraten war. Ich mied die Gesellschaft meiner Altersgenossen und war überhaupt menschenscheu; selbst mit meinem Mütterchen sprach ich sehr wenig. Am meisten liebte ich es, zu lesen, allein spazieren zu gehen und zu träumen, zu träumen! Was der Inhalt meiner Träume war, kann ich kaum sagen: ich hatte manchmal wirklich das Gefühl, als ob ich vor einer halbverschlossenen Türe, hinter der ein Geheimnis verborgen wäre, stände, und wartete, und die Schwelle nicht zu überschreiten wagte, und immer grübelte, was sich hinter der Türe befände – und ich wartete und wartete – oder schlief ein. Wenn in mir eine poetische Ader wäre, so hätte ich gewiß angefangen, Verse zu machen; wenn ich eine Neigung zur Religiosität verspürte, so wäre ich vielleicht Mönch geworden; aber weder das eine, noch das andere war bei mir der Fall, – und so fuhr ich fort, zu träumen – und zu warten.



III.


Ich erwähnte soeben, daß ich zuweilen unter Einwirkung von verworrenen Gedanken und Träumereien einschlief. Ich schlief überhaupt viel, und Träume spielten in meinem Leben eine große Rolle; fast jede Nacht hatte ich Träume. Ich vergaß sie nie, ich maß ihnen große Bedeutung zu, ich hielt sie für Vorbedeutungen und suchte sie mir auszulegen; einige Träume kehrten von Zeit zu Zeit wieder, was mir immer wunderbar und seltsam erschien. Besonders beunruhigte mich ein Traum: Mir träumte, ich ginge durch die schmale, schlechtgepflasterte Gasse einer alten Stadt, zwischen vielstöckigen Häusern mit spitzen Dächern. Ich suchte meinen Vater, der gar nicht gestorben war, sondern sich aus irgendeinem Grunde vor uns verborgen hielt und in einem dieser Häuser wohnte. Und ich trete in ein dunkles niedriges Tor, durchschreite einen langen, mit Brettern und Balken angefüllten Hof und gelange schließlich in ein kleines Zimmer mit zwei runden Fenstern. Mitten in diesem Zimmer steht mein Vater in einem Schlafrocke und raucht eine Pfeife. Er sieht ganz anders als mein wirklicher Vater aus: er ist schlank, hager, schwarzhaarig, hat eine Hakennase, mürrische, durchdringende Augen; er mag etwa vierzigjährig sein. Er ist sehr unzufrieden, daß ich ihn aufgefunden habe; auch ich freue mich gar nicht über diese Begegnung und stehe unentschlossen da. Er wendet sich etwas ab, beginnt etwas zu brummen und mit kleinen Schritten auf und ab zu gehen... Dann entfernt er sich allmählich von mir, immer noch brummend, und blickt immerfort über die Achsel nach mir zurück; das Zimmer erweitert sich und verschwindet im Nebel... Plötzlich wird mir ängstlich beim Gedanken, daß ich meinen Vater wieder verliere, ich stürze ihm nach, – sehe ihn aber nicht mehr – und höre nur noch sein böses Brummen... Mein Herz steht still – ich erwache und kann lange nicht wieder einschlafen... Den ganzen folgenden Tag denke ich an diesen Traum und kann ihn mir selbstverständlieh nicht erklären.



IV.


Im Juni belebte sich das Städtchen, in dem ich mit meiner Mutter wohnte, ganz außerordentlich. Zahllose Schiffe liefen im Hafen ein, zahllose neue Gesichter tauchten auf den Straßen auf. Ich liebte es, um diese Zeit auf den Quais, vor den Kaffeehäusern und Gasthöfen herumzuirren, die verschiedenen Matrosen und andere Menschen zu beobachten, die unter leinenen Sonnendächern vor kleinen, weißen Tischen saßen und aus Zinnkrügen Bier tranken.

Als ich so einmal an einem Kaffeehause vorüberging, erblickte ich einen Mann, der sofort meine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Mit einem langen, schwarzen Kittel bekleidet, den Strohhut tief ins Gesicht gedrückt, saß er ganz unbeweglich mit gekreuzten Armen. Dünne, schwarze Locken hingen ihm fast bis an die Nase herab, die schmalen Lippen hielten das Mundstück einer kurzen Pfeife umpreßt. Dieser Mann kam mir so bekannt vor, jeder Zug seines gelben Gesichtes und seine ganze Erscheinung war dermaßen in meinem Gedächtnisse eingeprägt, daß ich nicht umhin konnte, vor ihm stehen zu bleiben und mir die Frage vorzulegen: wer ist er, wo habe ich ihn schon gesehen? Da er wohl meinen unverwandten Blick auf sich ruhen fühlte, richtete er seine schwarzen, stechenden Augen auf mich... Ich schrie unwillkürlich auf...

Dieser Mann war jener Vater, den ich suchte, den ich im Traume gesehen hatte!

Ein Irrtum war ganz ausgeschlossen, – die Ähnlichkeit war zu auffallend. Selbst der langschößige, schwarze Kittel, der seine hageren Glieder umhüllte, erinnerte in seiner Farbe und Form an den Schlafrock, in dem mir mein Vater erschienen war.

»Schlafe ich denn nicht?« fragte ich mich... Nein... Jetzt ist ja Tag, ringsum lärmt die Menge, am blauen Himmel strahlt die Sonne, und vor mir ist kein Gespenst, sondern ein lebendiger Mensch.

Ich trat an ein unbesetztes Tischchen, ließ mir einen Krug Bier und eine Zeitung geben und setzte mich in die Nähe dieses rätselhaften Wesens.



V.


Indem ich die Zeitung in der Höhe meines Gesichtes hielt, fuhr ich fort, den Unbekannten mit den Augen zu verschlingen. – Er saß fast bewegungslos da und hob nur selten seinen gesenkten Kopf. Offenbar erwartete er jemand. Ich sah und sah... Zuweilen schien es mir, das Ganze sei Einbildung, von Ähnlichkeit sei eigentlich keine Spur, ich hätte mich nur von meiner Einbildungskraft täuschen lassen... So oft aber jener eine Bewegung machte, auf dem Stuhle ein wenig hin und herrückte, oder leicht die Hände hob, schrie ich beinahe wieder auf, denn ich erkannte in ihm wieder meinen »nächtlichen« Vater! – Er bemerkte schließlich meine zudringliche Aufmerksamkeit, blickte zuerst erstaunt, dann ärgerlich zu mir herüber und wollte aufstehen, wobei er seinen kleinen Rohrstock, den er an den Tisch gelehnt hatte, fallen ließ. Ich sprang sofort auf, hob ihn auf und reichte ihn ihm. Ich hatte heftiges Herzklopfen.

Er lächelte gezwungen, bedankte sich, näherte sein Gesicht dem meinigen, und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen und halboffenem Munde an; ich hatte auf ihn offenbar einen Eindruck gemacht.

»Sie sind sehr höflich, junger Mann,« sagte er mit trockener, scharfer und näselnder Stimme. »Heutzutage ist das eine Seltenheit. Gestatten Sie mir, Ihnen zu der guten Erziehung, die Sie genossen, zu gratulieren.«

Ich weiß nicht mehr, was ich ihm darauf antwortete; aber bald entspann sich zwischen uns ein Gespräch. Ich erfuhr, daß er ein Landsmann von mir und soeben aus Amerika zurückgekehrt sei, wo er viele Jahre gelebt habe und daß er bald wieder dorthin zurückzukehren gedenke. Er nannte sich Baron... den Namen konnte ich nicht verstehen. Wie mein »nächtlicher Vater,« so schloß auch er jeden Satz mit einem undeutlichen innerlichen Brummen. Er wünschte, meinen Namen zu erfahren... Als er ihn hörte, schien er sehr verwundert; dann fragte er mich, wie lange ich hier in der Stadt wohne und mit wem. Ich sagte, ich wohne bei meiner Mutter.

»Und Ihr Vater?« – »Mein Vater ist lange tot.« Er erkundigte sich nach dem Vornamen meiner Mutter und lachte dabei gezwungen auf; dann entschuldigte er sich und sagte, es sei eine üble amerikanische Angewohnheit, wie er auch sonst ein großer Sonderling sei. Schließlich fragte er mich nach unserer Adresse. Ich gab sie ihm.



VI.


Die Erregung, die sich meiner im Anfange unseres Gespräches bemächtigt hatte, legte sich allmählich; ich fand diese so rasch geschlossene Bekanntschaft etwas eigentümlich, und das war alles. Mir mißfiel das Lächeln, mit dem der Herr Baron seine Fragen stellte; mir mißfiel auch der Ausdruck seiner Augen, wenn er mich mit ihnen gleichsam durchbohrte... In diesen Augen lag etwas Raubgieriges und zugleich Herablassendes... etwas Unheimliches. Diese Augen hatte ich in meinen Träumen nicht gesehen. Seltsam war das Gesicht des Barons! Welk, müde, abgespannt und zugleich jugendlich, unangenehm jugendlich; Auch hatte mein »nächtlicher Vater« nicht jene tiefe Schramme, die bei meinem neuen Bekannten über die Stirne lief und die ich erst dann bemerkte, als ich mich ihm mehr genähert hatte.

Kaum hatte ich dem Baron den Namen der Straße und die Hausnummer unserer Wohnung mitgeteilt, als ein hochgewachsener Mohr, bis an die Augen in einen Mantel gehüllt, von hinten an ihn herantrat und ihm leise auf die Schulter klopfte. Der Baron wandte sich um und sagte: »Aha! Endlich!« Dann nickte er mir mit dem Kopfe zu und begab sich mit dem Mohren ins Innere des Kaffeehauses. Ich blieb allein draußen sitzen; ich wollte das Fortgehen des Barons abwarten, nicht, um ihn wieder anzusprechen, – (ich wußte eigentlich nicht, worüber ich noch mit ihm hätte sprechen können) – sondern um meine ersten Eindrücke nachzuprüfen. – Es verging aber eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, – der Baron zeigte sich nicht wieder. – Ich ging ins Kaffeehaus, lief durch alle Räume, fand aber nirgends weder den Baron, noch den Mohren... Die beiden waren wohl durch eine Hintertüre fortgegangen.

Mir schmerzte ein wenig der Kopf; um mich zu erholen, machte ich einen kleinen Spaziergang am Meeresstrande entlang bis zu dem großen Parke, der vor etwa zweihundert Jahren angelegt worden war. Nachdem ich gegen zwei Stunden im Schatten der riesengroßen Eichen und Platanen herumgewandert war, kehrte ich nach Hause zurück.



VII.


Sobald ich in unser Vorzimmer trat, stürzte mir unser Dienstmädchen ganz außer sich entgegen. Ich erriet sofort aus ihrem Gesichtsausdrucke, daß zu Hause während meiner Abwesenheit etwas Schlimmes vorgefallen war. Ich erfuhr auch wirklich, daß vor einer Stunde aus dem Schlafzimmer meiner Mutter ein gellender Schrei erklungen war; das herbeigeeilte Dienstmädchen hatte sie in tiefer Ohnmacht auf dem Boden liegen gefunden. Als meine Mutter zu sich kam, sah sie ganz erschrocken und verstört aus und mußte sich zu Bette legen; sie sprach kein Wort, beantwortete keine Frage, sah sich immer erregt um und zitterte. Das Mädchen schickte den Gärtner nach einem Arzt. Der Arzt kam und verschrieb ihr ein Beruhigungsmittel, doch wollte meine Mutter auch ihm nichts sagen. Der Gärtner behauptete, er hätte einige Augenblicke nach dem Aufschreien meiner Mutter einen unbekannten Mann gesehen, der über die Gartenbeete zum Tor gelaufen sei. (Wir bewohnten ein einstöckiges Haus, dessen Fenster nach einem ziemlich großen Garten gingen). Das Gesicht des Fremden hatte der Gärtner nicht sehen können; er sei aber hager und mit einem niederen Strohhut und einem langschößigen Rock bekleidet gewesen... »Die Kleidung des Barons!« ging es mir sofort durch den Kopf. Der Gärtner konnte ihn nicht einholen, man hatte ihn auch gleich ins Haus gerufen und nach dem Arzte geschickt. Ich ging zu meiner Mutter hinein. Sie lag auf dem Bette, blasser als das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte. Als sie mich erkannt hatte, lächelte sie matt und streckte mir ihre Hand entgegen. Ich setzte mich zu ihr und begann sie auszufragen; anfangs wich sie meinen Fragen aus, zuletzt gestand sie aber, daß sie etwas gesehen hätte, wovor sie so erschrocken wäre. – »Ist hier jemand gewesen?« fragte ich sie. – »Nein,« sagte sie hastig, »es war niemand hier, aber es schien mir... es kam mir vor...« Sie schwieg und bedeckte die Augen mit der Hand. Ich wollte ihr schon sagen, was ich vom Gärtner erfahren hatte, auch über meine Begegnung mit dem Baron wollte ich ihr berichten, aber die Worte erstarben mir, ich weiß nicht warum, auf den Lippen. Ich erlaubte mir jedoch, der Mutter zu bemerken, daß Gespenster am hellen Tage nicht zu erscheinen pflegen... »Laß mich,« flüsterte sie, »laß mich, bitte, quäle mich jetzt nicht. Du wirst es schon einmal erfahren...« Sie schwieg wieder. Ihre Hände waren kalt, der Puls ging schnell und ungleichmäßig. Ich gab ihr die Arznei ein und trat ein wenig zur Seite, um sie nicht zu beunruhigen. Sie blieb den ganzen Tag im Bette. Sie lag still und unbeweglich da, seufzte nur zuweilen tief und öffnete erschrocken die Augen. Wir alle waren ganz ratlos.



VIII.


Gegen Abend bekam meine Mutter ein leichtes Fieber und schickte mich fort. Ich ging aber nicht in mein Zimmer, sondern legte mich im Nebenzimmer auf den Divan und trat jede Viertelstunde auf den Fußspitzen an ihre Türe, um zu horchen... Alles blieb still; ich glaube aber kaum, daß meine Mutter in dieser Nacht ein Auge zugedrückt hat. Als ich am frühen Morgen zu ihr hineinging, schien ihr Gesicht erhitzt und ihre Augen hatten einen unnatürlichen Glanz. Im Laufe des Tages fühlte sie sich etwas besser, doch gegen Abend bekam sie wieder Fieber. Bis dahin hatte sie hartnäckig geschwiegen, nun begann sie mit hastiger, ungleichmäßiger Stimme zu erzählen. Sie phantasierte nicht, ihre Worte hatten einen Sinn, aber keinen Zusammenhang. Kurz vor Mitternacht richtete sie sich mit einem krampfhaften Ruck im Bette auf (ich saß neben ihr) und begann mit hastiger Stimme zu erzählen, wobei sie unaufhörlich schluckweise Wasser trank, matte Bewegungen mit den Händen machte, mich aber kein einzigesmal ans sah. Sie machte Pausen, gab sich dann wieder einen Ruck und fuhr von neuem fort... Dies alles war so sonderbar, als ob sie es im Schlafe täte, als ob sie selbst dabei nicht zugegen wäre, als ob ein anderer aus ihrem Munde spräche oder sie zu sprechen zwänge.



IX.


»Höre, was ich dir erzählen werde,« begann sie. »Du bist ja kein Kind mehr und mußt alles wissen. Ich hatte einst eine gute Freundin... Sie heiratete einen Mann, den sie von ganzem Herzen liebte, und sie war mit ihm sehr glücklich. Noch im ersten Jahre ihrer Ehe reisten sie in die Hauptstadt, um dort einige Wochen zu verleben und sich zu amüsieren. Sie stiegen in einem guten Gasthofe ab und gingen viel ins Theater und in Gesellschaft. Meine Freundin war schön und fiel allen auf; die jungen Leute machten ihr den Hof; unter ihnen war aber einer, ein Offizier. Er verfolgte sie auf Schritt und Tritt und wo sie auch war, – überall sah sie seine schwarzen, bösen Augen. Er ließ sich ihr nicht vorstellen und sprach niemals mit ihr, – er sah sie aber immer so sonderbar frech an. Alle Vergnügungen der Hauptstadt waren für sie durch seine Gegenwart vergällt; sie bat ihren Mann, so bald als möglich abzureisen, – und sie machten sich reisefertig. Eines Abends begab sich ihr Mann in einen Klub; einige Offiziere vom gleichen Regiment wie jener hatten ihn zum Kartenspiel eingeladen... Sie blieb zum ersten Male allein. Der Mann blieb lange aus; sie entließ ihr Mädchen und begab sich zu Bett... Da überkam sie plötzlich ein beklemmendes Gefühl, so daß sie ganz kalt wurde und schauderte. Es war ihr, als ob sie ein leises Geräusch hinter der Wand – wie das Scharren eines Hundes – hörte, und sie richtete ihren Blick auf die Wand. In der Ecke brannte ein Lämpchen; das ganze Zimmer war mit Stofftapeten ausgeschlagen... Plötzlich bewegte sich etwas, der Wandbehang hob sich... Und aus der Wand heraus trat schwarz und lang jener unheimliche Mensch mit den bösen Augen! Sie wollte aufschreien und konnte es nicht. Sie war ganz gelähmt vor Angst. Er ging schnell wie ein Raubtier auf sie zu, warf ihr etwas über den Kopf, etwas Schwüles, Schweres, Weißes... Was weiter geschah, weiß ich nicht... weiß ich nicht! Es war wie der Tod, wie ein Mord... Als sich dieser schreckliche Nebel endlich verzog, als ich... als meine Freundin zu sich kam, war niemand im Zimmer. Sie konnte noch lange nicht schreien, und als sie endlich aufschrie, verlor sie gleich wieder die Besinnung...

Später sah sie ihren Mann neben sich, den man bis zwei Uhr nachts im Klub aufgehalten hatte... Er war ganz blaß vor Schreck. Er begann sie auszufragen, aber sie sagte nichts... Dann wurde sie krank... Doch ich erinnere mich: als sie einmal allein im Zimmer war, untersuchte sie jene Stelle an der Wand... Unter der Stofftapete fand sie eine Geheimtüre. Sie hatte ihren Trauring verloren. Dieser Ring war von ungewöhnlicher Form: Sieben goldene Sterne wechselten auf ihm mit sieben silbernen Sternen ab; es war ein alter Familienschmuck. Der Mann fragte sie, was mit dem Ring geschehen sei, sie konnte ihm aber keine Antwort geben. Der Mann glaubte, sie hätte ihn irgendwo fallen lassen und suchte überall, fand ihn aber nicht. Auch ihn ergriff Unruhe; er beschloß, so schnell als möglich nach Hause zu reisen, und sobald der Arzt es erlaubte, verließen sie die Hauptstadt... Aber denke dir nur! Am Tage ihrer Abreise stießen sie auf der Straße auf eine Tragbahre... Und auf dieser Bahre lag ein eben ermordeter Mann mit gespaltenem Schädel – denke dir nur! – es war jener nächtliche Gast mit den bösen Augen... Man hatte ihn beim Kartenspiel erschlagen!

Dann reiste meine Freundin aufs Land... sie wurde zum erstenmal Mutter... und lebte noch einige Jahre mit ihrem Mann. Er erfuhr niemals etwas; was hätte sie ihm auch erzählen können? Sie wußte ja selbst nichts.

Doch das frühere Glück war verschwunden. Das Leben der Ehegatten wurde finster, und diese Finsternis hellte sich nie wieder auf... Weitere Kinder bekamen sie nicht, und dieser Sohn...«

Mütterchen erbebte am ganzen Körper und bedeckte das Gesicht mit den Händen...

»Aber sag mir jetzt,« fuhr sie mit verdoppelter Kraft fort, »hat meine Freundin etwas verbrochen? Was kann sie sich vorwerfen? Sie war hart gestraft; hatte sie aber nicht das Recht, vor Gott selbst zu erklären, daß die Strafe, die sie getroffen, ungerecht und unverdient war? Warum wird sie nun wie eine Verbrecherin von Gewissensbissen gepeinigt, warum erscheint ihr das Vergangene noch jetzt, nach vielen Jahren, so grauenvoll? Macbeth hat Banko ermordet, und es ist ganz natürlich, daß er ihn immer vor sich sieht... aber ich...«

Hier wurde die Rede meiner Mutter so verworren, daß ich sie nicht mehr verstand... Ich zweifelte nicht mehr daran, daß sie phantasierte.



X.


Jeder wird leicht begreifen, welchen erschütternden Eindruck die Erzählung meiner Mutter auf mich machte! Ich hatte gleich beim ersten Wort begriffen, daß sie von sich selbst und nicht von einer Freundin sprach; sie hatte sich ja auch einmal versprochen, und dies bestätigte nur meine Vermutung. Also war dieser Mann, den ich im Traume gesucht und jetzt auch im Wachen gesehen hatte, wirklich mein Vater. Er war nicht ermordet, wie meine Mutter glaubte, sondern nur verwundet... Er hatte sie wohl besucht und war, durch ihren Schreck erschreckt, davongelaufen. Plötzlich wurde mir alles klar; das Gefühl der unwillkürliehen Abneigung, welches meine Mutter zuweilen gegen mich empfand, ihr ewiger Gram und unsere Zurückgezogenheit... Ich entsinne mich noch, daß mich ein Schwindel erfaßte, daß ich mit beiden Händen nach meinem Kopfe griff, als ob ich ihn festhalten wollte. Aber ein Gedanke setzte sich in meinem Kopfe fest; ich wollte unbedingt, koste es was es wolle, jenen Mann wieder aufsuchen! Warum? Welchen Zweck sollte das haben? Darüber legte ich mir keine Rechenschaft ab, aber ich mußte ihn aufsuchen, das war mir eine Lebensfrage! Am nächsten Morgen beruhigte sich meine Mutter endlich, das Fieber wich... sie schlief ein. Ich überließ sie der Fürsorge der Hausleute und der Dienerschaft und machte mich auf die Suche.



XI.


Vor allen Dingen begab ich mich selbstverständlich ins Kaffeehaus, wo ich den Baron zuerst gesehen hatte; aber dort kannte ihn niemand, niemand hatte den zufälligen Gast auch nur bemerkt. Auf den Mohren konnten sich die Wirtsleute wohl besinnen, denn dieser fiel zu sehr in die Augen, aber wer er war und wo er wohnte, wußte niemand. Ich ließ für alle Fälle im Kaffeehaus meine Adresse zurück und begann dann alle Straßen in der Nähe des Hafens, alle Quais und Boulevards der Stadt abzusuchen, sah in alle öffentlichen Lokale hinein, fand aber nichts, was dem Baron oder seinem Begleiter ähnlich sähe!... Da ich den Namen des Barons nicht verstanden hatte, war es mir auch nicht möglich, bei der Polizei Erkundigungen einzuziehen; ich gab aber einigen Polizeidienern (die mich allerdings erstaunt und mißtrauisch ansahen) unter der Hand zu verstehen, daß sie von mir eine anständige Belohnung bekommen würden, wenn es ihnen gelänge, die Spuren jener zwei Personen, deren Äußeres ich ihnen so genau wie möglich bebeschrieb, aufzufinden. Nachdem ich auf diese Weise den ganzen Vormittag umhergelaufen war, kehrte ich erschöpft nach Hause zurück. Meine Mutter hatte das Bett verlassen, doch hatte sich zu ihrer gewöhnlichen Trauer etwas Neues hinzugesellt, eine wehmütige Ratlosigkeit, die mir wie ein Messer in das Herz schnitt. Den Abend blieb ich an ihrer Seite. Wir sprachen fast nichts: sie legte Patiencen, und ich sah schweigend in ihre Karten. Sie kam mit keinem Wort auf ihre Erzählung und auf die gestrigen Vorgänge zurück. Es war, als ob wir eine stillschweigende Verabredung getroffen hätten, alle die unheimlichen und seltsamen Vorgänge nicht zu berühren... Sie bereute anscheinend schon, daß sie sich zu dieser Erzählung hatte hinreißen lassen; vielleicht erinnerte sie sich auch nicht mehr genau, was sie mir alles in ihrem Fieberzustand erzählt hatte, und hoffte, daß ich sie verschonen werde... Ich schonte sie auch wirklich, und sie fühlte es; sie wich wie gestern meinen Blicken aus. Ich konnte die ganze Nacht nicht einschlafen. – Draußen erhob sich plötzlich ein furchtbarer Sturm. Der Wind heulte wie toll, die Fensterscheiben dröhnten und klirrten, die ganze Luft war von verzweifeltem Winseln und Schreien erfüllt, als ob sich dort oben etwas zerrisse und mit tollem Weinen über die erschütterten Häuser dahinflöge. Vor Sonnenaufgang schlummerte ich etwas ein... plötzlich schien es mir, jemand sei ins Zimmer getreten und hätte mich mit leiser doch eindringlicher Stimme beim Namen gerufen. Ich hob den Kopf und sah niemand; doch seltsam! ich erschrak nicht nur nicht, ich war eher froh: ich hatte plötzlich die Überzeugung, daß ich jetzt bestimmt mein Ziel erreichen würde. Ich kleidete mich schnell an und ging aus dem Hause.



XII.


Der Sturm hatte sich gelegt... doch bebte noch ein leiser Nachhall in der Luft. Es war noch sehr früh und auf den Straßen war noch kein Mensch zu sehen; an vielen Stellen lagen Trümmer von Schornsteinen, Dachziegel, Bretter von zerstörten Zäunen, abgebrochene Baumäste umher... »Wie mag es nachts auf dem Meere zugegangen sein?« – diese Frage kam mir unwillkürlich in den Sinn beim Anblick der Spuren, die der Sturm zurückgelassen hatte. Ich wollte schon nach dem Hafen gehen, aber meine Füße trugen mich, gleichsam einem fremden Willen gehorchend, nach einer anderen Seite. Nach kaum zehn Minuten sah ich mich in einem Stadtteil, in dem ich noch niemals gewesen war. Ich ging nicht schnell, blieb aber auch nie stehen; ich hatte ein ganz eigentümliches Gefühl im Herzen; ich erwartete etwas Ungewöhnliches, Unmögliches und war zugleich überzeugt, daß dieses Ungewöhnliche eintreten werde.



XIII.


Und nun trat dieses Ungewöhnliche, dieses Unerwartete wirklich ein! Etwa zwanzig Schritte vor mir erblickte ich plötzlich jenen Mohren, der im Kaffeehause vor meinen Augen den Baron angesprochen hatte! In den gleichen Mantel gehüllt, den ich mir schon damals gemerkt hatte, war er wie aus der Erde geschossen und ging nun, mir den Rücken wendend, mit raschen Schritten auf dem schmalen Trottoir einer krummen Gasse hinab! Ich stürzte ihm sofort nach, aber er verdoppelte die Schritte und bog plötzlich, ohne sich nach mir umzublicken, um die Ecke eines vorspringenden Hauses. Ich erreichte diese Ecke und bog ebenso schnell um sie herum, wie der Mohr... Welch ein Wunder! Vor mir lag eine lange, schmale, ganz leere Straße; sie war ganz in trüben, bleiernen Morgennebel getaucht, – aber mein Blick konnte bis an ihr Ende dringen, konnte alle ihre Häuser zählen... kein lebendes Wesen war zu sehen! Der lange Mohr im Mantel war ebenso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war! Ich wunderte mich... aber nur für einen Augenblick. Denn gleich überkam mich ein anderes Gefühl; diese schweigende und gleichsam ausgestorbene Straße, die sich vor meinen Augen hinzog, – ich hatte sie erkannt! Es war die Straße meines Traumes. Ich erbebte, ich zuckte zusammen – die Morgenluft war so frisch – und ging sofort, ohne zu schwanken, mit einer gewissen ängstlichen Zuversicht weiter!

Ich fange an, mit den Augen zu suchen... Da ist es ja: rechts, mit einer Ecke vorspringend, steht das Haus meines Traumes; da ist auch das altertümliche Tor mit den steinernen Schnörkeln zu beiden Seiten... Die Fenster sind allerdings viereckig und nicht rund, aber das ist nicht wichtig... Ich klopfe an das Tor zweimal, dreimal, immer lauter und lauter... Das Tor geht langsam, mit schwerem Knarren, gleichsam gähnend auf. Vor mir steht ein junges Dienstmädchen mit zerzaustem Haar und verschlafenen Augen. Sie ist offenbar eben erst aufgewacht. »Wohnt hier der Baron?« frage ich, und meine Blicke durchfliegen den tiefen, engen Hof... Es stimmt: da sind auch die Bretter und Balken, die ich im Traume gesehen hatte.

»Nein,« antwortet mir das Mädchen, »der Baron wohnt hier nicht.«

»Unmöglich!«

»Er ist jetzt nicht hier. Er ist gestern abgereist.«

»Wohin?«

»Nach Amerika.«

»Nach Amerika!« wiederholte ich unwillkürlich. »Er kommt doch noch zurück?«

Das Dienstmädchen sah mich mißtrauisch an.

»Das wissen wir nicht. Vielleicht kommt er auch gar nicht zurück.«

»Hat er lange hier gewohnt?«

»Nein, nur eine Woche. Jetzt ist er ganz fort.«

»Und wie war der Familienname dieses Barons?«

Das Mädchen sah mich erstaunt an.

»Wie, Sie kennen seinen Namen nicht? Wir nannten ihn einfach Baron. He, Peter!« rief sie, als sie sah, daß ich vorwärts dringen wollte. »Komm mal her: ein Fremder ist hier, der alles wissen will.«

Aus dem Hause kam die plumpe Gestalt eines kräftigen Knechtes hervor.

»Was ist los? Was wünschen Sie?« fragte er mich mit heiserer Stimme. Er hörte mich verdrießlich an und wiederholte alles, was schon das Mädchen gesagt hatte.

»Wer wohnt denn hier?« fragte ich.

»Unser Herr.«

»Und wer ist er?«

»Ein Schreiner. In dieser Straße wohnen lauter Schreiner.«

»Kann ich ihn sprechen?«

»Nein, jetzt nicht; jetzt schläft er.«

»Darf ich ins Haus hinein?«

»Nein, gehen Sie.«

»Kann ich den Herrn vielleicht später sprechen?«

»Warum nicht? Gewiß. Den können Sie immer sprechen... Dazu ist er ja Geschäftsmann. Aber jetzt gehen Sie. Es ist zu früh!«

»Nun, und der Mohr?« fragte ich ihn unvermittelt.

Der Knecht sah erst mich und dann das Dienstmädchen ganz verständnislos an.

»Was für ein Mohr?« fragte er schließlich. »Gehen Sie, Herr. Sie können später wiederkommen und mit dem Herrn sprechen.«

Ich trat auf die Straße. Das Tor wurde hinter mir schnell und schwer zugeschlagen, diesmal ganz ohne Knarren.

Ich merkte mir genau die Straße und das Haus und ging, aber nicht nach Hause. – Ich empfand etwas wie Enttäuschung. Alles, was ich erlebt hatte, war so seltsam, so ungewöhnlich und hatte doch ein so dummes Ende genommen! Ich war überzeugt, ich war ganz sicher, daß ich in diesem Hause das mir bekannte Zimmer sehen würde, und mitten im Zimmer meinen Vater, den Baron, im Schlafrock und mit einer Pfeife... Und statt dessen war der Besitzer des Hauses ein Schreiner, den man nach Belieben aufsuchen durfte, bei dem man vielleicht auch Möbel bestellen konnte...

Und mein Vater ist nach Amerika abgereist! Was bleibt mir nun zu tun übrig?.. Soll ich alles der Mutter erzählen, oder die Erinnerung an diese Begegnung begraben? Ich konnte mich unmöglich mit dem Gedanken abfinden, daß sich an einen solchen übernatürlichen, geheimnisvollen Anfang ein solches sinnloses und gewöhnliches Ende schließen könne!

Ich wollte nicht nach Hause zurückkehren und ging ziellos aus der Stadt ins Freie.



XIV.


Ich ging gesenkten Hauptes, ohne Gedanken, fast ohne Empfindungen, doch ganz in mich gekehrt. –

Ein gleichmäßiges, dumpfes und wildes Getöse brachte mich aus dieser Erstarrung. Ich hob den Kopf: die See brauste etwa fünfzig Schritte von mir entfernt. Ich sah, daß ich über den Sand einer Düne ging. Die vom nächtlichen Sturme aufgeregte See war bis zum Horizonte mit weißen Wellenkämmen bedeckt, und die steilen, langen Wogen rollten eine nach der anderen langsam heran und zerschellten am flachen Ufer. Ich trat näher und ging längs der Grenzlinie, welche die Brandung auf dem gelben, gestreiften, mit Fetzen von Seealgen, Muschelscherben, schlangenförmigen Bändern des Riedgrases bedeckten Sand zurückgelassen hatte. Möwen mit spitzen Flügeln kamen mit dem Winde aus ferner, luftiger Ferne kläglich schreiend herbeigeflogen, stiegen schweeweiß zum grauen Wolkenhimmel empor, fielen steil herab, sprangen gleichsam von Welle zu Welle und verschwanden, silbernen Funken ähnlich, in den Streifen des wirbelnden Schaumes. Ich bemerkte, daß einzelne Möwen hartnäckig einen großen Stein umkreisten, der einsam inmitten der gleichförmigen Sandfläche lag. Rauhes Riedgras wuchs in unregelmäßigen Büscheln an der einen Seite des Steins, und, wo die verworrenen Stengel aus dem gelben Salzgrund emporstiegen, lag etwas Schwarzes, Längliches, Rundliches, nicht sehr Großes... Ich sah genauer hin... Irgendein dunkler Gegenstand lag unbeweglich neben dem Steine... Er wurde immer deutlicher und bestimmter, je näher ich herankam...

Ich war nur noch etwa dreißig Schritte vom Steine entfernt...

Es sind ja die Umrisse eines menschlichen Körpers! Es ist ein Leichnam; es ist ein Ertrunkener, den die Brandung herausgeworfen hat! Ich ging an den Stein heran.

Es war der Leichnam des Barons, meines Vaters! Ich blieb wie angewurzelt stehen. Jetzt erst begriff ich, daß mich seit dem frühen Morgen unbekannte Mächte getrieben hatten, daß ich ganz in ihrer Gewalt war, – und einige Augenblicke lang war in meiner Seele nichts als das eintönige, unaufhörliche Brausen der See und die stumme Angst vor dem Schicksal, das mich ergriffen hatte...



XV.


Er lag auf dem Rücken, etwas zur Seite gekehrt, die linke Hand unter dem Kopfe... die rechte unter dem gekrümmten Körper. Die Spitzen der mit hohen Matrosenstiefeln bekleideten Füße waren im zähen Schlamm eingesunken; die kurze blaue Joppe war ganz mit Salzwasser durchtränkt und noch zugeknöpft; ein rotes Tuch umschlang straff seinen Hals. Das dunkle Gesicht war zum Himmel gekehrt und schien zu lächeln; unter der emporgezogenen Oberlippe sahen die dichten, kleinen Zähne hervor; die trüben Pupillen der halbgeschlossenen Augen stachen nur wenig von dem dunkel gewordenen Weißen ab; die mit Schaumblasen bedeckten und mit Sand beschmutzten Haare fielen zur Erde und ließen die glatte Stirne mit der bläulichen Schramme frei; die schmale Nase stand scharf zwischen den eingefallenen Wangen. Der Sturm der vergangenen Nacht hatte das Seinige besorgt! Er hat sein Amerika nicht wiedergesehen! Der Mensch, der meine Mutter beschimpft und ihr Leben verstümmelt hatte, mein Vater, – ja! mein Vater – ich durfte nicht daran zweifeln – er lag jetzt hilflos ausgestreckt im Schmutze zu meinen Füßen. Ich hatte das Gefühl befriedigter Rachsucht, empfand auch Mitleid, Ekel und Grauen... doppeltes Grauen: vor dem, was ich sah und vor dem, was vor Jahren geschehen war. All das Böse, Verbrecherische, von dem ich schon sprach, regte sich wieder in mir... es drohte mich zu ersticken... Aha! dachte ich mir: jetzt weiß ich, warum ich so bin, jetzt weiß ich, von wem ich das Blut habe! Ich stand neben der Leiche, und sah, und wartete: vielleicht zuckten noch die toten Pupillen, vielleicht öffneten sich noch diese erstarrten Lippen... – Nein! Alles blieb regungslos, selbst das Riedgras schien da, wo ihn die Brandung herausgespült hatte, zu ersterben; auch die Möwen waren fortgeflogen, kein einziges Trümmerstück, kein Brett, kein Stück Takelwerk war zu sehen. Alles war leer... nur er – und ich – und die fernhin brausende See. Ich blickte mich um: auch hinter mir dieselbe Öde; bis zum Horizont zog sich eine Kette lebloser Hügel... das war alles! Es war mir peinlich, den Unglücklichen in dieser Einsamkeit, im Uferschlamm als Speise für die Fische und Vögel zurückzulassen; eine innere Stimme sagte mir, daß ich Menschen suchen und holen müsse, wenn auch nicht zur Hilfe, so doch um ihn unter ein schützendes Dach zu bringen. Aber eine unsägliche Angst ergriff mich plötzlich. Es war mir, als ob dieser tote Mensch wisse, daß ich hergekommen sei, als ob er selbst diese letzte Begegnung veranlaßt habe – ich glaubte sogar jenes unheimliche mir bekannte Brummen zu hören... Ich lief zur Seite... und blickte mich noch einmal um... Etwas Glänzendes fiel mir in die Augen und hielt mich zurück. Es war ein goldener Reif an der zurückgeworfenen Hand des Ertrunkenen... Ich erkannte den Trauring meiner Mutter. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mich bezwang, umzukehren, an ihn heranzutreten, mich über ihn zu beugen... wie klebrig seine kalten Finger waren, wie ich schwer keuchte, die Augen schloß, und mit den Zähnen knirschte, während ich den hartnäckigen Ring vom Finger abzog...

Schließlich habe ich ihn abgezogen, und ich renne, renne davon, Hals über Kopf – und irgend etwas jagt mir nach, holt mich ein, packt mich...



XVI.


Alles, was ich durchgemacht und erlebt hatte, war wohl auf meinem Gesichte zu lesen, als ich nach Hause zurückkehrte. Als ich ins Zimmer der Mutter trat, richtete sie sich plötzlich auf und sah mich so hartnäckig- fragend an, daß ich, nachdem ich ohne Erfolg versucht hatte, irgendeine harmlose Erklärung vorzubringen, ihr schließlich schweigend den Ring überreichte. Sie wurde entsetzlich blaß, ihre Augen öffneten sich ungewöhnlich weit und wurden ebenso leblos wie bei ihm. Sie schrie schwach auf, taumelte, ergriff den Ring, fiel mir halb ohnmächtig an die Brust und bohrte ihre wahnsinnigen, weit geöffneten Augen in mich. Ich umfaßte sie mit beiden Armen und erzählte ihr stehend, ohne mich zu rühren und ohne Überstürzung mit ruhiger Stimme alles, was ich wußte: von meinem Traum, von der Begegnung und von allem. Sie hörte mich bis zu Ende an, ohne mich auch nur mit einem Worte zu unterbrechen, ihr Atem ging immer schneller, und plötzlich wurden ihre Augen wieder lebhaft und senkten sich zu Boden. Dann steckte sie sich den Ring auf den Goldfinger, trat etwas zur Seite und holte Mantel und Hut. Ich fragte sie, wohin sie gehen wolle. Sie sah mich verwundert an, wollte antworten, aber die Stimme versagte ihr. Sie zuckte einige Male zusammen, rieb sich die Hände, als ob sie sich erwärmen wollte und sagte schließlich: »Wir wollen gleich hingehen.«

»Wohin denn, Mütterchen?«

»Wo er liegt... ich will sehen... ich will ihn erkennen... ich werde ihn erkennen...«

Ich versuchte es ihr auszureden, aber sie hätte beinahe einen Nervenanfall bekommen. Ich begriff, daß es unmöglich war, sich ihrem Wunsche zu widersetzen, und wir machten uns auf den Weg.



XVII.


Nun gehe ich wieder über den Dünensand, aber nicht allein. Ich führe meine Mutter am Arme. Die See ist zurückgetreten und ruhiger geworden, aber auch das schwächere Brausen klingt noch drohend und unheilverkündend. Da ist endlich der einsame Stein, da ist auch das Riedgras. – Ich schaue gespannt hin, ich bemühe mich, jenen rundlichen, auf der Erde liegenden Gegenstand zu erspähen, – doch ich sehe nichts. Wir kommen näher heran; ich verlangsame unwillkürlich die Schritte. Wo ist denn jenes Schwarze, Unbewegliche? Nur die dunklen Stengel des Riedgrases ragen aus dem schon trockenen Sande... Wir treten ganz nahe an den Stein heran... Die Leiche ist fort, und nur auf jener Stelle, wo sie gelegen hatte, ist im Schlamm noch eine Vertiefung zu sehen, und man kann unterscheiden, wo die Arme und Beine waren... Das Gras ist etwas zerdrückt, da sind auch die Fußspuren eines Menschen zu erkennen; sie laufen quer über die Düne und verlieren sich auf dem Kieselboden.

Mütterchen und ich sehen uns einander an und erschrecken vor dem, war wir in unseren Augen lesen...

Er war doch nicht selbst aufgestanden und fortgegangen?

»Hast du ihn tot gesehen?« fragte die Mutter ganz leise.

Ich nickte nur. Es waren noch nicht drei Stunden vergangen, seit ich die Leiche des Barons gesehen hatte... Jemand hatte sie wohl entdeckt und weggetragen. – Ich sollte eigentlich feststellen, wer es getan hatte und was aus ihr geworden war.

Aber zuerst mußte ich für meine Mutter sorgen.



XVIII.


Solange wir auf dem Wege zum verhängnisvollen Orte waren, schüttelte sie zwar ein Fieberfrost, aber sie beherrschte sich noch. Das Verschwinden der Leiche traf sie wie ein schweres Unglück. Sie verfiel in einen Starrkrampf. Ich fürchtete um ihren Verstand. Mit großer Mühe führte ich sie nach Hause. Ich brachte sie wieder ins Bett und ließ den Arzt kommen; sobald aber die Mutter etwas zur Besinnung kam, verlangte sie von mir, daß ich mich unverzüglich auf die Suche nach »jenem Menschen« begäbe. Ich gehorchte. Aber trotz aller Bemühungen entdeckte ich nichts. Ich ging einige Male auf die Polizei, besuchte alle in der Nähe liegenden Dörfer, erließ einige Annoncen in den Zeitungen, zog überall Erkundigungen ein, – alles war vergebens! Allerdings wurde mir einmal gemeldet, daß in ein Stranddorf ein Ertrunkener gebracht worden sei... Ich eilte sofort hin, die Leiche war aber inzwischen beerdigt worden; übrigens glich sie nach dem Signalement gar nicht dem Baron. Ich stellte fest, auf welchem Schiffe er nach Amerika abgefahren war; zuerst waren alle überzeugt, daß das Schiff während eines Sturmes untergegangen sei; doch einige Monate später ging das Gerücht, daß man es im Hafen von New-York gesehen habe. Ich wußte nicht, was ich noch weiter unternehmen sollte, und begann den Mohren, mit dem ich ihn gesehen hatte, zu suchen; ich bot ihm durch die Zeitungen eine nicht unbedeutende Geldsumme an, wenn er sich bei uns melden würde. Einmal kam in meiner Abwesenheit zu uns wirklich ein langer Mohr in einem Mantel... Nachdem er aber das Dienstmädchen ausgefragt hatte, ging er eilig fort und kam nicht wieder.

So verlor ich die letzte Spur meines... Vaters; so versank er für immer in stummes Dunkel. – Ich sprach mit der Mutter nie wieder von ihm; nur einmal, wie ich mich entsinne, kam sie auf meinen Traum zurück und wunderte sich, warum ich früher niemals seiner erwähnt hatte; sie fügte dann hinzu: »Also war er wirklich...« sprach aber ihren Gedanken nicht zu Ende. Mütterchen war lange Zeit krank, und unser inniges Verhältnis erneuerte sich nach ihrer Genesung nicht wieder. Sie genierte sich vor mir... bis an ihr Ende... Sie genierte sich buchstäblich. Aber dem war nicht abzuhelfen. Alles gleicht sich aus, selbst Erinnerungen an die traurigsten Familienereignisse verlieren ihre Kraft und ihre Schärfe; wenn aber zwischen zwei einander nahestehenden Personen Befangenheit auftritt, so ist dem nicht abzuhelfen! – Den Traum, der mich so sehr beunruhigt hatte, sah ich nie wieder. Ich »suche« meinen Vater nicht mehr; doch manchmal kommt es mir im Schlafe vor, – als hörte ich ein fernes Schluchzen, ein unstillbares, jämmerliches Klagen; es tönt irgendwo hinter einer Mauer, die ich nicht übersteigen kann; es schneidet mir das Herz entzwei, ich weine mit geschlossenen Augen, und kann unmöglich begreifen, was das ist: ob das Stöhnen eines lebenden Menschen, oder das gedehnte wilde Heulen der bewegten See? Die Töne gehen wieder in ein tierisches Brummen über, – und mit tiefem Weh und Grauen im Herzen wache ich auf.


Загрузка...