26

Evans verschloß sofort wieder die Tür und lauschte angestrengt nach draußen. Als er sicher war, seinen Verfolgern entronnen zu sein, ging er langsam in die Halle hinein.

»Aber das kann doch nicht wahr sein«, stotterte er, »nur Jungen, nichts als Jungen?!«

Da entdeckte er im Hintergrund Kate.

»Kate?! Sie leben noch?!«

»Ja, ich konnte entkommen! Ein Glück, Evans, daß Sie jetzt hier sind, um uns zu helfen.«

Evans schaute sich ungläubig im Kreise um.

»15 Jungens!«

»Sagen Sie, Master Evans, sind wir augenblicklich .bedroht?« fragte Briant.

»Nein, im Moment nicht.«

»Was hat sich seit Kates Flucht ereignet?«

Die Jungen waren wieder hellwach, keiner dachte jetzt an Schlaf, sie wollten hören, was Evans zu berichten hatte.

»Entschuldigt, aber erst muß ich mich umziehen, ich bin klitschnaß. Außerdem habe ich volle 12 Stunden nichts mehr gegessen.«

Briant führte Evans nach hinten und händigte ihm einen passenden Matrosenanzug aus. Moko machte ihm inzwischen etwas zu essen.

»Die erste Nacht schliefen wir unter den Bäumen . . .«

»... an den Severn-shores; so haben wir diesen Küstenabschnitt getauft!«

»Am nächsten Morgen gingen wir zur Schaluppe zurück und versuchten, die zerstörten Planken auszubessern. Aber da wir nur eine Axt besaßen, war eine Reparatur unmöglich. Wir verließen also die Severn-shores, um einen Lagerplatz zu suchen und etwas Wild zu schießen. Wir brauchten Süßwasser. 18 km unterhalb der Küste erreichten wir einen Rio . . .«

»... den East-river!«

»Dicht dahinter lag eine weite Bucht. . .«

»... Deception-Bai!«

»Dort entdeckten wir auch einen natürlichen Hafen...«

»... der Hafen des Bear-rock!«

»Finde ich gut, daß ihr allen Punkten der Insel einen Namen gegeben habt. Also : an dieser Stelle wollten wir uns festsetzen. Walston schlug vor, die Schaluppe hierher zu bringen, um sie hier wieder seetüchtig zu machen. Das alles war ziemlich schwierig. Die Schaluppe liegt jetzt beim Bear-rock. Nur fehlen die nötigen Werkzeuge zur Reparatur.«

»Wir haben sie«, sagte Doniphan schadenfroh.»

Das vermutete Walston auch, nachdem er entdeckt hatte, daß die Insel bewohnt ist.«

»Aber wie hat er das herausgekriegt?«

»Ganz einfach. Vor 8 Tagen zogen Walston, seine Gefährten und ich quer durch den Wald um die Gegend auszukundschaften. Nach etwa 4 Stunden kamen wir an den Binnensee; und dort fanden wir einen angeschwemmten, seltsamen Apparat, ein Rohrgerippe mit Leinwandbespannung . . .«

»Unseren Drachen!«

»Ja, wir hatten einen Drachen konstruiert, der vom Wind weggetragen wurde!«

»Was es nun war, wußte keiner genau. Aber daß er auf dieser Insel hergestellt worden war, unterlag keinem Zweifel. Die Insel mußte also bewohnt sein. Aber von wem? Das wollte Walston natürlich wissen. Seit dieser Entdeckung versuchte ich, den Burschen zu entfliehen. Wer diese Bewohner auch immer sein mögen, sagte ich mir, schlimmer als diese Ganoven können sie nicht sein. Aber selbstverständlich wurde ich nun strenger als je zuvor bewacht.«

»Aber wie wurde French-den entdeckt?«

»Darauf komm ich gleich. Aber vorher möchte ich gern wissen, weshalb ihr diesen gewaltigen Drachen gebaut habt.«

»Wir wollten von einem sehr hoch gelegenen Punkt die Insel überschauen, um herauszufinden, ob Walston noch da ist. Briant und Baxter haben diesen Drachen mit der daran hängenden Gondel konstruiert, Briant wurde nachts hochgelassen.«

»Ah ja, sehr intelligent! Das konnte natürlich niemand wissen! Walston wollte auf jeden Fall Werkzeuge haben, um sein Boot zu reparieren. Waren die Bewohner Eingeborene, so konnte man sich mit ihnen vielleicht verständigen, waren es Schiffbrüchige, so besaßen sie möglicherweise jene Werkzeuge, die Walston fehlten. Er stellte also neue Nachforschungen an, allerdings höchst vorsichtig. Er durchkämmte langsam und sicher die Wälder am rechten Seeufer, doch weder ein Mensch noch eine Behausung wurden gesehen. Kein Gewehrschuß wurde vernommen.«

»Klar, denn ich hatte strengste Anweisung gegeben, daß niemand French-den verläßt und keiner einen Schuß abfeuert!« sagte Briant stolz.

»Trotzdem hat er euch entdeckt! Auf die Dauer war das ja sowieso unumgänglich. In der Nacht vom 23. auf den 24. November gewahrte einer der Genossen Walstons einen Lichtschein. Ihr habt wohl einen Augenblick lang die Tür oder das Fenster offenstehen lassen. Am nächsten Tag schlich Walston selbst an diese Stelle und hielt sich die Nacht über nur wenige Schritte vom Rio entfernt im hohen Gras versteckt. . .«

»Wußten wir«, sagte Briant.

»Ihr habt es gewußt?!«

»Gordon und ich fanden dort eine kleine Tonpfeife, die Kate als das Eigentum Walstons identifizierte.«

»Stimmt! Walston hatte sie verloren, was ihn nachträglich sehr ärgerte. Jetzt also wußte er Bescheid. Walston hat einige von euch am Rioufer Spazierengehen sehen. 7 Männer gegen ein paar Jungen, das ist keine Schwierigkeit, sagte Walston nach der Rückkehr zu seinen Kumpels. Ich belauschte zufällig ein Gespräch zwischen ihm und Brandt, deshalb weiß ich, was gegen French-den geplant ist. . .«

»Diese Schweine«, entrüstete sich Kate, »sie hätten auch mit den Jungen kein Erbarmen gehabt.«

»Nein, Kate, nicht mehr als mit dem Kapitän und den Passagieren der Severn. Es sind ausgekochte Gangster, angeführt vom schlimmsten unter ihnen, von Walston. Aber der wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen, das schwöre ich.«

»Aber wie haben Sie es fertiggebracht, zu fliehen?« fragte Kate.

»Vor etwa 12 Stunden konnte ich mir die Abwesenheit Walstons und der übrigen zunutze machen. Bewacht wurde ich zu der Zeit nur von Forbes und Rock. Ich mußte sie auf eine falsche Fährte locken oder einen Vorsprung vor ihnen gewinnen. Gegen 10 Uhr rannte ich einfach weg, doch Forbes und Rock bemerkten es sofort. Mein Vorsprung war klein, hätten mich die Bäume und das Gras nicht so geschützt, sie hätten mir eine Kugel durch den Körper gejagt, so aber hatte ich genügend Deckung. Die Jagd dauerte den ganzen Tag. Ich stürmte zum linken Seeufer, da ich ja aus Gesprächen wußte, daß ihr dort am Ufer eines westwärts strömenden Rios haust. Niemals mußte ich so schnell und so lange laufen. Die Kugeln meiner Verfolger pfiffen mir nur so um die Ohren. Ihr müßt euch das vorstellen : Sie wußten, daß ich ihr Geheimnis kannte, daß ich es ausplaudern würde, sobald ich bei euch in Sicherheit wäre. Sie wußten, daß ihre Chancen dann entscheidend geringer sein würden. Hätten sie keine Gewehre besessen, ich wäre stehengeblieben und hätte mich mit meinem Matrosenmesser auf sie gestürzt. Lieber tot als noch einmal in ihre Gewalt kommen. Kate, Sie wissen ja, wie verderbt diese Hunde sind. Ich hatte die Seespitze bereits hinter mir, als dieses fürchterliche Gewitter losbrach. Das verschlimmerte die Lage, denn Forbes und Rock waren mir dicht auf den Fersen und die grell zuckenden Blitze hätten mich leicht verraten können. Zum Glück sah ich plötzlich den Rio vor mir. Da krachte ein Schuß . .. «

»... .den wir gehört haben!«

»Ich schlug einen Haken, rannte noch einige Sekunden vorwärts und hechtete hinein. Mit wenigen Stößen war ich drüben und verbarg mich im Schilf. Da hörte ich Forbes und Rock. >Hast du ihn auch getroffen?< — >Na hör mal, wer bin ich denn? Der Bursche liegt schon auf dem Grund!< — >Gehen wir zurück< Sie verschwanden wieder im Wald. Ich kroch vorsichtig aus dem Schilf und schlich zum Steilufer hinüber. Da hörte ich Hundegebell! Ich rief um Hilfe. Wenige Augenblicke später war ich gerettet!«

Nach einer kurzen Pause fügte Evans hinzu: »Jetzt liegt es an uns, diesen Ganoven den Garaus zumachen!« Nach diesem ausführlichen Bericht erzählten Briant, Gordon und Doniphan abwechselnd, was sie auf der Insel Chairman erlebt hatten.

»Und seit 20 Monaten konnte kein Schiff gesichtet werden?« fragte Evans ungläubig. »Nein!«

»Hattet ihr irgendwelche Signale errichtet?«

»Auf dem höchsten Punkt des Steilufers einen Mast!«

»Den niemand gesehen hat!«

»Nein Master Evans, allerdings haben wir ihn vor 6 Wochen heruntergeholt, um Walstons Aufmerksamkeit nicht zu erregen.«

»Sehr gut. Aber er weiß ja, woran er jetzt ist. Wir müssen Tag und Nacht auf der Lauer liegen, damit wir einen Angriff abwehren können.«

»Haben wir überhaupt eine Chance?«

»Zählt auf mich, ich zähle auf euch! Wir werden es schon schaffen!«

»Vielleicht läßt sich ein Kampf vermeiden. Wenn Walston zustimmte, die Insel zu räumen . . .«

»Was heißt das?« fragte Briant.

»Walston und die anderen wären schon längst wieder abgesegelt, wenn sie ihre Schaluppe hätten reparieren können. So ist es doch, Master Evans?«

»Stimmt.«

»Vielleicht läßt er mit sich reden und wir überlassen ihm Material und Werkzeuge. Natürlich weiß ich, wie widerwärtig es ist, mit den Mördern der Severn zu sprechen, aber angesichts unserer Lage ... es würde wahrscheinlich viel Blut fließen!«

Evans hatte Gordon aufmerksam zugehört. »Ihr Vorschlag, Herr Gordon, ist nicht schlecht. Wir müssen versuchen, uns die Kerle so schnell wie möglich vom Halse zu schaffen. Wäre die Schaluppe fahrtüchtig und würden sie damit abhauen, ich wäre froh darüber. Doch wir können uns auf Walston nicht verlassen. Er bricht jedes Versprechen, das weiß ich so gut wie Kate. Würde man sich mit ihm treffen, um Ihren Vorschlag, Herr Gordon, auszuhandeln, Walston und die anderen würden uns gefangennehmen und French-den ausrauben, das versichere ich Ihnen. Er wittert zudem Geld bei euch. Jede Wohltat von eurer Seite würde mit einem Mord von seiner Seite beantwortet werden! Sich mit ihm verständigen, heißt sich ihm mit Haut und Haaren ausliefern.«

»Machen wir keine gemeinsame Sache mit Walston, er kann uns gestohlen bleiben!« sagte Briant entschieden. »Und dann noch eins: sie brauchen natürlich nicht nur Werkzeuge, sondern auch Munition. Sie besitzen noch soviel, um einen Angriff gegen French-den ausführen zu können, aber dann ist Sense. Wollen Sie also den Mördern noch Kugeln aushändigen, damit sie weiterhin morden können?«

»Davon war ja nicht die Rede«, erwiderte Gordon, der einsah, daß sein Vorschlag illusorisch war. »Halten wir uns also in der Defensive und warten ab, was diese Burschen anfangen werden.«

»Es gibt aber noch einen Grund, warum Ihr Vorschlag schlecht ist«, sagte Evans seelenruhig.

»Und der wäre?«

»Walston kann die Insel nur auf der Schaluppe von der Severn verlassen. Sie ist leicht wiederherstellbar. Nehmen wir einmal an, Walston ließe sich auf Ihr Angebot ein, er würde also die Werkzeuge ausborgen, das Boot reparieren und sie Ihnen wieder zurückgeben. Was würde geschehen?«

»Sie sind ja der reinste Quizmaster!«

»Nun: er würde mit seinen Kumpanen von hier abdampfen, ohne sich um Sie und die anderen Jungens weiter zu kümmern.«

»Was uns sehr lieb wäre!«

»Komisch, das wollen wir doch die ganze Zeit«, sagte Gordon. »Neinneinneinnein!!! Denkt doch mal nach: wie sollen denn wir dann von hier wegkommen?? Wir brauchen doch auch ein Boot!«

»Jetzt hats bei mir eingeschlagen!« lachte Briant.

»Ich verstehe immer noch nichts«, sagte Gordon. »Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wollen Sie mit der Schaluppe von hier fort?«

»Stimmt, das will ich!«

»Mit dieser Nußschale wollen Sie über den Ozean fahren? Dieser Witz ist nicht schlecht! «

»Mal langsam, mein Herr! Wer sagt denn, daß ich über den Ozean will?«

»Jetzt aber heraus mit dem Geheimnis«, sagte Briant, der die gewaltige Neuigkeit schon ahnte. »Im Westen liegt das Meer . . .«

»Überall liegt das Meer«, unterbrach ihn Gordon unwirsch.

»Im Süden, Norden und Osten nicht, sondern lediglich Kanäle, die man in etwa 60 Stunden überqueren kann.«

Den Kolonisten stockte der Atem.

»Hab ich mir doch immer gedacht«, brummte Doniphan in Richtung Gordon, der dasaß, als hätten ihn die Geier gebissen.

»Im Osten habe ich einen weißlichen Fleck und einen ausbrechenden Vulkan beobachtet«, bestätigte Briant.

»Nun sagt mir doch mal: wo habt ihr die Insel denn vermutet?!«

»Mitten im Stillen Ozean, allein, ohne Nachbarinseln«, sagte Gordon.

»Auf einer Insel sitzen wir, das stimmt! Aber sie liegt nicht allein. Sie gehört zu den der Küste Südamerikas vorgelagerten Archipelen.«

»Potzblitz, also doch!!«

»Wie habt ihr sie getauft?« fragte Evans lächelnd.

»Insel Chairman!«

»Dann hat sie also 2 Namen, denn ursprünglich heißt sie Insel Hannover.«

»Das haut mich um«, sagte Doniphan.

»Guter Vorschlag, gehen wir schlafen, ich bin hundemüde!«

Moko und Gordon schoben während der Nacht schwerbewaffnet Wache, die anderen schliefen fest und traumlos auf ihren Matratzen.


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