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Da die Nebelwand gewichen war, konnte man jetzt nach allen Seiten gut Ausschau halten. Die Wolken flogen mit rasender Geschwindigkeit am Himmel hin, der Sturm hatte sich noch immer nicht gelegt. Die Situation der Sloughi war augenblicklich nicht weniger beängstigend als in der voraufgegangenen Nacht, die Kinder mußten sich auch hier verloren glauben, wenn eine Woge über die Schanzkleidung schlug und sie alle überspülte. Die Wucht der Brecher war zudem noch härter, da das Schiff sich kaum mehr bewegen und auch gar nicht mehr nachgeben konnte, die Sloughi krachte bei jedem Wogenschlag in allen Fugen. Briant und Gorden waren nach unten gegangen, um sich zu überzeugen, daß noch kein Wasser in den Rumpf eindrang. Sie beruhigten vor allem die kleinsten unter den Kindern.

»Keine Angst«, wiederholte Briant immer wieder, »die Jacht ist solide gebaut und außerdem ist der Strand nicht sehr weit. Wir werden ihn schon erreichen!«

»Auf was warten wir denn noch?« fragte Doniphan.

»Ja, warum eigentlich?« setzte Wilcox hinzu. »Doniphan hat recht!«

»Der Seegang ist noch zu schwer!«

»Und wenn alles in Stücke geht?« fragte Webb, der mit Wilcox etwa gleichaltrig war.

»Warten wir die Ebbe ab. — Sobald das Wasser zurückgeht, werden wir mit unserer Rettung beginnen.«

Obwohl die Gezeiten im Stillen Ozean verhältnismäßig schwach auftreten, so ist doch der Höhenunterschied des Wasserspiegels nicht unbeträchtlich. Es war deshalb gut, noch einige Stunden abzuwarten, zumal dann ja auch der Wind vielleicht abflaute. Wenn die Ebbe auch nur einen geringen Teil der Klippen trockenlegte, würde es leichter sein, die letzte 1/4 sm bis zum Strand zu überwinden.

Obwohl Briants Rat vernünftig war, zeigten sich Doniphan und 2 oder 3 andere nicht geneigt, ihm zu folgen. Sie traten auf dem Vorderdeck zusammen und tuschelten miteinander. Es schien, als wollten sich Doniphan, Wilcox, Webb und Croß mit Briant nicht verständigen. Während der langen Fahrt hatten sie sich noch seinen Befehlen gebeugt, weil Briant, wie gesagt, einige nautische Kenntnisse besaß, aber jetzt, da man festsaß, wollten sie sich auf alle Fälle ihre Handlungsfreiheit zurückerobern. Die Eifersucht zwischen den beiden bestand schon seit langem, der eine war Franzose, der andere Engländer — so was geht nie gut. Doniphan und die anderen betrachteten das schäumende, von Strudeln und Strömungen aufgewühlte Wasser. Auch ein geübter Schwimmer hätte diesem Seegang nicht zu widerstehen vermocht, Briants Ratschlag rechtfertigte sich also von selbst. Doniphan und seine Freunde gingen wieder zu den übrigen Kindern nach hinten. Da sagte Briant zu Gordon und einigen anderen, die um ihn herumstanden :

»Wir dürfen uns auf keinen Fall trennen. Entweder alle bleiben zusammen oder alle sind verloren!«

»Willst du uns weiterhin Vorschriften machen?« mischte sich da Doniphan ein.

»Ich nehme mir nicht mehr heraus, als in dieser Lage bitter notwendig ist.«

»Briant hat recht«, erklärte Gordon, ein ernster und schweigsamer Knabe, der nie unüberlegt sprach.

Auch die Kleinen stimmten Gordon und Briant zu. Doniphan erwiderte nichts mehr, doch hielten sich er und seine Freunde etwas abseits, um bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf eigene Faust zu handeln.

Gehörte das vor den Schiffbrüchigen liegende Land zu einer der Inseln im Stillen Ozean oder zum Festland? Und zu welchem Festland? Wohin hatte sie dieses fürchterliche Unwetter verschlagen? Auch mit dem Fernrohr war nichts Genaues auszumachen. Wenn dieses Land eine Insel war, wie konnte man sie wieder verlassen, wie sollte man Rettung holen, wenn es sich zeigen sollte, daß man die Sloughi nicht mehr flottmachen konnte? Vielleicht war diese Insel, wie viele im Stillen Ozean, ganz unbewohnt. Wie sollten sich die Kinder, die nur besaßen, was ihnen von den Vorräten an Bord der Jacht geblieben war, am Leben erhalten? Und wie diese Vorräte bergen? Wenn das Ufer vor ihnen allerdings zum Festland gehörte, mußte es mit Sicherheit Südamerika sein.

Dann konnte man noch hoffen, in Chile, Bolivien oder wo auch immer, Hilfe zu bekommen. Aber auch das war im Augenblick nicht viel mehr als ein frommer Wunsch.

Die Witterung war jetzt klar genug, um Einzelheiten erkennen zu können. Briant entdeckte rechts am Ufer die Mündung eines Rio, zu beiden Seiten verstreut einzelne Baumgruppen; das ließ auf eine gewisse Fruchtbarkeit des Bodens schließen, und vielleicht war die Vegetation jenseits der Uferhöhe, im Schutz vor den Seewinden, noch üppiger. Bewohnt schien der sichtbare Teil des Ufers nicht zu sein, man sah weder ein Haus noch eine Hütte. Aber vielleicht wohnten die Eingeborenen, wenn es solche gab, im Inneren des Landes.

»Ich kann keine Rauchspur entdecken«, sagte Briant und senkte das Fernrohr.

»Hier ist ja auch kein Hafen«, warf Doniphan ein.

»Ist gar nicht nötig, denn Fischerboote können auch in einer Flußmündung anlegen«, antwortete Gordon ruhig. »Bei Sturm zieht man sie dann einfach landeinwärts.«

Inzwischen ging das Wasser mit der Ebbe langsam zurück, auch der Wind wurde nach und nach schwächer. Jetzt mußte man sich bereit halten, um den günstigsten Augenblick zu erwischen, um den Klippengürtel zu überwinden. Es war jetzt gegen 7 Uhr; jedes der Kinder beschäftigte sich damit, die für den notwendigsten Bedarf wichtigen Gegenstände auf das Deck zu schaffen. An Bord befand sich ein großer Vorrat an Konserven, Bisquit, gepökeltem und geräuchertem Fleisch. Man verpackte diese Nahrungsmittel zu kleinen, handlichen Ballen. Würde sich das Meer überhaupt so weit zurückziehen, daß die Felsen bis zum Strand hin frei würden? Briant und Gorden beobachteten unablässig das Meer. Der Wind hatte gedreht, die Luft wurde merklich ruhiger, auch die Brandung begann nachzulassen. Die Sloughi neigte sich noch etwas weiter nach Backbord, es war sogar zu befürchten, daß diese Schlagseite noch mehr zunahm und sich das Schiff dann ganz auf die Seite legen würde. Die Lage blieb weiterhin höchst gefährlich, besonders auch deshalb, weil die Boote vom Sturm weggerissen worden waren, sie hätten jetzt die ganze Mannschaft aufnehmen und hinüberschaffen können. Plötzlich ertönte vom Vorderdeck ein schriller Aufschrei: Baxter hatte eine hochwichtige Entdeckung gemacht. Die verloren geglaubte Jolle hatte sich am Bugspriet in den Ketten gefangen! Freilich konnte sie nicht mehr als 5 bis 6 Personen aufnehmen, doch immerhin, sie war unbeschädigt. Mittlerweile kam es zwischen Briant und Doniphan wieder zu lebhaften Auseinandersetzungen. Doniphan, Wilcox, Webb und Groß, die sich der Jolle bemächtigt hatten, versuchten bereits, sie zu wassern.

»Was soll das?« fragte Briant bestimmt.

»Das siehst du doch!«

»Wollt ihr die Jolle wassern?«

»Ganz recht, und du wirst uns nicht davon abhalten!«

»Und ob, ich und alle übrigen, die du verlassen willst!«

»Was heißt da verlassen? Wer sagt dir das? Ich möchte niemand verlassen, verstehst du? Wenn wir erst am Strand angelangt sind, wird einer die Jolle zurückrudern.«

»Und wenn dieser eine nicht mehr zurückrudern kann, weil die Jolle ein Leck hat. . .?«

»Fertigmachen zum Einsteigen!« drängte Webb, der Briant zurückschob.

»Keiner wird einsteigen!«

»Mal sehen!«

»Ich sage, ihr steigt nicht in die Jolle«, wiederholte Briant, »sie muß zunächst für die Kleinsten unter uns zurückbleiben.«

Die beiden Knaben waren schon bereit, sich aufeinander zu stürzen, es bildeten sich 2 Gruppen: Wilcox, Webb und Groß auf der einen, Baxter, Service und Garnett auf der anderen Seite. Da mischte sich Gordon ein:

»Halt, Doniphan! Du siehst doch, daß die See noch zu hoch geht und wir unsere Jolle leichtfertig aufs Spiel setzen.«

»Ich laß mir von Briant nichts vorschreiben.«

»Keinem schreibe ich etwas vor, niemand darf das von uns, aber hier handelt es sich um das Interesse aller.«

»Das auch mir am Herzen liegt«, ergänzte Doniphan wütend.

»Wir sind noch nicht an Land. Laß uns bitte einen günstigen Zeitpunkt abwarten«, bat Gordon.

Die beiden Streithähne fügten sich diesen Worten. Der Meeresspiegel sank weiter. Briant kletterte die Steuerbordwanten hoch bis zu den Tauen der Bramstenge, um von dort oben die Anordnung des Klippengürtels besser überblicken zu können. Vielleicht entdeckte man eine Art Kanal oder Fahrrinne, durch die hindurch die Jolle fahren konnte, ohne von spitzen Felsen vorzeitig beschädigt zu werden. Und tatsächlich, quer durch die Klippenbank zog sich eine Durchfahrt. Aber noch immer brodelte und schäumte es zu sehr, als daß man es hätte wagen können, die Jolle zu wassern. Man mußte noch warten, bis das sinkende Meer hier eine relativ gefahrlose Wasserstraße zurückließ.

Von der Oberbramraa aus suchte Briant auch den Strand und das bis zu den Erhebungen sichtbare Land Stück für Stück mit dem Fernrohr ab. In einem Umkreis von 8 bis 9 sm schien die Küste völlig unbewohnt zu sein. Nach halbstündigem Ausschauhalten stieg Briant wieder hinunter und berichtete seinen Kameraden, was er gesehen hatte.

»Als die Sloughi strandete, Briant, war es doch etwa 6 Uhr früh«, sagte Gordon. »Richtig.«

»Und wie lange dauert es bis zur totalen Ebbe?«

»5 Stunden, wenn ich nicht irre.«

»Stimmt, 5 bis 6 Stunden«, bestätigte Moko.

»Also gegen 11 Uhr; das wäre demnach der beste Zeitpunkt, um die Küste zu erreichen.«

»Ja.«

»Dann essen wir jetzt am besten etwas und halten uns dann bereit.«

Die Kleinen, Jenkins, Iverson, Dole, Costar, hatten sich seit einiger Zeit ganz beruhigt. Alle aßen ihre Ration Fleisch und Bisquit ohne jede Erregung oder Angst, zu trinken gab es einige Tropfen Wasser mit verdünntem Brandy. Nach dem Frühstück stieg Briant wieder kurz auf die Schanzkleidung, um die Klippenreihe zu beobachten. Moko ließ ein Senkblei ins Wasser; es stand noch mindestens 2,5 m über der Bank. »Ich glaube nicht, daß die Ebbe die Klippenbank trockenlegt«, sagte Moko heimlich zu Briant, um die anderen nicht unnötig zu erschrecken. Briant teilte es seinerseits Gordon mit.

»Was tun?«

»Ich weiß nicht ... ich weiß nicht«, antwortete Briant. »Wir müßten Männer sein, nicht Kinder!«

»Die Gefahr wird uns sehr schnell zu Männern erziehen!«

»Wenn wir vor Wiedereintritt der Flut die Sloughi nicht verlassen haben, wenn wir noch eine ganze Nacht an Bord dieses halben Wracks bleiben müssen, dann gute Nacht.«

»Wäre es nicht klug, ein Floß zu bauen?« fragte Gordon.

»Ich habe auch schon daran gedacht. Um aber die Schanzkleidung abzubrechen — nur so erhalten wir das nötige Material —, fehlt uns jetzt die Zeit. Es bleibt uns nur die Jolle übrig, aber die ist bei schwerer See nutzlos. — Halt!« rief Briant plötzlich. »Man müßte versuchen, ein Tau durch den Klippengürtel zu ziehen und dessen Ende an einer Felsspitze zu befestigen. Damit könnte es uns gelingen, bis zum Strand hinzugleiten . «

»Wer soll das machen?«

»Ich«, erklärte Briant.

»Ich werde dir helfen.«

»Laß nur, das mache ich schon.«

»Willst du dabei die Jolle benützen?«

»Nein, die müssen wir uns als allerletzte Hoffnung aufheben.«

Bevor Briant an die Arbeit ging, wollte er noch eine wichtige Anordnung treffen. An Bord befanden sich verschiedene Schwimmwesten, er befahl den Kleinen sie anzuziehen. Sollte die Sloughi sich auf die Seite legen, während er mit dem Tau beschäftigt war, mußten die Kleinen sich vielleicht selbständig über Wasser halten, und das war bei der stürmischen See nicht einfach.

Es war jetzt 10.15 Uhr. In 45 Minuten mußte die Ebbe den tiefsten Stand erreicht haben. An Bord befanden sich mehrere Taue von über 30 m Länge, Briant wählte eines von mittlerer Dicke aus und befestigte es an seinem Gürtel.

»Achtung«, rief Gordon seinen Kameraden zu, »hierher auf's Vorderdeck; und laßt das Tau gleichmäßig nachgleiten.«

Briant wollte gerade über Bord springen, als ihn sein Bruder zurückhielt.

»Du willst wirklich in diesen Hexenkessel springen?«

»Keine Angst, Jacques! Ich schaff' das schon!«

Dann hechtete er ins Meer, tauchte sofort wieder auf und schwamm mit kräftigen Stößen vorwärts, während hinter ihm das Tau abrollte. Trotz größter Anstrengung kam er nur langsam vorwärts, immer wieder mußte er Wellenkämmen und tiefen, gefährlichen Strudeln ausweichen. Da überschlugen sich plötzlich dicht vor ihm einige hohe Wellen und bildeten rasch einen Wirbel. Briant versuchte nach links abzudrehen, aber er hatte offensichtlich nicht mehr genügend Kraft, die rotierenden Wasserscheiben drehten ihn immer näher an den Abgrund heran.

»Hilfe!!! Zieht an!« schrie Briant, dann verschwand er unter einigen Wogen.

An Bord der Sloughi waren alle wie gelähmt.

»Einholen!!« schrie Gordon.

In wenigen Minuten war Briant, freilich bewußtlos, an Bord gehievt; doch kam er bald wieder zu sich. Der Versuch mit dem Tau war also gescheitert, keiner der anderen Kameraden war imstande, es noch einmal und mit mehr Aussicht auf Erfolg zu versuchen.

Mittag war bereits vorüber und das Meer begann langsam wieder anzusteigen. Da gleichzeitig Neumond war, mußte die Flut höher werden als in der Unglücksnacht zuvor. Der Wind peitschte das Land mit voller Wucht. Alle Kinder standen dicht beisammen auf dem Achterdeck, keiner sprach ein Wort, sie betrachteten den aufkommenden Sturm. Kurz vor 2 Uhr hatte die Sloughi sich wieder aufgerichtet. In diesem Moment kam ein schaumgekrönter, riesiger Wellenberg auf das Schiff zu, türmte sich meterhoch vor der Jacht auf, tobte über den Klippengürtel hinweg und hob die Sloughi auf, und ohne daß der Kiel die Felsen auch nur streifte, wurde das Schiff im Bruchteil einer Sekunde mitten auf den Strand getragen, kaum 200 Schritte von den Bäumen des hohen Uferrandes entfernt. Und hier blieb es unbeweglich sitzen, während das Meer wieder zurückflutete.


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