25 AMSTERDAM, 1658

Innerhalb des folgenden Jahres unterhielt Spinoza – nicht mehr Baruch, sondern jetzt und für alle Zeiten Bento (oder Benedictus in seinen Schriften) – eine seltsame, nächtliche Beziehung zu Franco. Fast jede Nacht, wenn Bento in seiner kleinen Dachstube im Haus van den Endens in seinem Himmelbett lag und den Schlaf herbeisehnte, tauchte Francos Bild in seinen Gedanken auf. So nahtlos und verstohlen war sein Auftritt, dass Bento entgegen seiner sonstigen Art nie dahinterzukommen versuchte, weshalb er sich Franco so oft vergegenwärtigte.

Aber zu anderen Zeiten dachte Bento nie an Franco. Seine wachen Stunden waren mit intellektueller Arbeit vollgestopft, die ihm mehr Freude bereitete als irgendetwas, das er bisher erlebt hatte. Immer wenn er sich als gebrechlichen Alten vorstellte, der über sein Leben reflektierte, wusste er, dass er genau diese Zeit zu seiner besten Zeit wählen würde, diese Tage, geprägt von der Verbundenheit mit van den Enden und den anderen Schülern, mit denen er seine Latein- und Griechischkenntnisse perfektionierte und sich den großen Themen der antiken Welt zuwandte: Demokrits atomistischem Universum, Platons Form des Guten, Aristoteles’ Unbewegtem Beweger und der stoischen Ungebundenheit von Leidenschaften.

Sein Leben war schön durch seine Einfachheit. Bento stimmte mit Epikur vollkommen überein, der behauptete, die Bedürfnisse des Menschen seien gering und leicht zu erfüllen. Bento brauchte nur ein Zimmer mit Verpflegung, ein paar Bücher, Papier und Tinte. Die dafür notwendigen Gulden konnte er mit dem Schleifen von Linsen für Brillen an nur zwei Wochentagen und mit Hebräischunterricht für die Kollegianten verdienen, welche die Heilige Schrift in ihrer Originalsprache lesen wollten.

Die Lateinschule ermöglichte ihm nicht nur die Ausübung eines Berufes und gab ihm ein Zuhause, sondern bot ihm auch ein gesellschaftliches Leben – zuweilen mehr, als es Bento lieb war. Man erwartete von ihm, mit der Familie van den Enden und den in der Lateinschule beherbergten Schülern das Abendessen gemeinsam einzunehmen, doch stattdessen ging er oft mit einem Teller Brot und hartem holländischen Käse sowie mit einer Kerze in sein Zimmer und las. Sein häufiges Fehlen am Esstisch grämte Madame van den Enden, die ihn für einen gewandten Gesprächsteilnehmer hielt und erfolglos versuchte, ihn zu mehr Geselligkeit zu ermuntern. Sie bot ihm sogar an, seine Lieblingsgerichte zu kochen und auf koschere Zubereitung zu achten. Bento versicherte ihr, dass er sich in keiner Weise an Speisevorschriften hielte, sich aber nur nichts aus Essen machte und durchaus mit dem Einfachsten zufrieden wäre – mit Brot, Käse, seinem täglichen Glas Bier und seinem langstieligen Tonpfeifchen, das er zum Abschluss gern schmauchte.

Außerhalb der Unterrichtsstunden mied er die Gesellschaft seiner Kommilitonen mit Ausnahme von Dirk, der schon bald ausziehen wollte, um Medizin zu studieren, und natürlich der frühreifen, bewundernswerten Clara Maria. Doch im Allgemeinen zog er sich nach kurzer Zeit auch von diesen beiden zurück und gab der Gesellschaft der zweihundert gewichtigen, muffigen Bände in van den Endens Bibliothek den Vorzug.

Abgesehen von seinem Interesse an den wunderbaren Gemälden, die in den Kunsthandlungen der kleinen Gässchen ausgestellt waren, welche vom Rathaus abzweigten, hatte Bento für Kunst nicht viel übrig und widerstand van den Endens Bemühungen, seine ästhetische Sensibilität für Musik, Poesie und Erzählkunst zu steigern. Aber wenn es um die Leidenschaft des Direktors für das Theater ging, gab es kein Entrinnen. Klassisches Drama könne nur gewürdigt werden, betonte van den Enden stets, wenn es laut gelesen wurde. Also nahmen Bento und die anderen Schüler gehorsam an dramatisierten Lesungen der Klasse teil, auch wenn Bento zu schüchtern war, genügend Emotionen in seinen Text zu legen. Normalerweise stellte der Direktor des Amsterdamer Stadttheaters und van den Endens guter Freund der Lateinschule seine Bühne für wichtige Inszenierungen zur Verfügung, die vor kleinem Publikum, hauptsächlich Eltern und Freunden der Schüler, gezeigt wurden.

Im Winter 1658, über zwei Jahre nach Bentos Exkommunikation, wurde der Eunuchus von Terenz inszeniert. Bento spielte die Rolle des Parmeno, eines frühreifen Sklaven. Beim erstmaligen Durchlesen seines Texts musste er lächeln, als er den folgenden Abschnitt las:

»Wer diesen Hohn auf jegliche Vernunft


Methodisch zu betreiben dächte, käme


Wohl grad’ so weit wie einer, der verrückt


Sein wollte nach vernünftiger Methode.«

Bento wusste, dass van den Endens schräger Sinn für Humor im Spiel war, als er ihm diese Rolle zugewiesen hatte. Er hatte Bento ständig wegen seines hypertrophierten Rationalismus gescholten, der keinen Platz für ästhetische Sensibilität zuließe.

Die Aufführung war glanzvoll, die Schüler spielten ihre Rollen mit großem Vergnügen, das Publikum lachte oft und applaudierte lange (obwohl es von den lateinischen Dialogen wenig verstand), und Bento verließ das Theater in bester Stimmung und Arm in Arm mit seinen beiden Freunden Clara Maria (welche die Kurtisane Thaïs gespielt hatte) und Dirk (in der Rolle des Phaedria). Plötzlich trat ein Mann mit weit aufgerissenen Augen und irrem Blick aus der Dunkelheit und schwang ein langes Fleischermesser. Er brüllte auf Portugiesisch: »Herege, Herege!« (»Ketzer, Ketzer!«), stürzte sich auf Bento und zog ihm das Messer zweimal quer über den Bauch. Dirk kämpfte mit dem Angreifer und schlug ihn zu Boden, während Clara Maria Bento zu Hilfe eilte und seinen Kopf in ihren Armen barg. Dirk konnte mit seiner schmächtigen Statur dem Angreifer nichts entgegensetzen, der ihn abschüttelte und mit dem Messer in der Hand Hals über Kopf in die Dunkelheit floh. Van den Enden, ein früherer Arzt, eilte herbei und untersuchte Bento. Als er die beiden tiefen Schnitte in seinem schweren, schwarzen Mantel entdeckte, knöpfte er ihn hastig auf und sah, dass das Hemd ebenfalls zerfetzt und blutbefleckt war, das Messer aber nur die Haut geritzt hatte.

Bento, der unter Schock stand, konnte, gestützt von van den Enden und Dirk, die drei Häuserblocks auf eigenen Beinen nach Hause gehen und stieg langsam die Treppe hinauf in sein Zimmer. Die Baldriantropfen, die ihm der Lehrer/Arzt verabreichte, würgte er widerwillig hinunter. Er legte sich hin, Clara Maria setzte sich zu ihm ans Bett, hielt seine Hand, und bald fiel er in einen tiefen, zwölfstündigen Schlaf.

Am folgenden Tag regierte Chaos im Haushalt van den Endens. Frühmorgens klopften Beamte der Stadt an die Tür und holten Informationen über den Angreifer ein; später erschienen zwei Diener mit Briefen schockierter Eltern, die van den Enden vorwarfen, nicht nur ein skandalöses Stück über Sexualität und Transvestitismus aufgeführt, sondern auch einer jungen Frau (seiner Tochter) erlaubt zu haben, eine Rolle darin zu spielen – und noch dazu die einer Kurtisane. Der Schulleiter blieb jedoch bemerkenswert ruhig – nein, mehr als ruhig –, die Briefe erheiterten ihn vielmehr, und er lachte in sich hinein, als er daran dachte, dass Terenz sich angesichts dieser empörten, calvinistischen Eltern bestimmt köstlich amüsiert hätte. Bald beruhigte seine Heiterkeit die ganze Familie, und der Schulleiter machte sich wieder daran, seine Kurse für Griechisch und die Klassiker zu geben.

Oben in der Dachstube wurde Bento noch immer von Ängsten geplagt, er konnte die Beklemmung in seinem Brustkorb kaum aushalten. Ständig marterten ihn Bilder des Überfalls, die »Ketzer!«-Schreie, das blitzende Messer, der Druck der Klinge, die seinen Mantel durchschnitt, sein Sturz unter dem Gewicht des Angreifers auf das Straßenpflaster. Um sich zu beruhigen, nahm er seine bewährte Waffe zu Hilfe, das Schwert der Vernunft, doch an diesem Tag konnte es gegen seine Panik nichts ausrichten.

Bento gab nicht auf. Er versuchte, seine Atmung mit langen, bewussten Atemzügen zu verlangsamen, und beschwor bewusst das beängstigende Bild seines Angreifers herauf: dessen Vollbart, die aufgerissenen Augen und den Schaum vor dem Mund wie bei einem tollwütigen Hund. Er stierte so lange in das Antlitz dieses Mannes, bis das Bild sich auflöste. »Beruhige dich«, murmelte er. »Denke nur an diesen Augenblick. Verschwende keine Energie an etwas, das du nicht beeinflussen kannst. Du kannst die Vergangenheit nicht beeinflussen. Du hast Angst, weil du dir vorstellst, dieser vergangene Vorfall fände jetzt in der Gegenwart statt. Dein Geist erschafft das Bild. Dein Geist erschafft deine Emotionen auf das Bild. Konzentriere dich nur darauf, deinen Geist zu kontrollieren.«

Aber all die ausgefeilten Formeln, die er in seinem Notizbuch aufgeschrieben hatte, vermochten nicht, sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Er fuhr fort, sich mit Vernunft zu trösten. »Vergiss nicht: Alles in der Natur hat eine Ursache. Du, Bento Spinoza, bist ein unbedeutendes Element in diesem riesigen Kausalzusammenhang. Denk an die lange Zeitlinie des Attentäters, die lange Kette von Ereignissen, die unausweichlich zu seinem Angriff führte.« Welche Ereignisse?, fragte sich Bento. Vielleicht aufrührerische Reden des Rabbiners? Vielleicht traurige Vorkommnisse im vergangenen oder im gegenwärtigen Privatleben des Angreifers? Über all diese Gedanken brütete Bento, während er in seinem Zimmer auf und ab ging.

Dann hörte er ein leises Klopfen. Er war nur einen Schritt von der Tür entfernt, streckte die Hand zur Klinke aus und öffnete abrupt. Clara Maria und Dirk standen im Eingang, ihre Hände berührten sich, ihre Finger waren ineinander verhakt. Schnell zuckten ihre Hände zurück, dann traten sie in sein Zimmer.

»Bento«, stammelte eine verwirrte Clara Maria. »Oh, Sie sind schon wieder auf den Beinen? Erst vor einer Stunde klopften wir schon einmal an, und als Sie nicht öffneten, schauten wir herein, und Sie schliefen tief und fest.«

»Äh, ja, wirklich, schön, dass Sie wieder auf den Beinen sind«, sagte Dirk. »Bis jetzt hat man den Verrückten noch nicht gefasst, aber ich konnte ihn mir genau ansehen und werde ihn wiedererkennen, wenn sie ihn fangen. Ich hoffe, dass sie ihn für lange Zeit wegsperren.«

Bento sagte nichts.

Dirk deutete auf Bentos Bauch. »Sehen wir uns die Wunde an. Van den Enden meinte, ich solle nachsehen.« Dirk kam näher und bedeutete Clara Maria hinauszugehen.

Aber Bento trat sofort einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es geht mir gut. Nicht gerade jetzt. Ich wäre gern noch ein wenig allein.«

»Also gut, dann kommen wir in einer Stunde wieder.« Dirk und Clara Maria warfen sich fragende Blicke zu und verließen das Zimmer.

Nun fühlte sich Bento sogar noch schlechter: diese Hände, die einander berührten und wieder auseinanderzuckten, damit er es nicht sehen würde – dieser vertraute Blick zwischen den beiden. Wenige Minuten zuvor waren sie noch seine engsten Freunde gewesen. Erst vergangene Nacht hatte Dirk ihm das Leben gerettet; erst vergangene Nacht hatte er Clara Marias Schauspielkunst bewundert, war von jeder ihrer Bewegungen verzaubert gewesen, von jedem koketten Kräuseln ihrer Lippen und dem Flattern ihrer Augenlider. Und urplötzlich empfand er Hass gegen die beiden. Es war ihm unmöglich gewesen, sich bei Dirk zu bedanken, er konnte nicht einmal seinen Namen aussprechen oder Clara danken, dass sie vergangene Nacht bei ihm gesessen hatte.

»Beruhige dich«, murmelte Bento. »Tritt einen Schritt zurück und betrachte dich aus größerer Entfernung. Sieh doch, wie deine Gefühle Karussell fahren – zuerst Liebe, jetzt Hass, dann Wut. Wie wankelmütig, wie launenhaft Leidenschaften doch sind. Sieh nur, wie du von den Handlungen anderer herumgeworfen wirst, erst hierhin, dann dorthin. Wenn du erfolgreich sein willst, musst du deine Leidenschaften dadurch überwinden, dass du deine Gefühle an etwas Unveränderliches, etwas ewig Währendes heftest.«

Abermals ein Klopfen an der Tür. Das gleiche, sanfte Klopfen. Konnte sie es sein? Dann ihre melodiöse Stimme: »Bento, Bento, darf ich hereinkommen?«

Hoffnung und Leidenschaft flammten auf. Augenblicklich fühlte Bento sich beschwingt und vergaß alles ewig Währende und Unveränderliche. Vielleicht war Clara ja allein, verändert, reuig. Vielleicht würde sie wieder seine Hand halten.

»Treten Sie ein.«

Clara Maria trat allein ins Zimmer. Sie hielt einen Zettel in der Hand. »Bento, das hier hat mir ein Mann für Sie gegeben. Ein fremder, aufgeregter, recht kleiner Mann mit einem starken portugiesischen Akzent, der immer die Straße hinauf- und hinuntergesehen hat. Ich glaube, er ist Jude. Er wartet vorn am Kanal auf eine Antwort.«

Bento riss ihr den Zettel aus der ausgestreckten Hand, faltete die Nachricht auseinander und überflog sie schnell. Clara Maria beobachtete ihn neugierig: Noch nie zuvor hatte sie Bento so begierig einen Text lesen sehen. Er las ihr den portugiesischen Text auf Holländisch vor:

»Bento, ich habe von vergangener Nacht gehört. Die ganze Gemeinde weiß davon. Ich möchte Sie heute sehen. Es ist wichtig. Ich stehe nahe an Ihrem Haus vor dem roten Hausboot an der Singel. Können Sie kommen? Franco.«

»Er ist ein Freund, Clara Maria«, sagte Bento. »Mein einziger Freund, der mir aus meinem alten Leben geblieben ist. Ich muss ihn treffen. Ich kann allein die Treppe hinuntergehen.«

»Nein. Papa sagte, Sie dürfen heute noch keine Treppen steigen. Ich werde Ihrem Freund bestellen, dass er in ein, zwei Tagen wiederkommen soll.«

»Aber er schrieb ausdrücklich ›heute‹. Es muss etwas mit vergangener Nacht zu tun haben. Meine Wunden sind ja nur Kratzer. Ich schaffe das schon.«

»Nein, Papa hat Sie meiner Fürsorge anvertraut. Ich verbiete es Ihnen. Ich werde ihn heraufbringen. Ich bin sicher, dass Papa nichts dagegen hätte.«

Bento nickte. »Danke, aber achten Sie bitte darauf, dass niemand auf der Straße ist – niemand darf ihn eintreten sehen. Seit meiner Exkommunikation darf kein Jude mehr mit mir sprechen. Er darf nicht gesehen werden, wenn er mich besucht.«

Zehn Minuten später kehrte Clara mit Franco zurück. »Bento, wann soll ich wiederkommen und ihn hinausbegleiten?« Nachdem sie von den Männern keine Antwort bekam, die vollauf damit beschäftigt waren, einander in die Augen zu sehen, zog sie sich diskret zurück. »Ich bin dann im Nebenzimmer.«

Als die Tür leise ins Schloss fiel, trat Franco näher und packte Bento an den Schultern: »Sind Sie in Ordnung, Bento? Sie sagte mir, dass Sie nicht schwer verletzt sind.«

»Nein, Franco, nur ein paar Kratzer hier …« Er zeigte auf seinen Bauch. »Aber ein sehr tiefer Schnitt hier«, sagte er und deutete auf seinen Kopf.

»Es ist eine solche Erleichterung für mich, Sie zu sehen.«

»Für mich auch. Hier, nehmen Sie Platz.« Er deutete auf das Bett, und beide setzten sich, während Franco fortfuhr:

»Zuerst verbreitete sich in der Kongregation die Nachricht, Sie wären tot, niedergestreckt von Gott. Ich ging in die Synagoge, und dort herrschte Jubelstimmung – die Leute sagten, dass Gott ihre Rufe erhört und sein Gericht geschickt habe. Ich war vor Sorge fast außer mir, und erst als ich mit den Polizeibeamten sprach, die die Umgebung nach dem Attentäter absuchten, erfuhr ich, dass Sie verletzt wurden, natürlich nicht von Gott, sondern von einem verrückten Juden.«

»Wer ist er?«

»Das weiß niemand. Oder wenigstens sagt keiner, dass er es weiß. Ich hörte, dass er ein Jude ist, der gerade erst in Amsterdam eingetroffen ist.«

»Ja, er ist Portugiese. Er schrie: ›Herege!‹, als er sich auf mich stürzte.«

»Ich hörte, dass seine Familie von der Inquisition getötet wurde. Und vielleicht hegt er einen besonderen Groll gegen ehemalige Juden. Manche ehemalige Juden in Spanien und Portugal sind inzwischen die größten Feinde der Juden: Priester, die schnell befördert werden, wenn sie den Inquisitoren helfen, Täuschungsmanöver aufzudecken.«

»Ja, jetzt wird die Verknüpfung der Ursachen klarer.«

»Verknüpfung der Ursachen?«

»Franco, es ist schön, Sie wiederzusehen. Ihre besondere Art, mich immer wieder zu unterbrechen und Klarstellung zu fordern, gefällt mir immer wieder. Damit meine ich einfach nur, dass alles eine Ursache hat.«

»Selbst dieser Überfall?«

»Ja, alles! Alles unterliegt den Gesetzen der Natur, und mittels unserer Vernunft ist es uns möglich, diese Kette von Ursachen zu begreifen. Ich glaube, das gilt nicht nur für Gegenstände, sondern für alles Menschliche, und ich beginne gerade mit dem Projekt, menschliche Handlungen, Gedanken und Begierden so zu betrachten, als handelte es sich um Linien, Flächen oder Körper.«

»Wollen Sie damit sagen, dass wir die Ursache jedes Gedankens, jeder Begierde, jeder Laune, jedes Traumes kennenlernen können?«

Bento nickte.

»Heißt das, wir können nicht einfach entscheiden, ob wir bestimmte Gedanken denken? Ich kann nicht selbst entscheiden, ob ich den Kopf zuerst in die eine Richtung und dann in die andere drehe? Dass wir nicht einfach freie Wahl haben?«

»Genau das meine ich. Der Mensch ist Teil der Natur und deshalb dem Naturgesetz von Ursache und Wirkung unterworfen. Nichts in der Natur, und das gilt auch für uns, kann sich einfach nach Lust und Laune entscheiden, eine bestimmte Handlung auszulösen. Es kann keinen eigenen Staat innerhalb eines Staates geben.«

»Keinen eigenen Staat innerhalb eines Staates? Ich habe schon wieder den Faden verloren.«

»Es ist über ein Jahr her, Franco, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben, und ich rede sofort über Philosophie, statt mich ausführlich nach Ihrem Leben zu erkundigen.«

»Ach was. Nichts ist mir wichtiger, als solche Gespräche wie jetzt mit Ihnen zu führen. Ich komme mir vor wie einer, der kurz vor dem Verdursten ist und plötzlich doch noch eine Oase findet. Alles andere hat Zeit. Erzählen Sie mir von Ihrem Staat innerhalb eines Staates.«

»Ich meine damit Folgendes: Da der Mensch in jeder Hinsicht ein Teil der Natur ist, ist es nicht richtig zu glauben, dass der Mensch die Ordnung der Natur eher stört als ihr folgt. Es ist nicht richtig anzunehmen, dass er oder irgendein Wesen in der Natur einen freien Willen hätte. Alles, was wir tun, wird entweder von äußeren oder inneren Ursachen bestimmt. Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen schon einmal darlegte, dass Gott oder die Natur die Juden nicht auserwählt hat?«

Franco nickte.

»Also ist auch wahr, dass Gott nicht beschlossen hat, die Menschheit solle etwas Besonderes sein, also außerhalb der Naturgesetze stehen. Diese Ansicht hat, wie ich glaube, nichts mit natürlicher Ordnung zu tun, sondern entstammt vielmehr unserem tiefen Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, unvergänglich zu sein.«

»Ich glaube, ich begreife, was Sie meinen – das ist ein gigantischer Gedanke. Keine Freiheit des Willens? Ich bin skeptisch. Das möchte ich anfechten. Es ist nämlich so: Ich denke, dass ich frei entscheiden kann zu sagen: ›Das möchte ich anfechten.‹ Dennoch habe ich keine Argumente parat. Bis zu unserem nächsten Treffen werde ich mir einige überlegen. Aber Sie sprachen vom Attentäter und einer Verknüpfung der Ursachen, als ich Sie unterbrochen habe. Bitte fahren Sie fort, Bento.«

»Ich glaube, es ist ein Naturgesetz, auf ganze Klassen von Dingen in gleicher Weise zu reagieren. Dieser Attentäter war vielleicht außer sich vor Trauer um seine Familie, hörte, dass ich ein ehemaliger Jude bin, und stellte mich mit anderen ehemaligen Juden, die seiner Familie Leid zugefügt haben, auf die gleiche Stufe.«

»Ihre Denkmethode erscheint mir logisch, aber sie muss auch den Einfluss anderer einbeziehen, die ihn vielleicht dazu ermutigt haben, so etwas zu tun.«

»Diese ›anderen‹ unterliegen ebenfalls einer Verknüpfung von Ursachen«, sagte Bento.

Franco überlegte und nickte. «Wissen Sie, was ich denke, Bento?«

Bento sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich glaube, das ist eine Lebensaufgabe.«

»Insoweit stimmen wir vollkommen überein. Und ich bin damit einverstanden, sehr einverstanden sogar, mein Leben dieser Aufgabe zu widmen. Aber was wollten Sie über den Einfluss anderer auf den Attentäter sagen?«

»Ich glaube, dass die Rabbiner ihn anstifteten und die Gedanken und Handlungen Ihres Attentäters steuerten. Das Gerücht geht um, dass er im Augenblick im Keller der Synagoge versteckt gehalten wird. Ich glaube, die Rabbiner wollten der Kongregation mit Ihrem Tod die Gefahren vor Augen führen, die jemandem drohen, der die rabbinische Autorität anzweifelt. Ich habe die Absicht, der Polizei zu sagen, wo er sich vielleicht versteckt hält.«

»Nein, Franco. Tun Sie das nicht! Denken Sie an die Folgen. Der Kreislauf aus Trauer, Wut, Rache, Strafe, Vergeltung ist endlos und wird Sie und Ihre Familie am Ende verschlingen. Wählen Sie einen religiösen Weg.«

Franco sah ihn entsetzt an: »Religiös? Wie können Sie den Begriff ›religiös‹ in den Mund nehmen?«

»Ich meine einen moralischen Pfad, einen tugendhaften Pfad. Wenn Sie diesen Kreislauf von seelischem Schmerz durchbrechen wollen, müssen Sie mit diesem Attentäter sprechen«, sagte Bento. »Beruhigen Sie ihn, lindern Sie sein Leid, versuchen Sie, ihn aufzuklären.«

Franco nickte langsam und saß schweigend da, während er Bentos Worte verdaute. Dann sagte er: »Bento, lassen Sie uns noch einmal zu dem zurückgehen, was Sie vorhin über Ihre tiefe Wunde im Kopf sagten. Wie ernst ist diese Wunde?«

»Ehrlich gesagt, Franco, bin ich vor Angst wie gelähmt. Mein Brustkorb fühlt sich so eng an, als wollte er gleich bersten. Ich kann mich nicht beruhigen, obwohl ich schon seit dem Vormittag daran arbeite.«

»Wie arbeiten Sie daran?«

»Nun, so, wie ich es Ihnen beschrieben habe – ich rufe mir in Erinnerung, dass alles eine Ursache hat und das, was geschah, notwendigerweise geschah.«

»Was bedeutet notwendigerweise

»Unter Berücksichtigung aller Faktoren, die sich vorher ereigneten, musste dieser Vorfall eintreten. Er war nicht zu verhindern. Und eines der wichtigsten Dinge, die ich gelernt habe, ist, dass es wider die Vernunft ist, etwas beherrschen zu wollen, das wir nicht beherrschen können. Das, und davon bin ich überzeugt, ist ein wahrer Gedanke, und dennoch kehren die Bilder dieses Überfalls immer wieder zurück und verfolgen mich.« Bento hielt einen Augenblick inne, als seine Augen seinen zerfetzten Mantel streiften. »Gerade eben kam mir in den Sinn, dass der Anblick dieses Mantels da drüben auf dem Stuhl das Problem verschlimmern könnte. Ein großer Fehler, ihn dort liegen zu lassen. Ich muss mich ein für alle Mal davon trennen. Einen Augenblick lang dachte ich daran, ihn Ihnen zu schenken, aber natürlich dürfen Sie nicht mit diesem Mantel gesehen werden. Es war der Mantel meines Vaters und ist leicht zu erkennen.«

»Ich bin anderer Meinung. Ihn aus dem Weg zu räumen ist keine gute Idee. Darf ich Ihnen wiedergeben, was mein Vater in sehr ähnlichen Situationen immer sagte? ›Wirf ihn nicht weg. Blockiere nicht einen Teil deines Geistes, sondern tu genau das Gegenteil.‹ Deshalb schlage ich Ihnen vor, Bento, dass Sie ihn immer dort hängen lassen, wo Sie ihn gut sehen können, irgendwo, wo Sie ihn immer im Blick haben, damit er Sie an die Gefahren erinnert, denen Sie ausgesetzt sind.«

»Ich verstehe die Weisheit dieses Rates. Es erfordert viel Mut, ihn zu befolgen.«

»Bento, es ist unbedingt notwendig, dass Sie diesen Mantel immer im Blickfeld haben. Ich glaube, Sie unterschätzen die Gefahren, die in Ihrer Situation nun auf Sie lauern. Gestern sind Sie fast umgekommen. Bestimmt fürchten Sie sich vor dem Tod?«

Bento nickte. »Ja. Obwohl ich daran arbeite, diese Furcht zu überwinden.«

»Wie? Jeder fürchtet sich vor dem Tod.«

»Die Menschen fürchten sich unterschiedlich stark davor. Einige Philosophen aus der Antike, die ich gerade studiere, suchten nach Wegen, um die Angst vor dem Tod zu vermindern. Erinnern Sie sich an Epikur? Wir sprachen einmal über ihn.«

Franco nickte. »Ja, der Mann, der sagte, der Zweck des Lebens bestehe darin, in einem Zustand der Seelenruhe zu leben. Was genau war der Begriff, den er benutzte?«

»Ataraxia. Epikur glaubte, dass der größte Störenfried von ataraxia unsere Furcht vor dem Tode sei, und er lehrte seine Schüler mehrere machtvolle Argumente, um sie zu verringern.«

»Was zum Beispiel?«

»Nun, er geht davon aus, dass es kein Leben nach dem Tod gibt und dass wir nach unserem Tod von den Göttern nichts zu befürchten haben. Dann sagte er, dass Tod und Leben niemals koexistieren können. Mit anderen Worten: Wo Leben ist, ist kein Tod, und wo Tod ist, ist kein Leben.«

»Das hört sich logisch an, aber ich bezweifle, dass es mitten in der Nacht zur Beruhigung taugt, wenn man gerade aus einem Alptraum erwacht, in dem man stirbt.«

»Epikur hat allerdings noch ein Argument, das Symmetrie-Argument, das sogar noch mächtiger sein könnte. Es postuliert, dass der Zustand des Nichtseins nach dem Tod identisch mit dem Zustand des Nichtseins vor der Geburt ist. Und obwohl wir den Tod fürchten, empfinden wir kein Grauen, wenn wir an jenen früheren, identischen Zustand denken. Daher haben wir auch keinen Grund, den Tod zu fürchten.«

Franco atmete hörbar ein. »Das weckt meine Aufmerksamkeit, Bento. Sie sagen die Wahrheit. Dieses Argument hat die Macht zu beruhigen.«

»Wenn ein Argument ›die Macht hat zu beruhigen‹, unterstützt das die Vorstellung, dass kein Ding an und für sich wirklich gut oder schlecht, angenehm oder beängstigend ist. Es ist nur unser Geist, der es dazu macht. Denken Sie daran, Franco – es ist nur unser Geist, der es dazu macht. Diese Vorstellung hat wahre Macht, und ich bin überzeugt davon, dass sie den Schlüssel zur Heilung meiner Wunde in Händen hält. Was ich tun muss, ist, die Reaktion meines Geistes auf den Vorfall von letzter Nacht zu verändern. Aber ich habe bis jetzt noch nicht entdeckt, wie das gehen soll.«

»Ich bin verblüfft, dass Sie selbst mitten in Ihrer Panik noch philosophieren können.«

»Ich muss es als eine Gelegenheit zum Verstehen betrachten. Was kann wichtiger sein, als aus erster Hand zu lernen, die Furcht vor dem Tod zu verringern? Erst vor wenigen Tagen las ich einen Satz eines römischen Philosophen namens Seneca, der sagte: ›Kein Grauen wagt es, in das Herz einzudringen, das sich selbst von Todesfurcht gereinigt hat.‹ Mit anderen Worten: Hat man einmal die Todesfurcht besiegt, besiegt man auch jede andere Furcht.«

»Allmählich beginne ich besser zu verstehen, weshalb Ihre Furcht Sie so sehr fasziniert.«

»Das Problem wird klarer, doch die Lösung liegt noch immer im Verborgenen. Ich frage mich, ob ich den Tod im Augenblick deshalb so besonders fürchte, weil ich mich so ausgefüllt fühle.«

»Wie bitte?«

»Ich meine, mein Geist ist ausgefüllt. In meinem Kopf schwirren so viele unentwickelte Gedanken herum, und der Gedanke daran, dass es vielleicht Totgeburten sein könnten, schmerzt mich über alle Maßen.«

»Dann passen Sie auf sich auf, Bento. Beschützen Sie diese Gedanken. Und beschützen Sie sich selbst. Obwohl Sie auf dem besten Weg zu einem großen Lehrer sind, sind Sie auf manche Art sehr naiv. Ich glaube, dass Sie dadurch, dass Sie selbst so wenig Hass empfinden, dessen Vorhandensein bei anderen unterschätzen. Hören Sie mich an: Sie sind in Gefahr und müssen Amsterdam verlassen. Sie müssen sich den Blicken der Juden entziehen. Führen Sie ein verborgenes Leben und schreiben Sie im Verborgenen.«

»Ich glaube, in Ihnen keimt ein Lehrmeister. Sie geben mir gute Ratschläge, Franco, und bald schon, sehr bald schon, werde ich sie befolgen. Aber nun müssen Sie mir von Ihrem Leben erzählen.«

»Noch nicht. Ich habe einen Gedanken, der Ihr Grauen lindern könnte. Ich habe eine Frage: Glauben Sie, dass Sie hier oben …« Franco zeigte auf seinen Kopf, »eine solche Wunde hätten, wenn der Attentäter nur irgendein Verrückter gewesen wäre und kein Jude mit einem besonderen Groll gegen Sie?«

Bento nickte: »Eine wirklich ausgezeichnete Frage.« Er lehnte sich an den Bettpfosten, schloss die Augen und dachte mehrere Minuten lang nach. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie sagen wollen, und das ist wirklich sehr mitfühlend. Nein, ich bin sicher, dass die Wunde in meinem Kopf nicht so schmerzen würde, wenn er kein Jude wäre.«

»Ah«, sagte Franco, »und das bedeutet also …«

»Es muss bedeuten, dass es nicht nur meine Angst vor dem Tod ist. Sie hat eine zusätzliche Komponente, die mit meinem erzwungenen Exil von der jüdischen Welt verknüpft ist.«

»Das glaube ich auch. Wie sehr bekümmert Sie dieses Exil im Augenblick? Als wir zuletzt miteinander sprachen, drückten Sie nichts als Erleichterung darüber aus, dass Sie die abergläubische Welt verlassen konnten, und viel Freude angesichts der Aussicht, ein Leben in Freiheit zu führen.«

»Sie haben Recht. Und diese Erleichterung und Freude empfinde ich immer noch, aber nur in meinen wachen Stunden. Ich führe nun zwei Leben. Tagsüber bin ich ein neuer Mensch, der seine alte Haut abgestreift hat, der Latein und Griechisch liest und aufregende, freie Gedanken denkt. Doch während der Nacht bin ich Baruch, ein jüdischer Wanderer, der von meiner Mutter und meiner Schwester umsorgt wird, von den Älteren über den Talmud ausgefragt wird und der in den verkohlten Trümmern einer Synagoge herumstolpert. Je weiter ich mich vom hellwachen Bewusstsein entferne, desto mehr bewege ich mich zurück zu meinen Anfängen und klammere mich an diese Phantome meiner Kindheit. Und es mag Sie überraschen, Franco: Fast jede Nacht, wenn ich in diesem Bett liege und auf den Schlaf warte, kommen Sie mich besuchen.«

»Ich hoffe, ich bin ein guter Gast.«

»Ein viel besserer, als Sie sich überhaupt vorstellen können. Ich bitte Sie herein, weil Sie mir Beruhigung verschaffen. Und Sie sind heute ein guter Gast. Selbst während wir uns hier unterhalten, spüre ich, wie ataraxia wieder in mich hineinströmt. Und noch mehr als ataraxia – Sie helfen mir zu denken. Ihre Frage zu dem Attentäter – wie ich reagieren würde, wenn er kein Jude wäre – hilft mir, die Komplexität der Determinanten tatsächlich zu erfassen. Ich weiß, ich muss mich mehr mit Vorläufern befassen und Gedanken nicht vollkommen bewusst betrachten, nächtliche Gedanken wie auch die während des Tages. Dafür danke ich Ihnen.«

Franco strahlte über das ganze Gesicht und drückte Bentos Schulter.

»Und nun, Franco, müssen Sie mir aber von Ihrem Leben berichten.«

»Es hat sich viel ereignet, obwohl mein Leben weniger abenteuerlich ist als das Ihre. Meine Mutter und meine Schwester trafen einen Monat nach Ihrem Umzug hier ein, und mit Unterstützung der Synagoge fanden wir eine kleine Wohnung nicht weit von Ihrem Handelsgeschäft entfernt. Ich gehe oft vorbei und sehe Gabriel, der mir zunickt, aber nicht mit mir spricht. Ich glaube, er weiß wie alle anderen von meiner Rolle bei Ihrem Cherem. Er ist inzwischen verheiratet und lebt bei der Familie seiner Frau. Ich arbeite im Transportunternehmen meines Onkels und helfe ihm, seine ankommenden Schiffe zu inventarisieren. Ich lerne mit großem Eifer und gehe mehrmals die Woche mit anderen Immigranten zum Hebräischunterricht. Hebräisch zu lernen ist ermüdend, aber auch aufregend. Es tröstet mich und gibt mir eine Richtschnur in meinem Leben, ein Gefühl von Kontinuität mit meinem Vater und seinem Vater und dessen Vater über Hunderte von Jahren in die Vergangenheit zurück. Dieses Gefühl der Kontinuität wirkt ungemein stabilisierend.

Ihr Schwager Samuel ist mittlerweile Rabbiner und unterrichtet uns vier Mal die Woche. Andere Rabbiner und sogar Rabbi Mortera geben uns an den anderen Tagen abwechselnd Unterricht. Aus Bemerkungen von Samuel schließe ich, dass es Ihrer Schwester Rebecca gut geht. Was sonst noch?«

»Und was ist mit Ihrem Cousin Jacob?«

»Er ist wieder nach Rotterdam umgezogen, und ich sehe ihn kaum.«

»Und die wichtige Frage: Sind Sie zufrieden, Franco

»Ja, aber es ist eine melancholische Art von Zufriedenheit. Dadurch, dass ich Sie kennenlernen durfte, eröffnete sich mir eine andere Facette des Lebens, ein geistiges Leben, das ich nicht voll auslebe. Es beruhigt mich sehr zu wissen, dass es Sie gibt und dass Sie Ihre Forschungen weiterhin mit mir teilen. Meine Welt ist kleiner, und ich kann jetzt schon ihre zukünftige Gestalt erkennen. Meine Mutter und meine Schwester haben eine Frau für mich ausgesucht, ein sechzehnjähriges Mädchen aus unserem Dorf in Portugal, und wir werden in wenigen Wochen heiraten. Ich bin mit der Auswahl einverstanden – sie ist anmutig, umgänglich und zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Sie wird mir eine gute Frau sein.«

»Werden Sie mit ihr über alle Ihre Interessen sprechen können?«

»Ich glaube schon. Auch sie ist voller Wissensdurst. Wie die meisten Mädchen aus unserem Dorf kann sie nicht einmal lesen und schreiben. Ich habe begonnen, sie auszubilden.«

»Hoffentlich nicht zu viel Ausbildung. So etwas birgt Gefahren. Aber sagen Sie mir, Franco, spricht man in der Gemeinde über mich?«

»Bis zu diesem Vorfall hörte ich nichts dergleichen. Es ist, als habe man der Gemeinde nicht nur befohlen, Ihnen aus dem Weg zu gehen, sondern ihr auch verboten, Ihren Namen auszusprechen. Ich höre nie, dass jemand Ihren Namen ausspräche, obwohl ich natürlich nicht weiß, was hinter verschlossenen Türen gesagt wird. Vielleicht ist es nur meine Phantasie, aber ich glaube wirklich, dass Ihr Geist über der Gemeinde schwebt und vieles beeinflusst. Zum Beispiel sind unsere Hebräisch-Übungsstunden außerordentlich vollgepackt und lassen es nicht zu, irgendwelche Zweifel zu äußern. Es ist, als wollten die Rabbiner auf jeden Fall vermeiden, dass ein zweiter Spinoza geboren wird.«

Bento senkte den Kopf.

»Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen, Bento. Das war nicht freundlich von mir.«

»Sie können nur unfreundlich sein, wenn Sie die Wahrheit vor mir verbergen.«

Ein leises Klopfen an der Tür und dann Clara Marias Stimme: »Bento.«

Bento öffnete die Tür.

»Bento, ich muss bald fort. Wie lange bleibt Ihr Freund noch?«

Bento warf Franco einen fragenden Blick zu, der ihm zuflüsterte, dass er bald gehen müsse, da er keinen triftigen Grund habe, sich länger von der Arbeit zu entfernen. Bento antwortete: »Clara Maria, geben Sie uns nur noch ein paar Minuten, bitte.«

»Ich werde im Musikzimmer warten.« Clara Maria schloss leise die Tür.

»Wer ist sie, Bento?«

»Die Tochter des Direktors und meine Lehrerin. Sie unterrichtet mich in Latein und auch in Griechisch.«

»Ihre Lehrerin? Unmöglich. Wie alt ist sie?«

»Ungefähr sechzehn. Sie begann, mich zu unterrichten, als sie dreizehn war. Sie ist ein Wunderkind. Ganz anders als andere Mädchen.«

»Sie scheint Ihnen in Liebe und Zärtlichkeit zugetan zu sein.«

»Ja, das stimmt, und ich erwidere diese Gefühle, aber …« Bento zögerte: Er war es nicht gewohnt, seine intimsten Gefühle zu äußern. »Aber heute hat sie meine Not deutlich verschlimmert, als sie meinem Freund und Klassenkameraden sogar noch mehr Zärtlichkeit entgegenbrachte.«

»Ach, Eifersucht. Sie kann wirklich schmerzen. Es tut mir so leid, Bento. Aber sprachen Sie letztes Mal nicht davon, dass Sie ein Leben in Einsamkeit anstrebten und die Idee einer Gefährtin aufgäben? Sie schienen mir auf ein Leben allein so festgelegt zu sein oder sich damit abgefunden zu haben.«

»Festgelegt und damit abgefunden. Ich habe mich absolut auf ein geistiges Leben festgelegt und weiß, dass ich niemals die Verantwortung für eine Familie auf mich nehmen kann. Und ich weiß auch, dass es schon von Gesetzes wegen unmöglich ist, eine Ehe mit einer Christin oder Jüdin einzugehen. Und Clara Maria ist katholisch. Und noch dazu eine abergläubische Katholikin.«

»Es bereitet Ihnen also Schwierigkeiten, das aufzugeben, was Sie in Wahrheit nicht wollen und nicht haben können?«

»Richtig! Es gefällt mir, wie zielsicher Sie mitten in den Kern meiner Absurdität hineinbohren.«

»Und Sie sagen, dass Sie sie lieben? Und was ist mit Ihrem guten Freund, den sie vorzieht?«

»Bis zum heutigen Tag liebte ich auch ihn. Er half mir nach dem Cherem beim Umzug; er rettete mir letzte Nacht das Leben. Er ist ein guter Mensch. Und er beabsichtigt, Arzt zu werden.«

»Aber Sie wollen, dass sie Sie begehrt statt ihn, obwohl Sie wissen, dass Sie damit alle drei unglücklich machen würden.«

»Ja, das stimmt.«

»Und Ihre Verzweiflung, sie nicht haben zu können, wird umso größer sein, je mehr Sie sie begehren.«

»Ja, das kann ich nicht leugnen.«

»Aber Sie lieben sie und möchten, dass sie glücklich ist. Und wenn sie leidet, werden dann auch Sie leiden?«

»Ja, ja und ja. Alles, was Sie sagen, ist richtig.«

»Und eine letzte Frage: Sie sagen, sie sei eine abergläubische Katholikin? Und Katholiken lieben Rituale und Wunder. Was hält sie also von Ihren Ideen von Gott als Natur, von Ihrer Ablehnung von Ritualen und Aberglauben?«

»Über diese Gedanken würde ich niemals mit ihr sprechen.«

»Weil sie sie zurückweisen würde und Sie vielleicht gleich mit dazu?«

Bento nickte. »Jedes Wort, das Sie sagen, ist wahr, Franco. Ich habe mich so bemüht, habe so viel aufgegeben, um frei zu sein, und nun habe ich meine Freiheit aufgegeben und mich von Clara Maria bezaubern lassen. Wenn ich an sie denke, bin ich ganz und gar nicht in der Lage, andere, erhabenere Gedanken zu denken. Insoweit ist es offensichtlich, dass ich nicht mein eigener Herr, sondern von Leidenschaft versklavt bin. Obwohl der Verstand mir zeigt, was besser ist, bin ich gezwungen, dem zu folgen, was schlechter ist.«

»Das ist eine sehr alte Geschichte, Bento. Wir werden zeitlebens von der Liebe versklavt. Wie wollen Sie sich befreien?«

»Ich kann nur frei sein, wenn ich meine Verbindungen zu sinnlichem Vergnügen, Reichtum und Ruhm vollkommen durchtrenne. Wenn ich den Verstand nicht achte, werde ich immer der Sklave meiner Leidenschaft sein.«

»Und doch, Bento«, sagte Franco, stand auf und machte sich zum Gehen bereit, »wir wissen, dass der Verstand der Leidenschaft nichts entgegenzusetzen hat.«

»Ja, eine Emotion kann nur von einer noch stärkeren Emotion besiegt werden. Meine Aufgabe ist klar: Ich muss lernen, den Verstand zu einer Leidenschaft umzuwandeln.«

»Verstand zu einer Leidenschaft umwandeln«, flüsterte Franco, als sie zum Musikzimmer gingen, in dem Clara Maria wartete. »Eine gewaltige Aufgabe. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, hoffe ich, von Ihren Fortschritten zu hören.«

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