14 MÜNCHEN, 1918–1919

Charakter ist Schicksal. Die neue Welle psychoanalytischen Denkens, die Friedrich begeistert annahm, pflichtete Spinoza bei, dass die Zukunft von dem bestimmt wird, was ihr vorausging: von unserer physischen und psychologischen Veranlagung – unseren Leidenschaften, Ängsten, Zielen; unserem Temperament, unserer Selbstliebe, unserer Einstellung anderen gegenüber.

Aber betrachten wir Rosenberg, einen prätentiösen, abgehobenen, lieblosen, wenig liebenswerten Möchtegernphilosophen, der jegliche Neugier über sich selbst vermissen ließ und trotz seines nur eingebildeten Selbstbewusstseins mit einem dünkelhaften Gefühl der Überlegenheit auf Erden wandelte. Konnte Friedrich, konnte irgendjemand, der die Natur des Menschen studierte, den kometenhaften Aufstieg Alfred Rosenbergs voraussehen? Nein. Charakter allein reicht für eine Prophezeiung nicht aus. Es gibt eine weitere zentrale, nicht vorhersehbare Ingredienz. Wie sollen wir sie nennen? Glück? Zufall? Das schlichte Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein?

Die rechte Zeit? November 1918. Der Krieg ging zu Ende, und Deutschland, verwundet und entsetzt angesichts seiner Niederlage, befand sich im Chaos und wartete auf einen Retter. Und der rechte Ort? München. Bald schon sollte Alfred Rosenberg sich auf den Weg zu diesem auserwählten Ort machen, dessen dunkle Seitengässchen und beliebte Bierkeller ein Drama von großer Tragweite ausbrüteten und nur noch auf die Ankunft seiner pervertierten, bösartigen Ausgeburt warteten.

Alfred blieb weitere sechs Wochen in Reval und versuchte, sich mit Kunstunterricht an deutschsprachigen Schulen über Wasser zu halten. Er war verblüfft, als er bei einer Gelegenheit für zwei seiner Zeichnungen eine geringe Summe erzielte – das erste und einzige Geld, das er je mit seiner Kunst verdienen sollte. Am folgenden Abend platzte er in Feierlaune in eine Bürgerversammlung, stand verzückt im hinteren Bereich des Auditoriums und lauschte einer Debatte über die Zukunft Estlands. Aus einem Impuls heraus schritt er plötzlich wie in Trance zum Podium vor und hielt eine kurze, leidenschaftliche Rede über die Gefahren des jüdischen Bolschewismus, der im benachbarten Russland lauerte. Wurde er aus dem Konzept gebracht, als der jüdische Besitzer eines großen Warenhauses seine Rede störte und mit einer großen Gruppe von Juden unter Protest zum Ausgang strebte? Ganz und gar nicht. Alfreds Lippen kräuselten sich zu einem wissenden Lächeln, völlig überzeugt davon, dass es eine gute Sache war, seine Zuhörerschaft gesäubert zu haben. Er wünschte diesen Juden nichts Böses. Er hoffte, dass sie sich in ihren eigenen warmen Küchen wohl und behaglich fühlten. Er wollte einfach nur, dass sie aus Reval verschwanden. Allmählich keimte die Saat einer bedeutenden Idee: Sie sollten nicht nur aus Reval verschwinden, nicht nur aus Estland, sondern aus ganz Europa. Das Vaterland konnte nur sicher sein, nur gedeihen, wenn jeder einzelne Jude Europa verlassen hatte.

Mit jedem Tag wuchs sein Entschluss, nach Deutschland zu emigrieren: Er wollte nicht länger in einem unbedeutenden Land am Rande Europas hausen. Estland, inzwischen leergefegt von Deutschen, steuerte auf eine unstabile Zukunft als schwaches Land oder, noch schlimmer, auf eine unmittelbar bevorstehende Machtergreifung durch die jüdisch-russischen Bolschewiken zu. Doch wie ausreisen? Die Straßen Estlands waren gesperrt, und alle Züge waren vom Militär für die besiegten, nach Deutschland zurückkehrenden Truppen requiriert worden. Gefangen und richtungslos, klopfte die Glücksfee zum ersten Mal an Alfreds Tür.

In der Kneipe der Arbeiterklasse, in der Alfred oft zu Mittag aß, trank er sein Bier, aß Würste und las dabei die Brüder Karamasow. Er las sie auf Russisch, hatte aber daneben eine deutsche Übersetzung aufgeschlagen auf dem Tisch liegen. Von Zeit zu Zeit unterbrach er seine Lektüre und prüfte die Genauigkeit der Übersetzung. Bald störte ihn die lautstarke Heiterkeit an einem Nachbartisch, er stand auf und suchte sich eine ruhigere Ecke. Als er sich im Lokal umsah, hörte er zufällig an einem anderen Tisch eine Unterhaltung in deutscher Sprache.

»Ja, ja, ich ziehe von Reval weg«, freute sich ein Bäcker mittleren Alters mit einer weißen, mehlbestäubten Schürze, die sich um einen enormen Bauch spannte. Er lächelte breit, entkorkte für seine drei Kameraden zur Feier des Tages eine Flasche Schnaps, schenkte ein Glas ein, hob es hoch über seinen Kopf und prostete ihnen zu: »Ich erhebe mein Glas und sage euch Lebewohl, meine lieben Freunde. Ich hoffe, dass wir uns im Vaterland wiedersehen. Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich etwas Schlaues gemacht – etwas Bäckerschlaues.« Er deutete auf seinen Kopf und dann auf seinen Bauch. »Ich habe dem Kommandanten des Militärs zwei Laibe meines deutschen Brotes und meinen besten Apfelstrudel gebracht, alles knusprig frisch, direkt aus dem Backofen. Sein Adjutant wollte mir den Schneid abkaufen und brummte nur, dass er selbst mein Geschenk beim Kommandanten abliefern wolle. Aber ich ließ mich nicht kleinkriegen und versprach ihm, später noch einen Strudel vorbeizubringen, der gerade im Backrohr sei. Und dann sagte ich noch, dass der Kommandant den ausdrücklichen Wunsch geäußert habe, dass ich die Sachen persönlich bei ihm abliefere – Gott sei Dank war mir das gerade noch eingefallen. Dann bin ich ins Büro vom Kommandanten, zeigte ihm mein Geschenk und flehte ihn an, mich nach Berlin ausreisen zu lassen. ›Wenn die Streitkräfte einmal fort sind‹, sagte ich zu ihm, ›habe ich bestimmt nichts mehr zu lachen. Die Esten werden mich als Kollaborateur behandeln, weil ich gutes, deutsches Brot und Kuchen für die Truppen backe. Hier, sehen Sie sich nur dieses Brot an! Schwer und knusprig ist es. Riechen Sie. Probieren Sie.‹

Dann brach ich ein Stück Brot ab und schob es ihm in den offenen Mund. Während er kaute, strahlten seine Augen vor Wonne, sag ich euch. ›Und jetzt riechen Sie am Strudel‹, und ich hielt ihn ihm unter die Nase. Er konnte von dem Duft des ofenwarmen Strudels gar nicht genug kriegen. Bald war er wie benommen; er rollte die Augen und schwankte hin und her. ›Und jetzt machen Sie den Mund auf und probieren Sie, wie der Himmel schmeckt.‹ Er machte den Mund auf, und ich fütterte ihn wie eine Vogelmama mit den Strudelstückchen, in denen besonders viele Rosinen waren. ›Ja, ja, ja‹, stöhnte er vor Wonne, und dann ließ er mir ohne ein weiteres Wort sofort einen Ausweis nach Deutschland für Härtefälle ausstellen. Und nun steige ich morgen früh in den Zug, und ihr, meine Freunde seid herzlich zu dem Brot eingeladen, das in diesem Augenblick, während wir hier sprechen, gerade im Ofen aufgeht.«

Alfred grübelte drei Tage lang über das Gehörte nach, und dann wachte er eines Morgens mit dem Entschluss auf, es dem dreisten Bäcker gleichzutun. Als er mit drei seiner besten Zeichnungen von Reval im Hauptquartier der Streitkräfte erschien, sagte er dem Adjutanten genau wie der Bäcker, dass er sein Präsent direkt beim Kommandanten abliefern wolle. Der Widerstand des Adjutanten löste sich schnell in Luft auf, als Alfred ihm eine seiner Zeichnungen als Geschenk anbot. Er wurde zum Kommandanten gebracht, dem Alfred seine Zeichnungen vorlegte und dazu bemerkte: »Das hier ist eine kleine Erinnerung an Ihre Zeit in Reval. Ich gebe den Deutschen hier Zeichenunterricht und wünsche mir nun nichts sehnlicher, als auch die Berliner mein Handwerk zu lehren.« Der Kommandant begutachtete Alfreds Arbeiten und schob anerkennend die Unterlippe vor. Als Alfred seine Rede bei der Bürgerversammlung und den Auszug der Juden aus der Zuhörerschaft schilderte, taute der Kommandeur noch mehr auf, stellte von sich aus fest, dass Alfred nach dem Abzug des Militärs in Estland möglicherweise nicht mehr sicher wäre, und bot ihm den letzten Platz in einem Zug nach Berlin an, der noch am selben Abend um Mitternacht abfuhr.

Nach Hause! Endlich nach Hause ins Vaterland! Ein Zuhause, das er nie kennengelernt hatte. Dieser Gedanke verdrängte das körperliche Unbehagen während der mehrtägigen, bitterkalten Zugfahrt nach Berlin. Als er dort ankam, bekam seine Hochstimmung beim Anblick der traurigen Parade der heimgekehrten, besiegten deutschen Streitkräfte über die Prachtstraße Unter den Linden einen merklichen Dämpfer.

Berlin, das lernte Alfred schnell, war nicht nach seinem Geschmack, und er fühlte sich einsamer als je zuvor. In der Auffangstation für Immigranten, die er aufsuchte, sprach er mit niemandem, sondern lauschte nur gierig deren Gesprächen. »München« war in aller Munde. Dort gab es Avantgarde-Künstler, auch antisemitische, politische Gruppierungen, und München war der Treffpunkt radikaler weißrussischer, antibolschewistischer Agitatoren. München übte einen unwiderstehlichen Sog aus. Überzeugt davon, dass sein Schicksal in dieser Stadt lag, ergatterte Alfred innerhalb einer Woche einen Platz auf einem Viehtransporter nach München.

In Anbetracht seiner schwindenden Geldmittel nahm Alfred das kostenlose Mittagessen in einer der Münchner Volksküchen des Emigrantenvereins in Anspruch. Dort gab es anständige Mahlzeiten, allerdings musste jeder seinen eigenen Löffel mitbringen. München war offen, sonnig, betriebsam, voller Galerien und Straßenkünstler. Betrübt musste er beim Betrachten der Aquarelle der Straßenkünstler feststellen, dass deren Arbeiten zwar deutlich besser waren als seine, sich aber dennoch nicht verkauften. Zuweilen machten sich Bedenken breit: Wovon sollte er leben? Wo würde er Arbeit finden? Doch meistens war er unbesorgt: Überzeugt davon, am rechten Ort zu sein, wusste er, dass seine Zukunft sich ihm früher oder später enthüllen würde. Und während er darauf wartete, brachte er seine Tage in Kunstgalerien und Bibliotheken zu, wo er alles las, was er über jüdische Geschichte und Literatur in die Finger bekam, und er begann, das Gerüst eines Buches mit dem Titel Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten zu skizzieren.

Bei der Lektüre über jüdische Geschichte stieß er immer wieder auf den Namen Spinoza. Obwohl er nur mit einem Koffer aus Reval abgereist war, in den er seine ganzen Habseligkeiten gepackt hatte, befand sich darunter auch sein Exemplar von Spinozas Ethik. Doch er hatte Friedrichs Rat befolgt und darauf verzichtet, das Werk noch einmal lesen zu wollen. Stattdessen setzte er seinen Namen auf die Warteliste für Spinozas anderes Werk, den Theologisch-Politischen Traktat.

Als er durch Münchens Straßen schlenderte und erfolglos versuchte, ein paar Zeichnungen zu verhökern, schlug das Glück erneut zu. An einem Gebäude entdeckte er eine Tafel: Edith Schrenk: Tanzschule. Edith Schrenk – diesen Namen kannte er: Jahre zuvor waren seine geschiedene Frau Hilda und Edith Tanzschülerinnen in Moskau gewesen. Obwohl von Natur aus schüchtern und obwohl er nur ein- oder zweimal mit Edith gesprochen hatte, sehnte er sich nach einem vertrauten Gesicht und klopfte zaghaft an ihre Tür. Edith, bekleidet mit einem schwarzen Gymnastikanzug und einem eleganten, aquamarinfarbenen Tuch um den Hals, begrüßte ihn freundlich, bat ihn, Platz zu nehmen, bot ihm Kaffee an und erkundigte sich nach Hilda, die sie immer gemocht hatte. Während ihrer ausführlichen Unterhaltung erzählte Alfred von seiner ungewissen Zukunft, von seinem Interesse an der Judenfrage und von seinen Erfahrungen während der russischen Revolution. Als er darauf zu sprechen kam, dass er eine persönliche Einschätzung zu den Gefahren des jüdischen Bolschewismus verfasst hatte, legte Edith ihre Hand auf die seine.

»Nun, Alfred, dann musst du unbedingt meinen Freund Dietrich Eckart aufsuchen, den Herausgeber des Wochenblattes Auf gut Deutsch. Er hat ähnliche Ansichten wie du und ist vielleicht an deinen Beobachtungen der russischen Revolution interessiert. Hier ist seine Adresse. Erwähne auf jeden Fall, dass du von mir kommst, wenn du ihn siehst.«

Alfred verabschiedete sich hastig von ihr und machte sich unverzüglich auf den Weg zu einem Treffen, das sein Leben verändern sollte. Unterwegs zu Eckarts Büro versuchte er, an zwei Zeitungsständen ein Exemplar von Auf gut Deutsch zu erstehen, bekam aber die Auskunft, dass es ausverkauft sei. Als er die Treppe zu Eckarts Büro hinaufstieg, das im zweiten Stockwerk lag, fiel ihm ein, dass Friedrich ihn vor impulsiven, fanatischen Aktionen gewarnt hatte, die ihm das Genick brechen könnten. Doch Alfred schlug diesen Rat in den Wind, öffnete die Tür, stellte sich Dietrich Eckart vor, nannte Ediths Namen und platzte impulsiv heraus: »Können Sie einen Streiter gegen Jerusalem gebrauchen? Ich bin entschlossen, und ich werde kämpfen, bis ich falle.«

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