Der dritte Planet

Schwerfällig schob sich Azuls Schatten durch den Steuerraum.

Die starke Abbremsung der Triebwerke zerrte an seinem Körper. Bei den Geräten für die Gravitationsmessungen verhielt Azul. Ein Lichtband leuchtete auf. Die Meßergebnisse wurden sichtbar. Der Astronom las sie ab. Erfreut rief er: „Sil! Wir sind im Bereich des gelben Sterns! Sieh, die ersten Anzeichen seiner Anziehungskraft!“

Schnell verständigte Azul den Kommandanten, der sich in der Myonenbibliothek aufhielt, wo er die gespeicherten wissenschaftlichen Materialien studierte und die Pläne für die Landung ausarbeitete.

Als Gohati von dem neuen Gravitationsfeld hörte, kam er sofort in die Steuerzentrale. Er ordnete an, auch noch Sinio, Aerona und Kalaeno zu wecken.

Tivia hatte vor der biologischen Sektion des Steuerraumes Platz genommen. Besondere Verfahren aktivierten den Stoffwechsel der Schlafenden und setzten das Nervensystem in Tätigkeit. Konzentriert verfolgte sie auf kleinen Bildschirmen das Ansteigen der Lebenskurven während des Weckens.

Aerona erlangte schnell ihr Bewußtsein wieder, war aber vor Entkräftung zunächst wie gelähmt. Kalaeno kämpfte noch mit Bewußtseinstrübungen.

Auf den Meßbildschirmen waren verschiedene Linien zu erkennen. Jedes Organ wurde durch eine andere Farbe dargestellt. Ruhte der Raumfahrer im Dauerschlaf, verliefen alle Farblinien gerade über den Schirm. Jetzt aber schlängelten sie durcheinander. Die volle Funktionsfähigkeit des Körpers und seiner Organe war erreicht, sobald die Farblinien wieder im gleichen Rhythmus pulsten.

„Der Gesundheitszustand der Besatzung ist befriedigend“, berichtete Tivia dem Kommandanten. „Nur Sinio hat einen kleinen Schock bekommen. Seine Lebenskurve schnellte sehr rasch empor. Vermutlich überrechnete er schon in Gedanken seine letzten Formeln über die Krümmung des Lichtes im Gravitationsbereich überheißer weißblauer Sonnen; denn mit diesem Problem hat er sich eingehend befaßt. Ich mußte ihn vorübergehend wieder in Schlaf versetzen.“

Für die Dauer des Erwachens war die Lichtdruckschleuder gedrosselt worden. Der Andruck der Abbremsung ließ nach.

Die Raumfahrer empfanden wieder die übliche heloidische Schwerkraft. Unter den normalen Bedingungen konnten sich die Organe allmählich an ihre Funktionen gewöhnen.

An Bord der „Kua“ wurde es lebhaft. Die schattenhaften Gestalten der Heloiden huschten in den Räumen hin und her.

Sie trafen sich, berieten die Landevorbereitungen und glitten wieder auseinander. Überall brannten die infraroten Wärmestrahler und erfüllten das Raumschiff mit rötlichem, warmem Licht.

Der Alltag nahm seinen Lauf, so wie es die Besatzung schon seit langem nicht anders kannte. Man absolvierte unter Tivias Beratung gymnastische Übungen, die nach solchen Perioden des Dauerschlafes besonders wichtig waren, und stärkte sich mit Pasten und Getränken. Anschließend wurde in den Laboratorien alles hergerichtet, um die unterbrochenen Forschungen wieder aufnehmen zu können.

Für die Kosmonauten gab es viel Arbeit. Zunächst werteten sie die auf dem bisherigen Flug automatisch gesammelten Meß- und Beobachtungsergebnisse aus. Auf den Sternenkarten wurden zahlreiche neue Eintragungen vorgenommen.

Verzeichnisse entdeckter Dunkelnebel und neuer Gravitations- und Spannungsfelder entstanden. Die Myonenhirne schluckten die zu speichernden Ergebnisse.

Dann begannen die Kosmonauten damit, die Vorbereitungen für die Landung zu treffen. Gohati hatte angekündigt, daß in fünfzig bis sechzig Rotationsperioden mit der Landung zu rechnen sei. Aus den Lagern wurden Ausrüstungen hervorgesucht und bereitgestellt. Vor allem überprüften die Kosmonauten die Landungsfahrzeuge gründlich: den Atomicer, die große Landungsrakete; den Weißen Pfeil, die Erkundungsrakete; den Ringflügler; den Durug, einen schweren Erkundungspanzer; die geologischen Raketen und die flinken Tepis, leichte, eiförmige Fahrzeuge mit Rädern und vier Schwingflügeln.

Mitten in einer Besprechung, die Gohati mit Tivia über die Erneuerung der Navigationskreisel abhielt, leuchtete der Informator auf und meldete: „Hier Beobachtungszentrum!

Planeten festgestellt!“

Wenige Augenblicke später stand Gohati schon am Kugellift.

Er glitt schnell zur Beobachtungsstation am hinteren Gitterturm des Kreiselschiffes. Als Gohati dort eintrat, kam ihm Azul entgegen. „Zwei Planeten sind entdeckt“, berichtete er. Beide Himmelskörper seien sehr groß, rotierten schnell und zeigten an den Polen starke Abplattungen. Der eine Planet überraschte durch einen Ring, der um ihn kreise. Vermutlich bestehe er aus vielen Satelliten, aus kleinen und kleinsten Trümmerstücken und Staubteilchen. Die Oberfläche dieser beiden Planeten müsse jedoch sehr kalt sein. Mächtige Schichten erstarrter Flüssigkeit und dicke Gasmäntel umschlossen sie.

Lebensplaneten seien es also nicht. Eine Landung dort hätte wenig Sinn.

Inzwischen waren auch die anderen Besatzungsmitglieder in das Beobachtungszentrum gekommen, außer Kalaeno, der Steuerwache hatte. Sie kauerten sich vor den verschiedenen Instrumenten und Apparaturen nieder, denn sie brannten darauf, die Planeten zu sehen oder sogar selbst weitere zu entdecken. Die Silhouette des Kommandanten schob sich von Platz zu Platz. Sorgfältig sah Gohati die einzelnen Aufzeichnungen durch.

„Die Häufigkeit des kosmischen Staubes nimmt zu!“ meldete Azul.

„Sil!“ rief Gohati. „Ionen-Triebwerke ausfahren!“

Die Zusammenstöße des Raumschiffes der Heloiden mit den Mikrometeoriten hatten mit dem weiteren Eindringen in das irdische Sonnensystem zugenommen. Für das Raumschiff bedeuteten sie keine Gefahr mehr, flogen sie doch schon längst nicht mehr lichtnahe Geschwindigkeiten. Selbst der Energieschirm war abgeschaltet worden. Die Mikrometeoriten waren zu winzig, als daß sie die dicken Außenwandungen der Rakete zu durchschlagen vermochten. Durch den Druck des Zusammenpralls glühten sie auf und verdampften. Sie schadeten nur der makellos glatten Wölbung des Photonenspiegels, der Lichtdruckschleuder, wie die Heloiden ihr Haupttriebwerk nannten.

Sil kam in die Steuerzentrale. Die schattenhafte Gestalt des Triebwerkingenieurs schob sich zum Regiepult, um die mächtige Lichtdruckschleuder gegen das elektrische Ionen- Triebwerk auszutauschen. Ein Rundspruch ertönte. Jedem Raumfahrer blieb genug Zeit, sich auf eine kurze Spanne der Schwerelosigkeit vorzubereiten, lose Gegenstände wegzuräumen und sich festzuschnallen.

Mehr und mehr drosselte Sil die Lichtdruckschleuder. Er beobachtete auf dem Erider, dem Sichtschirm, die Vorgänge außerhalb der Rakete. Noch stach der scharfgebündelte, grellweiße Lichtstrahl des Triebwerkes weit in die kosmische Dunkelheit voraus. Gewaltige Energieprozesse im Brennpunkt des Spiegels schossen die Garben aus Licht mit geballter Kraft in das All. Dieses gewaltige Feuer tauchte den Rumpf des Raumschiffes in einen glitzernden, silbernen Schein, vor dem man die Augen schließen mußte.

Plötzlich warf sich pechschwarze Finsternis über dieses Bild.

Die Lichtdruckschleuder war erloschen. Erst allmählich gewöhnten sich Sils Augen an das normale Licht der Außenbordscheinwerfer. Langsam verschwand der voranragende Gitterturm, der das Triebwerk trug, im Rumpf der Rakete. Mehr und mehr senkte sich der riesige Hohlspiegel herab. Torflügel schwangen weit zur Seite. Ein Schlund tat sich auf und verschlang das Triebwerk.

Sil gab über die Regieanlage ein Kommando. Er wußte, daß jetzt die Automaten im Schiffsrumpf aus ihren Nischen hervorkamen, um das Triebwerk auszuwechseln. Heloiden wären zu dieser schweren Arbeit nicht imstande. Allein die Hitze, die der Spiegel immer noch ausströmte, würde sie versengen. Den Robotern machte diese thermische Strahlung nichts aus. Im Gegenteil, sie sorgten noch dafür, daß der Spiegel nachbeheizt wurde, um eine zu schnelle Abkühlung und damit das Entstehen von Rissen in seiner Glanzfläche zu vermeiden.

Die Roboter verrichteten ihre Arbeit schnell und exakt. Bald leuchtete auf der Kontrolltafel das Signal „Auftrag ausgeführt“ auf. Sil gab einen neuen Befehl: „Ionen-Triebwerke montieren!“

Schwerfällig rollten auf der Montagebühne unter den Torflügeln ungefüge Teile heran. Sicher packten die Roboter zu. Wenige Griffe genügten. Im Nu waren die einzelnen Teile aus den Transportern ausgeklinkt und in den Gitterturm geschoben. Magnethalter packten zu, starke Schnellverschlüsse knackten, und schon stapften und rumpelten die Roboter in ihre Nischen zurück.

Der Gitterturm wuchs wieder aus dem Rumpf des Kreisels heraus. Er trug jetzt einen völlig andersgearteten Antrieb.

Hinter einem ganzen Komplex von Düsenbündeln schob sich der wuchtige Klotz des Ionengenerators aus dem Schatten des klaffenden Schleusentores hervor. Als der Turm weit genug voranragte, wurde sein geisterhaftes Wachstum von Sil gestoppt. Auf der Bildfläche des Eriders war zu sehen, wie sich die Torflügel wieder schlossen. Vor dem Ingenieur leuchtete das Signal „Triebwerke startklar“ auf. Düse um Düse zündete.

Draußen, am Ende des Gitterturmes, steigerte sich langsam die Kraft des bremsenden Ionenschubes. Gleichmäßig pulsten die Zeichen auf dem Maßschirm des Generators. Sanft kehrte die Schwere zurück. Unsichtbar arbeiteten die Düsen. Kein Feuerstrahl verriet ihre Tätigkeit.

Sil versank in die Betrachtung der Sternenwelt, die ihm in erhabener Schönheit vom Schirm des Eriders entgegenleuchtete. Die Sterne drängten sich jetzt nicht mehr in der eigentümlichen Weise vor und hinter dem Schiff zusammen. Mit scharfem Glanz stachen kleinste Lichtfünkchen unzählbar aus tiefster Ferne und von allen Seiten hervor, ballten sich hier zu einer schimmernden Wolke des Lichts und zerflossen dort zu einem hauchfeinen Schleier, der jäh von lichtlosen Abgründen zerrissen wurde.

Unbändig brandete in Sil das Verlangen auf, sich in dieses starre, unbewegliche Sternenmeer zu stürzen und es in traumhaft rasendem Taumel zu durchfliegen. Ohnmächtig bäumte sich sein Verstand. Es war unmöglich, die geheimnisvollen Schleier der Unendlichkeit mit einem Ruck zu zerreißen. Auch der Vorstoß der Expedition würde nur einen winzigen Zipfel der Geheimnisse, die dieser sammet-schwarze, lichtbestickte Vorhang barg, lüften können.

Und dennoch, überall in dieser unendlichen Weite, in der sich Kälte und Hitze kraß und lebensfeindlich gegenüberstanden, hatten sich Inseln des Lebens gebildet, die von Wesen mit Verstand, Vernunft und Gefühl bevölkert waren. Was alles mochte ihre kleine Raumfahrergemeinschaft allein hier im Reich des gelben Sterns erwarten, jenes unscheinbaren Fünkchens, das auf sie zuwuchs.

Sils Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Ob es gelingen würde, hier bei dem Stern, der nun seinen Namen trug, eine Welt des Lebens zu entdecken? Sil stand auf und kehrte zur Beobachterkugel im hinteren Gitterturm zu den anderen zurück.

Dort waren seit dem Erlöschen des Photonentriebwerkes die Beobachtungsverhältnisse sehr viel besser geworden. Das neu eingesetzte Ionenaggregat störte kaum die Durchforschung des Kosmos ringsum. Deshalb gelang es der Besatzung der „Kua“ auch schon wenige Zeit später, weitere Planeten dieses Sonnensystems zu entdecken. Sorgfältig prüften Gohati und die anderen Heloiden alle Messungen und Aufzeichnungen ihrer Beobachtungsgeräte.

Da entdeckten sie unter den neun Planeten dieser Sonne, daß der dritte Merkmale eines Lebensplaneten aufwies. Daraufhin wurde nach eingehender Beratung entschieden: „Die ›Kua‹ fliegt zum dritten Planeten!“

Eine bläuliche Kugel wuchs heran, schien geradewegs auf die „Kua“ zuzustürzen, zuerst langsam, dann schneller und schneller.

Die Heloiden lagen in ihren Kabinen. Ein unerbittlicher Druck fesselte sie hart an ihre Plätze. Zeitweilig wogen ihre Körper das Achtfache. Im Steuerraum verharrten Sil und Gohati bewegungslos, von der Gewalt der Abbremsung auf die Konturensessel gepreßt. Unverwandt hing ihr Blick am Erider, dem großen Sichtschirm.

Schon bedeckte der dritte Planet das ganze Bild. Seine Ränder berührten den Rahmen und dehnten sich darüber hinaus. Die beiden Kosmonauten sahen eine weiße Pol kappe.

Dann huschten grünliche, bräunliche oder gelbliche Flecken tief unter ihnen hinweg. Sie schwammen wie die schmutzigen Fladen von Schlacken auf einer graublauen Substanz. Ab und zu blitzte es zwischen den schorfigen Schollen.

„Kaltes, blaues Magma?“ fragte Sil.

„Kaum“, antwortete Gohati. Er ahnte mehr.

Sil riß sich von dem Bild los und richtete seine Blicke auf die Meßinstrumente. Die „Kua“ durfte keinesfalls den Gasmantel des Planeten berühren. Sie würde sonst verglühen. Ihrer aller Leben hing jetzt vom Myonenhirn, von der zuverlässigen, störungsfreien Tätigkeit der Meßinstrumente und des automatischen Astropiloten ab.

Das Bild auf dem Erider glitt zur Seite. Die „Kua“ zog an der Riesenkugel vorbei. Und wieder breitete sich die Sternenwelt mit dem lastenden Dunkel vor ihnen aus. Es galt, bei diesem ersten Anflug unbedingt so viel Geschwindigkeit einzubüßen, daß die „Kua“ im Anziehungsbereich des blauen Planeten blieb. Gelang dies, so waren alle anderen Manöver leicht.

In einer langgestreckten Ellipse kehrte der Raumkreisel der Heloiden bald wieder zurück. Der Andruck der starken Abbremsung ließ nach. Der erste Anflug war gelungen. Das Triebwerk arbeitete wieder gleichmäßig. Die Geschwindigkeit sank nur noch langsam.

Der Kommandant gab das Zeichen zum Verlassen der Kabinen. Die Heloiden eilten in die Gemeinschaftskabine an den Übertragungsschirm des Eriders. Als Tivia eintraf, waren Azul, Sinio, Aerona und Kalaeno bereits versammelt. Tivia suchte sich einen bequemen Platz. Doch was sie auf dem Bildschirm erblickte, enttäuschte sie.

Gerade flog die „Kua“ den blauen Planeten von der Nachtseite her an. Eine große, dunkle Masse wälzte sich näher. Es war nicht möglich, Teile der schlackigen Kruste oder des kalten, blauen Magmas zu erkennen. Dichte schwarz-blaue Dünste umwoben das Antlitz des Planeten. Erst als der Tuler, der Wärmestrahlen sichtbar machte, in das Bild mit eingeblendet wurde, zeichneten sich helle und dunkle Stellen auf der Oberfläche ab. Deutlich war die Mittelzone zu erkennen. Sie zog sich als breiter, heller, thermischer Streifen um den Riesenball. An zwei oder drei Stellen war dieser Gürtel von breiten Flächen, von den kühleren Regionen des blauen Magmas, scharf begrenzt unterbrochen. Deutlich hoben sich zu beiden Seiten der Mittelzone große Wärmeflecken ab.

„Das könnten Wüsten oder Sammelbecken heißer, flüssiger Stoffe sein“, sagte jemand.

Tivia schloß die Augen. Ungewollt drängten sich ihr jene schrecklichen Augenblicke auf, die sie halb wach und halb im Schlaf vor der Kreiselzelle zugebracht hatte. Das letzte, was sie damals wahrgenommen, als sie sich vor das Leck der Vakuumkammer geworfen und der saugende Schmerz sie durchflutet hatte, war auch ein solch breiter und fleckiger Gürtel an einem der drei Navigationskreisel gewesen. Tivia mußte ihre ganze Willenskraft aufbieten, um dieses Gaukelspiel der Sinne zu verdrängen.

Als eine Gruppe helleuchtender Pünktchen über den Bildschirm zog, ertönten laute Rufe.

„Vulkane“, hörte sie wie aus weiter Ferne Azul, der neben ihr saß, flüstern.

Tivia öffnete wieder ihre Augen. Was sie jetzt erblickte, war wie ein Märchen, traumhaft schön.

Der flache Bogen des Planetenrandes schob sich in das Blickfeld. Ihn umstand ein leuchtender Kranz von Strahlen. Ein hellorangegelber Streifen, der über die ganze Skala der Farben zu einem aparten Blau und dann in Violett und Schwarz überging, umspülte die sanft gezogene Linie des Horizontes.

Eine Lichtflut brach hervor, die nicht in einem ruhigen, beschwichtigenden Rot wie auf Heloid sich ergoß, sondern ein junges, sieghaftes Goldgelb ausstrahlte. Die hinter dem Planeten stehende Scheibe der Sonne mühte sich, die Weltkugel auch von der dunklen Seite mit ihrem Licht zu umfangen. Sie streute ihren Schein bis weit in die Zone der Nacht. Zartschimmernd brach sich der Sonnenglanz in der Lufthülle. Schmal badete die Sichel des beginnenden Tages in dieser Lichtfülle. Der orangegelbe Ring erlosch. Nur das wunderbare Blau blieb als schmaler Streifen am Horizont.

Unausgesetzt blickte Tivia auf dieses Bild. In ihr wuchs übermächtig das Verlangen nach dieser Strahlenfülle, die alles überreichlich zu enthalten schien, dessen ein Lebewesen bedurfte: Licht, Wärme, Glück, Freude, Frische und Helligkeit. Heiß brannte plötzlich der Wunsch, der Dunkelheit des Kosmos zu entrinnen.

Gebannt starrten auch die anderen Raumgefährten auf die rasch größer werdende Sichel der Tagesseite — aber sie schienen gefeit. Ihre Blicke verrieten, daß sie wißbegierig bemüht waren, Einzelheiten auf dem hellen Teil der Oberfläche des Planeten zu erkennen.

Niemand bemerkte den Schatten, der sich leise aus ihrer Mitte löste und sie verließ.

Heloid und seine Sonne sind fern, aber schön, dachte Tivia.

Doch dieses Licht und diese Sonne sind noch schöner. Tivia glitt durch die Räume. Eine besondere Schiffszelle tat sich ihr auf. Gelblichgoldener Schein umflutete sie. „Licht, Licht!“

jubelte sie. Überglücklich lehnte sich Tivia an eine weiße, schlanke Säule. Ihr war, als müsse sie zu Boden sinken. Doch schon durchströmte es sie, als erwache sie zu neuem Leben. Sie fühlte, wie ihre Haut jeden Sonnenstrahl gierig aufsog. Tivia stand still, gebadet von dem hellen Licht eines fremden Sternes. Ein neues Gefühl für die Unendlichkeit erstand in ihr, für die Unendlichkeit dieser wundervollen Augenblicke.

Tivia hatte nicht jene Gestalt gesehen, die unbeweglich an der Wand aus dickem Panzerglas stand. Es war Sil. Eine Gruppe hoher, blumiger Tangalgen verdeckte ihn.

Auch ihn hatte es hierhergezogen. Hier, in der wogenden Algenplantage, war der Ort, der ihn die Schönheit des Lichtes neu empfinden und neu entdecken ließ. Die nahe Begegnung mit einem lebenverheißenden Planeten und die Fülle aller Strahlen, die ihn umgaben, ließ diese kurzen Momente auch ihm unvergeßlich werden. Auch er war lichthungrig. Auch ihn verlangte es nach den goldgelben Strahlen, mit denen dieser Planet so reich beschenkt war und in denen auch das rote Licht ihrer heimatlichen Heloidensonne so stark mitleuchtete.

Und dann war Tivia gekommen, und alles wurde noch wunderbarer und unvergeßlicher.

Sil löste sich von der Glaswand und ging, lichtumflutet, auf Tivia zu.

Sie hörte einen leisen Schritt und spürte, daß es Sil sein müßte, waren sie sich doch, geleitet von den gleichen Empfindungen, hier schon manchesmal begegnet, wenn fern eine Sonne im Dunkel des Alls vorüberzog.

Sil blieb auf halbem Wege zu ihr stehen. Sie lehnte, ganz dem goldenen Schein hingegeben, an der weißen, schlanken Säule.

„Tivia“, sagte Sil leise, verhalten.

Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln, ein Strahlen, das ihre große Freude widerspiegelte. Sie richtete sich in geschmeidiger Anmut auf und wandte sich Sil mit geschlossenen Augen zu, den Kopf ein wenig seitwärts gebogen, immer noch dem hellen Sonnenschein entgegen. Jede Linie ihres ebenmäßigen Gesichtes und ihres Körpers fügte sich zu bewundernswerter Harmonie. Das war Tivia, wie nur Sil sie kannte und wie sie ihm zu jeder Zeit vor Augen stand, wenn er, gleichviel an welchem Ort, an sie dachte.

„Tivia“, klang es noch einmal, jetzt dicht neben ihr.

Sie öffnete die Augen und wandte sich Sil voll zu. Sie glitten aufeinander zu und umspielten sich in einer eigenartigen, tänzerischen Weise, die die Zartheit und Tiefe ihrer Gefühle erkennen ließ und von wunderbarem Gleichklang zeugte. Dann führte Sil Tivia über die Wege durch den Park der Algen, die sich auch, bunt und vielgestaltig, dem neuen, unbekannten, aber wohltuenden Licht entgegenreckten. Beide sagten sich, was sie empfanden, und zählten alle Schönheiten auf, die sie jetzt gemeinsam entdeckten.

Erst, als der Automat, der die Lichteinstrahlung beobachtete und regulierte, sie warnte, das Lichtbaden nicht übermäßig und letztlich zu ihrem Schaden auszudehnen, gingen sie glücklich und froh aus der Algenplantage.

Sie glitten zurück zum Gemeinschaftsraum. Auf dem Bildschirm des Eriders zeichnete sich scharf und deutlich eine zerrissene Kraterlandschaft ab.

„Die ›Kua‹ passiert den Trabanten des dritten Planeten!“

tönte es vom Lichtband. Die Steuerwache hatte den Erider auf das neue Objekt umgestellt.

„Tot und leer“, sagte Aerona.

„Von Meteoriteneinschlägen übersät“, stellte Kalaeno fest.

„Eigenartig! Krater mit spitzen Nadelbergen im Mittelpunkt“, sprach Sinio. „Deutet das nicht auf früh erstarrten Vulkanismus hin?“

In der zerrissenen Oberfläche des Mondes bot eine ausgedehnte ebene Fläche dem Auge einen wohltuenden Ruhepunkt. Gewaltige, spitzzackige und langgestreckte Kettengebirge säumten sie ein. Mehrere Rillen durchzogen spaltartig die Ebene. Sie verbanden kleine Krater und Mulden miteinander.

Für wenige Augenblicke vergrößerte der Erider den Bildausschnitt. Die Oberfläche des Mondes wuchs wie bei einem Sturz aus großer Höhe schnell auf den Betrachter zu.

Dann glitt die Landschaft wie bei einem Tiefflug vorüber. Eine riesige, hohe Wand wuchtete heran, steil ragte sie empor.

Schnurgerade dehnten sich ihre Kanten bis zum Horizont. Mit einem Satz sprang der Erider darüber hinweg. Eine zweite und eine dritte Wand folgten. Eine ganze Staffel solcher Steilwände formierte sich terrassenförmig, Titanenstufen gleich.

Die Mondoberfläche sank wieder zurück. Noch zeichneten sich Krater und riesige Ringgebirge ab. Dann erlosch dieses Bild.

Und wieder erschien der bläuliche Halbkreis des Planeten wie eine Sichel im Bild, jetzt schon beträchtlich breiter. Langsam blieb sie hinter dem Raumschiff zurück. Mehr und mehr zeigte sich die volle Tagesseite. Deutlich war jetzt eine graublaue Fläche zu sehen. Da blitzte es mehrmals zwischen den schorfigen Fladen auf. Ein gleißender Fleck blieb bestehen. Er stach grell wie der Brennpunkt eines Lichtdrucktriebwerkes in die Augen.

„Die Bewohner dieses Planeten geben uns Lichtsignale“, vermutete Kalaeno.

„Die blaugrauen Flächen könnten auch eine zähflüssige, Energie erzeugende Masse, ein biologisches Plasma sein, das sich zeitweilig mit gewaltigen Blitzen entlädt und seine Kraft gegen jeden sich nähernden Fremdkörper richtet“, mutmaßte Azul.

„Eigenartig! Die Blitze erreichen uns aber nicht“, warf Sinio ein.

„Einen Augenblick Ruhe“, forderte Aerona. „Hallo, Steuerzentrale! Was sind das für Blitze auf der graublauen Fläche?“ erkundigte sie sich.

„Sonnenspiegelungen“, gab Gohati kurz zurück.

Sie schwiegen betreten. Auf diese naheliegende Vermutung waren sie nicht gekommen.

„Eigenartig, Sonnenspiegelung?“ sagte Sinio. „Etwa auf einer Flüssigkeit?“

„Vielleicht ist es Wasser!“ rief Tivia. „Er ist doch ein Lebensplanet, er muß doch Wasser haben!“

Azul staunte. „Ein Planet, überwiegend von Wasser bedeckt, das ist unvorstellbar.“

Die Raumfahrer sprangen auf und eilten zur Beobachtungsstation. Es drängte sie, die Oberfläche des Planeten zu analysieren und sich Gewißheit zu verschaffen.

Am hinteren Gitterturm glitt der Teklauder, der Kugellift, auf und ab. In schneller Folge brachte er die Raumfahrer nacheinander zum Ende des Kreiselstiels in die Beobachtungsstation.

Schon der dritte Anflug des Raumkreisels der Heloiden brachte entscheidende Beobachtungsergebnisse. Der Planet zeigte sich den Raumfahrern diesmal wieder im vollen Tageslicht.

Geschäftig glitten die Heloiden zwischen den Apparaturen hin und her; sie kauerten bald vor dem Erider, bald vor den Instrumenten, maßen, rechneten, notierten, und ab und zu warfen sie, ohne aufzusehen, in Satzfetzen ihre Beobachtungsergebnisse in die Debatte. Immer wieder ballten sich ihre Silhouetten zu einer Gruppe zusammen.

Unterschiedlichste Vermutungen wurden laut. Heftig umstritten sie die verschiedenen Anzeichen für die Existenz hochentwickelten Lebens. Unablässig hing das Zirpen und Sirren im Raum.

Unterdessen kam der Planet schnell näher. Je mehr sich der Abstand zur Erde verringerte, um so deutlicher grenzten sich farbliche Einzelheiten ab. Wenn die blaugrauen Flächen eine Flüssigkeit waren, so sagten sich die Heloiden, mußten die schlackigen Schollen mit den grünlichen, gelblichen und bräunlichen Flecken feste, erkaltete Oberfläche sein. Soviel stand jedenfalls für sie schon fest: Der dritte Planet hatte eine kalte, erstarrte und dicke Rinde, durch die der lebentötende Vulkanismus kaum noch hindurchzubrechen vermochte.

Gohati hatte bereits drei Raketen mit Meßsonden auf die bläuliche Kugel abschießen lassen. Flackernde Lichtzeichen meldeten jetzt, daß sie in die Atmosphäre eindrangen. Aerona, die Chemikerin, kauerte vor einem der Kyberneten, der die gefunkten Meßergebnisse der Sonden auffing und auswertete.

Auf dem Lichtband des Gerätes erschien eine Gruppe von Formeln und Zeichen. Aerona las sie ab: „Eine Stickstoffatmosphäre“, sagte sie schnell. „Wenig Atemstoff — starker Feuchtigkeitsgehalt — minimaler Staubanteil — kräftige Winde.“ Die Zeichen erloschen.

„Wieviel Atemstoff enthält seine Gashülle?“ fragte Tivia.

„Es könnten ungefähr zwanzig Prozent sein“, erwiderte Aerona.

„Das bedeutet, daß allenfalls pflanzliches Leben, aber keine höherentwickelten Existenzformen auf diesem Planeten vorhanden sein können, denn dafür ist der Atemstoffgehalt seiner Gashülle zu niedrig“, schlußfolgerte Azul. „Bei uns auf Heloid enthält die Atmosphäre doch immerhin zweiunddreißig Prozent dieses wichtigen Lebensstoffes.“

„Abwarten!“ riet Sil.

„Ich halte den Atemstoffgehalt der Gashülle auch für etwas zu niedrig“, sagte Tivia.

„Vielleicht kommen die Organismen des bläulichen Planeten mit weniger Atemstoff aus als wir“, warf Gohati ein.

Aus dem Schallgeber des einen Beobachtungskyberneten sprang klirrend ein Meßton in den Raum.

„Die zweite Sonde! Zerschellt!“ Aerona seufzte. Sie sollte die chemische Zusammensetzung des Festlandes zur „Kua“ heraufmelden.

Gohati untersuchte die Angaben eines anderen Gerätes. Er betrachtete es aufmerksam. Die Zeichen für Silizium und für Atemstoff waren besonders häufig. Auch Wasserstoff schien reichlich vorhanden zu sein. Das bedeutet üppiges Leben, zumindest starke Vegetation, dachte Gohati.

Die dritte Sonde sendete. Gespannt hingen aller Blicke an der Zackenlinie des Leuchtbandes mit den Meßergebnissen. Die Charakteristik dieser Zeichengruppe war unverkennbar die verbrannten Wasserstoffs. „Es ist wirklich Wasser!“ rief Aerona.

Tivia blickte bewundernd auf das Bild, das der Erider vom blauen Planeten auf seinem Lichtband zeichnete. Das blaue Magma waren also weite Wasserfelder. Sie bedeckten die eine Kugelhälfte und umgrenzten mit breiten Flächen auch noch auf der anderen Kugelhälfte die Schlackenschollen, vermutlich das Festland. Was für ein herrlicher, wasserreicher Planet, dachte Tivia. Träumten doch manche Planetenvölker der Galaktischen Gemeinschaft, deren Heimatwelt trocken und staubig war, von einem solchen Paradies. Auch auf Heloid mußte man sparsam mit dieser Flüssigkeit des Lebens umgehen.

Kürzer und enger wurde die Ellipse. Die Kua kam der Erde auf ihrem spiralförmigen Flug immer näher. Endlich fuhren die letzten Flammenstöße aus den Steuerdüsen. Das Sternenschiff der Heloiden hatte die Kreisbahn erreicht, die es erst wieder verlassen würde, wenn ein geeigneter Landeplatz auf der Erde gefunden war. Es war zu einem künstlichen Satelliten geworden. Unter ihm drehte sich gemächlich die Wölbung der Ozeane und Kontinente hinweg.

Der eine der beiden Gittertürme, die als Verlängerung der Hauptachse des Raumschiffes aus dem Kreisel ragten, wurde eingezogen. Bald darauf streckte sich statt dessen das große Rechteck einer Plattform über dem offenen Schlund des Schleusentores. Auf ihr ruhte, schneeweiß und überschlank, eine kleine Rakete. Ihre schmalen und weit nach hinten gepfeilten Flügel lagen eng am Rumpf. Das Leitwerk, mit seinen Stabilisierungsflächen fast schon einem dritten Flügel gleich, stand kühn vom Rücken der Rakete aufwärts.

Eine vom Skaphander dick ummummte Gestalt bewegte sich am Ende der Plattform. Es war Sil.

Er schob sich an die kleine Rakete heran. Eine Luke öffnete sich, und er stieg ein.

Sil sah sich um. Die Kabine war niedrig und dennoch geräumig. Ein Konturensessel, seinen Körperformen angepaßt, gepolsterte. Wände, ein Bildschirm an der Stirnwand, ein Leuchtband für Lichtschriftzeichen, einige wenige Skalen und Steuertasten, das kleine Quadrat einer schwarzen Myonenfläche und davor eine aus dem Boden ragende dicke, stumpfe Säule machten die Einrichtung aus. Die verwirrende Vielzahl der Instrumente wie in der großen Steuerzentrale des Raumschiffes fehlte. Die dicke, stumpfe Säule endete in einer Halbkugel, deren Schnittfläche nach oben gerichtet war. Das war der Pilotron, der das Raketenflugzeug bis in die Atmosphäre des Planeten steuern sollte.

Versonnen blickte Sil vor sich hin. Wie lange schon war es her, daß er das letzte Mal diese Kabine betreten hatte? Damals war er noch auf Heloid gewesen. Im harten Training hatte er sich für die Expedition, auf die Fahrt über den Großen Abgrund, vorbereitet. Bei jedem Übungsflug mit diesem Raumgleiter hatte er mehrmals den Heimatplaneten umrundet.

Beim letzten Aufstieg war, als Sil eben die Gipfelhöhe erreicht hatte und in der Zone zwischen Atmosphäre und Weltraum dahinglitt, unvermittelt neben ihm eine zweite weiße Rakete aufgetaucht, von Tivia gesteuert. Sie flogen nebeneinanderher.

Dann kam der Befehl zum Abstieg. In weitgeschwungenem, wellenförmig auf- und absteigendem Gleitflug waren sie beide weich und gleichmäßig näher und näher um Heloid gefallen. In stetem Wechsel empfanden sie, ein jeder in seiner Rakete, bleiernen Andruck und traumhafte Schwerelosigkeit. Tivia hörte dieselbe urwüchsige Symphonie der von den Raumgleitern zerrissenen, heulenden und brausenden Atmosphäre wie er. Bei jeder neuen Bremsellipse klang ein neuer Satz dieser stürmischen Musik auf. Die Schönheit und die Ebenmäßigkeit, die Harmonie des Fluges waren so wunderbar, daß es sie schmerzte, als die untersten Schichten des Luftmeeres erreicht waren, sie sich trennen und einzeln zur Landung auf der Flutpiste, einer Landebahn aus zäher Flüssigkeit, ansetzen mußten.

Unbewußt klopfte Sil, in Erinnerung versunken, die Wände ab. Doch die Welt um ihn war akustisch tot. Kein Schall durchflog die kleine Kabine. Kein Ton, kein Geräusch, kein Klopfen oder Pochen drang über das Außenmikrophon des Skaphanders zu ihm. Dieses Schweigen schreckte Sil auf und ließ ihn in die Wirklichkeit zurückkehren. Sil nahm im Konturensessel am Pilotron Platz. Er schnallte sich mit breiten Gurten fest. Dann nannte er ein Codewort. Ventile öffneten sich, und langsam füllte Heloidenluft die Kabine. Je mehr von ihr aus Vorratsbehältern einströmte, um so besser trug die Luft den Schall, und um so lauter und deutlicher war das Zischen zu hören. Endlich war es still. Der Druck in der Kabine war auf den normalen Wert gestiegen.

Ein Laut, ein neuer Code, erklang. Da leuchtete der Pilotron auf. Die runde, ein wenig zum Piloten geneigte Fläche des Halbkugelschnittes erglomm im schachbrettartigen Muster vieler kleiner weißer und schwarzer Felder. In einigen blinkten Zahlen. Über das Leuchtband an der Stirnseite der Kabine begannen Lichtzeichen zu ziehen.

Das Raketenflugzeug meldete sich seinem Pilotenabflug bereit. „Raumgleiter startklar!“

Der Erider, hier Sichtschirm und zugleich Fernsehverbindung zur „Kua“, begann zu leuchten. Gohati erschien auf der Bildfläche. Er lächelte Sil zu.

„Es ist soweit. Ich bitte um die Starterlaubnis“, sagte Sil.

Hinter Gohati sah er Tivia stehen, die ihn zum Abschied mit einer leichten, kaum erkennbaren Bewegung grüßte. Viel Erfolg, mochte sie wohl in Gedanken zu ihm sagen. Sil antwortete ihr mit der gleichen Bewegung als Zeichen dafür, daß er verstanden hatte und sich für den stillen Gruß bedankte.

„Also: Abstieg in Bremsellipsen, langsame Annäherung an den bläulichen Planeten, nach geeigneten Landeflächen für uns suchen, aber selbst nicht landen, dann Rückkehr zur Kreisbahn der ›Kua‹. Sollten sich unvermutet fremdartige Erscheinungen zeigen, sofort umkehren. Auch wenn sich Andeutungen für eine Planetenbevölkerung mit einem uns ähnlichen hohen Geistesstand bemerkbar machen, was aber kaum zu erwarten ist, dann ebenfalls zur Kreisbahn zurückkehren. Wir dürfen auf keinen Fall als ungebetene Gäste in die Lebenssphäre einer solchen Welt eindringen. — Wir halten deinen Raumgleiter so lange wie möglich unter Beobachtung und nehmen regelmäßig Verbindung über Bild- und Sprechfunk miteinander auf. — Start frei für den Abstieg zum bläulichen Planeten!“

Das Bild erlosch. Sil konzentrierte sich auf den Abflug. Er drückte auf die Starttaste. Damit war der Pilotron in Tätigkeit gesetzt worden. Die Programmsteuerung lief an. Sil wurde in den Sessel gedrückt. Die Steuerdüsen hatten gezündet. Sie schoben die kleine Rakete vom Raumschiff weg. Langsam glitt die weiße Spindel von der Plattform.

Auf der Bildfläche des Eriders war das sternenbesäte Firmament zu sehen. Weit voraus zog der Kreiselrumpf der „Kua“ seine Bahn.

Plötzlich warf sich eine Last auf Sils Körper. Auf dem Sichtschirm erschien ein langer und glatter, fast farbloser Strahl vorangeschleuderter, glühendheißer Gase. Das Triebwerk hatte eingesetzt und bremste gewaltsam den Flug.

Die „Kua“ wurde schnell kleiner und entschwand Sils Blicken.

Die Geschwindigkeit der Erkundungsrakete sank rapide. Der bremsende Feuerstrahl zwang sie zur mächtigen Wölbung der Kontinente und Ozeane hinab.

„Hallo, Weißer Pfeil!“ klang es nach einiger Zeit durch die Kabine. „Hallo Sil! Alles in Ordnung? Wie fühlst du dich?“

Auf dem Bildschirm war Tivia zu sehen.

„Keinerlei Beschwerden“, antwortete Sil.

Gohati zeigte sich im Bild. „Du wirst bald in den Schatten des Planeten eintauchen. Er schiebt sich gleich zwischen uns…“ Das Fernsehbild verschwamm schon. Der Ton wurde leiser und leiser. Die Verbindung zur „Kua“ brach erwartungsgemäß ab.

Auf dem Erider leuchtete ein anderes Bild auf. Er funktionierte jetzt als Sichtschirm. Tief unten in blauem Dunst drehte sich eine langgestreckte Doppelscholle hinweg. Die ersten Schatten der Nacht berührten ihre schorfigen Ränder.

Eine weiße Masse kroch über die Oberfläche des Planeten. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen färbte sie sich rötlich.

Wolkenfelder, stellte Sil fest.

Die Erkundungsrakete umjagte mehrmals den Planeten und tastete sich langsam in die Atmosphäre hinab. Sil hatte inzwischen den Pilotron abgeschaltet und die Steuerung auf Codeworte umgestellt. Die selbsttätige Programmsteuerung setzte aus. Sil führte jetzt das Raketenflugzeug. Ab und zu rief er einige Silben. Der Weiße Pfeil gehorchte ihm aufs Wort und führte all seine Befehle aus.

Müßte sich nicht bald der Himmel verfärben, überlegte Sil, als der Weiße Pfeil die obersten dünnen Luftschichten erreicht hatte. Schwarz würde er auf keinen Fall bleiben. Er rief ein Codewort. Ein breiter Streifen glatter ungepolsterter Wandung wurde über seinem Kopf erkennbar. Es war Panzerglas. Es wölbte sich zu beiden Seiten der Kabine bis zum Boden herab und bot zusätzlich freie Sicht. Sil hob den Blick — und stieß einen Ruf voller Bewunderung aus. Eine einzigartige Kuppel von reiner blauer Farbe dehnte sich über ihn. Sie war von einer Klarheit und Tiefe, die versonnen machte und zum Träumen einlud. Dies Blau schien zu duften. Es verwandelte die dunkle Weite des schwarzen Sternenhimmels in eine lichterfüllte Ferne, die Sorglosigkeit und ein glückliches Gefühl schenkte.

„Hältst du nach der ›Kua‹ Ausschau?“ fragte plötzlich eine Stimme. Vom Bildschirm sah ihm Gohati zu. Zu wiederholten Malen war die Verbindung zum Raumschiff hergestellt.

Sil machte ein verneinendes Zeichen. „Dieser Planet hat einen blauen Himmel“, berichtete er begeistert.

„Der Planet des Lebens hat einen blauen Himmel!“ rief auch Gohati voller Überraschung den anderen die Neuigkeit zu, wobei er sich umdrehte. Sil hörte die bewundernden Ausrufe der Umstehenden. Sie drängten sich erwartungsvoll um den Kommandanten, um einen Zipfel dieses Blaus auf dem Bild ihres Eriders zu erhaschen.

Sil löste seufzend seinen Blick von diesem Himmel und sah in die Tiefe unter sich. „Der Weiße Pfeil befindet sich über einer Festlandscholle“, berichtete er seinen Gefährten im Raumschiff.

Einige Zeit später — die Verbindung zur „Kua“ war inzwischen erneut unterbrochen — tauchte am Horizont eine Gebirgskette auf. Der Weiße Pfeil war jetzt schön so tief zum Planeten herabgedrungen, daß sich vom Horizont die höchsten Gipfel dieses Gebirges als winzige stumpfe Spitzen abhoben, weiß glitzernd.

Da legte es sich plötzlich wie ein Schleier vor Sils Augen.

Schwindel ergriff ihn. Er unterdrückte ein Stöhnen. Ein untrügliches Gefühl warnte ihn: Vorsicht!

Bewußtseinsflimmern! Der Raumtaumel, dachte Sil. Unter ihm litten alle Raumfahrer, sobald sie einmal nahe der Lichtgeschwindigkeit geflogen waren. Niemand vermochte vorauszusagen, wann und wie oft diese Erscheinung eintreten oder auch nicht, wie lange sie andauern würde.

Wieder stellte sich jener Wahn ein, in dem Sil mit Hyperlichtgeschwindigkeit die galaktischen Weiten durchpflügen wollte, um den geheimnisvollen Sternenschleier zu zerreißen. Gewaltsam preßte er seine Lippen zusammen, um sich keine Codeworte entschlüpfen zu lassen. Es wären die unsinnigsten Kommandos gewesen. Sie hätten für ihn den Tod bedeuten können.

Sil überwand sich noch einmal mit aller Kraft und schaltete die Codesteuerung ab. Der Pilotron mußte jetzt steuern, aber Sil hatte sich, nicht mehr Herr seiner Bewegungen, vergriffen.

Statt der Codetaste klickte die Sturzflugtaste.

Ganz leicht nur neigte sich die Spitze des Weißen Pfeils. Sie zielte auf den Horizont, und es sah aus, als zögere die Rakete.

Plötzlich aber stellte sie sich senkrecht und schoß hinab.

Donnernd schlugen die zerrissenen Luftmassen hinter ihr zusammen.

Sil spürte durch den wallenden grauen Nebel um sich die Gefahr. Er sah verschwommen, wie grün, blau, braun, gelb und grau der Fladen eines Farbenbreis auf ihn zuwuchs. Auf der schmalen, langen Leuchttafel über dem Erider verschwanden die Zahlen mit der Höhenangabe. Statt dessen sprang rot und groß eine Ziffer auf, in monotonem Rhythmus wechselnd: „15–14 — 13–12…“

Schwerfällig begriff Sil: Das waren Zeitangaben. In zwölf Augenblicken würde das Raketenflugzeug, wenn es weiter stürzte, am Boden zerschellen. Verwundert registrierte er, daß er keine Angst hatte. In ihm stieg vielmehr kalter Zorn auf.

Sein Wille bäumte sich. Er mußte diesen Nebel in seinem Hirn bannen, ihn überwinden. Es gab für ihn nur einen Ausweg: Handeln, aktiv handeln, den Willen mobilmachen, gegen die Bewußtseinstrübung ankämpfen, sich konzentrieren, sich vielleicht sogar einer Gefahr aussetzen, die zum Handeln zwang. Sonst würde er Tivia und die anderen Gefährten nie wiedersehen. Sil nahm seine ganze Willenskraft zusammen.

„… 11–10 — 9…“ Ich muß jetzt die Hand heben und die Steuertaste für „Waagerechtflug“ drücken, redete er sich fest ein. Er versuchte es. Die Hand pendelte ziellos hin und her. In der Kabine machte sich steigende Hitze bemerkbar, aber Sil fühlte sie nicht. Mechanisch zählte er mit. Nur noch wenige Augenblicke habe ich zu leben, dachte er. Tivia — sieh, der schöne blaue Himmel.

„… 8–7 — 6…“ Es klickte. Mit furchtbarer Gewalt wurde Sil in den Pilotensessel gepreßt. Sein Körper schmerzte.

Mit großer Geschwindigkeit war der Weiße Pfeil in die untersten Schichten der Atmosphäre gerast. Schließlich hatten die Gefahrensignale der Flugkontrollgeräte selbständig den Pilotron wieder eingeschaltet und den ungewollten Befehl Sils korrigiert.

Als der Nebel aus dem Kopf wich und die Gedanken Sils wieder frei und klar waren, zog die Erkundungsrakete, so als sei nichts geschehen, ruhig ihre Bahn. Wie durch ein Wunder schien der Weiße Pfeil bei dem Sturz keinen Schaden genommen zu haben. Mit einem Blick überzeugte sich Sil davon, daß die Meß- und Steuerfelder des Pilotrons keine Warnzeichen gaben.

Sil sah hinab. Das Raketenflugzeug flog nun nicht mehr allzu hoch. Ziemlich nah unter ihm dehnte sich eine üppige Vegetationszone. Durch den Dunst des Bodens schimmerte ein dichter dunkelgrüner Teppich.

Plötzlich huschte unten ein dunkles, breites und vielfach gekrümmtes Band vorbei. Sil zog den Weißen Pfeil in eine Kurve und kehrte zurück. Da war es wieder. Sil versuchte, sich auf dieses Band im Vegetationsteppich einzusteuern. Es gelang ihm jedoch nicht, den Krümmungen zu folgen.

Das Band war vollkommen glatt und eben. Sollte es etwa ein Verkehrsweg für schnelle Landfahrzeuge sein? Doch dafür hatte das Band zu scharfe Biegungen. Jedes schnelle Fahrzeug würde beim ersten Bogen in das Pflanzendickicht hineinrasen.

Sil hielt geraden Kurs. Mal war der Streifen rechts, mal links unter ihm. Zuweilen mündeten schmälere Bänder in den breiten Streifen. Sil konnte darin kein System, keine Gesetzmäßigkeit erkennen. Auf Heloid gab es eine solche Erscheinung nicht. Der breite Streifen und auch die schmäleren Zuführungen schnitten deutlich wahrnehmbar in die Vegetationsschicht ein.

Sil steigerte die Geschwindigkeit und ließ die Rakete wieder aufwärts klettern. Als der Weiße Pfeil Höhe gewönnen hatte, schob sich vom Horizont her der Rand der Festlandsscholle ins Blickfeld. Sil versuchte, das gewundene Band aus dieser Höhe zu erkennen. Er fand es ohne Mühe. Es lief geradewegs auf ein großes Wasser zu. Breit und trichterförmig öffnete es sich ihm.

Sollte es etwa ein Flüssigkeitsband, ein Wasserstreifen sein?

Das wäre eine großartige Entdeckung! Viele der belebten Planeten der Galaktischen Gemeinschaft waren trockene, wasserarme Welten. Auch Heloid hatte nur ein Nordmeer und ein Südmeer an den Polen. Die Berichte von Raumfahrern über einige wasserreiche Planeten im All hatten allzeit sagenhaft angemutet. Nun sah er es selbst. Nicht nur riesige Teile dieser bläulichen Kugel waren von Wassermassen bedeckt, sondern auch die Festlandsschollen wurden von einem Netzwerk wasserführender Adern durchschnitten. Ob das lebensspendende Naß von den Meeren und Ozeanen landeinwärts floß? Wie glücklich mußten die Lebewesen dieses Planeten, wenn es sie gab, sein! Sie hatten nicht nur Licht und Wärme in Fülle, sondern auch Naß in Überfluß.

Tief unten glitt die Mündung des Stromes hinweg. In weitem Bogen schwang die Küstenlinie nordwärts. Sil folgte ihr mit dem Weißen Pfeil. Eine doppelte Bergkette begrenzte diesen Teil des Meeresufers. Dämmerung lag auf dem Küstensaum. Die Nacht brach auf diesem Teil des Planeten herein.

Plötzlich empfand Sil einen harten Stoß. Die Rakete taumelte. Auf dem Erider wechselte das Bild in schneller Folge. Der Weiße Pfeil flog im Kreis.

„Steuerung verklemmt“, meldete die Lichtschrift des Pilotrons. „Auf Strahlruder umgestellt. Weiterflug gefährlich!

Landung zweckmäßig.“

Schnell entschloß sich Sil. Jede Minute, die er noch flog, konnte ihm das Verderben bringen. Die Rakete war nicht mehr flugsicher. Der harte, unerklärliche Schlag hatte sie beschädigt. Schnell verminderte sich die Geschwindigkeit.

Sil schaltete die Codesteuerung ab und die Programmsteuerung für „Landung auf festem Grund“ ein. Der Pilotron übernahm wieder die Führung des Raketenflugzeuges. Rasch verlor der Weiße Pfeil an Höhe.

Auf dem Erider wuchs die doppelte Gebirgskette heran.

Jenseits der einen war das Meer und jenseits der anderen ein braunes, dürres vegetationsarmes Land. Dazwischen lag ein breites und langes Tal. Aus der Höhe wirkte es wie eine Rinne. Die Gipfel warfen bereits dichte Schatten. Das Aufsetzen würde also fast einer Blindlandung gleichkommen. Sil blieb keine Wahl.

Etwa eine Raketenlänge über dem Boden blieb die überschlanke Spindel in der Luft stehen. Es sah aus, als ruhe sie auf ihrem Feuerschweif. Die Gewalt der ausströmenden, vom Reaktor erhitzten Gase wirbelte eine dichte Wolke von Staub und Dreck auf. Steine flogen nach allen Seiten. Selbst schweres Geröll rollte hinweg. Das Triebwerk wühlte einen Krater in den Boden, dessen Grund durch die Hitze zu einer festen, blasigen Masse verschmolz, langsam senkte sich die Rakete vollends herab.

Sil beobachtete angespannt den Erider und auch die Meßfächer des Pilotrons. Auf den schachbrettartigen Steuerfeldern vollzog sich ein Miniaturgewitter. In fast allen Steuerfeldern blinkten Zahlen und Symbole. Über die schwarze quadratische Fläche des Myonenhirns sprangen Fünkchen. Auf dem Erider waren nur Feuer, Qualm und Staub zu sehen.

Plötzlich durchfuhr ein Stoß den Rumpf. Der Weiße Pfeil war gelandet. Sil lag in der Rückenlehne seines Pilotensitzes und starrte angespannt auf den Erider. Der Rauch- und Staubschleier verzog sich. Ein Wind trieb die wallenden Wolken davon. Aus der Dämmerung im Tal wurde Dunkelheit. Nichts rundum war zu erkennen. Nur hoch oben leuchteten die Spitzen und Kuppen der Gebirgskette noch kurze Zeit im letzten Schein der untergehenden Sonne rosa gegen den blauen Himmel. Die violetten Schatten an den Hängen glitten schnell höher, bis sie den Grat des Höhenzuges erreicht hatten. Dann schimmerten nur noch die weißen Kappen einiger Gipfel. Sil verharrte regungslos. Ein solch schönes Spiel von Farben und Licht hatte er noch nie in der Natur gesehen. Die kleinen rundlichen Hügel auf Heloid vermochten einen solch zauberhaften Gruß nicht hervorzubringen.

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