Die Sandwanderer

Braun und gelb dehnte sich ringsum das dürre Land. Tage schon zog Ia-du-lin auf dem Weg der Karawanen durch die Steppe. Hinter ihm gen Abend versanken die Berge der Küstengebirge. Nur ein schmaler dunkelblauer Streifen, schwimmend im Dunst der Ferne, verriet die Gipfelkette.

Vor ihm trabte der Esel. An seinen Flanken glucksten die Ziegenschläuche. Auf dem Rücken schwankte der spitze graue Stein des Himmelssohnes.

Der Karawanenweg, dem sie folgten, führte zurück zum Zweistromland. Weit gen Morgen traf er auf den breiten Strom Pu-rat-tu. Dort wartete das Boot mit dem hohen Schnabel, das ihn, den Boten des mächtigen En-mer-kar, über die behäbigen Fluten hinab nach E-rech tragen würde. En-mer-kar erwartete ihn, wenn der Mond wieder voll war und der helle Stern, der für I-na-nua strahlte, glückverheißend hinaufstieg zur schimmernden Himmelsstraße, über die Milch und Honig floß und von der Tammuz, der Gott des Morgens, in klaren Nächten unmerklich den erquicken den Tau auf die ihm von A-nu, dem Herrn aller Götter, an vertraute Pflanzenwelt sprengte.

Ia-du-lin hob den Blick und spähte, dem Gebot der Vorsicht folgend, aufmerksam umher. Seine Hand tastete nach der Tontafel, der Antwort A-rats, die er auf seiner Brust verborgen hielt. Doch auf der weiten, gewellten Ebene zeigte sich nichts, was seinen Argwohn erregte.

Der Weg war nicht festgetreten. Nur die weitverstreuten Hufspuren der Lasttiere, die abgegrasten Raststellen und die vereinzelten Doppelfurchen von Karren verrieten, daß hier täglich Gruppen entlangzogen, die die Waren des Zweistromlandes zu fernen Städten brachten und die dafür andere Reichtümer heimführten. Die Spuren glitten allmählich zusammen, kreuzten sich oder verschmolzen, strebten wieder auseinander und verloren sich schon wenige Steinwürfe entfernt in den Unebenheiten des Bodens.

Nur zögernd und nicht ohne Furcht war Ia-du-lin, diesmal ohne das Geleit der Soldaten A-rats, den Paß zum Hochtal Hadscha El Hibla emporgeklommen. Würde der Himmelssohn ihm zürnen, weil er sich vor A-rat seiner gebrüstet hatte?

Wie staunte Ia-du-lin, als er das Tal leer fand. Nur verbrannte Flecken am Boden deuteten an, daß Sils fliegendes Haus sich mit feurigen Zungen hier niedergelassen hatte.

Drei riesige Steine, gleichmäßig hoch, lang, eckig und glatt, lagen im Tal. Sie ängstigten Ia-du-lin. Zuvor hatten sie hier nicht gelegen. Woher kamen sie so plötzlich? Verbargen sich die Götter in dieser Gestalt vor den Menschen? Furchtsam schlug Ia-du-lin einen weiten Bogen um die grauen Kolosse. Er war froh, als er die Berge jenseits des Tales erreicht hatte, das zweite Gebirge überqueren und seinen Fuß auf das Dürrland setzen konnte.

Gar zu gern hätte sich Ia-du-lin ab und zu auf seinen Lastesel gesetzt, um den weiten Weg durch das Sandland bis zum Strom schneller zurückzulegen. Doch er wagte nicht, das Geschenk des Himmelssohnes abzugürten und es am Wege liegenzulassen. Der junge Gott würde ihn dieser Schmähung wegen sicher auch in solch einen riesigen, eckigen Felsstein verwandeln, wie sie im Hochtal lagen. Außerdem dachte er immer wieder an die Träume, an die lebenden Bilder, die ihm die Macht des spitzen grauen Steines, der Sil herbeizurufen vermochte, offenbart hatten. Mehrmals schon war Ia-du-lin versucht gewesen, den gelben Mantel darüber auszubreiten, um zu erfahren, ob der Himmelssohn wirklich herbeikäme.

Der Morgentau war längst schon von den Gräsern verschwunden. Nur dort, wo es in einer Senke zwischen zwei Bodenwellen oder im Schatten eines einsamen Strauches wuchs, hatte es sich ein wenig erholt. Die Sonne stieg dem Zenit entgegen und brannte heiß. Es war an der Zeit, einen, Rastplatz zu suchen, den Rest des Tages dort zu bleiben und erst am Abend oder in der Nacht, wenn es wieder kühler wurde, weiterzuziehen. Ia-du-lin blickte sich um. Unter den niedrigen, weitverstreut stehenden Buschgruppen wählte er sich abseits der Karawanenstraße ein kleineres Gebüsch aus, um in seinem Schatten auszuruhen.

Dort angelangt, befreite er den Esel von seiner Last und ließ ihn weiden. Der spitze, dreieckige Stein stand vor ihm in der Sonne. Die der glühenden Himmelsscheibe zugewandte Seite gleißte und glitzerte. Es war, als leuchte gedämpft ein heimliches Feuer in dem Obelisk. Grübelnd starrte Ia-du-lin diesen stummen Gefährten seiner langen Wanderung an. „Kopf des Riesen“ hatten ihn die Leute an der Küste genannt und sich vor dem Stein gefürchtet. Sie mochten wohl recht haben, denn mehrmals am Tag begann es in ihm zu ticken, zu knacken und zu surren, so, als lebe er wirklich. Jeden Tag, wenn die Sonne am höchsten stand, auch dann, wenn Wolken sie verbargen, schoben sich winzige Fühler aus, drehten und wendeten, spreizten und bogen sich und ließen einen feinen, hohen Ton hören, der wie das Schwirren von Mückenflügeln klang. Dann glomm auf einer flachen Leiste der einen Seite der Pyramide ein buntes Spiel von Lichtern auf, jedesmal anders.

Ia-du-lins Körper neigte sich nach vorn, und seine Stirn berührte das kühle, glatte Metall der Meßsonde. Wachen und Träumen vermengten sich. Ab und zu schreckte er noch zusammen. Aber dann stiegen wirre Bilder in ihm auf. Er war fest eingeschlafen, glaubte jedoch, wach zu sein und mit Spannung auf das Spiel der Fühler und auf den bunten Lichterreigen zu warten. Schon begann es zu funkeln und sich zu regen. Haltet ein, es ist doch noch nicht Mittag, wollte er erschrocken rufen. Aber da war es plötzlich Nacht, und der Feuervogel fuhr über die mattschimmernde Milchstraße am Himmel. Die Fühler streckten sich wie bittende Hände aus dem Stein, aber der Himmelssohn lachte und flog davon. Im Hochtal Hadscha El Hibla erhob sich einer der drei grauen Riesensteine, setzte sich seinen spitzen, dreieckigen Kopf auf, den ihm der Himmelssohn im Kampf abgeschlagen hatte, und murrte mit dumpf grollender Stimme: „Ia-du-lin, steh auf und folge uns!“

Erschreckt sprang er auf. Um ihn im Halbkreis saßen Männer. Ihre Waffen lagen auf den Knien, quer über den gekreuzten Beinen. Weite helle Tücher umhüllten die dunkelbraunen, sehnigen Glieder und umrahmten die faltigen Gesichter, die hellen weitblickenden Augen. Sandwanderer!

Die Männer schienen nicht zu befürchten, daß er floh.

Gleichmütig blieben sie am Boden sitzen und sahen vor sich hin. Nur ihr Anführer stand, wenige Schritte entfernt, ruhig auf seinen schweren Wurfstab gestützt, dessen harte Kieselspitze sein Haupt überragte. Forschend ruhte sein Blick auf dem dreieckigen Stein, und gleichzeitig belauerte er aus den Augenwinkeln wachsam jede Bewegung seines Gefangenen.

„Ia-du-lin, folge uns“, sagte er auf einmal und fügte dann mit einem ironischen Lächeln hinzu: „… wenn du Gast der Nachatschäer sein willst.“

Ia-du-lin hatte ihn verstanden. Er war zum Gefangenen erklärt worden. Wenn er klug handelte, würde ihm nichts geschehen.

Jetzt zu fliehen wäre unsinnig. Er setzte sich wieder und kreuzte ebenfalls die Beine. Einige Augenblicke vergingen. Ia- du-lin ordnete seine Gedanken. Schließlich ergriff er gemessen seinen Ziegenschlauch und reichte ihn mit einladender Geste dem zunächst sitzenden Krieger. Nun würde sich zeigen, was er von ihnen zu erwarten hatte.

Die Männer tranken, jeder einen kleinen Schluck. Das bedeutete, daß die Gefahr nicht ganz so groß war, wie er geglaubt hatte.

Während der Wassersack kreiste, überlegte er: En-mer-kar hat viele Feinde. Im Zweistromland führen die Städte häufig untereinander Krieg. Der Gal-Uku-Patesi, der Heerführer aus der Stadt Ur, war En-mer-kars größter Feind. Aber diese hier, die Sandwanderer, waren die Feinde aller Einwohner des Zweistromlandes. Sie, die Umherziehenden, umbrandeten seine Heimat von allen Seiten und neideten ihr den Reichtum der Seßhaften. Immer wieder trieben sie ihr Vieh auf die grünen, saftigen Weiden des Pu-rat-tus, die weit in das Dürrland hineinreichten, und förderten damit den blutigen Streit heraus.

Manchmal drangen sie auch über den Strom in die Dörfer ein, kamen bis vor die Mauern und Wälle der Städte und raubten die Speicher leer. Dann waren sie wieder friedfertig und tauschten ihr Vieh gegen Korn und Hausrat. Was wohl wollten diese hier von ihm?

Der Ziegenschlauch hatte die Runde gemacht und war wieder bei Ia-du-lin angelangt. „Führt mich zu euren Herden und zu euren Zelten“, sagte er schließlich. „Bis morgen abend will ich gern euer Gast sein“, fügte er, ebenfalls ironisch, hinzu.

Die Männer standen auf und ergriffen seine Habe. Sie mußten seine Schlafdecken, seine Wegzehrung und die Ziegenschläuche mit dem Wasser tragen, denn der Esel war vorausgeführt worden. Kur den spitzen, dreieckigen Stein rührten sie nicht an, weil sie fürchteten, sich in Gefahr zu begeben. Rasch hüllte Ia-du-lin ihn in den gelben Mantel und hob ihn sich selbst auf die Schulter. Sie schritten los, in einer langen Reihe. Die Huf- und Karrenspuren kreuzten immer seltener ihren Weg, das trockene Gras stand immer spärlicher.

Sie ließen die Karawanenstraße hinter sich.

Woher nur kannte der Anführer der Sandwanderer seinen Namen? Angestrengt überlegte Ia-du-lin. Wußte er gar auch von seiner Mission? Sicherlich erhofften sich diese Sandwanderer Beute. Von dem bevorstehenden Tausch mit A- rat durften sie nichts erfahren. Ia-du-lin fühlte verstohlen nach dem auf der Brust verborgenen Tontäfelchen, Sollten sie es ihm wegnehmen wollen, würde er es zerdrücken.

Wo blieb der Himmelssohn? Angespannt lauschte er, ob nicht schon ein fernes Donnern zu hören war. In den lebenden Bildern war der Feuervogel immer gleich erschienen. Doch um ihn waren nur die katzenhaft leichten Schritte der Sandwanderer, die ihn, obwohl seine Bewacher alle Sandalen trugen, an das Tappen nackter Sohlen erinnerten.

Das Tappen nackter Füße… Sklavenschritt, das war es. Ia-du- lin ahnte jetzt, woher diese Männer seinen Namen kannten.

Erst zu Beginn dieses Sommers war es gewesen. Die Wasser des Pu-rat-tus waren in die Ufer zurückgekehrt, der dunkle fruchtbare Schlamm bedeckte die Felder, und die Aussaat des Getreides stand bevor. Da stürzte der Dug-gur, der Verwalter der Lager, ins Zimmer des Nubanda, des höchsten Beamten. Er berichtete, daß im Dorf El-Ubaid die Sandwanderer des Nachts erschienen waren und die Speicher En-mer-kars, der Tempel und auch der Lug-uls, der großen Leute, geplündert hatten. Die Dorfarmen waren ungeschoren geblieben. Die Hälfte der Sklaven war mit den Räubern auf und davon gegangen, nachdem sie ihren Aufseher, den Patesi, den Residenten En- mer-kars in El-Ubaid, erschlagen hatten. Erst tags zuvor war Ia-du-lin in El-Ubaid gewesen, um dem Patesi die Weisung En- mer-kars zu bringen, die Aussaat nicht früher zu beginnen, als bis der rötlich schimmernde Stern das Zeichen des Skorpions verlasse. Der Aufseher war mit ihm über die Felder gegangen, wo die Sklaven den zu einer Kruste getrockneten Schlamm der letzten Überschwemmung mit hölzernen Hacken aufrissen und für die Aussaat vorbereiteten. Dabei war er vom Patesi mit Namen genannt worden, was er gern gehört hatte, denn die Sklaven warfen, als sie es vernahmen, ehrfurchtsvolle und scheue Blicke auf ihn, den Tamkare des Herrschers, der für sie eine bedeutungsvolle Person war.

Diese nun, die Nachatschäer, waren wohl jener Stamm, der in El-Ubaid eingedrungen war und die geflohenen Sklaven bei sich aufgenommen hatte. Sie mochten heute auf dem Karawanenweg eine frische Spur entdeckt haben, waren ihr gefolgt, fanden den Schlafenden — und erkannten in ihm den Tamkare aus E-rech.

Ia-du-lin wechselte seine schwere Last von der einen auf die andere Schulter. Mühsam reckte er den Kopf. Der gebeugte Nacken machte es ihm schwer, den Himmel zu überschauen.

Noch immer war kein Feuervogel zu sehen. Schien dem allwissenden Himmelssohn die Gefahr, in der er schwebte, nicht groß genug, um zu helfen?

Ia-du-lin keuchte. Es war sehr heiß. Die Mittagszeit konnte nicht mehr fern sein. Je weiter sie sich von der Karawanenstraße entfernten, um so schwieriger würde es werden zu fliehen. Vielleicht auch mußte En-mer-kar vergeblich auf seinen Tamkare warten, dachte Ia-du-lin.

In der Steppe erhob sich ein größerer Hügel. Auf ihn marschierte die Reihe zu. Bis dahin war es noch weit. Der Tamkare setzte den verhüllten Stein ab und ließ sich nieder.

Seine Bewacher hielten ebenfalls an und warteten geduldig.

Niemand trieb ihn zur Eile an.

Ia-du-lin ergriff, als er sich ein wenig erholt hatte, den Wasserbeutel, der mit dem duftenden, süßen Himmelsgetränk gefüllt war. Vorsichtig schüttete er sich ein wenig von dem Naß auf die hohle, nach innen gewölbte Hand und schlürfte es. Dann bot er den Kriegern auch einen Trunk an. Der erste, verwundert ob dieser seltsamen Trinkart, hielt nur zögernd seine Hand hin. Erstaunt hob er die Brauen, als er den würzigen Duft roch. Neugierig geworden, traten auch die anderen hinzu. Der Krieger kostete die gelblichen, klaren Tropfen und stieß dann Behagen bekundende Laute aus. Nun war es nicht mehr schwer, auch die anderen Männer zu bewegen, auf diese Art zu trinken.

Sie merkten nicht, wie ihr Gefangener jedes Gesicht in der Runde aufmerksam prüfte. Das seltsame Getränk lenkte sie ab.

In der Tat, drei der Krieger ähnelten, obwohl auch ausgemergelt, nicht den Sandwanderern. Ihre Backenknochen waren stärker und ließen das Gesicht breiter werden. Die hellen Tücher, die sie in Art der Sandwanderer um Leib und Kopf geschlungen trugen, hatten ihre fremdartigen Züge verborgen.

Nun aber, da Ia-du-lin darauf achtete, konnte er in ihnen die Sags aus den Bergen des Elam-Reiches im Osten des Zweistromlandes erkennen, von denen viele Kriegsgefangene als Sklaven in E-rech arbeiteten.

„Die Sklaven aus El-Ubaid taten unrecht, als sie den Patesi erschlugen und zu den Sand Wanderern flohen. Sie haben die volle gegen die leere Eßschüssel vertauscht“, sagte Ia-du-lin plötzlich. Er erschrak vor seiner eigenen Kühnheit, und das Herz klopfte ihm. Wie, wenn sie jetzt ergrimmten?

Die drei Sags hoben den Kopf beim Klang des bekannten Namens. Dann lächelten sie stolz. Sie standen ihm als Freie gegenüber, und nichts war mehr von der Scheu und der Ehrfurcht zu spüren, mit der sie einstmals dem geheimnisumwitterten Tamkare bei seinem Besuch in El-Ubaid begegnet waren.

„Es gibt hier keine Sklaven aus El-Ubaid. — Volle Schüsseln hat nur der Patesi gehabt. Den Sandbewohnern sei Dank, daß sie uns das Leben wiedergaben“, erwiderte einer von ihnen ernst. Ia-du-lin glaubte, Haß in den Augen der anderen zu sehen, und er ahnte, daß sie ihn töteten, wenn die Sandwanderer es zuließen.

Einer der Krieger des Dürrlandes war auf einen Wink des Anführers davongegangen, nachdem auch er noch etwas von dem duftenden Wasser geschlürft hatte. Er kam jetzt hinter einer Bodenwelle hervor und führte schweigend Ia-du-lins Esel herbei. Man belud das Tier wieder mit seiner Habe, und Ia-du- lin schöpfte angesichts dieser freundlich anmutenden Geste neue Hoffnung. Deshalb gürtete er auch den Stein auf den Rücken des Esels, ließ ihn aber verhüllt.

Um so überraschter war Ia-du-lin, als plötzlich zwei Sandwanderer herantraten und ihm mit schnellen und geübten Griffen die Hände auf dem Rücken fesselten. Widerstandslos ließ er es geschehen. Nahmen sie ihm seinen heiligen Stein weg? Zuvor würden sie in Erfahrung bringen wollen, welche Bewandtnis es mit ihm hatte. Dann mußte er unbedingt versuchen, ihnen Furcht vor ihm einzuflößen, so daß sie nicht wagten, ihn zu berühren. Wird das Spiel der Lichter und der Fühler unheimlich genug für sie sein, um sie zu erschrecken?

Heute nicht, beschloß er, erst morgen, denn heute mußte das Tuch auf dem dreieckigen Stein bleiben, damit der Himmelssohn kam.

Die Reihe der Männer schritt schweigend durch die Mittagsglut. Der große Hügel in der Steppe rückte näher.

Endlich waren die Herden der Sandwanderer, die sich im Schatten einiger Tamarisken drängten, zu sehen. Am Fuße des Hügels standen die Lederzelte der Steppenbewohner.

Die „Kua“ war schon vor Tagen gelandet. Ihr kreiselförmiger Rumpf schwamm wie ein großer, umgestülpter und hochgewölbter Teller auf der spiegelglatten Fläche des Meeres der toten Wasser. Das eine Ende des Raumkreisels war in die Fluten getaucht, und das andere, mit dem Gitterturm hoch in die Luft ragend, trug die Plattform. Auf ihr stand abflugbereit der Ringflügler. Gleich neben dem Raumschiff lagen die große und die kleine Landungsrakete, der Atomicer und der Weiße Pfeil.

Gohati hielt mit seinen Gefährten in der Algenplantage eine Beratung ab. Sie hatten gemeinsam mit der Erneuerung der Navigationskreisel begonnen und überlegten nun, wen sie bei der Reparatur entbehren konnten, um das Leben auf diesem Planeten zu erforschen.

Kalaeno war der Meinung: „Dieser Planet darf nur eine kleine Episode für uns sein. Wir dürfen uns hier nicht lange aufhalten, denn unser Auftrag lautet, zu den Welten des äußeren Spiralarmes zu fliegen, die Teloiden zu suchen und eine Brücke der Verständigung, der Radioverbindung über den Großen Abgrund zu schlagen.“

„Wir sollten, da wir nun hier gelandet sind, die Gelegenheit nutzen, um die Lebensweise der Planetenbewohner und die Stufe ihrer Entwicklung kennenzulernen“, äußerte Sil.

„Vielleicht kann man ihnen helfen, schneller auf dem Wege der Zivilisation voranzukommen.“

„Wir sollten es versuchen, aber ich glaube, unsere Kraft und unsere Zeit reichen dazu nicht aus. Jede Planetenbevölkerung muß ihren eigenen Weg gehen und sich selbst entwickeln.

Niemand kann ihr dabei helfen oder nützlich sein“, warf Azul ein.

„Wo immer wir auch Leben treffen im All, wir wollen es kennenlernen und ihm nie unsere Freundschaft und unsere Achtung verweigern, wir wollen Verbindungen knüpfen, Wissen und Gedanken austauschen. Das ist euch allen bekannt“, sagte Gohati. „Diese Planetenbewohner haben offensichtlich noch keine hochentwickelte Technik, aber es wird dennoch die Zeit kommen, wo sie uns ebenbürtig sind. Sie sind deshalb schon heute unsere Brüder. Wir wollen sie also kennenlernen. Der Bau der Kreisel erlaubt es uns jedoch, nur zwei aus unserer Mitte zu ihnen zu entsenden.“

„Sil und Azul“, schlug Aerona vor. „Sil kennt Ia-du-lin schon, und Azul interessiert sich doch besonders für ihren Götterglauben.“

Das traf tatsächlich zu. Nachdem die „Kua“ gelandet war, hatten die Heloiden die Aufzeichnungen Sils über Ia-du-lin bei seiner Begegnung mit ihm im langen Tal vom Myonenhirn untersuchen lassen. Dabei hatten sie den Sinn der Worte und Gesten des Menschenwesens zum Teil enträtseln können und auch herausgefunden, daß die Planetenbewohner noch im Zeitalter des Götterglaubens lebten. Jedenfalls deuteten einige Worte Ia-du-lins bei seinem seltsamen Zwiegespräch mit den Biostrombildern Sils in der Kabine des Weißen Pfeils darauf hin. Bei den Bewohnern Heloids war einstmals in sagenhafter Vorzeit ebenfalls der Götterglaube weit verbreitet gewesen.

Deshalb hatte sich Azul eingehend für diese Erscheinung bei den Bewohnern des blauen Planeten interessiert.

Bei der Entzifferung der Aufzeichnungen aus dem langen Tal war aber auch deutlich geworden, daß dieser Sprachschatz längst nicht ausreichte, um sich mit anderen Menschenwesen zu verständigen. Die kleinen myonischen Geräte, die, im Skaphander eingebaut, der Dolmetscher zwischen Heloiden und Menschen sein sollten, konnten mit diesen wenigen Worten kaum einen Satz vollständig in menschliche Laute umformen.

Als die Beratung der Kosmonauten zustimmte, Sil und Azul zu den Menschenwesen zu entsenden, erhielten sie daher zunächst den Auftrag, Ia-du-lin zu suchen und zu begleiten, dabei Kontakt zu anderen Planetenbewohnern aufzunehmen, den Wortschatz der myonischen Dolmetscher zu vervollständigen, dann die Lebenszentren der Menschenwesen aufzuspüren, ihre Produktions- und Kulturstätten kennenzulernen, mit den Klügsten und Weisesten von ihnen bekannt zu werden und den Götterglauben zu untersuchen. Für die Ausführung dieses Auftrages wurden den beiden dreißig Planetenrotationen Zeit gegeben.

Eben wollte man noch festlegen, wie lange der Aufenthalt der Expedition auf diesem Planeten dauern dürfte, als sich Sinio, der Steuerwache hatte, aus der Zentrale meldete. Er sprach so eilig, daß er diesmal sogar sein unumgängliches „Merkwürdig“ vergaß und nur rief: „Er braucht Hilfe — das vereinbarte Zeichen! — Seine Meßsonde ist verstummt!“

Sie sprangen alle auf.

„Schnell!“ drängte Tivia. „Den Weißen Pfeil, mit ihm seid ihr gleich da!“

„Nein“, widersprach Gohati. „Fliegt mit dem Ringflügler. Er ist doch schon für den Forschungsflug zu den Planetenbewohnern ausgerüstet. Er fliegt zwar langsamer, aber richtet keinen Schaden an, wenn er landet oder startet.“

Sil und Azul eilten bald danach hinauf zur Plattform. Wenige Augenblicke später schon startete der Ringflügler.

Sinio sagte ihnen über Funk die Koordinaten jener Stelle der Planetenoberfläche durch, von der aus die letzten Meßergebnisse ausgestrahlt worden waren.

Nach einiger Zeit hatten Sil und Azul diesen Punkt erreicht.

Unweit eines größeren Bodenbuckels entdeckten sie eine Menschenansammlung. Sil stellte den Erider darauf ein und erkannte Ia-du-lin mit seinem Esel inmitten hellgekleideter Planetenbewohner. Wo aber war die Gefahr, in der er und seine Begleiter sich befanden?

Sil und Azul hielten dennoch Umschau, bevor sie landeten.

Der große Bodenbuckel erregte ihre Aufmerksamkeit. Er war von einem breiten grünen Kranz umgeben, auf dem mehrere dunkelfarbige Flecken herumkrochen, ständig ihre äußere Form verändernd. Sil nahm sich nicht die Zeit, sie genauer mit dem Erider zu untersuchen. Schon beim Flug über das bräunliche Land hatten sie auf den grünen Inseln fast immer solche Fladen lebender Masse bemerkt Sil begnügte sich, den Flecken, der der hellen Menschenkette am nächsten war, zu warnen. Er richtete den Strahlenwerfer dorthin und zog zwischen der kriechenden Masse und den Planetenbewohnern einen Strich. Eine dünne Wand aus Feuer, Qualm und Dampf stieg empor, sich schnell verflüchtigend. Der kriechende Fladen reagierte tatsächlich darauf. Fast ruckartig zog er sich zusammen, seinen Mittelpunkt verdichtend. Zwei Zipfel quollen an den Seiten heraus. Sie bogen sich vom Strich des Strahlenwerfers weg und strebten zum Bodenbuckel zurück, den Kern des Fladens nachziehend.

Der Ringflügler sank herab und setzte auf. Während Azul im Flugzeug blieb, um jederzeit startbereit zu sein, ließ sich Sil herausgleiten. Er glitt in seinem glockenförmigen Skaphander Ia-du-lin entgegen. Dieser schien ihn zu erkennen, denn zögernd kam er einige Schritte näher. Die anderen Menschenwesen hielten sich zurück.

Der Heloid und die Menschen standen einander unschlüssig gegenüber. Sil fühlte, wie rätselhaft er ihnen war. Zunächst konnten nur freundliche Gesten weiterhelfen. Ia-du-lin war die Brücke zu den anderen Menschen.

Sil näherte sich dem Esel, entfernte den gelben Umhang von der noch aufgegürteten Sonde und lachte froh, weil das verabredete Zeichen verstanden worden war. Er hängte Ia-du- lin das gelbe Tuch um. Noch aber mußte Gefahr bestehen, denn sonst hätte Ia-du-lin wohl das Tuch schon selbst entfernt.

Der Heloid wandte sich der Gruppe der Menschenwesen zu, die Ia-du-lin begleiteten. Er wollte sich unter sie stellen, um damit zu zeigen, daß er auch sie beschützen wollte. Langsam glitt er auf sie zu. Doch in gleichem Maße wichen sie vor ihm zurück. Sil schaltete den Myonendolmetscher im Skaphander ein, um, wenn auch erst nur in wenigen Menschenworten, zu den Planetenbewohnern zu sprechen.

„Menschen! Habt keine Angst vor mir! Menschen! Ich bin ein Lebewesen wie ihr!“ rief er ihnen in seiner heloidischen Sprache mit melodiös zirpender Stimme zu. Doch der kleine Automat fand in diesen beiden Sätzen nur ein Wort, das er zu übersetzen vermochte.

„Menschen! Menschen!“ schallte es den Sandwanderern laut entgegen. Die drei Männer aus El-Ubaid packte das Entsetzen.

Sie stürzten fort, von panischer Angst getrieben. Die Sandwanderer jedoch hielten stand. Sie, weniger göttergläubig und vom Ringen mit der rauhen Steppennatur und dem Kampf mit Völkerstämmen aller Himmelsrichtungen Gefahr gewohnt, harrten unerschrocken aus. Instinktiv richteten sie ihre Waffen gegen dieses ungefüge bein- und kopflose Wesen, das da langsam und stetig auf sie zurückte.

Sil hielt inne. Ihm wurde bewußt, daß der Wortschatz nicht ausreichte, um sich verständlich zu machen. Da tupfte ihn jemand zaghaft von der Seite an. Es war Ia-du-lin. Er hielt ihm seine beiden Hände hin, und nun erst sah Sil: Sie waren aneinandergebunden! Sil war entsetzt.

Gewalttätigkeit! Nun erkannte er, warum Ia-du-lin das Notzeichen gegeben hatte. Gefesselt konnten ihn nur die anderen Menschen haben. Sie also waren die Gewalttäter.

Gewalttätigkeit! Seine Freude, die in ihm war, seit er bei seiner Notlandung entdeckt hatte, daß es auf diesem Planeten verstandbegabtes Leben gab, schwand.

Gewalttätigkeit! Er ahnte, dies werde wohl nur ein Anzeichen dafür sein, wie sich die Menschenwesen einander begegneten.

Diese Erkenntnis traf ihn um so härter, als in seiner Welt Gewalttätigkeit schon zur grauen Vergangenheit gehörte.

Gewalttätigkeit! Es konnte nicht anders sein. Es wäre dumm von ihm, dies nicht begreifen zu wollen. Gewalttätigkeit, so wußte er aus der Geschichte Heloids und anderer Planetenvölker der Galaktischen Gemeinschaft, zeigte sich auf den untersten Stufen der Zivilisation von Lebewesen.

Ia-du-lin hielt ihm immer noch die Hände hin. Erbittert richtete Sil seinen kleinen Strahlenwerfer zur Menschengruppe. Warnend wollte er auch ihnen einen feurigen Strich vor die Füße ziehen. Doch er besann sich.

Beschämt senkte er den Strahlenwerfer. Sie waren schutzlos.

Wenn er sie hatte auch nicht treffen wollen, so hätte er sie, verstandbegabte Lebewesen, doch immerhin bedroht, und das war für einen Heloiden schmählich. Bestürzung und Ratlosigkeit überfiel ihn, und er kämpfte gegen die Erbitterung an, die ihn zu überwältigen drohte, ein Gefühl, das er bisher noch nie kennengelernt hatte.

Knisternd schnitt ein nadelfeiner Strahl das fesselnde Lederband an und stach in die Erde. Brandiger Geruch stieg auf. Ein kleiner Ruck Ia-du-lins genügte, um die Fessel vollends zu zerreißen.

Ia-du-lin starrte sie an. Was hatte der Himmelssohn für ein merkwürdiges Messer? Es schnitt, ohne daß man seine Klinge sah.

Klare Überlegungen veranlaßten Sil, die Annäherung an die Menschengruppe doch noch einmal zu versuchen. Er ging wieder ein Stück auf sie zu und sagte: „Ia-du-lin ist ein Mensch! Ich bin Sil, ein Heloid aus dem All!“ Da stockte er schon. Nein, es hatte so keinen Zweck. Der Wortschatz war doch zu klein.

Der Myonendolmetscher aber hatte es diesmal leichter. Er konnte die heloidischen Laute ohne Schwierigkeiten in die Menschensprache umsetzen. „Ia-du-lin ist ein Mensch! Ich bin Sil, ein Himmelssohn!“ schallte es über das Dürrland.

Bei den Menschen regte sich niemand. Seine Worte verhallten ergebnislos. Oder war es seine ungewöhnliche Erscheinung, die sie mißtrauisch abwarten ließ? Sil sah ein, daß sofort nichts zu erreichen war. Die Menschen mußten sich erst an seine fremdartige Gestalt, an den Skaphander und an den Ringflügler gewöhnen. Er ging zurück und beriet mit Azul über ihr weiteres Verhalten zu diesen Menschenwesen hier.

Den Nachmittag verbrachten sie damit, das Lager der Menschenwesen durch den Erider zu beobachten. Als erstes entdeckten sie, daß die kriechenden Flecken lebender Masse nichts anderes waren, als die Ansammlung vierfüßiger Lebewesen, also von Tieren, mit denen sich die Menschen dieses braunen Landes aus irgendeinem Grunde abgaben.

„Vielleicht dienen die Tiere ihrer Ernährung“, vermutete Azul.

„Das wäre grausam und ekelhaft.“ Sil sträubte sich, das zu glauben. Jegliches Töten war ihm zuwider. Von Heloid her kannte er nur die künstliche Erzeugung von Nahrungsmitteln in automatischen Großanlagen.

Sie beobachteten, daß die Tiere vornehmlich auf der grünen Vegetation weideten, aber zuweilen auch in das braune Land hinaus wanderten, um gelbliche Stiele zu rupfen. Von einer Stelle des Hügels rann ein dünner Faden Flüssigkeit aus dem Boden hervor. Dort drängte sich ständig ein Teil der Tiere, um zu trinken. Auch die Menschenwesen gingen dorthin, schöpften die Flüssigkeit in große, offene Gefäße und schleppten sie herab zu ihren runden und spitzen Behausungen.

Ia-du-lin hatte sich im Schatten zwischen den Beinen des Ringflüglers niedergelassen. Auch er beobachtete das Treiben im Lager. Er sah, daß dort große Aufregung herrschte und daß man immer wieder herüberstarrte. Die Männer versammelten sich in Trauben hinter ihren Lederzelten, ängstlich bemüht, nicht gesehen zu werden. Frauen und Kinder wagten vorerst kaum, einen Blick aus den verhangenen Türöffnungen ihrer Wohnhütten zu werfen.

Erst nach und nach wurde es etwas ruhiger zwischen den Zelten. Man hatte wohl erkannt, daß keine unmittelbare Gefahr drohte.

Eine Zeitlang beobachtete Ia-du-lin durch den offenen Eingang des fliegenden runden Hauses, wie Sil in seinem Zimmer hantierte. Plötzlich zeigte sich neben der violetten Gestalt noch eine sonnengelbe. Ein zweiter Gott war in dem fliegenden Haus? Das hatte Ia-du-lin nicht erwartet. Er sprang erschrocken auf, packte die Führungsleine des Esels und zerrte ihn fort. Aber wohin? Unsicher hielt er inne. Zurück in den Schatten des fliegenden Hauses wagte er sich nicht, denn vor dem zweiten Himmelssohn fürchtete er sich. Er lief hastig weiter zum Lager der Sandwanderer. Als er näher kam, merkte er zu seiner Überraschung an dem Gebaren der Männer hinter den Zelten, daß er schon ungeduldig erwartet wurde.

Die drei Ältesten des Lagers kamen ihm entgegen und luden ihn ein, in das große Zelt zu einem Mahl und zu einer wichtigen Beratung einzutreten. In ihrer großen Verwirrung, die dieser Tag für sie gebracht hatte, redeten sie ihn mit dem ungewöhnlich hohen Doppeltitel eines „Nubanda-Patesi“, eines Residenten und höchsten Beamten des Herrschers, an.

Ia-du-lin erkannte sofort die günstige Gelegenheit, die sich ihm unerwartet bot. Er begann seine neue Rolle zu spielen.

Hoheitsvoll erfüllte er die Bitte der Männer.

Ihm wurde viel Ehre zuteil. Manches, was bei den Sandwanderern nicht Sitte war, mußten sie sich bei den ehemaligen Sklaven aus El-Ubaid erfragt haben. Diese waren weit herumgekommen und hatten in den Städten Sumers schon manchen Prozessionszug zu den Tempeln gesehen. So kam es, daß Ia-du-lin mit einer wunderlichen Mischung von geistlichen und weltlichen Würdigungen bedacht wurde.

Die Krieger bildeten vor dem Eingang des großen Zeltes zu beiden Seiten in langer Reihe ein doppeltes Spalier, durch das der „Nubanda-Patesi“ nur in Begleitung der drei Ältesten des Stammes hindurchgeleitet wurde. Ia-du-lin betrat als erster das Beratungszelt. Durch die Rauchöffnung in der Spitze und durch den breiten Eingang fiel noch genug Tageslicht des heißen, sonnendurchfluteten Nachmittags herein, um den Innenraum genügend zu erhellen. Gegenüber der Türöffnung waren Ziegel zu einem Würfel aufgeschichtet worden, den man mit Fellen bedeckt hatte, so daß er einen erhöhten Sitz bildete.

Ia-du-lin nahm feierlich Platz. Dann trat der Stammesfürst ein.

Er verneigte sich tief und überreichte dem Herold schweigend die Waffen, die ihm die Patrouille abgenommen hatte, als er, am Busch sitzend, eingeschlafen war. Schließlich wurde der Esel wie ein heiliges Tier hereingeführt und neben den hohen Sitz gestellt.

Ia-du-lin hob die Hand wie bei einem Zeremoniell, stieg von seinem Thron herab und nahm langsam den dreieckigen, spitzen Stein des Himmelssohnes vom Eselrücken.

Niederkniend setzte er ihn vor seinem Sitz ab.

Dann kam ein junger Krieger, der ein großes Gefäß mit Wasser schleppte, herein. Er stellte es vor Ia-du-lin nieder, streifte ihm die Sandalen ab und wusch ihm, einer Sitte des Zweistromlandes entsprechend, die Füße.

Nun konnte das Mahl beginnen. Für die drei Ältesten wurde in der Mitte des Zeltes ein großes, sauberes Stück Ochsenhaut ausgelegt, auf der gelblichgrüne, rote und schwarze irdene Gefäße mit gebratenem Fleisch, Körnerbrei, Ziegenmilch und Bier aus Spelzweizen aufgetragen wurden. Ia-du-lin brauchte nur zu bedeuten, welche Speisen er haben wollte. Der Stammesfürst stand neben seinem erhöhten Sitz und reichte ihm, seine Wünsche erfüllend, die Schälchen. Der Tamkare dehnte das Mahl absichtlich aus, um Klarheit darüber zu gewinnen, wohin diese Zeremonie führen sollte. Aber aus den sparsamen Gebärden der Stammesältesten und dem tiefen, höflich-ehrfurchtsvollen Schweigen, das alle bewahrten, ließ sich nichts entnehmen.

Als das Mahl beendet war, traten Krieger in das Zelt. Es waren alles ausgesuchte, kampferprobte Männer. Ia-du-lin erkannte es an ihren zahlreichen Narben. Sie nahmen ringsum an der Zeltwand Aufstellung.

Die Beratung begann.

„Großer Nubanda-Patesi!“ hub einer der Ältesten an. „Wir, die Krieger, unsere Weiber und Kinder und auch unser Vieh sind voller Angst und Unruhe. Heute mittag, als du dich unserem Lager nähertest, fuhr mit einem Wind ein Ungeheuer vom Himmel herab. Sein Bauch spie einen Riesen ohne Kopf aus. Du allein, o tapferer Nubanda-Patesi und oberster Priester der Ziggurat, des großen siebenstufigen Tempels, bist dem Riesen und dem Ungeheuer mutig entgegengetreten und hast seinen Zorn mit deinem heiligen Wort besänftigt. Da nannte sich der furchtbare Riese Himmelssohn. Welcher deiner Götter ist er? Erteile uns deinen Rat, o hoher Priester, welche Opfergabe wir diesem Gott bringen müssen, damit er sich wieder entferne.“

Ia-du-lin saß lange unbeweglich und blickte starr geradeaus, so als hätte er die Rede des Ältesten nicht vernommen. Er dachte aber angestrengt darüber nach, welche Antworten auf diese schwierigen Fragen zu geben waren.

Geduldig wartete die Versammlung.

Ia-du-lin war sich noch nicht schlüssig. Da hörte er es vor sich im heiligen Stein wieder ticken, knacken und surren. Das kam ihm gelegen. Obwohl es still war im Zelt, hob er plötzlich Ruhe heischend die Hand. „Der heilige Stein spricht“, sagte er und beugte sich lauschend vor. Jetzt erstarb selbst das Rascheln der Gewänder. Alle horchten atemlos. Und wirklich, ein jeder vermochte wahrzunehmen, wie es sich in dem heiligen Stein regte.

Als diese Geräusch erstarben und sich nicht wiederholten, richtete sich Ia-du-lin aus seiner gebeugten Haltung auf.

Bewegung ging durch die Reihen der Männer, und hier und da kam ein scheues, ehrfurchtsvolles Wispern und Murmeln auf.

Der Tamkare hob erneut seine Hand.

„Sil, der Himmelssohn, I-na-nuas Sohn, ist aus den Wolken herabgefahren, um den heiligen Stein zur Erde zu bringen“, verkündete Ia-du-lin. „Sil hat den heiligen Stein mir, seinem treuen Diener, übergeben, damit ich ihn heim nach E-rech führe und ihn aufstellen lasse im neuen Tempel der I-na-nua, den En-mer-kar erbauen ließ und der mit Lapislazuli und Karneolen ausgeschmückt werden wird. Überall, wo diesem heiligen Stein Unheil droht, und immer, wenn in seiner Nähe Unrecht geschieht, erscheint Sil, um die Untat zu sühnen. Eure Männer, die mich heute fesselten und mich von meinem Wege hinwegführten, sollen bestraft werden. Doch ich werde für sie bitten. Der heilige Stein hat eben zu mir gesprochen und gefordert, daß sich alle, die hier anwesend sind, morgen mittag, wenn die Sonne den Zenit erreicht, wieder hier einfinden. Der Stein wird dann abermals sprechen und die Strafe verkünden.“ Ein Raunen ging durch die Runde.

Als es wieder ruhig war, fuhr Ia-du-lin fort: „Die Opfergabe, die ihr Sil bringen müßt, soll groß sein. Führt eine eurer Herden morgen noch vor dem Mittag zu dem fliegenden Haus des Himmelssohnes. Er wird bestimmen, was mit den Tieren geschehen soll.“

Damit war Ia-du-lin am Ende. Zum Zeichen dafür erhob er sich, stieg von seinem erhöhten Sitz herab und ließ sich zu ebener Erde neben dem spitzen Stein des Himmelssohnes nieder. Die Krieger, der Ältestenrat und der Stammesfürst verließen das große Beratungszelt, sich zum Dank tief verneigend.

Der Tamkare blieb allein. Man hatte ihm bedeutet, daß er in diesem Zelt auch wohnen durfte.

Gegen Abend verließ Ia-du-lin sein Zelt. Er zeigte sich im Lager der Sandwanderer und genoß die Ehrfurcht, die man ihm überall bewies. Den Esel, der sich im Zelt niedergelassen hatte, trieb er hinaus und führte ihn auf die grünste und saftigste Weide des Hügelhanges nahe der Quelle.

Dann stieg er den Hügel hinauf und überschaute von dort aus weit das Dürrland. Die untergehende Sonne umspielte ihn mit ihren roten Strahlen. Lange stand er einsam dort oben, unbeweglich und sinnend, ob es ihm gelingen könnte, in E-rech diese Ehrungen und diese Würden zu erlangen, die ihm hier unerwartet beschert wurden. Er überlegte, ob er, gestützt von der Macht des Steines, danach trachten sollte, die Stellung eines Nubandas zu erlangen oder die eines Hohenpriesters. Ia- du-lin konnte sich nur schwer entscheiden. Er wollte es den Umständen überlassen, die er in E-rech vorfinden würde.

Vielleicht war es sogar möglich, an En-mer-kars Stelle zu treten.

Sil und Azul betrachteten neugierig auf dem Erider die Vorgänge im Lager, ohne sie deuten zu gönnen. Sil empfand große Besorgnis, als Ia-du-lin, von vielen Waffenträgern umringt, in eine der Wohnstätten eintrat und dort längere Zeit verborgen blieb. Jeden Augenblick erwartete er wieder das Verstummen der Signale der Meßsonde, und sicherlich wäre er, obwohl die Zeichen nicht aussetzten, bald dorthin aufgebrochen, um nachzusehen, was geschah, wenn ihm Azul nicht davon dringend abgeraten hätte.

Azul hoffte, daß Ia-du-lin den Menschenwesen zu erklären vermochte, wer sie seien. Morgen werde man sehen, ob sie die Angst vor ihnen allmählich verlören und sich an die Existenz des Ringflüglers gewöhnten. Sie müßten sich daher beide ganz ruhig verhalten, schlug er vor.

Sie schlossen den Ausstieg, ließen die heiße Stickluft des bläulichen Planeten absaugen, sterilisierten ihre Kabine und füllten sie dann mit heloidischer Atemluft auf. Schließlich entledigten sie sich ihrer Skaphander und setzten sich mit der „Kua“ in Verbindung, um einen ersten Bericht von ihrem Unternehmen zu geben.

Anderntags waren Sil und Azul sehr erstaunt, wie noch vor der Zenitzeit dieses Landteiles vom Lager der Menschenwesen her eine Herde von Vierbeinern auf ihr Flugzeug zugetrieben wurde. Die merkwürdigen Tiere, von denen viele gebogene Stäbe an ihren Köpfen trugen, wurden von einigen Menschenwesen vorangestoßen. Auf halbem Wege blieben die Menschen zurück. Die Tiere zogen langsam weiter und zupften dabei gelbe Stiele. Sie zerstreuten sich allmählich. Bald gerieten auch einige der Vierbeiner unter den Rumpf des Flugzeuges, und da die Sonne in zunehmendem Maße sengte, empfanden sie die Kühle des großflächigen Schattens, den der Rumpf warf. Sie ließen sich nieder. Nach und nach zogen immer mehr der Tiere herbei, so daß schließlich die ganze Herde unter dem Gefährt der Raumfahrer lag.

Die Treiber harrten abseits geduldig aus und erwarteten bangend das Erscheinen des Gottes Sil. Die Zeit verstrich, und sie wunderten sich, daß der Gott die Herde verschmähte.

Inzwischen waren, wie Ia-du-lin es gefordert hatte, im Lager am Hügel die Sandwanderer zur Mittagszeit erneut im großen Beratungszelt zusammengekommen. Pünktlich begann die Meßsonde ihre Tätigkeit. Bunte Lichter flammten in lebhaftem Spiel auf.

Dann verkündete Ia-du-lin: „Der heilige Stein verlangt, daß die Krieger, die mich, den treuen Diener des Himmelssohnes, gestern hierhergeführt haben, gefesselt werden und vor Sil erscheinen.“

So kam es, daß an diesem Tag abermals ein Zug vom Lager her nahte. Mitten unter den vielen Waffenträgern war auch Ia- du-lin, in seinem gelben Umhang auf seinem Esel reitend, zu erkennen.

Ia-du-lin zur Seite hatten die Sandwanderer genug Mut, etwas näher an das fliegende Haus des Himmelssohnes heranzukommen. Sie sahen, wie hinter dem durchsichtigen Dach der Himmelshütte Schatten hin und her glitten. Erst als eine Tür aufklappte, die Schafe erschreckt zur Seite sprangen und die violette Gestalt des Himmelssohnes herausglitt, wichen sie wieder zurück. Doch da stand der Gott Sil schon vor ihnen.

Diesmal sah Sil sofort, daß zwölf der Menschenwesen abgesondert und gefesselt waren. Ihm blieb unverständlich, welchen Grund das hatte. Alle schienen auf etwas zu warten.

Da kam ihm ein Gedanke. Sie wollen sehen, wie ich mit meinem kleinen Strahlenwerfer das Geflecht anschneiden kann, dachte Sil. Es hat sie gestern überrascht, als Ia-du-lin so schnell frei war. Er zog schnell die Waffe hervor und schnitt die Fesseln vorsichtig an. Durch die Reihen der Sandwanderer ging ein hörbares Aufatmen. Die Männer, deren Fesseln sich lockerten, zerrissen sie mit einem Ruck ganz, warfen sie fort und knieten vor Sil zu Boden, von großer Dankbarkeit durchströmt.

Sil vermochte nicht, diese Geste zu deuten.

Er war bestrebt, eine Verständigung herbeizuführen, und wiederholte deshalb noch einmal die wenigen Worte, die der Myonendolmetscher im langen Tal bei der ersten Begegnung mit Ia-du-lin gelernt hatte. Er deutete auf sich, auf Ia-du-lin und auf den Esel und sagte: „Sil, ein Himmelssohn! — Ia-du-lin, ein Mensch! — Das ist ein Esel!“

Ia-du-lin hatte stirnrunzelnd zugesehen, als eine Fessel nach der anderen zu Boden fiel. Das war für ihn eine unerwartete Wendung. Er hatte sich die Bestrafung anders vorgestellt.

Während er noch über das merkwürdige Tun des Himmelssohnes nachgrübelte, hörte er plötzlich: „Ia-du-lin… das ist ein Esel.“ Das war eine Beleidigung. Was sollten die Sandwanderer von ihm denken! Brüsk wandte er sich ab, schlug auf seinen Esel ein und galoppierte zum Lager zurück, verfolgt vom Gelächter der Sandwanderer.

Sil registrierte verblüfft die Wirkung seiner Worte.

Nichtsahnend wiederholte er noch einmal: „Sil, ein Himmelssohn! — Ia-du-lin, ein Mensch! — Das ist ein Esel!“

Die Menschenwesen brachen erneut in Geschrei aus.

Ia-du-lin, im Lager angekommen, belud seinen Esel sofort mit Wassersäcken, Schlafdecken, Wegzehrung und dem spitzen Stein und verließ das Dorf. Die Kränkung, die ihm vor allen als Nubanda-Patesi widerfahren war, ließ ihn nicht länger im Lager der Sandwanderer bleiben.

Azul bemerkte an den Funksignalen, die ein Kontrollgerät aufzeichnete, daß die Sonde Ia-du-lins um den Hügel wanderte und sich weiter entfernte. Er machte Sil darauf aufmerksam, als dieser von der Ansammlung der Menschenwesen in der Nähe des Ringflüglers zurückkehrte. Es war ihnen unerklärlich, warum Ia-du-lin allein durch das Land zog. Neugierig verfolgten sie in der nächsten Zeit den Weg, den die Sonde nahm. Schließlich stieg der fliegende Ring sogar täglich einmal auf, flog dem Weg der Sonde nach, zeigte sich Ia-du-lin, hoch am Himmel kreisend, und entschwand dann wieder.

Abend für Abend blinkte draußen im Dürrland der helle Stern der Himmelsbewohner. Wenn die Männer zwischen den Zelten standen und ihre Gespräche sich sorgenvoll um die immer spärlicher rinnende Quelle und um die karge Weide drehten, sahen sie hinüber zu dem hellen Licht. Es wunderte sie, daß die Himmelssöhne seit jenem Tag, da Sil Ia-du-lin einen Esel genannt hatte, nicht mehr zu ihnen redeten und nur schweigend umhergingen, alles lange betrachteten und seltsame Gerätschaften im Lager zwischen den Zelten aufstellten.

An einem dieser Abende erhob sich plötzlich der helle Stern, schwebte leise summend über sie hinweg und blieb in der Luft über der Quelle stehen. Ein feuriger Finger durchstach die Dunkelheit und brannte Flammen in die Erde. Das Wasser der Quelle zischte, und dichte, weiße Dämpfe stiegen auf. Die Flammen kamen den Hügelhang hinunter, und unten, fast schon beim ersten Zelt, zeichnete der feurige Finger Kreis um Kreis, immer größer werdend. Dann kehrte der helle Stern zurück zu seinem Platz in der Steppe. Die Flammen am Hügel erloschen. Die Männer wagten nicht hinzugehen. Sie lauschten nur, und ihnen war, als komme das Wasser den Hang hinab.

Die kühle, sternklare Nacht trieb sie schließlich auf ihre Feilager in die Zelte.

Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont hervorstachen, lärmten draußen die Hirten, die über Nacht jenseits des Hügels bei den Herden geblieben waren. Ihr Rufen weckte die Schläfer. Überall wurden die Vorhänge an den Zelteingängen auseinandergeschoben, und spähende Blicke forschten nach der Ursache des frühen, ungewöhnlichen Lärms. Überrascht stellten sie fest, daß das Wasser wirklich über Nacht den Hügel herabgekommen war. Es versickerte nicht mehr unweit der Quelle im Sand, sondern sammelte sich in großer Menge am Fuße des Hügels.

Sil und Azul hatten am Abend zuvor mit dem Strahlenwerfer des Ringflüglers den sandigen Boden zu einer harten, glasigen Schicht zerschmolzen, auf der das Wasser bis hinab in eine Mulde rann.

Es war der kleine zwölfjährige Tu-kum-bi, eines der aufgewecktesten Kinder des Stammes, der als erster die Veränderung an der Quelle entdeckte und dann zusammen mit anderen Hirten das lärmende Wecken vollführte. Tu-kum-bi und seine sechzehnjährige Schwester Lu-lu-ra hüteten zusammen eine der Herden des Stammes. Es waren die Schafe, die auf Geheiß Ia-du-lins als Opfer dargebracht werden sollten. Die beiden Kinder waren glücklich, als ihre Tiere bei ihnen bleiben durften. Es kam wie von selbst, daß die Schafe seitdem täglich zur Mittagszeit vom grünen Weideland hinaus in die Steppe zum Haus der Himmelssöhne liefen. Tu-kum-bi und Lu-lu-ra setzten sich jedesmal ohne Scheu in den Schatten des Rumpfes.

Bei einem dieser Mittagsbesuche entdeckten die Kinder, daß die Himmelssöhne gar keinen so plumpen Körper ohne Kopf und ohne Gesicht hatten, wie sie bisher annahmen. Sie beobachteten, wie unter dem durchsichtigen Dach und hinter den durchsichtigen Wänden verschwommen zwei kleinere, den Menschen ähnliche Gestalten behende hin und her gingen. Sie sahen auch, wie diese Gestalten in ihre große, plumpe Hülle stiegen, wie sich nach einer Weile die Klappe auftat und die beiden großen Riesen schwerfällig herausglitten. Tu-kum-bi und Lu-lu-ra tuschelten miteinander und spähten scharf dorthin, wo ihrer Meinung nach die Gesichter der Männer aus dem Himmel sein mußten. Und wirklich, mehrere Handbreit unter dem wippenden Zipfel vermeinten sie hinter einem breiten Streifen harten Wassers zwei glänzende, tiefdunkle und sehr große Augen zu erkennen, die warm schimmerten, als die Himmelssöhne ein wenig bei ihnen verhielten und aufmerksam auf sie herabsahen. Dann gingen die beiden Riesen fort.

Eine feine, nie gehörte Musik zwang Tu-kum-bi und Lu-lu-ra, durch die offene Luke ins Innere des fliegenden Hauses zu sehen. Sie erblickten dort so viel wundersamen, unbekannten Hausrat, daß es sie verwirrte. Als die Kinder ein paar Schritte näher traten, um besser sehen zu können, schloß sich wie von Geisterhand die Luke. Erstaunt wichen die Kinder zurück. Die Luke sprang wieder auf. Sie traten erneut näher, weil sie glaubten, nur der Wind, der in diesem Haus wohnte, habe diese Tür zugeworfen. Doch die Luke schloß sich abermals. Eine Zeitlang wiederholten sie dieses Spiel. Es machte ihnen Spaß.

Im Lager berichteten sie von ihrem Erlebnis und den Beobachtungen. Das ermutigte so manchen der Männer, immer häufiger in der Nähe des fliegenden Hauses herumzugehen.

Bald darauf fanden sich allabendlich die Krieger des Stammes unter dem Ring zusammen. Sie hatten sich an das eigentümliche Aussehen der Götter und ihres fliegenden Hauses gewöhnt und faßten Zutrauen, weil sie nicht, wie zuerst befürchtet wurde, Unheil brachten, sondern dem Stamm ganz im Gegenteil unauffällig schon manchen kleinen Dienst erwiesen hatten.

Deshalb auch hatten der Ältestenrat und der Stammesführer die drei in El-Ubaid befreiten Sklaven beauftragt, ständig Ehrenwache bei dem fliegenden Haus zu halten.

An solchen Abenden nun, da die Männer des Stammes beim Ringflügler zusammenkamen, erlauschten Sil und Azul Gespräche über allerlei Erlebnisse und Abenteuer, die die Sandwanderer im ständigen Streit um Weideland mit an deren Stämmen oder mit Kriegern des Zweistromlandes zu bestehen hatten. Sie verstanden sie zwar noch nicht, aber später sollte es ihnen das Myonenhirn der „Kua“ übersetzen.

Die Luke war an all diesen Abenden fest verschlossen und gab ihr Geheimnis nicht preis.

Eines Mittags, als die Schafherde wieder im Schatten des Ringflüglers ruhte und sich auch Lu-lu-ra und Tu-kum-bi im Grase ausgestreckt hatten, tat sich die Luke auf, und der Himmelssohn winkte den drei Kriegern aus El-Ubaid zu.

Sil hatte diese Geste, die soviel wie „Komm herbei“ oder „Komm herein“ bei seinen Beobachtungen den Menschenwesen abgesehen. Die Krieger kamen heran und kletterten, als Sil immer noch lebhaft winkte, zögernd in den Ringflügler.

Die Wunderwelt, die sich ihnen da auftat, verwirrte die Männer. Sie bemerkten nicht, wie die Klappe zuging und der Ringflügler aufstieg. Erst als Sil sie vorsichtig durch die Instrumentenreihen hindurch zur Glaswand geschoben hatte, erkannten sie verwundert, daß das Land unter ihren Füßen mühelos dahinglitt, so, als würden sie ganz schnell laufen. Die Lederzelte des Dorfes, die Krieger, die Tränke, die Tiere und der Hügel erschienen ihnen halb so groß wie sonst. Dann huschte nur noch Dürrland unter ihnen hin.

Schon nach kurzem Flug tat sich eine langgestreckte Schlucht auf, die tief in das Land einschnitt. Der Ringflügler sank herab und setzte auf. Sil und Azul zwängten sich durch den Ausstieg, und auch die drei Krieger aus El-Ubaid sprangen hinaus.

Ungewöhnlich hohes und saftiges Gras umstand sie. Sie waren begeistert und spähten gleich, wie sie es von den Stammesangehörigen gelernt hatten, nach einer Quelle oder einem Wasserloch aus, gingen ein Stück in die Schlucht hinein und suchten die hohen und steilen Kalksteinwände zu beiden Seiten mit den Augen ab, doch ohne Ergebnis. Schließlich bückte sich einer der drei Männer und grub das Erdreich mit den Händen auf. Geduldig warteten sie. Doch nur wenig Sickerwasser sammelte sich. Sie sahen sich ratlos an. Was wäre diese Schlucht für ein herrliches Weideland, wenn es hier auch genug Wasser gäbe, um das Vieh zu tränken. Aber wo so hohes und frisches Gras wuchs, mußte doch auch sehr viel Wasser sein.

Sil und Azul beobachteten das Treiben der drei Männer. Sie errieten, was jene suchten. Sil bedeutete ihnen, zur Kalksteinwand zu gehen. Mit mehreren wuchtigen Hieben zerschlug Azul das hartschalige Gefüge der Wand und legte, je tiefer er eindrang, ihr poröses Innere frei. Binnen kurzer Zeit sprudelte ein daumenstarker Strahl herab, der sich in dem dichten Grasteppich verlief.

Vom Lager aus war das Verschwinden der drei Krieger beobachtet worden. Zudem kamen noch Tu-kum-bi und Lu-lu- ra ins Dorf gelaufen und berichteten, was geschehen war. Man lief den Hügel hinauf und starrte dem fliegenden Ring nach, ungewiß, was das zu bedeuten habe. Nach und nachsammelten sich noch mehr Stammesangehörige auf der Kuppe des Hügels. Sie murmelten miteinander, als sei ein großes Unglück geschehen. Niemand glaubte, daß die drei Männer den Flug lebend überstehen würden.

Da hoben sich plötzlich viele Hände und wiesen über das Hügelland. Der fliegende Ring erschien wieder in der Ferne, kam schnell heran und setzte federnd nahe der Menschengruppe auf. Die Luke schlug zurück, und fast zugleich damit sprangen auch die drei Krieger aus El-Ubaid behende zu Boden.

Aufgeregt gingen sie auf ihre Stammesgefährten zu, sprachen gestikulierend durcheinander und erzählten, was sie erlebt hatten. Immer wieder wiesen sie in die Richtung, aus der sie mit dem Flugzeug gekommen waren.

Die Ältesten traten zusammen und berieten. Die tiefe Schlucht, eine halben Tagesmarsch von hier, war ihnen gut bekannt. Doch bisher hatten sie nie ihr Zeltlager dort aufgeschlagen, weil es nicht gelungen war, in der Schlucht genug Wasser zu finden. In gegrabenen Löchern hatte sich bisher nur etwas Sickerwasser gesammelt. Viel Wasser war jedoch notwendig, wollte man dorthin umsiedeln, denn das Vieh vermochte allein von hohem Gras, so saftig es auch sein möge, nicht zu leben.

Dem Bericht der drei Männer nach mußte eine Quelle an der Felswand aufgesprungen sein. Man beschloß, am nächsten Tag die Schlucht von einem kleinen Trupp aufsuchen zu lassen, der diese Beobachtung nachprüfen sollte.

Der Trupp kehrte zwei Tage später zurück und bestätigte die Aussage. Der Wasserstrahl der Quelle sei jetzt sogar schon armstark, sagten sie. Im Lager machte sich Aufbruchstimmung breit. Der Ältestenrat beschloß die Umsiedlung. Eine starke, bewaffnete Gruppe wurde noch am selben Tag vorausgeschickt, um zu verhindern, daß ihnen ein anderer Stamm zuvorkomme. Bereits am nächsten Morgen trieben Hirten die Herden davon, die Kühle des Morgens für diesen Marsch ausnutzend.

Als am Vormittag die letzten Zelte abgebrochen waren und die Lasttiere hinter dem Hügel verschwanden, gingen Sil und Azul noch einmal über den alten Lagerplatz und fanden an einer Stelle, wo am Morgen noch eines der Zelte gestanden hatte, tafelartige Bruchstücken gelbbrauner Erde, die dicht mit unverständlichen Zeichen bedeckt waren. Sil und Azul nahmen die Scherben an sich.

Da sie keine ausreichende Erklärung für die Zeichen fanden, starteten sie, um zum neuen Lagerplatz in der Steppenschlucht zu fliegen.

Als sie dort zwischen den Zelten, die noch aufgebaut wurden, umhergingen, die Bruchstücke zeigten und ihr Interesse dafür bekundeten, brachte man ihnen andere, noch unversehrte Tafeln. Sil ahnte, daß sie der Schlüssel zur Sprache der Planetenbewohner sein konnten: Den beiden Raumfahrern fiel auf, daß es winzige Bilder von Pflanzen und Tieren waren, gemischt mit Symbolen für Gegenstände und Vorgänge.

Noch am gleichen Tage flog der Ring zurück zur „Kua“. Das Myonenhirn des Raumschiffes trat in Tätigkeit. Es analysierte die Ideogramme. Mehrere tausend Zeichen wurden gefunden.

Regen zum Beispiel war aus den Zeichen Stern und Wasser zusammengesetzt, bedeutete also soviel wie Himmelsnaß.

Schnell enthüllte sich die Bedeutung der Texte auf den Tontafeln. Es mußten Handelskorrespondenzen zwischen Kaufleuten des Zweistromlandes und Händlern einer Siedlung am Meer sein, stellten die Heloiden fest. Sie ließen das Myonenhirn die Schriftsymbole mit den Aufzeichnungen der Beobachtungsgeräte, die Sil und Azul im Lager der Sandwanderer aufgestellt hatten, vergleichen. Aus der Deutung der belauschten Gespräche ging hervor, daß die Sandwanderer in ihrem kargen Land sich nur unter großen Schwierigkeiten zu ernähren vermochten. Sie mußten ständig umherziehen und neue Weideflächen für ihr Vieh suchen. Von ihren besten Weiden hatten sie die Bewohner des Zweistromlandes verjagt.

Deshalb fügten die Sandwanderer ihnen Schaden zu, wo sie nur konnten.

Sil hörte sich noch einmal seine Worte an, die er den Sandwanderern als Begrüßung zugerufen hatte. Da wurde ihm klar, daß er Ia-du-lin als einen Esel bezeichnet hatte.

Sil und Azul, von nun an stets mit Myonendolmetschern, kleinen Taschengeräten, die eine Verständigung möglich machen würden, ausgerüstet, flogen zurück zum Dürrland.

Gohati und Tivia kamen diesmal zu einem kurzen Besuch mit.

Sie landeten in der Steppenschlucht abseits des neuen Lagers und stiegen aus. Die Antigravitationsplatten in ihren Skaphandern trugen sie dem Dorf zu. Bald wurden die Spitzen der graubraunen, verwitterten Lederzelte unter einer Baumgruppe sichtbar.

Die Schlucht verbreiterte sich. Die steile Wand der Kalksteinfelsen zu beiden Seiten wurde von grünbewachsenen Hängen abgelöst. Oben am Rand der Schlucht wuchs spärliches Buschwerk.

Ein Wachposten hatte den Ringflügler in der Schlucht landen sehen. „Gott Sil und Gott Azul kommen wieder!“ rief er zum Dorf hinüber. „Die Götter kommen zurück“, ging es raunend von Mund zu Mund. Als das die Ältesten hörten, beschlossen sie, ihnen zum Dank für das Tal und das Wasser mit großer Ehrfurcht zu begegnen.

Sie versammelten den Stamm, und einige gingen den Himmelssöhnen entgegen. Doch als sie vier Götter erblickten, stockte ihr Schritt.

Da begann Sil zu ihnen zu reden. Sie waren überrascht. Wie fließend der Himmelssohn zu ihnen sprach! Er hatte doch sonst nur geschwiegen. Die Sandwanderer mußten aufmerksam hinhören, denn nicht alles war gleich zu verstehen. Der Gott gebrauchte viele Wörter aus der Sprache der Menschen des Zweistromlandes.

Das Myonengerät im Skaphander übersetzte Sils singende Laute den Menschen.

„Gruß euch, ihr Ältesten des Stammes, ehrwürdig und weise! Gruß Euch, kluger Stammesführer, und euch, ihr tapferen Männer und Frauen, die ihr dieses dürre Land bewohnt und die ihr mutig dem mageren Leben auf dieser Steppe trotzt.

Ich habe Freunde mitgebracht, die euch kennenlernen wollen und die wissen wollen, wie ihr lebt. Die Gestalt in dem roten Gewand ist Tivia, meine Gefährtin, die dafür sorgt, daß wir Himmelsbewohner auf unserer weiten Wanderung von Stern zu Stern gesund bleiben; weiß hat sich unser Stammesfürst Gohati gekleidet, der uns von der heimatlichen Weide wegführte und mit dem wir ein neues Sternenland suchen. Azul in gelbem Umhang kennt ihr schon, er weiß die Wege zwischen den Sternen und paßt auf, daß wir uns bei unserer Wanderung durch die Sternenwüste nicht verirren, und ich bin der Beherrscher des Feuers.

Azul und ich bleiben noch bei euch, aber Gohati und Tivia werden bald schon in unser großes Haus zurückkehren. Ein Feuervogel wird am Abend erscheinen, um sie abzuholen.

Fürchtet euch nicht vor seinem heißen Schweif. Er wird weit draußen auf der Steppe niederfliegen. Holt aber eure Herden und führt sie in die Schlucht hinab.

Fürchtet euch nicht vor uns, auch wenn wir euch fremdartig und allmächtig erscheinen. Wir sind euch ähnlich, nur müssen wir uns mit weiten und großen Gewändern umhüllen, um uns vor dem heißen Atem eures Landes zu schützen. Doch wir sind keine Götter! Sagt es allen, die das nicht wissen. Götter gibt es keine!“

Die Sandwanderer waren in heller Aufregung. Der Besuch von gleich vier Himmelsbewohnern, die zudem alle plötzlich sprechen konnten, beherrschte ihre Gedanken. Sie standen in dichten Gruppen beieinander, beobachteten jede Bewegung der Besucher und tauschten lebhaft ihre Meinungen aus.

Die vier Himmelsbewohner gingen zwischen den Zelten umher, sprachen mit den Hirten, trafen Tu-kum-bi und Lu-lu-ra und unterhielten sich mit den drei ehemaligen Sklaven aus El- Ubaid. Schnell verging dieser Tag, der besonders für Tivia und Gohati sehr viel neue Eindrücke brachte, und der Abend kam.

Bevor Tivia und Gohati zurückflogen, besprachen sie noch die nächsten Schritte, die notwendig waren, um engeren Kontakt zu den Planetenbewohnern zu bekommen und mehr über ihre Lebensweise zu erfahren. Gohati sagte, diese Menschengruppe hier in der Schlucht könne noch nicht zu den am weitesten in der Entwicklung Vorangeschrittenen gehören. Ia-du-lin wandere auf ein Gebiet zu, in dem sie bei einem Beobachtungsflug mit dem Atomicer aus großer Höhe städteähnliche Gebilde bemerkt habe. Azul und Sil, so riet er, müßten versuchen, zu jenen Menschen Verbindung aufzunehmen.

Inzwischen suchten die Sandwanderer immer häufiger mit ihren Blicken den Himmel ab. Sie erwarteten, wie von Sil angekündigt, die Ankunft eines großen Feuervogels. Als die Dämmerung kam, erschütterte ein Knall die Luft. Im Osten, wo die Nacht heraufstieg, fuhr ein Feuerstrahl über den Himmel.

Er erlosch. Ein riesiger, langhalsiger Vogel mit breiten, dreieckigen Flügeln und kleinem Kopf glitt rauschend über die Schlucht hinweg. Dann plötzlich brüllte der Langhals wieder auf, stellte sich auf seinen Feuerschweif und sank weit draußen in der Steppe herab. Einige Krieger und Hirten kletterten hastig zum Rand der Schlucht hinauf. Sie erblickten weit weg eine riesige Staubwolke.

Tivia und Gohati verabschiedeten sich. Sie stiegen in den fliegenden Ring, der sich erhob, in der Staubwolke über der Steppe verschwand und dann wieder zurückkehrte.

Bald darauf brüllte der Langhals in der Steppe, warf seinen hellen Flammenschein über das Land und stieg steil in den Nachthimmel empor, an dem die Sterne funkelten.

Sil und Azul blieben noch mehrere Tage. Während dieser Zeit versuchte der Stammesführer mit einigen seiner Männer, Wasser aus den Felswänden der Schlucht zu schlagen. Wenn die Himmelssöhne keine Götter waren, darin dürften sich die Felsen nicht weigern, auch ihnen Wasser zu geben. Sie klopften lange, bevor sie die harte und verwitterte Oberfläche der Kalksteinfelsen durchbrachen. Ihre Hiebe waren nicht so kräftig wie die der Raumfahrer, und auch ihre Werkzeuge waren nicht so hart und schwer. Dann aber sprudelte auch bei ihnen das Wasser aus der Gesteinswand. Die Sternenwanderer hatten die Wahrheit gesagt. Eines Abends, spät, erschienen Sil und Azul am Zelt des Stammesführers. „Ia-du-lins spitzer Stein hat gerufen. Dem Tamkare droht Gefahr. Azul und ich müssen ihm helfen. Wir fliegen ins Zweistromland. Es wird lange dauern, bis wir wiederkehren.“

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