Der Gal-Uku-Patesi und die Lapislazuli

Der Gal-Uku-Patesi schritt unruhig in seinem großen Lederzelt auf und ab. Der Lärm der wachfreien Soldaten in den Zelten des Heerlagers ringsum war jetzt, weit nach Mitternacht, verstummt. Nur der Kontrollruf der Posten, die die Stadt mit ihrem Ring umschlossen, scholl, in längeren Abständen die Wachfeuer entlang. Als vor Morgengrauen der Mond versank und der Schlaf die Wachen besonders hart bedrängte, erklang ihr Ruf häufiger.

Der Gal-Uku-Patesi hatte ein energisches, starkgebräuntes Gesicht mit schmaler, langer Nase. Sein Haupthaar trug er so kurz, daß es unter dem doppelten Lederhelm, den er stets aufhatte, nicht hervorsah. Sein Nacken blieb daher frei. Sein kräftiger Hals wurde nur durch einen vollen, dunklen Bart verdeckt, der sein ganzes Gesicht umrahmte. Dabei war der Gal-Uku-Patesi kaum älter als dreißig Sommer. Der sehnige, trotz vielerlei Feste noch nicht aufgeschwemmte Körper des Heerführers war von einem nur bis zu den Knien reichenden Wollrock und von einer enganliegenden Lederweste umschlossen, aus der nackt und frei die kräftigen Arme hervorsahen. An den Füßen trug er Sandalen. Um seinen Leib zog sich eng ein Gürtel, an dem ein Beutel befestigt war. In ihm bewahrte er einen Rohrgriffel, sein Schreibgerät, auf und den kleinen Siegelzylinder aus gebranntem Ton.

Der Heerführer galt in Ur als einer der reichsten Sklavenbesitzer. Deshalb wohl trug er auch immer eine kurze, daumenstarke Lederpeitsche bei sich. Im Kampf führte er als einziger eine merkwürdige Waffe, die sonst niemand zu handhaben wußte. Es war ein mehrere Schritte langer Strick, an dessen Ende ein unregelmäßig geformter Stein mit scharfen Kanten eingebunden war, der, wenn er ihn schwang und damit seinen Feind traf, gefährliche Wunden schlug. Seine Gegner taten gut daran, ihm auszuweichen. Dieser Strick schlang sich um die Lederschilde herum und erreichte stets sein Opfer.

Widerstand dem Heerführer ein Kämpfer oder wurde er von mehreren Seiten zugleich bedrängt, griff er zum Schlagstock, einem kurzen, dicken Stock, der mit scharfen Bronzezähnen besetzt war. Er wirbelte ihn und fegte alles um sich hinweg.

Schließlich trug er noch um beide Handgelenke zwei enganliegende dicke Ringe, von denen es hieß, daß sie ihm ungeheure Kraft verliehen.

Immer noch schritt der Gal-Uku-Patesi unruhig in seinem Zelt hin und her. Erbittert dachte er, En-mer-kar, dieser Fuchs, hat sich geweigert, mir das Kriegsrecht im Zweistromland zu übergeben. Dabei war doch dieser Feldzug gut vorbereitet gewesen. Woran lag es, daß der Herrscher E-rechs sich nicht beugte, grübelte er.

Zwei Jahre hatte es gedauert, bis das Heer ausgerüstet war.

Überall hatten die Handelsleute aus Ur Häute aufgekauft, selbst bei den Sandwanderern, um daraus Schuhzeug, Helme, Brustpanzer, Schilde und Köcher zu machen. Holz der Zedern und der Tamarisken war von weit her geholt worden, um Rahmen für die Schilde, Wurfspeere und Pfeile zu fertigen.

Ochsen und Esel waren in großer Anzahl aufgezogen und zahlreiche Herden für die Soldaten zum Schlachten gegeben worden. Dann endlich, als die Sterne durch ihre Konstellation den Zeitpunkt des Handelns anzeigten, war das Heer aufgebrochen. Es erschien eines Morgens vor den Mauern E- rechs. Die Tore der Stadt waren zwar verschlossen, und die Soldaten vermochten nicht einzudringen, aber es war auch gar nicht beabsichtigt gewesen, die Stadt gewaltsam zu erobern.

Der Gal-Uku-Patesi brauchte seine Soldaten noch für andere Kämpfe. Er hatte gehofft, daß allein seine wohlgeordnet aufmarschierten und aufs beste ausgerüsteten Krieger En-mer- kar und seine Ratgeber entmutigen und einschüchtern würden.

E-rech aber hatte sich nicht schrecken lassen, und er war gezwungen gewesen, die Stadt zu belagern. En-mer-kar würde wohl morgen einen Ausfall unternehmen lassen. Schon der Wassermangel in der Stadt zwang ihn sicher dazu. Es könnte zu einer Schlacht auf offenem Felde kommen.

Der Gal-Uku-Patesi faßte schließlich den Entschluß, den Ring der Belagerung auf der dem Fluß abgewandten Seite der Stadt zu verstärken und die Wache nahe dem Ufer nur schwach zu besetzen. Auf diese Weise würde En-mer-kar vielleicht den Ausfall zum Pu-rat-tu hin durchführen, und die Soldaten aus Ur konnten dann den Feind angreifen, in den Fluß drängen oder in die Stadt zurücktreiben.

Als der Morgen graute, warf sich der Gal-Uku-Patesi auf sein Lager. Schnell schlief er ein.

Wüstes Geschrei weckte ihn. Der Heerführer sprang auf und ergriff seinen Lederhelm. Die grellen Strahlen der noch tiefstehenden Morgensonne stachen durch einen Spalt des Zelteinganges und blendeten ihn kurze Zeit. Der Gal-Uku- Patesi trat ins Freie. Seine Soldaten standen umher und starrten in die Luft. Hoch oben, noch über der belagerten Stadt, schwebte eine runde Scheibe, um die ein Ring kreiste. Der fremde, nie gesehene unheimliche Vogel senkte sich etwas herab und folgte nahe der Stadtmauer der Linie der Postenkette. Die Soldaten dort stoben nach allen Seiten auseinander. Nur im Heerlager, das etwas abseits lag, blieben die Krieger dicht beisammen.

In der Stadt hatten die Priester des Tempelbezirkes inzwischen dafür gesorgt, daß die Bewohner E-rechs — die Männer, Frauen und Kinder, die Soldaten und Beamten, Wasserholer, Händler, Kaufleute, Flußschiffer, Lasttiertreiber, Schreiber, Töpfer und all die anderen — von der Anwesenheit der Himmelssöhne und dem fliegenden Haus erfuhren. So kam es, daß zwar ein jeder furchtsam zu dem fliegenden Haus der Götter aufsah, als es sich über den Tempeltürmen zeigte, daß aber niemand in panischer Angst davonrannte.

Mit freudigem Geschrei sammelten sich die Leute, als vom Palast her der Herrscher En-mer-kar, begleitet vom Hohenpriester auf dem heiligen Esel, vom Nubanda und anderen hohen Beamten, von Ia-du-lin und Offizieren der Leibgarde durch die Gassen und Straßen zum Südtor schritt. Es ging das Gerücht, die Himmelssöhne hätten in dieser Nacht eine Botschaft der Götter im Tempel des Nan-nar verkündet und Frieden gefordert. Der Herrscher gehe nun vor die Stadt, um das feindliche Heer zu vertreiben.

Die Soldaten En-mer-kars auf den Wällen, Türmen und Mauern sahen, wie die Wachposten aus Ur davonrannten, als der fliegende Ring erschien. Sie sprangen auf, kletterten von ihren Posten herab und liefen ihnen schreiend und waffenschwenkend nach, um die Belagerer vollends in die Flucht zu schlagen. Aber da kam plötzlich der fliegende Ring zurück und zog zwischen ihnen und den Feinden einen feurigen Strich, aus dem Funken stoben, Flammen loderten und Rauch und Dampf emporquollen. Die Soldaten hielten erschrocken inne und wagten nicht, diesen feurigen Strich zu überschreiten.

Als dennoch ein junger Offizier darüber hinwegsprang, senkte sich der fliegende Ring herab. Der junge Offizier duckte sich betroffen hinter einem großen Feldstein nieder, sprang dann aber wieder auf, als eine furchtbare Gestalt aus dem Haus der Götter fiel und auf ihn zuschwankte. Er rannte zurück bis in die Stadt hinein. Hinter ihm zersprang der Feldstein gräßlich knackend und prasselnd in unzählige Stücke. Der unsichtbare Feuerhammer des Gottes hatte ihn zur Warnung zerschmettert.

En-mer-kar, Ia-du-lin und die anderen aus der Begleitung des Herrschers erreichten mittlerweile das Südtor. Sie wurden Zeuge, wie die Himmelssöhne das Feuer vom Himmel warfen und so die Soldaten E-rechs daran hinderten, Leute aus Ur zu töten. Schleunigst gab En-mer-kar seinen Offizieren den Befehl, die Soldaten vom Vorfeld der Stadt auf die Mauern und Wälle zurückzuziehen. Nichts wäre im Augenblick schrecklicher, als die Söhne der I-na-nua zu erzürnen, die dann gewiß ihren strafenden Feuervogel herbeirufen würden.

Wer vermochte zu sagen, ob sich dann der Sinn der Götter nicht wandelte und sie den Gal-Uku in die Stadt einziehen ließen.

Ia-du-lin eilte dem Zug En-mer-kars voraus. Sein gelber Umhang leuchtete weithin sichtbar. Er schritt geradewegs auf den Gal-Uku-Patesi zu, der in ihm sogleich den Tamkare En- mer-kars erkannte. Ia-du-lin unterrichtete den Heerführer davon, daß der Herrscher E-rechs persönlich zu ihm komme, um ihm eine Botschaft A-nus, I-na-nuas, Nan-nars, Nin-Gals und der anderen Götter zu überbringen. Diese Botschaft sei heute nacht von den beiden Söhnen der I-na-nua verkündet worden. Niemand brauchte jedoch die beiden Götter, die En- mer-kar zusammen mit dem fliegenden Ring begleiteten, zu fürchten, es sei denn, daß jemand seine Waffe erhebe und die beiden Himmelssöhne dadurch erzürne.

Dann trat Ia-du-lin zur Seite und hüllte sich in Schweigen. Er sah, daß die Gunstbezeigung der Himmelssöhne für E-rech auf den Gal-Uku-Patesi einen starken Eindruck machte.

Erbitterung und Argwohn spiegelten sich in den Mienen des mächtigen Mannes aus Ur wider. Ia-du-lin fühlte Triumph aufsteigen. Der Gal-Uku mochte wohl ahnen, was für eine Niederlage sich ihm anbahnte.

Ia-du-lin hatte den Heerführer so laut über den nahenden Zug und dessen Absicht informiert, daß die Umstehenden es hörten und die Nachricht unter den Soldaten verbreiteten. Keiner der Offiziere dachte daran, die Soldaten aufzustellen und für den Empfang zu ordnen. Erst als die Feldpriester, die schon im Morgengrauen durch geheime Boten von den nächtlichen Ereignissen im Tempel des Nan-nar erfahren hatten, beschwörend durchs Lager liefen, nahmen die Soldaten widerwillig Aufstellung.

Langsam kam der Zug En-mer-kars näher. Sil und Azul waren aus dem Ringflügler ausgestiegen. Sie begleiteten En- mer-kar, in ihren schweren Raumanzügen eigentümlich anzusehen, bis mitten in das Lager. Der Ring folgte ihnen, vom Pilotron automatisch gesteuert, in geringer Höhe.

Der Zug benutzte ausschließlich die vorhandenen Wege und vermied es, über die Felder zu kommen. Der Nubanda, bereits an seine Amtsgeschäfte denkend, sah umher. Nur wenige Felder des Palastes, die das Korn, Gerste und Spelzweizen trugen, waren abgeerntet gewesen, als vor einigen Tagen das Heer aus Ur erschien. Viele Kornschläge waren daher verwüstet. Die Soldaten des Gal-Uku hatten sie zerstampft, oder die Herden, die sie mitführten, hatten sie abgefressen.

Man könnte noch einiges retten, würden gleich heute Soldaten und Sklaven zur Ernte herbeordert. Schon aus diesem Grunde erschien dem Nubanda der Rat der Himmelssöhne besonders klug und weise. Sie hatten wirklich alles bedacht.

Azul fand diese Komödie wunderlich. Wer ihm sechs Lichtzeiten von hier, als er darauf drängte zu landen, gesagt hätte, er würde den Götzen spielen und einen der Mächtigen der Bewohner eines heißen Planeten auf seinem Wege zu einem anderen Mächtigen begleiten, um ihnen das Töten auszureden, dem hätte er es nicht geglaubt. Sils liebenswerter Glaube, den Bewohnern des blauen Planeten nützlich sein zu können, hatte sie in diese eigenartige Situation gebracht.

Sil beobachtete aufmerksam und wachen Sinnes alle Vorgänge um sich herum. Seine Absicht, die Menschenwesen davor zu bewahren, sich gegenseitig zu vernichten, schien zu gelingen. En-mer-kar hatte noch in der Nacht mit sehr viel Aufwand und Tatkraft alle Vorbereitungen getroffen, um die „Botschaft der Götter“ in die Tat umzusetzen. Wenn der Herrscher weiter so darauf bedacht war, das Leben seines Volkes zu schonen, würde Sil vielleicht auch wieder vergessen können, daß En-mer-kar ihren Beistand zum Töten gefordert hatte. Sil war sehr froh gewesen, als sich der Herrscher erbot, seinem Widersacher den Plan der Vernunft selbst zu unterbreiten.

Inzwischen waren sie an ihrem Ziel angelangt. Die Herrscher der beiden benachbarten Städte E-rech und Ur standen sich gegenüber. En-mer-kar neigte leicht den Kopf und sprach: „Kühner und emsiger Gal-Uku-Patesi! Als treuer Diener der Götter, der darauf achtet, daß in den Tempeln täglich geopfert wird und daß die Weisheit und Güte der Götter stets gelobt und gepriesen werden, habe ich die hohe Gunst des Himmels erworben. Die Götter haben sich mir offenbart und die beiden Söhne der I-na-nua, Gemahlin unseres obersten Gottes A-nu, mit einer Botschaft herabgesandt. Sie zürnen uns ernstlich.

Warum auch, kühner und emsiger Gal-Uku-Patesi, hast du dich mit deinem Heer vor die Tore meiner Stadt begeben und dadurch die Götter herausgefordert? Sie wollen, daß kein Streit zwischen uns entstehe. Sie verlangen, daß deine Krieger zurückkehren und alle Waffen eingesammelt werden. Die Männer sollen Arbeitsgeräte ergreifen, um den Reichtum unseres Landes zu mehren. Herrscher im Zweistromland soll sein, wer die geringste Not in seiner Stadt hat und in wessen Tempeln I-na-nua wohnt. I-na-nua aber wohnt in E-rech, deren Menschen ihr zu Ehren einen neuen Tempel erbauen. Wenn du den Willen der Götter nicht erfüllst, werden die Himmelssöhne einen Feuervogel herbeirufen, dessen hundert heiße Zungen jeden Ungehorsam hinwegtilgen. Frage Ia-du-lin. Als mein Tamkare hat er die Himmelssöhne hierhergeführt. Er hat auch den Feuervogel gesehen, riesig groß, und er wird dir berichten können, wie unter seinem brüllenden Atem die Steine lebendig werden und Rauch aus allen Erdspalten hervordringt.“

En-mer-kar neigte abermals leicht seinen Kopf, trat etwas näher und sagte leise: „Und jetzt bitte ich, dich allein sprechen zu dürfen.“

Erstaunt hob der Gal-Uku-Patesi seine Brauen. Die letzten leisen Worte klangen so ganz anders, ließen ihn aufhorchen und Hoffnung schöpfen. Aber lauerte in den Augenwinkeln En-mer-kars nicht Hohn und Spott? Während er noch unschlüssig stand, überlegte er. Verstohlen, musterte der Gal- Uku-Patesi die beiden fremden Gestalten. Wie, wenn sie nicht Söhne des Himmels, nicht Götter sind, dachte er. Da Feuer und Flammen ihnen gehorchten, könnten sie Boten Ner-gals, des Gottes der Unterwelt, sein. Doch selbst wenn er das beweisen könnte, wäre für ihn diesmal hier alles verloren. Er konnte froh sein, daß En-mer-kar ihn noch einmal allein sprechen wollte.

Vielleicht bot sich noch eine Möglichkeit, vor aller Welt nicht als Verlierer, sondern als gehorsamer Diener der Götter nach Ur zurückzukehren.

Der Gal-Uku-Patesi fühlte aller Augen auf sich gerichtet. Er machte eine einladende Geste zu seinem Zelt. Schweigend gingen die beiden Herrscher hinein. Drinnen standen sie sich Augenblicke stumm gegenüber und musterten einander.

Herrscher im Zweistromland soll sein, wer die geringste Not in seiner Stadt hat und in wessen Tempeln I-na-nua wohnt. I- na-nua aber wohnt in E-rech, deren Menschen ihr zu Ehren einen neuen Tempel erbauen, hatte En-mer-kar gesagt. Das allein konnte jedoch nicht die hohe Gunst der Göttin verursacht haben. Aus Berichten seiner Kundschafter wußte er genau, daß dieser Tempel innen und außen noch ganz roh war, daß dort noch keine Priester Dienst taten und daß weder Tempelfeste noch Opferfeste stattgefunden hatten. Es mußte noch etwas anderes sein, was En-mer-kar und E-rech das Wohlwollen der Götter eingetragen hatte, dachte der Gal-Uku-Patesi. Wie konnte er es nur anstellen, damit die beiden Himmelssöhne auch nach Ur kamen, fragte er sich.

Da begann En-mer-kar erneut zu sprechen. „Warum, großer Freund unseres Landes aus Ur, müssen wir unsere Kräfte gegenseitig verzehren, wo es doch genug Feinde um unser Land ringsum gibt?“ Und da er keine Antwort erhielt und wohl auch keine erwartete, fuhr er nach kurzer Pause fort zu reden.

„Deine Tatkraft würde gemeinsamen Zielen besser dienen und sich mit meiner Erfahrung gut ergänzen. Laß das Kriegsrecht bei E-rech. Ich werde noch einige Jahre regieren und dann sterben. Die Götter werden dich statt meiner zum Herrscher erheben“, sagte En-mer-kar jetzt leiser und setzte dann flüsternd hinzu: „Die Hohenpriester unseres Landes wissen, wie man so etwas besorgen muß.“ Laut sprach En-mer-kar weiter: „Damit du siehst, daß ich wirklich dein Freund sein will, es ehrlich meine und zugunsten unseres Landes mit dir gemeinsam herrschen will, sollst du auch erfahren, was die hohe Gunst der I-na-nua hervorgerufen hat. So wisse denn, ich hatte meinen klugen Tamkare Ia-du-lin über das Dürrland und die Gebirge ans Meer gen Abend zum Fürsten der Seefahrer und Kaufleute, zu A-rat, gesandt, um von ihm zur Ausschmückung des Tempels der I-na-nua Lapislazuli und Karneole zu erbeten. Ich werde A-rat hundert Esel, beladen mit gutem Korn, schicken und dafür vor allem Lapislazuli erhalten. Der Hohepriester hatte durch die Wissenschaft der Vision erfahren, daß. I-na-nua eben diesen hübschen blauen, weißgeäderten Stein am meisten, liebt. Großer Sohn der Stadt Ur und unseres Landes, laß auch du zu A-rat Lasttiere entsenden, und schmücke auch du einen Tempel zu Ehren I-na- nuas mit Lapislazuli aus. Du wirst sehr bald bemerken, daß dir die Götter die gleiche hohe Gunst erweisen wie mir und daß die Himmelssöhne im Auftrage I-na-nuas auch in deine Stadt einkehren.“

Der junge Heerführer glaubte zu fühlen, daß es En-mer-kar ehrlich mit ihm meine. Er legte dem Herrscher E-rechs, plötzlich von Dankbarkeit, Erlösung und Erleichterung bewegt, seine sonderbare und furchtbare Waffe, den Schwungstrick mit dem eingeflochtenen scharfkantigen Stein, in die Hände. „Ich danke dir für deine offenen Worte und für deine Freundschaft“, sagte er.

So traten sie beide vor das Zelt und zeigten sich den Soldaten. Allen wurde klar, daß diese beiden Herrscher zweier großer Städte Freunde geworden waren.

Der Gal-Uku-Patesi erteilte seinen Offizieren laut und vernehmlich den Befehl, die Truppen zu sammeln, die Botschaft der Götter vor allen Soldaten zu verlesen, das Lager abzubrechen und dann mit dem Abmarsch zu beginnen.

Sil und Azul beorderten ihren fliegenden Ring herab und kletterten hinein. Ihre Absicht war gelungen, das Töten war verhindert worden. Besonders Sil war mit dem Ergebnis der Begegnung dieser beiden Herrscher sehr zufrieden. Sie stiegen mit dem Ringflügler auf und sahen aus der Höhe eine Zeitlang zu, wie das Belagerungsheer abzog und auch in E-rech die Soldaten im Hof des Palastes ihre Waffen abgaben. Ausführlich schilderte Sil der „Kua“ den Erfolg ihrer „Götter- Mission“. Gohati, Tivia und die anderen beglückwünschten die beiden zum guten Ausgang ihres sonderbaren Unternehmens.

In E-rech grübelten später Ia-du-lin und der Nubanda lange darüber nach, wie En-mer-kar es zuwege gebracht hatte, aus seinem Feind einen Freund zu machen. Der Hohepriester geriet in Zweifel, ob En-mer-kars Zeit wirklich schon abgelaufen sei, und er verbrachte in den folgenden Nächten viel Zeit damit, die Stellung der Sterne von der Höhe der Ziggurat zu prüfen und die Wissenschaft der Vision zu befragen.

Drei Tage, nachdem der Gal-Uku-Patesi mit seinem Belagerungsheer abgezogen war, verlangte der Dam-kar, der oberste Handelsbeamte En-mer-kars, dringend, beim Herrscher vorzusprechen. Warum geht er nicht zum Nubanda, wunderte sich En-mer-kar. Er ließ ihn kommen.

Der Dam-kar war sehr aufgeregt. „Hoher Herrscher, unsere Lapislazuli sind in Gefahr!“ rief er, kaum daß er die Schwelle übertreten hatte. „Kaufleute unserer Stadt, die gestern abend von einer Reise zurückkehrten, berichteten von einer großen Eselskarawane, die jenseits des Pu-rat-tus stromaufwärts zieht, um große Mengen Getreides durchs Purrland gen A-rat zu schaffen. Sie werden früher da sein als wir. A-rat wird dann kein Lapislazuli mehr für uns haben oder uns weniger geben, und die Gunst I-na-nuas wird sich von unserer Stadt wenden.

Sie wird dann in Ur wohnen wollen.“

En-mer-kar hob beschwichtigend die Hand: „Ich weiß es“, sagte er. „Hat der Dam-kar vergessen, daß der Gal-Uku-Patesi und ich Freunde geworden sind und daß es daher gleich ist, wo I-na-nua wohnt und wessen Tempel mit Lapislazuli geschmückt ist?“ grollte der Herrscher. Erschrocken wollte sich der Handelsbeamte zurückziehen. Er hatte geglaubt, seinem Herren eine äußerst wichtige Nachricht gebracht zu haben, und nun lief er Gefahr, in Ungnade zu fallen.

„Bleib!“ verlangte En-mer-kar. „Wo befindet sich unser Getreidetransport für A-rat jetzt?“ fragte er.

„Hoher Herr, er ist einen Tag nach dem Ende der Belagerung auf Booten hinweggeschickt worden, den Fluß hinauf. Bei der Stadt Ma-ri nahe der Karawanenstraße soll er dann auf Esel umgeladen werden. Die Boote aber haben gegen den Strom und gegen den Wind zu kämpfen. Die Esel des Gal-Uku-Patesi werden sie überholen, wenn der Wind nicht bald umschlägt.

Herr, du befahlst, das Getreide so zu transportieren!“ erinnerte der Dam-kar, um sich vor Zorn zu schützen.

„Es ist gut“, sagte En-mer-kar. „Ich danke dir für die Nachricht. Wenn die Boote langsam vorankommen, so ist es I- na-nuas Wille. Entferne dich!“

Der Dam-kar stürzte hinaus.

Wenig später verließ En-mer-kar seinen Palast, begleitet von Offizieren und Höflingen. Sein Weg führte zum Tempelbezirk. „En-mer-kar ist der Liebling der Götter, weil er sie oft preisen geht“, sagten die Leute auf den Gassen. Heute begehrte der Herrscher in die Ziggurat, den Tempelturm, Einlaß. Die Priester, die ihm öffneten, waren erstaunt, ihn so zeitig am Vormittag im Tempelbezirk zu sehen. Eilig benachrichtigten sie den Hohenpriester. Als er kam, stiegen die beiden allein zur ersten Stufe des Tempelturmes empor, um dort in aller Abgeschiedenheit die Andacht zu verrichten.

Zu Mittag war En-mer-kar wieder im Palast.

Zu Mittag verließ aber auch ein Priester auf einem Esel die Stadt, ritt den Pu-rat-tu stromauf bis zur Furt, überquertet dort den Fluß und lenkte dann sein Reittier gen Abend in das Dürrland hinein.

Zwei Wochen später traf die Nachricht ein, daß die Boote En- mer-kars gut in Ma-ri angekommen und das Getreide schon auf der Karawanenstraße unterwegs, daß aber die Sendung aus Ur von einem Stamm der Sandwanderer überfallen und ausgeraubt worden sei.

Der Gal-Uku-Patesi, der das Spiel durchschaute und ahnte, wer ihm diesen Verlust trotz aller Freundschaftsbeteuerungen zugefügt hatte, schickte einen seiner Offiziere nach E-rech. Er forderte den Schleuderstrick, das Zeichen ihres Bündnisses, von En-mer-kar zurück.

En-mer-kar schickte den Schleuderstrick und eine Tontafel, auf der geschrieben stand: „Teurer Freund! Zutiefst bedauere ich den Ratschluß der I-na-nua, die mein Vorhaben, das ich dir anvertraute, gelingen läßt, während sie das deinige zunichte machte. Ich leide mit dir, weil die Göttin deine Opfer ablehnt und du deshalb unseren Bund verachtest.“

Heuchler, dachte der Gal-Uku-Patesi wütend, als er diese Worte las. Er beschloß, erneut gegen En-mer-kar in den Kampf um das oberste Kriegsrecht im Zweistromland zu ziehen, sobald Sil und Azul zu A-nu und I-na-nua in den Himmel zurückgekehrt waren.

Sil und Azul studierten in den folgenden Tagen das Leben der Menschenwesen in E-rech. Azul ging in den Tempeln umher, suchte Tontafeln und flog häufig zur „Kua“, um sie entziffern zu lassen. Schnell lernte er den Götterkult des Zweistromlandes kennen.

Sil bevorzugte es, durch die Gassen der Stadt und auf das Land vor den Toren zu gehen. Er wollte die Produktionsstätten der Menschenwesen aufsuchen. Die Bewohner E-rechs gewöhnten sich nach und nach an seine Erscheinung, an seinen Skaphander. Zuerst war man vor ihm davongelaufen und hatte sich in den Häusern und Hütten versteckt. Und das, obwohl jeder Bewohner wußte, daß sie, die Himmelssöhne, allen Menschen nur Gutes gebracht und ihnen Belagerung und Krieg erspart hatten. Wären nicht die Priester gewesen, von denen stets zehn oder fünfzehn Sil umgaben, und hätte ihn Ia-du-lin nicht ständig begleitet, würde wohl auch jetzt noch ein jeder vor ihm flüchten. So aber sah man, daß den Priestern und auch Ia-du-lin nichts geschah. Die Bettler und Sklaven waren die ersten, die herausfanden, wie ungefährlich es war, wenn man sich an die Hauswand drückte und den Zug passieren ließ. Von da an schlug das Verhalten vieler Menschen in dieser Stadt von einem zum anderen Tag um.

Bei seinem ersten Gang durch die Stadt betrachtete Sil die Bauten. Aus der Luft, vom fliegenden Ring her, bot E-rech einen kreisförmigen Anblick von ineinandergeschachtelten Wohnzellen. Unzählige Rinnen, die Straßen und Gassen, durchschnitten diesen Kreis, auseinanderlaufend, sich kreuzend und wieder begegnend. Lediglich die Bauwerke des Palastes am Rande der Stadt und das Tempelviertel im Zentrum mit seinen Monumentalbauten lösten sich wohltuend geordnet aus dem Wirrwarr der übrigen Stadtteile heraus.

Vom Boden her erkannte Sil, daß die meisten der Menschenwesen in Bauten aus mehreren Zellen wohnten, die einen engen, einfachen Hof umschlossen. Die Wände der kleinen Häuser waren aus gelbem Erdreich hochgeführt oder bestanden aus langen, dichtgeflochtenen Halmen.

Sil fand einmal nahe der Stadtmauer ein Haus mit einem Hof, der zur Gasse hin offen war. „Hier wohnt ein Wasserträger“, erklärte Ia-du-lin und wies auf die vielen großen und bauchigen Tonkrüge, die ringsherum den Hof säumten. Ein älterer Mann hatte eben einer Frau ein Gefäß mit Wasser gefüllt. Sie trug es auf dem Kopf hinweg. „Es ist A-kim, der bekannt ist wegen der Reinlichkeit und Frische seines Wassers, das er mit seinem Esel von einer Quelle weit vor der Stadt herbeischafft“, erzählte Ia-du-lin.

Sil sah durch eine Öffnung in das Innere der Wohnzellen A- kims. Aus Stroh geflochtene Matten bedeckten den Boden und die Wände. In einem großen Würfel aus gleichmäßig geformten, harten Steinen brannten Flammen. „Ein Herd aus Ziegeln ist das, auf dem A-kim sein Essen bereitet“, erfuhr Sil. Kleine rote, schwarze und dunkelbraune Gefäße geometrisch spärlich verziert, standen hier und da an den Wänden oder in den Ecken am Boden. Es waren Schüsseln und Töpfe.

Sil, Ia-du-lin und die Priester gingen weiter. Nahe dem Palast und um das Tempelviertel standen, so bemerkte der Raumfahrer, andere Häuser, größer und fester gebaut. Sie gehörten wohlhabenderen Menschen. Diese Häuser hatte man zu ebener Erde aus Ziegeln errichtet und darauf noch ein Stockwerk aus Holz und Lehmplatten gesetzt. In ihren zehn bis vierzehn Räumern waren alle Wände sorgsam glatt verstrichen und weiß gefärbt.

Tage später, als niemand mehr vor ihm davonlief und sich versteckte, bat man Sil, in eines dieser Häuser hineinzukommen. In ihm wohnte, wie sich herausstellte, der Dug-gur En-mer-kars, der Verwalter aller Lager des Herrschers. Er empfing Sil, Ia-du-lin und das Priestergefolge überschwenglich und mit großem Redeschwall. Sil hatte Mühe, durch die niedrige und enge Tür in das Haus zu gelangen. Es war auch schwierig für ihn, sich in den Wohnzellen der Menschenwesen aufzuhalten, weil ihm der Skaphander es erschwerte, sich in diesen Räumen zu bewegen.

Sil trat deshalb auf den großen, heilen und geräumigen Hof hinaus. Er war sauber mit Steinplatten ausgelegt, und seine Mitte schmückte ein Brunnen. An mehreren Stellen blühten Blumen und grünten Pflanzen. Rundherum waren Räume, die man vom Hof her betreten konnte. Die Türöffnungen ließen sich alle durch schwenkbare Holzplatten verschließen. Es gab sogar viereckige Fensteröffnungen, die, wenn sie nicht gleichfalls mit einer Holztafel zu verdecken waren, zumindest mit einem Gewebe oder einem Fell verhängt werden konnten.

Inzwischen hatte Sils Gefolge die Vorhalle passiert. Dort war ein großes Wasserbecken aufgestellt, in dem jeder Besucher seine Hände und Füße von Staub, den Gesetzen der Höflichkeit folgend, reinigen mußte.

Der Dug-gur stellte dem Himmelssohn seine drei Söhne vor.

Ihm war anzumerken, daß er sehr stolz auf seine Kinder war, die bereits alle zur Tempelschule gingen und später einmal hohe Ämter einnehmen sollten.

„Hast du keine Töchter?“ fragte Sil teilnahmsvoll. Auf Heloid wäre darüber ein jeder traurig gewesen. Es gehörte einfach zur Harmonie der heloidischen Wohngemeinschaften, daß unter ihnen Jungen und Mädchen in gleicher Anzahl aufwuchsen. Seit langem erreichte man das dort mit den Mitteln der Geburtenbeeinflussung.

Sil wunderte sich auch darüber, daß der Dug-gur nicht seine Lebensgefährtin vorstellte. Ob sie wohl gar schon gestorben ist, fragte er sich im stillen? Unwillkürlich sagte er daher feierlich: „Gruß der Mutter deiner Kinder! Dank ihr, sie ist das Leben!“

Der Dug-gur stand einige Augenblicke still und lauschte dem eigenartig achtungsvollen Klang dieser Worte des Himmelssohnes nach. Dann blickte er sich im Kreise um, aber niemand schien diese Worte verstanden zu haben.

Schnell sprach er weiter und erklärte seinem hohen Besuch den Zweck aller Räume seines Hauses. Er eilte von Tür zu Tür und schwenkte die Holztafeln zur Seite. Neben der Vorhalle mit dem Wasserbecken gab es einen Empfangsraum, dick mit Matten, Fellen und Kissen ausgelegt. Daran reihten sich Küche, Wohn- und Schlafräume. Eine steinerne Treppe führte hinauf zum Rundgang des oberen Stockwerkes, der von einer hölzernen Balustrade eingefaßt war. Von diesem Rundgang aus zweigten die Räume der Söhne und die Gastzimmer ab.

„Meine vier Töchter und die Mutter der Kinder wohnen zusammen mit den Sklaven in einem Nachbargebäude bei den Eseln, Ochsen und Ziegen“, sagte er schließlich nebenher.

Jetzt war es Sil, der einige Augenblicke regungslos stand.

Frau, Töchter und Sklaven wohnten bei den Tieren im Stall, obwohl in diesem Lande als oberste Gottheit die Mutter der Erde, der Fruchtbarkeit, des Lebens verehrt wurde. Endlich sagte Sil mühsam beherrscht: „Deine Frau und deine Töchter sollten ebenso wie du und deine drei Söhne in diesem Haus wohnen. Sie zählen doch zu deiner Familie und nicht zu dem Vieh. — Den Sklaven solltest du die Freiheit geben. Sie sehnen sich in ihre Heimat zurück.“

Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich großes Erstaunen.

Manche sahen verlegen und betreten drein. Sil fing einen unwilligen Blick Ia-du-lins auf. Der Dug-gur war tief betroffen. Den Sklaven die Freiheit zu geben, das war unmöglich. Wer sollte all die Arbeiten im Haus verrichten. Woran sollte man seinen Reichtum und seine Stellung erkennen können.

Schnell klatschte er laut und heftig in die Hände. Die Sklaven stürzten herbei, und der Dug-gur befahl ihnen, sofort zwei der Räume für seine Frau und seine Töchter herzurichten.

Diese ungewöhnliche Forderung des Himmelssohnes sprach sich schnell in der Stadt herum. Sowohl die Lu-guls, die großen Leute, waren darüber aufgeregt als auch die Sags, die Ur-dus und die Re-schus, wie man die verschiedenen Sklaven zu nennen pflegte. In fast allen Beamtenhäusern zogen die Töchter und Frauen von den Ställen in die Wohnhäuser um, denn die Lu-guls fürchteten den Zorn der Götter. Aber den Sklaven schenkte niemand die Freiheit. Das konnte nicht der Wille der Götter sein. Viele sprachen mit den Priestern darüber und fanden ihre Ansicht bekräftigt.

Während die Menschenwesen im Hofe des Dug-gurs um ihn herum noch miteinander über die Forderungen des Himmelssohnes flüsterten, ließ Sil seinen Blick entlang der Dachkante des Hauses gleiten. Die Spitzen der Tempelbauten, eingerahmt von den grünen Wipfeln hoher Bäume, und die wuchtigen Stufen der Ziggurat mit ihren mächtigen roten, schwarzen und blaufarbenen Quadern ragten darüber hinaus.

Verglichen mit den himmelragenden Bauten auf Heloid aus tausendfach wandelbarem Kunststoff, den großräumigen Wohnhallen der heloidischen Lebensgemeinschaften und den ausgedehnten und tief in die Planetenrinde eingelassenen unterirdischen Produktionsanlagen waren die Tempelbauten klein, ganz zu schweigen von den ärmlichen Wohnzellen der Menschenwesen, die ohne nennenswerte Einrichtungsgegenstände, ohne gereinigte, sterilisierte und klimatisierte Luft waren. Dennoch, die Monumentalbauten der Tempel und des Palastes zeigten schon interessante Ansätze zu einer noch fernen Kultur und Architektonik der Menschen wesen.

Wo übrigens mochten die verstandbegabten Lebewesen des blauen Planeten ihre Produktionsanlagen haben, fragte sich Sil.

Grußlos und in Gedanken versunken verließ er das Haus des Dug-gurs und durchwanderte die Gassen. Bis jetzt hatte er nur die Wohnhäuser und die Kultstätten, die Tempel, entdecken können.

Immer mehr Neugierige säumten den Weg, den Sil nahm, und die Anzahl derer, die hinter ihm und der Gruppe der Priester einherliefen, wurde von Tag zu Tag größer. Die bunte Vielfalt der Lebensweise der Menschenwesen breitete sich vor Sil aus.

Doch zwischen ihm und den Bewohnern dieser Stadt gab es eine unsichtbare Grenze, die niemand überschritt und die auch er nicht zu durchbrechen vermochte. Immer wieder spürte er, daß sie ihn als Gottheit ansahen.

Oft wünschte sich Sil daher, bei den Sandwanderern und bei den ehemaligen drei Sklaven aus El-Ubaid zu sein, für die er, das spürte er immer wieder ganz deutlich, kein Gott, sondern ein fremdes Wesen aus unbekannter Ferne war. So kam es, daß er jeden zweiten oder dritten Tag zur Felsschlucht im Dürrland flog und zwischen den Herden und den spitzen, runden Lederzelten des Lagers umherging. Abends, bevor er abflog, fanden sich in gewohnter Weise die Männer und Frauen unter dem Flügelring ein, und Sil lauschte dem immer wiederkehrenden Gespräch über die Herden, die Weiden, das Wasser, die Nahrung und die Trockenheit.

Eines Tages, als Sil nach einem Flug zur Landebasis am Meer der toten Wasser und zur Felsschlucht im Dürrland wieder in E-rech auf dem großen halbrunden Tempelplatz landete, entstiegen dem Ringflügler die drei ehemaligen Sklaven aus El-Ubaid. Sie und Ia-du-lin begleiteten Sil seitdem ständig. Die Priesterschar mußte immer häufiger zurückbleiben, denn Sil unternahm nun oft Flüge in die Umgebung E-rechs.

An einem Vormittag wollte Sil aus der Stadt hinausfliegen, um den Ackerbau der Menschenwesen kennenzulernen.

Ackerbau gab es auf Heloid schon lange nicht mehr, denn dort wurden die Nahrungsmittel künstlich, meist mit Hilfe der Fotosynthese, erzeugt.

Das Flugzeug stand wie immer im Hof des Nan-nar-Tempels, der auch diesmal verwaist und ohne jegliches Leben dalag. Sil ließ den fliegenden Ring aufsteigen; da aber zeigten ihm die Kontrollgeräte Störungen im Energiefeld des Antriebssystems an und zwangen ihn, sofort wieder zu landen. Er setzte auf dem benachbarten Hof des Marduk-Tempels, des Gewittergottes, auf.

Wie staunte Sil, als er hier ein geschäftiges Treiben sah. Eine Flucht von Räumen umsäumte das weite Viereck des Tempelhofes, und viele Menschen gingen hier ein und aus.

„Heute ist Markttag“, erklärte Ia-du-lin. Schon oft hatte Sil an manchen Tagen viele Menschen in den anderen Tempelhöfen beim Überfliegen der Stadt gesehen. Aber immer hatte er geglaubt, sie seien gekommen, um die Götter der Stadt zu ehren. Aber jetzt erkannte er, daß sie Lasten hin und her trugen, lärmten und hasteten. Der wasserspendende Brunnen war dicht umlagert, und aus den mit Erdpech abgedichteten Trögen soffen die Esel, mit denen Bauern von den Feldern und aus den Gärten Früchte und Gemüse herbeigeschafft hatten. Die Ziegeltische mit den tiefen Opferkerben trugen Obst, hoch aufgetürmt. Überall am Boden lagen auf Strohmatten die verschiedensten Waren zum Tausch ausgebreitet.

Eine dichte Menschenmenge sammelte sich um den Ringflügler. Sil, Ia-du-lin und die drei aus El-Ubaid stiegen aus. Sie durchschritten diesen und die anderen Höfe. Überall entdeckte Sil das gleiche bunte Bild. Bald bemerkte er, daß die Tempelhöfe nicht nur Handelsplatz waren, sondern daß dies hier auch die lang gesuchten Produktionsstätten sein mußten.

Hier waren beispielsweise die Küchen zu finden. Die Männer aus El-Ubaid berichteten ihm, daß hier nicht nur die Nahrung für Priester, sondern auch für die Beamten, Soldaten und Sklaven En-mer-kars zubereitet wurde. In großen Öfen wurde Brot für die ganze Stadt gebacken. Die meisten Räume um die Tempelhöfe jedoch dienten der Erzeugung von Kleidung.

Ganze Reihen von Spinnstuben sah SU, in denen die Wolle der Schafe mit einfachen Geräten zu langen Fäden zusammengedreht wurde. Neben diesen Räumen waren Werkstätten, in denen die gewebten Stoffe zugeschnitten und genäht wurden.

Ia-du-lin erklärte, daß hier zwölf verschiedene Kleidungen hergestellt würden. Die Weberinnen und Spinnerinnen erhielten täglich eine genau zugemessene Menge an Wolle, aus der sie eine bestimmte Anzahl von Kleidungsstücken anfertigen mußten.

Zwischen den Spinnereien, Webereien und Schneidereien gab es Korbflechtereien, Stuben für die Lederverarbeitung, Werkstätten für die Erzeugung von Waffen oder Arbeitsgeräten, Töpfereien und Räume, in denen die Gefäße mit Farben und Linien verziert wurden.

An einigen Stellen saßen Priester, die Abgaben, Pflichtabgaben der Landbesitzer und Sklavenhalter, entgegennahmen und sie auf noch weichen Tontafeln quittierten. Die verderblichen Nahrungsmittel wurden sofort zum Tausch zu den Marktständen gebracht. Öl in Krügen, Getreide in großen Haufen, Früchte und Gemüse, Wolle und Vieh sammelten sich bis zum Mittag in großer Menge an. Dann zogen plumpe, gehörnte Tiere große, schwerfällige Karren herbei, auf denen all das verladen und in die Tempelspeicher gebracht wurde. Die großen Scheibenräder der hölzernen Karren quietschten und knarrten unter der Last.

Sil kehrte zum Ringflügler zurück und berichtete seinen Gefährten in der „Kua“ von seinen neusten Entdeckungen. Er richtete den Erider auf den Tempelplatz, so daß man auch am Meer der toten Wasser sehen konnte, was gerade auf dem Tempelplatz geschah. Gohati riet Sil, das System und das Prinzip der Verteilung dieser Erzeugnisse in der Gemeinschaft der Menschenwesen an einem der nächsten tage noch genauer zu erforschen.

Zunächst beseitigte Sil die Störung im Energiefeld des Antriebes. Dann flog er mit Ia-du-lin und den drei ehemaligen Sklaven hinaus auf die Felder bis zu dem Dorf El-Ubaid. Bald landeten sie auf einem Feldweg. Einen Steinwurf weit entfernt arbeitete eine Gruppe von Sklaven. Sie richteten sich auf, als der Ring summend herabsank. Furchtsam sahen sie herüber.

Ihre starren, unbewegten Gesichter erhellten sich zu einem ungläubigen Staunen, als dem fliegenden Haus Menschen entstiegen. Einige brachen in Rufe der Überraschung aus, denn sie hatten ihre ehemaligen Leidensgefährten, die vor Monaten mit den Sandwanderern geflohen waren, wiedererkannt. Sie eilten aufeinander zu und begrüßten sich laut und freudig. Die drei aus der Felsschlucht im Dürrland mußten ausführlich ihre Flucht schildern. Ein dichter Kreis von Zuhörern bildete sich um sie. Die drei berichteten auch, wie sie die Himmelssöhne kennengelernt hatten.

Der Aufseher der Feldsklaven wagte nicht, einzugreifen und die Re-schus an die Arbeit zurückzuschicken. Die Hakenstöcke zum Auflockern des Bodens lagen unbeachtet umher.

Ia-du-lin stellte mißvergnügt fest, daß er heute in diesem Kreis unbeachtet blieb.

Plötzlich sprangen alle auf und starrten in den Himmel. Die drei ehemaligen Sklaven riefen: „Die Schwester der Himmelssöhne kommt!“

Sil erkannte hoch am Himmel den Weißen Pfeil. Schnell glitt er zum Ringflügler hinüber und nahm Verbindung mit dem Raumschiff auf. „Hallo, ›Kua‹, hier Ring!“ rief er.

Sinio meldete sich.

„Sinio, was ist mit dem Weißen Pfeil los? Er fliegt jetzt über dem Zweistromland und ängstigt die Menschen.“

„Merkwürdig! Tivia ist doch aufgestiegen, um den heißen Kontinent zu überfliegen und zu durchforschen.“ Sil erinnerte sich, seit einigen Tagen flog man vom Meer der toten Wasser aus mit dem Raketenflugzeug und dem Atomicer häufig fort, um Forschungen über anderen Teilen des Planeten zu betreiben. Selbst Gohati war oft unterwegs.

„Hallo, Ring! Hallo, Sil!“ schallte da schon Tivias Stimme hell und klar an sein Ohr. Es klang sehr energisch. „Ich lande“, teilte sie ihm knapp mit.

Ein Stück entfernt stach aus blauem Himmel der Flammenschein der Bremsdüsen der kleinen Erkundungsrakete herab. Sil flog mit dem Ringflügler zum Landeort. Tivia hatte schon ihre Kabine verlassen und eilte ihm entgegen. Sie schien sehr aufgeregt zu sein.

„Sie verkaufen ihre Kinder“, sagte sie, heftig atmend, als sie sich dann gegenüberstanden.

Sil verstand nicht, wovon sie sprach. Stockend fragte er: „Wer? Die Menschenwesen?“

„Ja, als Sklaven…“ Ihre Stimme drohte vor Erregung zu ersticken. Sil ahnte, wie sehr Tivia empört war. Da sagte sie auch schon: „Sie stehen zwar erst am Anfang der Zivilisation, aber daß sie so etwas noch tun, habe ich nicht geglaubt. — Wir müssen etwas dagegen unternehmen.“

„Woher weißt du es?“ fragte Sil.

„Die Tontafeln“, sagte Tivia.

„Azuls Tontafeln aus den Tempeln?“

„Ja!“

„Warum mag Azul es uns verschweigen?“ sagte Sil traurig.

„Er hat doch alle Tontafeln durchgesehen.“

„Frag ihn“, forderte Tivia.

„Sollte er nicht mehr mit uns fühlen?“ murmelte Sil. Nach einer Weile bat er: „Zeig den Text.“

„In deiner Kabine.“

Sie glitten hinüber zum Ringflügler und schwangen sich hinein. Sil hielt den Atem an, starrte auf das Leuchtband und las die darüber hinziehenden Lichtzeichen der Übersetzung: „Hiermit bestätigt der Priester Bit-Adin, getreuer Diener der Tempel zu E-rech und des Gottes der Gerechtigkeit und des Rechts, Bab-bar, der der Sohn Nan-nars und Nin-Gals ist und der zugleich auch über die schreckliche und ausdörrende Kraft der Sonnenglut verfügt, im heiligen Schatten der siebenstufigen Ziggurat, daß der Ländpächter So-ped aus dem Dorf Suma- Abu seinem Gläubiger U-ti-ka, ebenfalls aus Suma-Abu, nach der mißlichen Ernte, die schlecht war, weil So-ped den Wassergraben nicht instand hielt und pflegte, sowohl nicht das geliehene Saatgut als auch nicht das zusätzliche Drittel Getreidezins dafür zurückzugeben vermag und er deshalb seinen Ochsen im Werte von drei Sekel Silber zur Begleichung seiner Schuld und seine beiden Kinder, Tai-ma, sieben Sommer alt, und Ta-ho, neun Sommer alt, im Werte von je ein Sekel Silber zu Sklaven gibt. So-ped und seine Frau Va-ru-na bleiben Freie.“

Die Ausstiegsluke schlug mit einem lauten Knall zu. Sil verstand jetzt Tivia. Er war nun ebenso empört wie sie. Sie verkaufen ihre Kinder, um frei zu bleiben, dachte Sil bitter. Er startete so ungestüm den Ringflügler, daß Tivia gegen die Verglasung der Kabine taumelte. Jetzt erkannte Sil auch, was er zuvor aus ähnlichen Erscheinungen der alten Geschichte Heloids wußte, wo sein Gefühl sich aber gesträubt hatte, es zu glauben: Die Priester, vor allem die oberen Priester, dienten nicht, wie er anfangs angenommen hatte, der Wissenschaft und der Kultur, sondern halfen den Mächtigen dieser Welt, über die vielen unwissenden Menschen zu herrschen. Und Ia-du-lin, fragte sich Sil sogleich, wo stand Ia-du-lin? Stand er nicht auch auf der Seite des Herrschers und seiner Beamten, der Priester und Beter? Jener Priester, die sich Diener des Gottes des Rechts nannten, die aber das Unrecht förderten und Kinder verkaufen halfen? Mußte man sich nicht vor ihnen allen mehr in acht nehmen? Hatte er Ia-du-lin nicht schon zuviel vertraut?

Nach schnellem, kurzem Flug landeten sie wieder auf dem breiten Feldweg, auf dem immer noch die Gruppe der Feldsklaven, die drei Männer aus dem Dürrland und Ia-du-lin standen und ihnen erwartungsvoll entgegensahen.

Die beiden Heloiden glitten auf sie zu. Sil las das Dokument den Menschenwesen vor, und das Myonengerät gab seine Stimme laut in irdischen Worten wieder.

„Warum darf das sein?“ fragte Tivia Ia-du-lin, als Sil zu Ende gelesen hatte.

„Es geschieht täglich“, antwortete der. Er war ratlos, denn er fühlte, daß der Himmelssohn und die Himmelstochter erzürnt waren. Sollte der Priester Bit-Adin, einer der ältesten und weisesten Götterdiener, nicht streng genug gestraft haben?

„Die Gesetze, die uns die Götter gaben, verlangen kein strengeres Urteil“, fügte er entschuldigend hinzu.

Es geschieht täglich, hatte Ia-du-lin gesagt. Er fand also nichts Schreckliches dabei. Tivia und Sil sahen sich bedeutungsvoll an. Konnte denn niemand den zahllosen Kindern helfen, die vielleicht gerade in diesem Augenblick überall in diesem großen Land zwischen den zwei Strömen verkauft wurden? Warum ließen das die Väter und Mütter zu?

Warum ließen die Menschen Kinder für sich arbeiten?

Wir müssen helfen, dachte Tivia. Zugleich erkannte sie aber, daß die Besatzung der „Kua“ in dieser Sache machtlos war.

Wie sollten sie die Kinder der Menschenwesen vor solchem Unrecht schützen.

„Azul, bitte melden!“ rief Sil mehrmals über den kleinen Sprechfunksender des Skaphanders zur Stadt hinüber. Aber Azul antwortete nicht.

„Steig in unser fliegendes Haus ein und zeige uns, wo das Dorf Suma-Abu ist“, forderte Sil Ia-du-lin auf. Auch den drei Männern aus El-Ubaid gab er ein Zeichen zum Einsteigen.

Wenigstens in diesem einen Fall wollte er das Unrecht beseitigen.

Vom fliegenden Ring aus versuchte Sil noch einmal Verbindung mit Azul zu bekommen, um von ihm nähere Angaben über die Gewohnheit der Menschen, Kinder zu verkaufen, zu erhalten. Doch auch jetzt meldete sich Azul nicht.

Sie flogen langsam in geringer Höhe und folgten dabei den Wegen, die ihnen Ia-du-lin wies.

Das Dorf Suma-Abu war klein und bestand nur aus wenigen Lehmhütten, zwischen denen noch einige Schilfhütten standen.

Sie landeten. Der Gläubiger U-ti-ka war der einzige Lu-gul des Ortes. Nur er besaß hier Land und Sklaven. Selbst die Priester und En-mer-kar hatten hier keinerlei Besitz.

Sil bat Ia-du-lin, auszusteigen und sich in den Hütten nach den Kindern und den Eltern zu erkundigen.

Ia-du-lin ging in das größte der Häuser. Der Lu-gul U-ti-ka war draußen auf den Feldern, um die Arbeit der Sklaven zu beaufsichtigen. Der Tamkare traf nur die Haus- und Stallsklaven an. An So-ped und Va-ru-na konnten sich alle gut erinnern.

Als Ia-du-lin über die kleine Leiter wieder in die Kabine kletterte, berichtete er: „Die junge Frau Va-ru-na ist im Winter still und ohne zu klagen in die Weite hinausgegangen, wie die Leute hier sagen. Sie ist aus Gram, daß ihre Kinder zu Sklaven geworden waren, gestorben. Ihr Mann, So-ped, hat lange neben der Toten gesessen und um sie getrauert. Dann hat er sie begraben und ist aus dem Dorf und aus dem Land gegangen. Es heißt, er sei zu den Sandwanderern gezogen. Die Kinder Tai- ma und Ta-ho sind noch hier und arbeiten jetzt auf dem Feld.

So-ped soll, als er fortgegangen ist, den Göttern geflucht und geschworen haben, daß er jeden Rutenhieb zurückzahlen werde, den U-ti-ka seinen Kindern versetzte. Er werde bald zurückkommen. U-ti-ka will die Kinder, sobald die Ernte vorbei ist, in ein anderes Dorf nahe der Stadt verkaufen, weil er den Vater fürchtet. Er soll sehr erregt sein, weil vor zwei Tagen am Morgen an der Stelle, an der Va-ru-na begraben liegt, eine große irdene Schale voll mit Gerstenkörnern gestanden hat. Die Sklaven erzählen, U-ti-ka sei hingerannt und habe der Schale wütend einen Fußtritt versetzt. In der folgenden Nacht aber sind die beiden Kinder hingegangen, haben die Scherben und Körner zusammengelesen und erneut auf das Grab ihrer Mutter gelegt. U-ti-ka nimmt deshalb an, daß So-ped immer noch in der Nähe ist. Er hat nicht erfahren, daß das nur die beiden Kleinen waren. Die Sklaven hatten Angst, mir das zu erzählen, und nur die Furcht vor euch, den Himmelswesen, hat sie es mir verraten lassen.“

„Kannst du schreiben?“ fragte Sil Ia-du-lin.

„Ich lernte es in der Tempelschule, Himmelssohn“, erwiderte der Tamkare.

„Geh und laß dir von den Sklaven U-ti-kas eine frische Tafel geben. Wir wollen für So-ped eine Nachricht hinterlassen.

Schreib auf: ›Die Kinder sind bei den Sandwanderern des Stammes der Nachatschäer. Gehe von der Karawanenstraße durch das Dürrland gegen Mitternacht bis zur felsigen Steppenschlucht.‹ Lege die Tafel zur Gerstenschale.“

Als Ia-du-lin den Auftrag ausgeführt hatte, flogen sie über die Felder bis nahe der Gruppe arbeitender Sklaven. „Der, der dort etwas abseits steht, das muß U-ti-ka sein“, vermuteten die drei ehemaligen El-Ubaider. Noch im Fluge zog Sil mit dem Strahlenwerfer um den erschrockenen Sklavenhalter einen feurigen Ring in den Boden. Dann setzte der Ringflügler auf.

Sil bat Ia-du-lin, zu den Sklaven hinüberzugehen, die beiden Kinder an die Hand zu nehmen und herbeizuführen. Den Männern aus El-Ubaid schlug er vor, sich unter und neben dem fliegenden Ring zu zeigen, damit Tai-ma und Ta-ho Menschen sähen und keine Angst hätten, mit Ia-du-lin herüberzukommen.

„Die Himmelssöhne sind gekommen, um euch zu holen. Sie wollen euch zu eurem Vater bringen“, sagte Ia-du-lin. Die Umstehenden hörten diese seltsamen Worte. Sie glaubten, der Vater sei inzwischen auch gestorben und die Kinder sollten nun ebenfalls in den Himmel gebracht werden.

In der Steppenschlucht wurden die siebenjährige Tai-ma und der neunjährige Ta-ho freundlich aufgenommen. Etwa ein Jahr später, als die Heloiden schon lange wieder abgeflogen waren, erschien ein fremder Mann in der Schlucht, dem, als er nahe dem Zeltlager war, zwei Kinder jubelnd entgegeneilten.

Azul fühlte sich unglücklich. Es war ihm von Nacht zu Nacht schwerer gefallen, im Ringflügler die drei oder vier Stunden Schlaf zu finden, deren er bedurfte, um neue Kraft für die Arbeit und für den Aufenthalt auf diesem Planeten zu schöpfen. Der Sternenhimmel über ihm, deutlich und klar durch die Glaskuppel der Kabine zu erkennen, zog seine Blicke mit magischer Gewalt an. Er wurde ihm immer unerträglicher und bedrückender. Häufig dachte er an die „Kua“ und fragte sich: Wie weit haben sie heute, wie weit haben sie jetzt das neue Kreiselsystem fertig? Der Zeitpunkt des Abfluges rückte wie eine erdrückende schwarze Wand auf ihn zu, unaufhaltsam und unabänderlich. Jedesmal, wenn er mit neuen Tafelkopien zum Meer der toten Wasser flog, die „Kua“ betrat und sich an das Myonenhirn setzte, vermied er es, danach zu fragen. Die Ungewißheit quälte ihn um so heftiger. Und dann nachts immer wieder dieser Sternenhimmel. Es war furchtbar. Wie war es möglich, daß er, ein Astronom, die Sterne haßte?

Azul stand dann jedesmal auf und floh in die Tempel, die für seine Augen in ein erträgliches Dämmerlicht getaucht waren.

Die Tempelwächter fürchteten seitdem die Nächte, denn sie wußten, der Himmelssohn Azul ging umher. „Er vertreibt die Dämonen, die sich in unsere Tempel eingeschlichen haben“, flüsterten sie sich zu.

In den Tempeln fühlte sich Azul geborgen. Er spürte den engen Raum um sich und nicht mehr die Unendlichkeit. Hier stachen nicht die Sterne spitz auf ihn herab. Azul war für jede Ablenkung dankbar, und so kam es, daß ihm zu Ehren des Nachts bald überall kleine Opferschalen mit Öl oder sogar Fackeln brannten. Die Beter erschienen immer häufiger und vollführten in seiner Gegenwart ihre Übungen, und Azul verharrte stundenlang geduldig, sah ihren sparsamen, eigenartigen Bewegungen und dem Spiel der riesigen Schatten zu. Seine Phantasie erhob diese Bewegungen und die Schattenspiele zu einem wundervollen Tanz, bei dem sie ihn einmal als einen geistigen Zyklopen und ein anderes Mal als Beherrscher der Naturgewalten und ein drittes Mal als den „Berg all ihrer Seelen“ verherrlichten. Jäh erwachte dann Azul aus seinem Dämmerzustand, schalt sich einen Narren und ging brüsk davon, nahe daran, sich selbst zu verachten. Bald jedoch vollführten die Priester vor seinen Augen Tempelfeste und Zeremonien. Lange Zeit glaubte er, nur stiller Beobachter zu sein, bis er schließlich entdeckte, daß im Grunde genommen er zum Mittelpunkt der nächtlichen Kulthandlungen geworden war. Da aber war es schon zu spät für ihn, sich zurückzuziehen. Denn jetzt schmeichelte es ihm schon, und er wurde unruhig, wenn eine Nacht verstrich, in der er nicht gefeiert und verehrt wurde.

Im Morgengrauen verschwand der ganze Spuk und mit ihm auch die Angst vor der Sternennacht. Mit dem ersten Sonnenstrahl war Azul wie ausgewechselt, und er vermeinte, die ganze Nacht auftragsgemäß das Wesen und den Charakter des Götterkultes auf dem dritten Planeten studiert zu haben.

Die Schärfe seines Verstandes kehrte zurück, und er vermochte wieder klar zu denken.

Als nun an jenem Nachmittag, da Sil und Tivia im Dorf Suma-Abu waren, ein Tempelfest zu Ehren des reifen Kornes stattfand, beobachtete er mit großem Interesse die vielversprechenden Vorbereitungen und dann schließlich auch den Ablauf der Zeremonien, zu denen diesmal sogar die Vertreter der weltlichen Macht in E-rech und Bewohner der Stadt mit hinzugelassen wurden. Die Festlichkeiten steigerten sich immer mehr und erreichten spät am Abend, als es schon dunkel und die Nacht hereingebrochen war, ihren Höhepunkt.

Die wogenden Massen der Menschenwesen, der harte, ununterbrochene Rhythmus der Tempelmusik, das brausende Murmeln der Beter und selbst die Opferfeierlichkeiten, das Schlachten vieler Tiere, ließen Azul neugierig zuschauen.

Zuletzt erschien En-mer-kar, begleitet von einem Musikanten, der eine wunderbare Harfe trug. Das Instrument war mit Gold, Silber, Lapislazuli und einem goldenen Stierkopf verziert. En- mer-kar stellte sich vor Azul hin. Der Hohepriester trat an ihn heran und nahm ihm das Zepter, den Stab der Macht, und seine Herrscherkrone ab. En-mer-kar, nunmehr entthront, kniete ehrfurchtsvoll nieder und murmelte ein Gebet. Da hob der Hohepriester eine Peitsche und versetzte dem Herrscher einen Streich über den Rücken. Die Menge stöhnte schmerzvoll auf.

En-mer-kar aber schwieg und hielt geduldig und ergeben aus.

Atemloses Schweigen lastete im Säulensaal. En-mer-kar erhob sich, als eine langhörnige Antilope, wie sie zuweilen hier und da auf dem Land vor einen Pflug gespannt war, hereingeführt wurde. Er tötete das Tier eigenhändig und opferte es den Göttern. Erst, als ihr Körper nicht mehr zuckte, reichte ihm der Hohepriester die Zeichen seiner Würde, Diadem und Zepter, wieder zurück. Damit war symbolisiert worden, daß die Götter ihm erneut für ein Jahr die Regierungsgewalt zugesprochen hatten.

En-mer-kar hub an zu sprechen. All die Jahre über hatte er an dieser Stelle der Zeremonie einen fest vorgeschriebenen Text laut und deutlich hergesagt. Diesmal aber wich er davon ab.

„Die Götter und der Himmelssohn Azul haben mich, En-mer- kar, einen berühmten und gottesfürchtigen Krieger, erneut zum Herrscher über E-rech und das Zweistromland berufen. Ich bin ein durch die Götter Auserwählter, der durch die Gegenwart eines lebenden Gottes besonders erhöht wird. Ich bin ein König, ein göttlicher Sproß, ein Bruder der Götter, die mich beauftragen, das Volk zu regieren und das Land wohlhabend zu machen!“

Es war weit nach Mitternacht, als der Lärm des Tempelfestes verstummte. Da überfiel Azul die Raumangst abermals, und er beschloß, nicht zu den Raumfahrern zurückzukehren. Er hatte genug Kenntnisse, um zu wissen, wie er sich auf diesem Planeten am Leben erhalten konnte.

Vergebens ging Sil durch die Straßen und durch die Tempelhallen, Azul zu suchen, vergebens kreiste der Ringflügler bis zum Morgen über der Stadt und dem Land, fortwährend aus seiner Antenne das Signal „Azul“

ausstrahlend; vergebens auch lauschte man an den Empfängern der „Kua“ auf eine Antwort. Man vermochte nur das monotone, aus dem Äther von dem kreisenden Funksatelliten ausgesandte Zeichen zu hören: „Azul, Azul, Azul…“

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