Die Wunder im Tal Hadscha El Hibla

Der Bergpfad durch den Paß führte steil aufwärts. Ia-du-lin, der Bote, keuchte. Mit rauher Stimme trieb er seinen Esel, der das Trinkwasser für den Weg durch das Sandland, die Wegzehrung und die Schlafdecken schleppte, zur Eile an. Noch vor Beginn der Nacht wollte Ia-du-lin das Hochtal Hadscha El Hibla erreichen. Er wußte dort einen guten Platz für die Übernachtung.

Auch die fünf Soldaten, die den Tamkare, den Sonderbeauftragten aus dem Zweistromland, bis zur Grenze ihres Landes zum Hochtal begleiten mußten, atmeten schwer.

Müde stiegen sie in einer weit auseinandergezogenen Kette hinter dem Boten bergan. Oft gab das Geröll des Steilpfades unter ihren festen Tritten nach und rollte prasselnd zu Tal.

Schwer drückten ihre Waffen: Bogen, Wurfspieß und die Axt aus Hornstein. Die Männer litten unter der erdrückenden Wärme, die das kahle, aufragende Gestein der Hänge zu beiden Seiten noch von der Hitze des Tages ausstrahlte.

Die Dämmerschatten des Abends fielen dichter und dichter.

Sie verwoben sich zu grauen Schemen.

Den ganzen Weg über versuchte Ia-du-lin zu ergründen, ob das Ergebnis seiner Mission ein Erfolg oder ein Mißerfolg war. Er sah den neuen Tempel in E-rech, den En-mer-kar, sein Herr, für I-na-nua, die Mutter alles Lebenden, hatte bauen lassen. Die dicken Säulen und die Wände aus Ziegelsteinen ragten nackt und schmucklos empor. Das reiche Zweistromland barg wenig, um den Tempel würdig schmücken zu können. Es gab da keine schönen Steine und auch nicht das Holz der Wälder. Deshalb hatte En-mer-kar ihn, den kundigen Tamkare, mit geheimer Botschaft den weiten Weg zu A-rat geschickt, dem Fürsten der Stadt am Meer.

Ia-du-lin war Tag um Tag allein und abseits der Karawanenstraße durch das dürre und heiße Land der Sandwanderer gezogen, hatte die beiden Gebirgszüge mit dem Hochtal dazwischen überquert und dann endlich nach langer Reise die Küste erreicht. Bei der fremden Stadt angelangt, hatte sich Ia-du-lin von der Torwache geradewegs zu A-rat führen lassen.

Die grauen Schatten der Dämmerung wogten stärker. Ia-du- lin sah sich den Palast A-rats durchschreiten, vor den weit und breit bekannten Fürsten der Seefahrer und Kaufleute treten, sich tief verneigen und die Botschaft aus E-rech vortragen.

Dabei reichte er dem Herrscher die Tontafel, in die die Worte und das Siegel En-mer-kars eingeprägt waren.

En-mer-kar forderte von A-rat, ihm zur Ausschmückung des neuen Tempels schöne Steine, besonders Lapislazuli, blaue, von weißen Adern durchzogene Lasursteine, und Karneole, gelb- bis blutrote Schmucksteine, auszuliefern. Erhalte E-rech diese Gaben nicht, so werde En-mer-kar, der ein großes Heer unterhielt, die Göttin I-na-nua anflehen, um von ihr die bereits versprochene Hilfe zur Bestrafung A-rats für seine Weigerung zu erhalten. Außerdem werde er den Meeresgott En-ki bitten, A-rats Stadt zu überfluten. Auch Blitz und Donner, Feuer und Rauch werden herniederfallen.

Geheimer Bote zu sein war eine undankbare, schwere Aufgabe, die vielerlei Gefahren in sich barg. Ia-du-lin, nur Bote und in die Pläne En-mer-kars uneingeweiht, wußte, daß die Forderung nach der Auslieferung schöner Steine einer Herausforderung gleichkam. Er spürte den stechenden, prüfenden Blick A-rats. War der Fürst zornig? Würde er ihn seiner Unverschämtheit wegen in Fesseln legen lassen? Aber A-rat blieb beherrscht. Weder Zorn noch Empörung malten sich auf seinem Gesicht. Die Drohungen in der Botschaft En- mer-kars hatten ihn nicht geschreckt.

Der Fürst der Stadt am Meer forderte den Boten aus dem Zweistromland auf, einen Tag und eine Nacht vor den Toren der Stadt auf die Antwort zu warten.

Am nächsten Morgen stand Ia-du-lin erneut vor dem Fürsten.

A-rat fühlte sich sicher. En-mer-kars Soldaten würden nicht so bald das weite Sandland und die beiden Gebirge überwinden. Er befahl daher dem Tamkare, En-mer-kar seine Weigerung zu überbringen. Er werde keine Lapislazuli und keine Karneole schicken. Die Götter des Ba-als stünden auf seiner Seite, denn sie erhielten reichliche Gaben von den Seefahrern und Kaufleuten der Stadt.

Erfolg oder Mißerfolg? Noch immer war Ia-du-lin zu keinem Ergebnis bei seinen Überlegungen gekommen. Wollte En-mer- kar wirklich den Göttern dienen und den neuen Tempel für I- na-nua herrlich ausschmücken, dann war die Antwort A-rats ein Mißerfolg, dann war es für ihn, den einfachen Tamkare, besser, nicht nach E-rech heimzukehren. Suchte En-mer-kar aber nur einen Vorwand, um sein Heer zum Meer gen Abend zu schicken und A-rats Stadt zu unterwerfen, dann war die Weigerung willkommen, dann war seine Mission ein Erfolg.

Ia-du-lin, als Sohn eines reichen Kaufmannes in den Priesterschulen der Tempel von E-rech aufgewachsen, hatte dort nicht nur die Sprache der Tontafeln und das Geheimnis der Ziffern kennengelernt, sondern auch die Ehrfurcht vor den Göttern. Er neigte deshalb dazu, seine Reise als einen Mißerfolg anzusehen. Viele Leute E-rechs würden in der Weigerung A-rats eine Schwäche und das Unvermögen I-na- nuas erblicken, über die Götter anderer Städte zu gebieten, oder sie würden, was noch viel schlimmer war, glauben, I-na-nua habe ihre Gunst von E-rech abgewandt. Wenn es einen Weg gäbe, A-rat umzustimmen, Ia-du-lin würde ihn gehen. Auch verlangte es ihn danach, En-mer-kar und aller Welt zu beweisen, daß er nicht nur ein Tamkare, sondern ein Tamkare- Patesie, nicht nur ein wegkundiger, schneller Bote, sondern auch ein weltgewandter, sachkundiger Gesandter war.

Die Bilder zerrannen, und die Schatten der heranziehenden Nacht wurden stärker. Schon war die Sonne hinter den Bergen versunken. Endlich neigte sich der Weg und wurde wieder eben. Ia-du-lin hielt an, um zu verschnaufen. Um ihn sammelte sich die kleine Gruppe. Die Soldaten banden die Ziegenfelle auf, denn Durst quälte sie. Gierig schlürften die Männer das lauwarme Naß. Ia-du-lin dagegen gönnte sich nur wenige Schlucke. Dann saß er auf und ritt ein Stück voraus. Der Esel mochte Gras gewittert haben, denn er setzte sich in Trab.

Bereits nach der nächsten Biegung des Bergpfades öffnete sich der Paß zum Hochtal Hadscha El Hibla. Ia-du-lin hielt an und spähte gewohnheitsgemäß, dem Gebot der Vorsicht gehorchend, in das noch helle, breite Tal. Wer wie er mit geheimer Botschaft unterwegs war, tat gut daran, jedermann auszuweichen, zumal ihn die Soldaten A-rats nur bis hierher begleiteten. Doch auf dem Talgrund, der sich bis zum jenseitigen Gebirgszug wie eine Ebene dehnte, regte sich nichts. Die Soldaten holten ihn ein und traten heran. Sie waren müde und wollten gleich hier am Rande des Tales das Lager für die Nacht herrichten. Ia-du-lin aber stand der Sinn nach einem Platz in der Mitte des Tales, wo er nach allen Seiten gute Sicht und notfalls auch günstige Fluchtmöglichkeiten hatte. Er versuchte deshalb, sie umzustimmen.

Da plötzlich erhob sich ein gewaltiges Brausen und Rauschen in der Luft. Von hoch oben über den Gipfeln der Berge ergoß sich ein blendendes Licht in die Dämmerung des Tales. Feuer sank vom Himmel herab.

Die Soldaten erstarrten vor Schreck. Dann liefen sie schreiend, von panischem Schrecken gepackt, zurück in den Paß. Fauchend fuhr ihnen ein heißer Sturm in den Rücken. Ein gewaltiges Donnern machte sie fast taub. Zwei der Soldaten warfen sich keuchend und zitternd nieder. Die Beine versagten ihnen den Dienst. Doch bald trieb sie die Furcht wieder weiter.

Auch Ia-du-lin war wie gelähmt vor Angst. Ihn umbrauste eine Glutwelle. Sollte das I-na-nua sein, die ihm zürnte, weil er keine schönen Steine für ihre neuen Tempel mit heimbrachte?

Unfähig weiterzudenken, warf er sich zu Boden. Ia-du-lin spürte, wie die Erde bebte. Aus der Luft fiel ein Hagel von Steinen herab.

Dann war es überraschend still. Auch das Feuer erlosch.

Staub- und Rauchschwaden zogen heran. Ia-du-lin richtete sich auf. Ein beklemmender Druck legte sich auf seine Brust.

Furchtsam sah er den Staubwolken entgegen. Gleich wird aus diesem Vorhang I-na-nua hervortreten, dachte er noch. Dann spürte Ia-du-lin einen heftigen Schlag am Kopf. Mit einem Schmerzensschrei taumelte er seitwärts, griff sich an die Schläfe, machte ein paar torkelnde Schritte und brach bewußtlos zusammen.

Der Weiße Pfeil ruhte steil aufgerichtet auf seinem Heck. Die letzten Staubschwaden umwallten die Rakete. Sil tastete zum Pilotron. Ein Schalter knackte. Aus dem Rumpf schoben sich drei Stützen. Sie bohrten sich in den Wall des Kraters, den das Triebwerk aufgeworfen hatte.

Sil schnallte sich los und richtete sich auf. Es trieb ihn, die Kabine zu verlassen und den Weißen Pfeil von außen zu untersuchen. Draußen aber herrschte Dunkelheit. Er wagte nicht auszusteigen und bei Nacht diese fremde Welt zu betreten. Doch mit Beginn des neuen Tages würde er als erster Heloid den Boden dieses lebenverheißenden Planeten berühren. Allein der Gedanke daran ließ ihn sich dehnen und recken. Er versetzte ihn in eine freudige, erwartungsvolle Stimmung. Diese neue Welt mußte voller Überraschungen sein. Es war, als umwehe ihn schon hier in der Kabine der fremde, abenteuerliche Hauch dieses ihm unbekannten Planeten.

Die Neugier trieb Sil dazu, den Tuler, das Nachtbildgerät, einzuschalten und die Umgebung mit Wärmestrahlen abzutasten. Er erblickte das Wärmebild des Hochtales. Um den Weißen Pfeil herum registrierte das Gerät einen dichten Temperaturkranz. Das Triebwerk hatte bei der Landung das Gestein ringsherum stark aufgeheizt. Ein Stück entfernt verlief ein breiter, regelloser Streifen. Er verlor sich in der Ferne. Das konnte nur ein Gebirgszug sein. Je höher der unsichtbare Taststrahl des Tulers an den Hängen emporkletterte, um so mehr verblaßte das Temperaturbild. Jenseits davon vermutete Sil das dürre, braune Land, das er kurz vor der Landung gesehen hatte.

Der Raumfahrer richtete das Gerät zur anderen Seite. Dort mußte der zweite Gebirgszug sein, jenseits dessen die Küste und das Meer lagen.

Der Tuler erfaßte eine Wärmekerbe, einen Einschnitt in der gegenüberliegenden Bergkette. Vielleicht mündete da eine Querfalte des Gebirges, überlegte Sil. Die durch sie aus der warmen Küstenzone aufsteigende Luft ließ sie im Tuler sichtbar werden. Davor zeichneten sich zwei helle Wärmepunkte ab. Sil beobachtete sie lange. Der eine Punkt blieb regungslos, der zweite, etwas größere, bewegte sich träge hin und her.

Was mochte das sein?

Gedankenvoll zwängte sich Sil von der Kabine aus ins Innere der Rakete und arbeitete, um den Ruderschaden zu beseitigen.

Das Luftruder mußte von einem plötzlichen, ungewöhnlich starken, orkanartigen Windstrahl seitwärts gedrückt worden sein. Dabei hatte es sich verklemmt.

Zwischendurch kam er immer wieder in die Kabine zurück und sah mit dem Tuler zur Wärmekerbe hinüber. Bei den beiden infrahellen Punkten änderte sich nichts.

Noch etwas anderes beunruhigte ihn: Gohati meldete sich nicht mehr. Schon längst hätte wieder die Verbindung zur „Kua“ hergestellt sein müssen. Sil saß lange Zeit an den Geräten und lauschte in den Äther. Es blieb still.

Bekümmert kletterte er in den Rumpf zurück. Als dann der Schaden schließlich behoben war, hätte er einen Start wagen können. Doch Sil hielt es für zweckmäßig, den Weißen Pfeil bei Tageslicht auch noch von außen nach Schäden abzusuchen. Der Morgen konnte nicht mehr fern sein. Zudem wollte er erkunden, was es mit den beiden infrahellen Punkten auf sich hatte.

Jetzt, nach getaner Arbeit, fühlte Sil, wie abgespannt er war.

Der lange Flug durch die Atmosphäre, die Landung, sein Lauschen auf die Rufzeichen der „Kua“, die Beobachtungen mit dem Tuler und die Arbeit an der Steuerung hatten ihn müde gemacht. Sil wollte jedoch wach bleiben. Er mußte schnell wieder zu Kräften kommen. Langsam glitt er zur Rückwand der Kabine. Auf ein Codewort öffnete sich ein Fach. Sil ergriff einen kugelförmigen Behälter. Er enthielt eine konzentrierte flüssige Nahrung. Sil trank. Schon nach einigen Augenblicken fühlte er, wie ihn der Trank belebte.

Wenig später begann es zu dämmern. Schnell brach der Morgen an. Die Landschaft ringsum enthüllte sich ihm. Zuerst leuchteten die Bergspitzen im Sonnenlicht auf. Ihre wilde Schönheit, die in nichts den sanften, abgerundeten Hügelwellen Heloids glichen, begeisterten Sil abermals. Schnell breitete sich auch im Tal das Licht aus.

Die Farbe des Bodens ringsum war weithin überwiegend braun. Einige grüne Flächen mit ganz niedriger, dichter Bogenvegetation bildeten einen belebenden Gegensatz zu den grauroten Hängen der beiden Gebirge, in deren Schluchten sich trotz des hellen Tageslichtes noch tiefviolette Schatten hielten.

Weiter entfernt verloren die Gebirgskämme zu beiden Seiten des Tales ihren wildgezackten Charakter. Die Berge zeigten kaum noch eine Staffelung. Die Abhänge fielen überallhin gleichmäßig sanft ab und verbargen so die Mächtigkeit der zweitausend Meter hohen Bergrücken.

Sil suchte den Einschnitt, den er in der Nacht mit dem Tuler entdeckt hatte. Es war schwierig, die Kerbe der Querfalte des Gebirges bei Tageslicht zu finden. Endlich sah er jene zwei Punkte, die ihm in der Nacht aufgefallen waren. Hastig richtete er den Erider, das Tagbildgerät, auf die geheimnisvolle Erscheinung.

Die dunklen Punkte erschienen groß und deutlich auf der Bildfläche. Sil mußte sie lange betrachten, ehe er die ihm unbekannten Formen dieser beiden Erscheinungen erfaßte.

Das sind doch Lebewesen! Er erkannte es plötzlich.

Sil beobachtete gebannt das größere der beiden. Es hatte einen Rumpf, der sich langsam und gemächlich auf vier dünnen Gliedern hin und her bewegte. Dieser Rumpf verlängerte sich zu einem nach allen Seiten biegsamen Körperteil. Meistens beugte das Wesen die Rumpfverlängerung zu Boden, um dort einige grüne und gelbbraune Stiele mit ruckenden Bewegungen abzureißen. Den in einiger Entfernung stehenden Raumgleiter beachtete es nicht. Offenbar besaß dieses Lebewesen keine weitreichenden Sinnesorgane.

Gespannt konzentrierte Sil seine Beobachtungen auf das zweite Wesen. Es lag immer noch unbeweglich am Boden.

Hatte es keine Glieder? Da, unerwartet, richtete es sich auf, verharrte einige Augenblicke und bewegte sich dann, auf zwei Beinen, gefolgt von dem Vierbein, auf den Raumgleiter zu.

Im ersten Moment war Sil überrascht. Nachdenklich betrachtete er die herannahenden Wesen. Was würden sie tun?

Plötzlich beugte er sich gebannt vor. Er sah, daß die längliche Gestalt eine künstliche Hülle trug. Das Wesen ist verstandbegabt, erkannte er erstaunt!

Das Licht des Tages nahm schnell weiter zu. Es wurde so grell, daß ihm die Augen schmerzten. Oder strengte ihn die Beobachtung der beiden Wesen so stark an? Schnell regulierte er den Strahlenfilter in der Kopfglocke seines Skaphanders.

Das längliche Wesen hatte inzwischen ungefähr die Hälfte des Tales durchquert. Sil konnte seine Umrisse schon recht gut auch ohne den Erider erkennen. Es kam geradewegs auf den Landeplatz zu.

Sil beschloß, die Sinne des Geschöpfes zu erproben. Er schaltete den Scheinwerfer ein. An der Spitze des Weißen Pfeils brach, trotz des hellen Tageslichtes gut sichtbar, aus einer ovalen Verglasung ein starkes Bündel roten Lichtes hervor.

Das Wesen blieb stehen.

Sil drückte eine Taste. Die Stützen, auf denen die Rakete ruhte, schwenkten sie auf und nieder.

Das Lebewesen krümmte sich und fiel zu Boden.

Sil ließ die Rakete in die waagerechte Ruhelage schwenken.

Der Scheinwerfer erlosch. Das längliche Geschöpf aber verharrte in seiner gekrümmten Haltung.

Gespannt wartete Sil auf weitere Bewegungen.

Erst nach einer Weile erhob sich das Wesen wieder und kam langsam näher. Dann aber schwankte die Gestalt und stürzte.

Sil kam eine böse Ahnung. Sollte das verhüllte Geschöpf durch die radioaktiven Ausstrahlungen, die der Boden ringsum durch das Triebwerk angenommen hatte, Schaden erlitten haben? Seit der Landung war zwar schon viel Zeit vergangen, die gefährlichste Strahlung war abgeklungen. Nur die langen Halbwertzeiten wirkten noch, aber sie reichten aus, um ein Lebewesen ohne Schutzanzug in der Nähe der Rakete zu gefährden.

Schnell handelte Sil. Entschlossen drückte er eine Taste des Pilotrons. Surrend begannen Pumpen, die kostbare heloidische Atemluft aus der Kabine abzusaugen. Sil überprüfte schnell seinen Skaphander. Dann war er zum Ausstieg bereit. Einen Augenblick zögerte er noch. Wenn jetzt die Stickluft des Planeten in die Kabine einströmte, so drangen gleichzeitig auch möglicherweise vorhandene gefahrbringende Mikroorganismen ein. Das bedeutete, daß er den Skaphander erst wieder ablegen durfte, wenn er zur „Kua“ zurückkehrte. Doch schon schien ihm diese Unbequemlichkeit bedeutungslos gegenüber der Not und der Schutzlosigkeit des Wesens da draußen, das er vielleicht noch retten und vor großem Unheil bewahren konnte.

Sil nannte das Codewort zum Öffnen der Luke. Sofort sprang sie auf. Pfeifend und zischend strömte die sauerstoffarme Stickluft des blauen Planeten in die Kabine.

Schnell ergriff Sil eine Tube entaktivierender Paste und einen strahlendämpfenden Umhang. Dann sprang er hinaus.

Schwankend berührte er den Boden des fremden Planeten.

Federnd glich der glockenförmige, kegelähnliche Skaphander mit seiner dicken Antigravitationsplatte die geringere Anziehungskraft dieses Planeten aus. Ohne diesen ersehnten Augenblick zu beachten, eilte Sil in weiten, flachen Bogensprüngen zu dem regungslos daliegenden Geschöpf.

Wenige Schritte vor ihm blieb der Kosmonaut stehen und beobachtete es aufmerksam.

Der Körper endete in einem rundlichen Stumpf, der unverhüllt, aber dafür fast überall dicht mit langen, dünnen Fäden bedeckt war. Paarweise angeordnete Einbuchtungen und Hervorhebungen der Haut deuteten auf Sinnesorgane, also auf ein Nervenzentrum des Wesens hin.

Die Haut des Geschöpfes schien sehr dünn zu sein. Die Haut der Heloiden dagegen war dicker und weicher; denn auf Heloid war es kühler als hier auf diesem Planeten.

Die Haut des Lebewesens war nahe der Sinnesorgane aufgeplatzt. Ein dicker, dunkelroter, klebriger Streifen zog sich quer über den rundlichen Stumpf. Sil beugte sich herab. Risse in der Haut waren bei den Heloiden gefährliche Verletzungen.

Giftstoffe und Krankheitskeime konnten dort eindringen. Das war hier bestimmt kaum anders.

Offenbar hatte bereits die Tätigkeit der Sinnesorgane bei diesem Wesen ausgesetzt. Schnelle Hilfe schien geboten zu sein. Einen Augenblick war Sil unentschlossen, wußte er doch nicht, wie im einzelnen die Lebensprozesse in diesem Körper abliefen und wie seine innere Struktur war. Er entschloß sich, zunächst die Wunde zu säubern und zu verbinden, damit nicht weitere Giftstoffe eindringen konnten. Die Wiedererlangung des Bewußtseins und die Heilung mußte der Körper aus eigener Kraft bewirken, wozu er gewiß der Ruhe und des Schutzes vor den heißen Strahlen des gelben Sternes bedurfte.

Sil hob das Wesen vorsichtig an, um es in den Schatten eines nahen Felsblockes inmitten des Tales zu bringen.

Es war ein eigenartiges Gefühl, ein solch fremdes Lebewesen zu tragen, das offensichtlich schon mit Vernunft und Anlagen zur Intelligenz begabt, war.

Dennoch durfte er nicht außer acht lassen, daß dieses Geschöpf beim Erwachen erschrecken, in ihm etwas Bedrohliches sehen könnte und mit allen Mitteln um seine Freiheit, um sein Leben kämpfen würde. Sil trug nichts bei sich, um einer solchen Möglichkeit begegnen zu können. Er schalt sich unvorsichtig und sorglos.

Indessen war Sil am schattenspendenden Felsen angelangt.

Hohe trockene Stiele standen hier. Sie bildeten ein weiches Polster. Sil breitete den strahlendämpfenden Umhang aus, legte das Geschöpf darauf und hüllte es in den Umhang ein. Schnell eilte der Pilot zum Weißen Pfeil. In kurzer Zeit war er mit Verbandstoff zurück. Das Wesen war immer noch bewußtlos.

Mit sicheren Griffen reinigte Sil die Wunde am Sinneszentrum. Scharf achtete er darauf, ob vielleicht seine Medikamente eine schädigende oder aufreizende Wirkung auf die fremde Haut ausübten. Sil konnte aber keine Anzeichen dafür feststellen.

Schnell legte er den Verband an.

Ein Lebewesen braucht auch Nahrung, überlegte Sil. Er mußte so schnell wie möglich herausfinden, welche Substanzen in den Stoffwechselprozeß dieses Wesens mit einbezogen waren. An der Unfallstelle hätte er einen Beutel bemerkt, der vermutlich die Nahrung dieses Geschöpfes enthielt. Er eilte dorthin, ihn zu holen. In wenigen Augenblicken war er zurück.

Kaum hatte er den Beutel abgesetzt, als sich das Wesen regte.

Schnell wich er einige Sprünge beiseite und verhielt sich regungslos.

Ein bohrender Schmerz im Kopf ließ Ia-du-lin aufstöhnen.

Mühsam öffnete er seine Augen. Über ihm wölbte sich ein klarer, blauer Morgenhimmel. Ihn fröstelte. Woher kamen die Schmerzen am Kopf?

Und plötzlich erinnerte sich Ia-du-lin an das vom Himmel herabsinkende, brüllende und feuerspeiende Ungeheuer, an die Staubschwaden, an I-na-nua. Er sprang auf und taumelte auf die Göttin zu.

Weißstrahlende Reinheit war das erste, was Ia-du-lin empfand. So schlank und makellos konnte nur I-na-nua sein!

Plötzlich öffnete die ruhende Göttin ihr Auge. Der Tamkare warf sich in den Staub. Klopfenden Herzens sah er, wie sich die Göttin aufrichtete. Ihr überschlanker Körper reckte sich hoch empor. Beängstigend wurde ihm bewußt, daß sie so gar nicht den Menschen und auch nicht den Statuen in den Tempeln ähnelte. Ihr Kopf war schmal und spitz, und um ihren Hals unterhalb des Auges wand sich ein glitzerndes, breites Band. Ia-du-lin senkte den Kopf und betete.

Als er wieder aufblickte, lag I-na-nua ruhend am Boden, das Auge geschlossen. Ia-du-lin wagte sich weiter voran. Sein Kopf begann stärker zu schmerzen. Feurige Ringe tanzten vor seinen Augen. Plötzlich legte sich ein schwarzer Schleier vor seinen Blick. Die Welt um ihn herum versank.

Doch schon fühlte er, wie ihm wunderbar leicht zumute wurde. Er spürte keine Schmerzen mehr. Wie nach tiefem Schlaf schwebte er zur Oberfläche des Traummeeres empor.

Nur Durst quälte ihn. Ia-du-lin tastete nach seinem Wasserbeutel aus Ziegenfeil und begann zu trinken. Da fiel sein Blick auf die ruhende Göttin. Er erschrak, denn sie war sehr nahe. Wie war er hierher in den Schatten des großen Steines gekommen? Was war das für ein merkwürdiger gelber Mantel, der ihn einhüllte?

Da gewahrte er eine Gestalt. Sie stand regungslos. Ia-du-lins Herz begann heftig zu klopfen. Furcht stieg in ihm auf und schnürte ihm den Hals zu. Der Beutel entfiel seiner Hand.

Leise glucksend floß das Wasser aus. Dumpf ahnte er, daß diese Gestalt und nicht das weiße Ding eine Gottheit war.

Fremdartig mutete ihn diese hohe, wuchtige Figur an. Sie war in ein weites, faltenloses, steifes Gewand von violetter Farbe gehüllt, das bis zum Boden herunterreichte und auch den Kopf verhüllte. Sein Mantel war unten ringsherum von einem breiten Saum eingefaßt. Von der wie kopflos wirkenden Gestalt lief von oben bis unten ein handbreiter Streifen herab, deutlich an seinem Grätenmuster zu erkennen.

Langsam entfernte sich die Gestalt. Sie schien zu schweben.

Aus dem Mantel ragte ein langer Zipfel hoch über den Körper hinaus und schwang leicht hin und her.

Die Angst Ia-du-lins vor der fremden Gottheit wuchs.

Plötzlich sprang er auf und rannte davon. Als er einmal in vollem Lauf zurückblickte, sah er, wie der Fremde abermals zum Felsblock glitt. Ia-du-lin blieb stehen. Er beobachtete, wie die Gestalt sich bückte, seinen ausgelaufenen Ziegenschlauch aufnahm und etwas Wasser aus einem merkwürdigen kugelrunden Krug hineinschüttete.

Da streckte der Esel seinen Kopf hinter dem Felsblock hervor. Schnaubend ging das Tier auf den Gott zu und stieß mit dem Maul nach dem Ziegenschlauch. Der Esel schien keine Angst vor der unbekannten Erscheinung zu haben. Der Gott hob den Ziegenschlauch auf den Felsblock, so daß der Esel nicht heranreichen konnte, und breitete das gelbe Tuch darüber. Dann ging er zu seinem weißen Haus zurück, umschritt es, schabte daran und beklopfte es von allen Seiten.

Ia-du-lin faßte wieder Mut. Wenn der Esel keine Angst hatte, warum sollte er sich dann fürchten? Beherzt ging er zum Felsblock zurück. Neugierig befühlte er das gelbe Tuch. Es war so dünn wie der Flügel der Biene, leicht wie eine Vogelfeder, weich wie die frischgewaschene Wolle eines jungen Schafes und glatt wie das Wasser, wenn der Wind ruhte. Seine Farbe glich der des Sandes. Der feine Faden des Gewebes war kaum zu erkennen.

Was mochte der Gott in den Ziegenschlauch gefüllt haben?

Ia-du-lin ließ den Umhang zu Boden gleiten und öffnete den Beutel. Ein starker, angenehmer Duft schlug ihm entgegen. Er schüttete sich etwas auf die flache, zur Schale gekrümmte Hand. Eine gelbliche, durchsichtige Flüssigkeit netzte die Haut. Vorsichtig kostete Ia-du-lin. Sie schmeckte süß und würzig, so, als sei der Duft vieler, vieler Kräuter und Blumen in diesem Getränk vereint. Er setzte den Beutel an die Lippen und trank.

Sofort fühlte er sich erfrischt. Auch der Hunger, der in ihm nagte, schwand.

„Ner“, sagte da plötzlich eine hohe, singende Stimme langsam. Ia-du-lin sah auf. Der fremde Gott war herangekommen. Einige Schritte entfernt verhielt er. „Ner“, sagte er noch einmal.

„Ner“, sagte auch Ia-du-lin wie unter einem Zwang. Sollte der Gott seine Schmerzen gestillt, den Verband angelegt, ihn in den Schatten des Felsblockes gebracht und ihn behütet haben, bis er aus seiner Ohnmacht erwachte? Doch tat so etwas ein Gott? Wer war jene Gestalt? War der Fremde dort vielleicht I- na-nuas Sohn oder ein anderer Bewohner des Himmels? Ia-du- lin fühlte auf einmal grenzenloses Vertrauen zu dieser Erscheinung.

Erwartungsvoll, wenn auch mit klopfendem Herzen schritt Ia- du-lin auf den Sohn der I-na-nua zu. Er hielt ihm seinen geöffneten Ziegenschlauch hin. Und der Fremde aus den Wolken füllte ihm den Wasserbeutel mit Ner bis oben an.

Sorgfältig band Ia-du-lin zu.

Da gewahrte er erschrocken, daß der Esel den gelben Umhang, das Himmelstuch, im Maul hielt, seine Vorderhufe daraufstemmte und daran zerrte. Der Stoff mußte gleich zerreißen. Ia-du-lin stürzte hinzu und riß das Tuch an sich. Es hatte erstaunlicherweise den Zähnen und den Hufen des Esels standgehalten.

Hinter ihm erklangen helle, glückhafte und melodische Laute. I-na-nuas Sohn lachte. Verwundert lauschte Ia-du-lin. Gar zu gern hätte er jetzt das Gesicht der fremden Erscheinung gesehen. Die glatte, faltenlose Umhüllung jedoch verbarg Gestalt und Antlitz.

Sil war froh und glücklich. Das aufrecht gehende Wesen, das sein Wort Ner nachgesprochen hatte, schien Vertrauen zu ihm gefaßt zu haben. Zu gern hätte er jetzt Gohati, Tivia und den anderen von seiner Begegnung mit diesem Lebewesen berichtet. Jedoch wie sollte er Verbindung zur „Kua“ bekommen, hatte doch die Untersuchung des Weißen Pfeils ergeben, daß die Antennendorne beim Sturz in die Atmosphäre abgeschmolzen waren.

Da erinnerte sich Sil der beiden Meßsonden, die er abwerfen sollte. Eilig glitt er zur Rakete, holte sie aus der Kabine und stellte sie im Freien auf. Sie sollten dem Raumschiff mit ihren Signalen anzeigen, wo er sich befand. Die Sonden sahen wie kleine, graue Pyramiden aus. Ihre Spitze endete in einer kurzen Antenne. Mit Meßfühlern und durch kleine Öffnungen an den Seiten wurden die Umwelteinflüsse wie Temperatur, Sonneneinstrahlung, Feuchtigkeitsgehalt und anderes registriert und bis zum Abrufsignal der „Kua“ gespeichert.

Das längliche, aufrechte Lebewesen war näher zur Rakete gekommen und betrachtete neugierig die Meßsonden. Es trug den strahlendämpfenden Umhang zusammengelegt in der Hand. Sil nahm das Tuch langsam, entfaltete es und hängte es ihm um. Das Wesen ließ es geschehen.

Eine rasche Prüfung hatte ergeben, daß die Sende- und Empfangsanlagen des Weißen Pfeils unversehrt waren. Um Verbindung mit dem Raumschiff zu bekommen, spannte Sil neben der Rakete eine provisorische Antenne aus. Dann schaltete er das Funkgerät ein. Der Weiße Pfeil begann, sein Rufzeichen über die Behelfsantennen in den Äther auszustrahlen. In spätestens zwei Stunden müßte eine Funkverbindung zustande gekommen sein.

Sil entschloß sich, das Geschöpf in die Kabine zu holen. Er wollte die Zeit, die er wartend am Empfänger verbrachte, nutzen, um Sprachaufzeichnungen von dem Planetenbewohner zu machen und sie später zu enträtseln. Sil deutete mit einer Körperbewegung zur Rakete hinüber, berührte das Wesen vorsichtig und schob es mit sanftem Druck vor sich her.

Wieder empfand Ia-du-lin Furcht. Nur zögernd setzte er die Füße. Doch er vergaß vor Verwunderung seine Beklemmung, als I-na-nuas Sohn ihn in das weiße Haus schob. Hier erblickte er ein wundersames Zimmer. Ein größer Stuhl mit einem schrägen Tisch, auf nur einem Bein stehend, befanden sich darin. An der Wand hing ein lebendes Bild: der Esel.

Sil schaltete den Erider ab und verband sich über Kontakte am Raumanzug mit dem Sichtschirm. Er konzentrierte sich auf einzelne Gegenstände, die nacheinander auf dem Schirm als Biostrombild erschienen. Zunächst wurde ein kugelrunder Behälter sichtbar, aus dem Flüssigkeit rann. „Ner“, sagte Sil.

„Ner“, wiederholte auch der Planetenbewohner. Über den kugligen Krug legte sich ein Nebel.

Schleier, aus dem eine wuchtige Figur auftauchte. Es war ein Kosmonaut in einem Raumanzug. „Ein Himmelssohn!“ rief Ia- du-lin aus. Sil verstand den langen Laut nicht. Er war zu schwer nachsprechbar. Doch das Lichtband lief mit und zeichnete alle Laute auf, die das Lebewesen dieses Planeten aussprach. Sil konzentrierte sich auf eine neue Darstellung.

Jetzt stellte er sich den weißen Pfeil in Gedanken vor.

„Dein fliegendes Haus“, sagte Ia-du-lin.

Beim nächsten Bild mußte sich Sil besonders stark konzentrieren. Er vergegenwärtigte sich den Vierbeiner mit den langen Ohren. Es fiel ihm schwer, sich das fremdartige Wesen vorzustellen. Das Biostrombild war deshalb auch nicht ganz naturgetreu.

Ia-du-lin lachte. „Das ist ein Esel!“ rief er.

Sil stellte sich nun einen Gebirgszug vor.

„Berge“, sagte sein Gast. Plötzlich sah sich der Mensch selbst. „Ia-du-lin!“ rief er unwillkürlich aus. Sein Ebenbild verschwand, und dafür erschien eine ganze Gruppe. Sil hatte sich eine Anzahl dieser bekleideten Wesen vorgestellt.

„Menschen“, rief der Planetenbewohner.

Sil schaltete für einen Augenblick den Sichtschirm ab. Er machte eine Probe. „Ia-du-lin“, sagte er langsam und deutlich.

Verwundert sah Ia-du-lin auf. Warum rief ihn der Himmelssohn? Der zeigte auf sich und sagte „Sil“. Dann zeigte er auf ihn und wiederholte „Ia-du-lin“. Schließlich deutete er erneut auf sich und sagte abermals „Sil“. Ia-du-lin verstand.

Der Himmelssohn hieß Sil. Er war also ein Gott, den noch niemand kannte. Er war gewiß I-na-nuas Sohn.

Neue Bilder erschienen an der Wand: Ia-du-lin sah das Tal Hadscha El Hibla vor sich. Er und der Himmelssohn gingen zum einsamen Felsen. Dort wartete der Esel. Der Himmelssohn lud dem Tier einen der zwei dreieckigen, spitzen Steine auf.

Dann zogen sie fort. Der Esel trug den dreieckigen Stein und die Wasserflasche mit dem wundersamen Himmelsgetränk Ner. Ia-du-lin schritt nebenher, umflattert von dem schönen gelben Mantel, der nicht zerreißen konnte. Der Himmelssohn blieb allein zurück. Als sie sich schon weit entfernt hatten, kletterte der Himmelsbewohner in sein langes, weißes Haus. Es spie Feuer, stieg in den Himmel und entschwand seinen Blicken.

Ia-du-lin und der Esel zogen weiter. Da griff er sich an den Kopf. Die Wunde war aufgebrochen. Ia-du-lin nahm seinen Mantel, breitete ihn über den dreieckigen Stein, und schon kurze Zeit später erschien das feuerspeiende Haus am Himmel. Es senkte sich herab, und der Himmelssohn entstieg ihm. Er kam herbei und erneuerte den Verband.

Ein Nebel zog über dieses Bild. Als er sich lichtete, war Ia- du-lin in der Wüste. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Schatten fielen kurz. Er griff zum Ziegenschlauch, um zu trinken, aber der war leer. Da breitete Ia-du-lin den gelben Mantel über den dreieckigen Stein, und schon wenig später schwebte das weiße, fliegende Haus herab. Der Himmelssohn brachte ihm einen Krug mit Ner.

Ia-du-lin erwachte wie aus einem Traum. Verwirrt sah er sich um. Hatte er geschlafen? Er befand sich im fliegenden Haus des Himmelssohnes. Ia-du-lin sah durch das Fenster dieses Zimmers. Draußen war noch immer das Tal Hadscha El Hibla, in dem die Mittagshitze flimmerte und über dem sich der blaue Himmel wölbte. Der Esel ruhte friedlich im Schatten des Felsens. Schläfrig kaute er einige Hähnchen, und ab und zu schüttelte er die Ohren, um die lästigen Fliegen zu verjagen. Es hatte sich nichts verändert. Sogar die zwei dreieckigen Steine standen noch an ihrem Platz.

Ia-du-lin folgte mit den Augen den Umrissen des Fensters.

Erst jetzt bemerkte er dessen eigenartige Form. Es bildete merkwürdigerweise kein Viereck, wie er es von den Häusern im Zweistromland und aus der Stadt an der Küste her kannte, sondern es wölbte sich über ihm, das Dach und auch die Wände zu beiden Seiten teilend. Ia-du-lin wollte den Kopf herausstrecken, um zu sehen, wie weit man von hier oben das Tal überblicken konnte. Dabei stieß er an etwas Hartes. Die Wunde am Kopf brach auf. Feucht und warm sickerte Blut unter dem Verband hervor. Erschrocken sprang Sil herzu, drückte das Menschenwesen in den Pilotensitz und wechselte den Kopfverband.

Bald hatte sich Ia-du-lin soweit erholt, daß Sil die Biobildversuche fortsetzen konnte, um dem Menschen begreiflich zu machen, welchen Nutzen er habe, wenn er die Meßsonde überall mitführen würde. Den Heloiden sollte sie verraten, welchen Weg Ia-du-lin in der nächsten Zeit nahm, so daß sie diesen Menschen wieder aufsuchen konnten.

Zudem wurden bei den Biobildversuchen alle Laute und Ausrufe des Menschen, die er zu den Bildern machte, vom Myonenhirn gesammelt. Wenn genügend Worte beisammen waren, könnte man oben in der „Kua“ die Sprache des Menschen entziffern, ein spezielles, kleines Taschengerät konstruieren und es als elektronischen Dolmetscher zur Verständigung zwischen den Heloiden und den Bewohnern dieses Planeten einsetzen.

Sil konzentrierte sich erneut. Ein Schalter knackte. Auf dem Bildschirm des Eriders wallten abermals Nebel.

Neugierig sah Ia-du-lin hin. Wieder erblickte er sich und seinen Esel. Er ritt durch das Tal zum Paß. Erschrocken gewahrte er dort viele Menschen. Sie sahen alle so aus wie er.

Es waren alles Tamkare. Was wollten sie? Er gesellte sich zu ihnen. Plötzlich erhob sich das Haus des Himmelssohnes, einen großen Feuerschweif ausstoßend, in die Wolken. Doch der Schweif leckte durch das ganze Tal und traf ihn und die anderen Menschen. Sie kamen alle um.

Wieder wallten Nebel. Ia-du-lin fühlte, wie sein Herz klopfte. Erneut waren Bilder zu sehen. Alles wiederholte sich wie vorhin. Aber diesmal packte Ia-du-lin die Menschen am Ausgang des Passes und trieb sie hinweg. Alle liefen den Bergpfad hinab oder versteckten sich hinter großen Steinen.

Als dann der Feuervogel emporstieg und die Flammen seines Schweifes durch das Tal leckten, geschah niemandem etwas.

Ia-du-lin atmete auf, denn der Himmelssohn erhob sich und verließ sein Haus. Nun würden keine lebenden Bilder mehr an der Wand erscheinen und ihn ängstigen.

„Ia-du-lin!“ rief Sil von draußen. Gehorsam folgte der Mensch diesem Ruf und kletterte aus der Kabine. Mit einer Bewegung des Körpers deutete der Himmelsbewohner zum Ausgang des Passes hinüber. Ia-du-lin blickte in die gewiesene Richtung und erschrak. Dort hatten sich wirklich Menschen angesammelt, etwa dreißig bis vierzig. Sie wagten wohl nicht, näher zu kommen. Unter ihnen glaubte Ia-du-lin auch die Soldaten zu erkennen, die ihn gestern bis hierher begleitet hatten, dann aber geflohen waren, als das Feuer vom Himmel fiel.

Sil hörte plötzlich ein vertrautes Geräusch in der Luft. Ein gedämpfter Knall erschütterte wie ein Stoß die Luft, begleitet von einem fernen, leisen Rauschen. Es klang, als käme es aus großer Höhe. Weit bog Sil seinen Körper zurück und starrte in den blauen Himmel. Sollte er sich getäuscht haben? Er lauschte eine Weile und beobachtete dabei das Luftmeer über sich. Es war nichts mehr zu hören.

Doch dort, über dem Kamm des einen Gebirgsrückens, huschte sehr hoch oben ein ungewöhnlich langer Flugkörper fein wie ein Strich über den Himmel. Etwas später drangen abermals ein Knall, diesmal schon lauter, und das dumpfe Rauschen in das Tal.

Sil überlegte. Das konnte nur der Atomicer sein, die große Landungsrakete der „Kua“. Suchte man ihn? Hatte man seinen Weißen Pfeil gefunden? Wollte der Atomicer hier im Tal landen? Dann mußte schnell gehandelt werden. Die Menschen am Ausgang des Tales waren noch nicht gewarnt.

In großen Sprüngen glitt Sil zum einsamen Felsen. Er ergriff eine der beiden Meßsonden und lud sie dem Esel auf. Dann eilte er in Richtung des Passes davon. „Ia-du-lin!“ rief er. Der Mensch, der sich ängstlich in seiner Nähe hielt, folgte dem Ruf und rannte hinterdrein. Sein gelber Schutzumhang flatterte wie eine Fahne. Der Esel hob den Kopf, erregt mit den Ohren spielend. Dann setzte auch er sich in Trab.

Ia-du-lin wußte nicht, warum der Himmelssohn zum Paß eilte. Seine weiten Sprünge, die dem normalen Lauf eines Menschen gar nicht ähnelten, sahen aus wie torkelndes Gleiten oder wie taumelndes Schweben. So schnell Ia-du-lin auch lief, Sil blieb ihm voraus, ja, sein Vorsprung wurde immer größer.

Da hörte Ia-du-lin über sich gewaltiges Donnern und Grollen. Er hielt inne im Lauf und starrte entsetzt in den Himmel. Ein langhalsiger Riesenvogel flog am Gebirge entlang. Da begriff er: Ein zweites fliegendes Haus war eben über die Berge gekommen. Ia-du-lin erinnerte sich der lebenden Bilder. Als dort ein solcher Feuervogel erschien, war er zu den Menschen am Paß geeilt und hatte sie zurückgedrängt. Er verstand: Der Himmelssohn wollte, daß er die Menschen vor der Gefahr, vor dem Feuer, das aus den Wolken fallen würde, warne.

Ia-du-lin lief weiter, schneller als zuvor.

In der Nacht kamen Soldaten in die Stadt gehastet, ohne Waffen, zerschunden und todmüde. Sie berichteten schreckliche Dinge. Der Tamkare Ia-du-lin, der mit einer Botschaft A-rats auf dem Rückweg ins Zweistromland sei, habe im Tal Hadscha El Hibla die Götter beschworen. Da wäre Feuer vom Himmel gefallen, und im Feuer seien Götter herabgefahren. Die Steine hätten unter ihrem heißen Atem Leben erhalten, und dicker Rauch sei aus allen Höhlen und Felsspalten gequollen.

Schon bei den ersten Sonnenstrahlen war die ganze Stadt auf den Beinen. Gruppen von Menschen standen aufgeregt überall beisammen. Gerüchte kreisten. Die Berichte aus dem Munde der Soldaten schienen Wahrheit zu sein, denn am Abend hatten mehrere Kaufleute und auch Fischer auf dem Meer einen Feuerschein über den Bergen gesehen.

Wenig später brach ein Trupp beherzter Männer zum Hochtal auf, Soldaten, Schiffer und auch einige Sandbewohner, die über die beiden Gebirge in ihre Heimat, in das dürre Land jenseits der Gipfel, wandern wollten. Allen voran schritten Priester.

Als sie beim Hochtal eintrafen, stand die Sonne schon am Mittagshimmel. Im Tal lag ein langer weißer Stab, Mari konnte sehen, daß er Flügel hatte. Sollte das ein Gott sein? Seine seltsame Gestalt veranlaßte die Ängstlichen, sich hinter großen Steinen zu verstecken. Auch die Priester hielten sich zurück.

Nur die ganz Mutigen drangen bis zum Ausgang des Passes vor. Als nichts geschah, kamen auch die Priester näher.

Neugierig betrachteten sie das Ungeheuer im Tal. Niemand wußte die fremde Erscheinung zu deuten.

Drei dunkle Punkte bewegten sich in der Nähe der fremdartigen Erscheinung. Die Schiffer, die gute Augen hatten, sagten, es seien ein Esel, ein Mensch und ein Riese ohne Kopf. Darauf vermutete ein Soldat, daß der Riese das weiße Ungeheuer im Kampf getötet und dabei seinen Kopf verloren habe.

Wenn ein Esel und ein Mensch in der Nähe des toten Ungeheuers waren, konnte die Gefahr nicht mehr groß sein.

Aber wo waren die Götter? Die Soldaten wagten sich etwas weiter ins Tal hinein. Die Schiffer, die den Marsch durch die Berge nicht gewohnt waren und denen die Füße schmerzten, setzten sich im Schatten der Felsblöcke nieder. Die Priester aber sammelten sich abseits und berieten flüsternd, wie das, was sie sahen, zu deuten sei.

Plötzlich ließen laute Schreie der Soldaten die Männer aufspringen. Ein seltsamer Zug kam durch das Tal daher. Der kopflose Riese strebte in großen Sätzen auf sie zu. Ihm folgte zu Fuß in schnellem Lauf ein Mensch mit wehendem, gelbem Mantel. Als letzter galoppierte der Esel quer durch das Tal. Er trug auf seinem Rücken einen merkwürdigen dreieckigen spitzen Reiter. Dann grollte es furchtbar über dem Tal.

Als erste rannten die Priester in den Paß hinein. Wie es nun aber aus fast wolkenlosem Himmel gewaltig donnerte, liefen auch die anderen voller Entsetzen zurück, der Küste zu.

Die Stadt an der Küste schlief nicht in dieser Nacht. Alles wartete auf die Rückkehr der Männer, die am Morgen zum Tal Hadscha El Hibla ausgezogen waren. Als eiliger Fußtritt in der Dunkelheit aufklang, lief ein Murmeln durch die Reihen jener, die vor dem Ort in schweigender Erwartung geharrt hatten.

Sie gingen den heimkehrenden Kundschaftern entgegen.

Ungeduldig riefen die Männer ihnen ihre Fragen entgegen.

Kaum zu Atem gekommen, berichteten die Ankommenden lebhaft, was sie gesehen hatten. Ein langer Zug bewegte sich in die Stadt hinein. Die einzelnen Kundschafter waren dicht umringt.

Den größten Eindruck machte eine Schilderung, in der behauptet wurde, der Kopf des Riesen sei auf einem Esel durch das Tal geritten. Erst zum Morgengrauen zog Ruhe in die Straßen der Stadt und in die Hütten ein. Sie war aber nur von kurzer Dauer.

Nach Sonnenaufgang kam auch Ia-du-lin in die Stadt zurück.

Er war den fliehenden Menschen bis weit in den Paß hinein gefolgt, ohne sie jedoch einholen zu können. Bei einer Rast in der Nacht hatte er seine wundersamen Erlebnisse im Tal Hadscha El Hibla überdacht. Da war ihm ein Gedanke gekommen. Er beschloß, sich seine Erlebnisse zunutze zu machen.

Jetzt schritt er durch die Stadt und führte den Esel neben sich her. Ia-du-lin spürte, daß die Menschen in ihren Häusern nicht schliefen. Es wisperte hinter den Mauern der Hütten. Ihm war, als sähen Hunderte hinter ihm her.

„Der Kopf des Riesen reitet durch die Stadt“, flüsterten sich die noch schlaftrunkenen Menschen zu.

Auf dem Platz vor dem Palast hielt Ia-du-lin an. Bald lugten hier und da Köpfe hervor. Endlich zeigten sich am Rande des Platzes Gestalten. Ia-du-lin winkte und rief ihnen den Morgengruß zu. Argwöhnisch kamen einige Männer herbei.

Sie warfen furchtsame Seitenblicke auf die Last des Esels, die Ia-du-lin abschnallte, herunterhob und auf den Boden setzte.

Dann breitete er seinen gelben Mantel daneben aus und ließ sich darauf nieder.

Wenig später war der sumerische Bote aus E-rech von einer wogenden, neugierigen Menschenmenge umgeben. Man fragte ihn nach dein Riesen und nach dem weißen, feuerspeienden Ungeheuer. Ia-du-lin erzählte von den Wundern des Tales Hadscha El Hibla. Ehrfurchtsvoll hielt die Menge Abstand von dem Tamkare-Patesi. Seine laute Stimme hallte in der morgenfrischen Luft weit über den Platz.

Ia-du-lin berichtete von dem Himmelsbewohner Sil, dem Sohn I-na-Suas, der in einem fliegenden Haus bei den Göttern im Himmel wohne und auf einem feuerspeienden Vogel über die Wolken dahinfliege. Der Himmelssohn habe an den Wänden seines Zimmers lebende Bilder, mit denen er wie in einem Traum weit in das Leben eines Menschen vorausschauen könne. Der Sohn I-na-nuas habe ihm den Spitzen, dreieckigen Stein und den gelben Mantel geschenkt, der unzerreißbar sei.

Der Stein beschütze ihn und werde jeden mit Feuer vernichten, der seine Person bedrohe. Mit ihm könne er jederzeit den Himmelssohn herbeirufen. Sil habe ihm eine Botschaft I-na- nuas an Fürst A-rat aufgetragen.

Bald kamen Soldaten, die Ia-du-lin abermals in den Palast vor A-rat führten. Der Fürst, der von einer Priesterschar umgeben war, forderte den Tamkare auf, von seinen wundersamen Erlebnissen im Tal Hadscha El Hibla zu berichten.

„Oh, Fürst A-rat, Herrscher über diese Stadt am Meer! Sil, der Sohn I-na-nuas, der Göttin alles Lebenden, ist im Tal Hadscha El Hibla, feuerspeiend und mit gewaltiger Stimme grollend, aus den Wolken herabgefahren und hat sich mir zu erkennen gegeben. Er hat mir einen köstlichen Trank gespendet, mich in sein fliegendes Haus geführt und mir, dem Boten En-mer-kars aus E-rech, Geschenke überreicht.“

Ia-du-lin machte eine Atempause, um die Wirkung seiner folgenden Worte zu steigern: „Oh, A-rat, die Götter des Bat als wohnen nicht mehr in deinen Tempeln. Sie haben dich verlassen und zürnen dir, denn du schickst I-na-nua keine Lapislazuli und keine Karneole, um ihren Tempel in E-rech zu schmücken. Das Feuer, das vom Himmel fiel, wird deine Stadt verwüsten, wenn du dich auch weiter weigerst, unserer Göttin zu dienen.“

Von dieser Botschaft war A-rat tief betroffen. Nach allem, was ihm seine Späher bisher über die Ereignisse im Hochtal berichteten, hatten sich die Götter dort wirklich gezeigt.

Ratsuchend schweifte A-rats Blick durch den Saal. Längs der Wände waren die Figuren seiner sieben gewaltigsten Götter aufgestellt. Fragend ruhten A-rats Augen auf dem Abbild Ba- als, des Hauptgottes seines Volkes. Was war zu tun? Sollte er sich En-mer-kars Forderung unterwerfen und ihm die Schmucksteine ausliefern? Sein Blick senkte sich bei diesen Überlegungen und ruhte auf einer Schale zu Füßen des Gottes.

Sie war voller Weizenkörner, eine Opfergabe der Priester. Da kam A-rat ein Gedanke.

Der Fürst hob die Hand: „Höre, Bote! Sage deinem Herrn En- mer-kar, daß ich seinen Tempel für I-na-nua mit bunten Steinen, mit Lapislazuli und Karneolen, schmücken werde.

Aber er möge meinem Volk dafür Tragtiere mit Getreidelasten schicken. Soviel Tragtiere hier bei mir eintreffen, soviel Lasten voll Schmucksteinen werde ich ihm zurücksenden. Unsere Götter des Ba-als und auch eure Göttin I-na-nua werden gerecht sein. Sie wissen, daß wir als Handelsleute und Seefahrer reichlich Lapislazuli und Karneole besitzen. Sie wissen aber auch, daß ihr als Ackerbauern Korn in Überfluß habt. So möge denn jeder von dem geben, wovon er genug hat. Die Götter haben es gehört und werden mir nicht mehr zürnen.“

Damit war Ia-du-lin entlassen. Noch am selben Tage verließ er die Stadt und zog abermals durch den Paß, hinauf ins Tal der Götter.

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