ZWEITER TEIL Die Macht!

DER SCHEUCH ALS INGENIEUR

Nach dem dritten Abschied von Elli kehrte der Scheuch verstimmt in die Smaragdenstadt zurück. Der Titel eines Dreimalweisen, auf den er früher so stolz war, machte ihm keine Freude mehr, die Berichte über die guten Getreide und Obsternten ließen ihn gleichgültig und die von Lan Pirot, dem ehemaligen General der Holzarmee und heutigen Tanzlehrer, veranstalteten Vergnügungen erheiterten ihn nicht.

Beim Abschied von Elli hatte der Scheuch seine feste Überzeugung ausgesprochen, das Mädchen werde in das Zauberland zurückkehren. Jetzt fühlte er aber, daß es eine Trennung für ewig sei, und das bedrückte ihn sehr. Darüber hinaus hatte es der Eiserne Holzfäller jetzt sehr eilig mit seiner Heimkehr, denn er verspürte heftige Sehnsucht nach dem Violetten Land. „Bleib wenigstens noch einen Monat bei mir!" bat der Scheuch. „Laß uns über die Vergangenheit sprechen, uns daran erinnern, wie wir mit dem Menschenfresser gekämpft und den Löwen und Elli aus dem giftigen Mohnfeld hinausgetragen haben..." „Ich kann einfach nicht länger bleiben, glaub mir!" erwiderte der Eiserne Holzfäller, auf und ab gehend und mit Besorgnis horchend, ob das Herz in seiner Brust noch schlage. „Du weißt, daß das Leben im unterirdischen Land meine Gesundheit untergraben hat. Auch werden wir beide alt, lieber Freund, wir werden alt! Ich muß mich schon wieder an den Arzt wenden."

Die Behandlung des Holzfällers bestand darin, daß ein geschickter Handwerker den Flicken an dessen eiserner Brust lüpfte, das seidene Herz mit frischen Sägespänen nachfüllte und den Flicken wieder zulötete, worauf das Herz erneut kräftig zu schlagen begann. Dann wurden die Gelenke des Eisernen Mannes geölt und der ganze Körper aufpoliert.

Der Eiserne Holzfäller ging. Aber in der Smaragdenstadt verblieben die anderen Gäste des Scheuchs, nämlich der Tapfere Löwe und die Krähe Kaggi-Karr. Die drei Freunde sprachen stundenlang über ihre gemeinsamen Erlebnisse, erinnerten sich an die vergangenen Tage, verurteilten das Verhalten des tückischen Urfin Juice und freuten sich für die unterirdischen Könige, die der weise Scheuch in arbeitsfreudige Handwerker verwandelt hatte.

Dann zog auch der Löwe fort, weil er seine Löwin und die Löwenjungen nicht länger vermissen konnte. Jetzt war nur noch Kaggi-Karr da, und der arme Scheuch verging fast vor Langeweile. Er hätte sich gerne öfter mit Faramant, dem Hüter des Tores, und mit dem langbärtigen Soldaten Din Gior getroffen, aber die waren jetzt zur Ausübung ihrer Pflichten zurückgekehrt.

Faramant hatte erneut das Wachhäuschen am Stadttor bezogen und setzte einem jeden Ankömmling die grüne Brille auf, damit er über die Herrlichkeiten der Smaragdenstadt nicht erblinde.

„Ich führe den Befehl des Großen Goodwin aus", sagte der gute Mann zu den Leuten, „und werde ihn ausführen, so lange ich lebe. Dann wird mein Nachfolger dasselbe tun... "

Der ehemalige Feldmarschall Din Gior hatte erneut seinen Posten auf dem hohen Turm bezogen, blickte oft in den Handspiegel und kämmte mit einem goldenen Kamm seinen wallenden Bart. Wenn er dieser angenehmen Beschäftigung nachging, konnten die

Besucher stundenlang vergeblich pfeifen und schreien, er möge die Zugbrücke herablassen. Din Gior sah und hörte sie nicht.

Der Scheuch beschloß, etwas Großes zu unternehmen, um die zehrende Langeweile zu vertreiben. Zu diesem Zweck zog er sich in den Thronsaal zurück und begann zu überlegen. Er dachte so angestrengt nach, daß sein Kopf sich riesig aufblähte und die Nadeln und Stecknadeln hervortraten (Goodwin hatte sie den Sägespänen beigemischt, damit das Gehirn schärfer sei), was ihn einem gewaltigen Igel ähnlich machte. Im Kopf des Scheuches entstand ein wunderlicher Plan-nämlich die Smaragdenstadt in eine Insel zu verwandeln. Als er Din Gior und Faramant seine Absicht mitteilte, dachten diese, er sei verrückt.

„Mitnichten", entgegnete der Scheuch. „Ich weiß nicht, ob euch bekannt ist, daß man einen von Wasser umgebenen Teil des Festlandes Insel nennt. Das hat mir Elli gesagt, als sie mich Erdkunde lehrte. Unsere Stadt kann nicht zum Fluß gehen, damit dieser sie umgebe, weil Städte eben nicht gehen können. Dafür aber kann der Fluß zu uns kommen, denn sein Wasser fließt. Ich werde befehlen, einen Kanal um die Stadt zu graben, und der Fluß Affira, der uns mit Wasser versorgt, wird den Kanal füllen." Nach dieser langen Rede mußte der Scheuch innehalten, um Atem zu schöpfen. Die Zuhörer blickten ihn erstaunt an. Faramant fragte: „Wozu soll sich die Smaragdenstadt in eine Insel verwandeln?" „Das wird unsere Wehrfähigkeit für den Fall eines feindlichen Überfalls verstärken", klärte der Scheuch ihn auf. Din Gior, Faramant und Kaggi-Karr betrachteten voller Achtung den Strohmann. Sie fragten sich, woher er nur die langen und gelehrten Wörter nehme.

„Und wer wird den Kanal graben?" wollte Din Gior wissen. „Da muß wohl eine ungeheure Menge Erde ausgehoben werden, und diese Arbeit wird Jahre dauern." „Das ist ja gut", sagte der Scheuch erfreut. „Da werde ich zumindest eine Beschäftigung haben und mich nicht zu langweilen brauchen. Mit dem Graben werde ich die Holzköpfe beauftragen, die haben sowieso nichts zu tun."

Der Scheuch und seine Gehilfen machten einen Rundgang um die Stadt. Es wurden Pflöcke in den Boden geschlagen, die die Grenzen des künftigen Kanals markierten, und der große Bau begann. Der Kanal sollte 4 Meilen lang und 500 Fuß breit sein. Für einen Feind, dem es einfallen würde, die Smaragdenstadt anzugreifen, konnte es nicht leicht sein, ein solches Wasserhindernis zu nehmen,

Tag und Nacht arbeiteten die unermüdlichen Holzköpfe, Tag und Nacht fraßen sich die Spaten in den Grund ein und quietschten die Schubkarren, mit denen die Erde wegtransportiert wurde. (Man schüttete sie auf felsige Böden aus, damit diese sich in fruchtbare Felder verwandelten.)

Über die viele Arbeit vergaß der Scheuch seine Langeweile. Von früh bis spät, manchmal auch nachts, wenn der Mond schien, konnte man ihn auf dem Baugelände antreffen, wo er sich um alles kümmerte, Messungen vornahm und überall nach dem Rechten sah. Der Scheuch war der Oberingenieur des Vorhabens. Ihn begleiteten ständig hölzerne Boten, schnellfüßige Melder, die mit seinen Aufträgen hin und her flitzten und die Umgebung mit fröhlichem Lärm erfüllten.

Zu gleicher Zeit entstand an den Mauern der Stadt ein großer Park. Entlang der breiten Alleen wurden die schönsten Bäume verpflanzt, die man nur in den weiten Wäldern des Landes auftreiben konnte. Dank dem milden Klima konnten die Bäume zu jeder Jahreszeit umgepflanzt werden, und sie gediehen prächtig am neuen Ort. In den Lichtungen des Parks entstanden schmucke Pavillons und Lauben und an den Kreuzungen der Alleen Springbrunnen.

Am Parkbau nahmen alle Bürger teil, wußten sie doch, daß die Anlage eine herrliche Erholungsstätte sein werde, Es vergingen Monate und Jahre, und der Graben wurde immer breiter und tiefer. Dann kam die feierliche Stunde des Wassereinlasses. Der Zuleitungsgraben, der den Kanal mit dem Fluß Affira verband, war fertig, nur ein schmaler Sperrdamm hinderte das Wasser, sich in das vorbereitete Bett zu ergießen. Dem Scheuch wurde die Ehre des ersten Schlages zuteil. Er nahm die Axt in seine schwachen Hände und schlug sie gegen die Wand, worauf kräftige Holzköpfe herbeieilten und ihr den Rest gaben. Das Wasser der Affira strömte in den Graben. Die Menge, die sich am Ufer versammelt hatte, brach in Jubel aus. Die vornehmsten Bürger hoben den Scheuch empor und trugen ihn um die Stadt. Während dieser Ehrenrunde befahl der Herrscher, von Zeit zu Zeit zu halten, nahm den mit goldenen Glöckchen behangenen breitkrempigen Hut ab und sprach über die Wehrbedeutung des Kanals.

Die Bürger hörten die Reden des Scheuchs mit großer Aufmerksamkeit an und zollten ihm stürmischen Beifall. Sie waren schon früher stolz darauf gewesen, daß es außer ihrem Herrscher keinen anderen in der Welt gab, der mit Stroh ausgestopft ist und ein Gehirn aus Sägespänen, vermischt mit Nadeln und Stecknadeln, hat. Jetzt, da er obendrein ein solch ungewöhnliches Ingenieurtalent gezeigt hatte, steigerte sich ihre Achtung zu heller Begeisterung.

Im Park fand ein großes Volksfest statt, bei dem Berge von Torten und Kuchen verzehrt und 140 große Limonadenfässer ausgetrunken wurden.

Zum Fest hatten sich natürlich der Eiserne Holzfäller, Ingenieur Lestar, der Tapfere Löwe, der Herrscher des Blauen Landes Prem Kokus, der Herrscher der Erzgräber Ruschero und die Krähe Kaggi-Karr eingefunden. Man erwies ihnen alle Ehren, die ihrem hohen Stande geziemten. Zeremonienmeister waren der langbärtige Soldat Din Gior und der Hüter des Tores Faramant, der für alle Gäste grüne Brillen vorbereitet hatte.

Die ausführliche Beschreibung des Festes ist in die Chronik der Smaragdeninsel eingegangen, wie von jetzt an die Hauptstadt des Grünen Landes genannt wurde. Jedermann kann diese Beschreibung in der Stadtbibliothek lesen. Sie ist in Schrank Nr. 7, Regal 4 aufbewahrt und trägt die Nummer 1542.

Binnen wenigen Wochen hatte die Affira den Graben bis zum Rand gefüllt. Bald sah man auf dem Kanal die schmucken Boote der reichen Bürger gleiten, und es kam der Brauch auf, Ruder- und Segelwettbewerbe zu veranstalten. Auf Befehl des Scheuchs wurde auch eine Rettungsstation eingerichtet, denn die Kinder badeten im Kanal von früh bis spät, und da konnten natürlich Unfälle passieren.

Zur Verbindung mit dem Mutterland wurde gegenüber dem Stadttor eine Fährstation eingerichtet, die Tag und Nacht funktionierte. Als Fährleute dienten Holzköpfe. Wenn jemand auf die Insel gelangen oder sie verlassen wollte, winkte er den Fährleuten, und diese schleppten die Fähre an einem Seil heran, das über dem Wasser gespannt war. Für den Fall, daß Feinde auftauchten, hatten die Fährleute Order, die Fähre sofort an die Insel zu ziehen und Alarm zu schlagen.

DER ZAUBERFERNSEHER

Arbeit ist eine ganz famose Sache! Wer vernünftig und nutzbringend arbeitet, hat ein ausgefülltes und freudiges Leben, während Nichtstuer vor Langeweile vergehen und nicht wissen, wie sie die Zeit totschlagen sollen.

Von dieser unstrittigen Wahrheit überzeugte sich der Scheuch, als die großen Arbeiten am Kanal und im Park zu Ende waren, Jetzt wußte er wieder nicht, womit er seine langen Tage und nicht weniger langen Nächte ausfüllen solle. Allerdings war noch das Kopfrechnen da, aber damit konnte er sich doch nicht 24 Stunden täglich beschäftigen. In diesen für den Scheuch so schweren Tagen trat eine unerwartete Begebenheit ein, die viele Bürger in Schrecken versetzte: Südlich der Smaragdeninsel tauchte nämlich hoch in der Luft eine Schar Fliegender Affen auf.

Die Bürger hatten diese furchtbaren Tiere noch gut in Erinnerung. Mit ihnen hatte Goodwin, der Große und Schreckliche, gekämpft und eine Niederlage erlitten. Elli hatte sie in den Palast gerufen, als sie noch den goldenen Hut besaß, die ihr Macht über die Affen gab. Das Mädchen wünschte damals, daß die Affen sie in ihre Heimat, nach Kansas, flögen. Die Fliegenden Affen konnten aber das Wunderland nicht verlassen, denn das stand nicht in ihrer Macht.

Die Ungeheuer waren friedlich gestimmt. Sie gingen auf den Platz vor dem Palast nieder, und ihr Anführer, der ein Paket trug, bat um eine Unterredung mit dem Herrscher. Ein Höfling eilte mit der Meldung zum Scheuch, und dieser befahl, die Besucher sofort vorzulassen.

Der Anführer der Fliegenden Affen und der Strohmann waren alte Bekannte. Der Anführer hatte einst auf Bastindas Befehl den Scheuch zerfetzt, sein Stroh in den Wind gestreut und Kopf und Kleid auf den Gipfel eines hohen Berges geschleudert. Wozu aber alte Erinnerungen auffrischen? Jetzt hatten die beiden keinen Grund zur Fehde, um so mehr, als der Affenhäuptling mit einem angenehmen Auftrag gekommen war. Nach liebenswürdigen Verbeugungen beiderseits sagte der Anführer der Affen: „Eure Majestät, Dreimalweiser Herrscher der Smaragdeninsel! Ich habe die hohe Ehre, Euch ein Geschenk von unserer gemeinsamen Bekannten zu überbringen, der mächtigen Fee Stella, der Herrscherin des Rosa Landes. Sie hat von Eurer schlechten Stimmung erfahren und übersendet Euch dieses Ding zur Zerstreuung." Bei diesen Worten packte der Affe vorsichtig das Paket aus, und zum Vorschein kam ein schöner Kasten aus rosa Holz, dessen Vorderwand aus dickem Mattglas bestand. „Woher weiß denn Frau Stella von meiner üblen Laune?" fragte der Scheuch verwundert.

„Das hat ihr dieser Kasten verraten", antwortete der Affenhäuptling, neigte sich zum Scheuch hinab und flüsterte ihm ins Ohr, damit die Höflinge es nicht hörten: „Ihr braucht nur die Zauberworte zu sagen: ,Birelija-turelija, buridakl-furidakl, es röte sich der Himmel, es grüne das Gras-Kasten, Kästchen, zeig mir bitte dies und das... Dann wird der Kasten Euch zeigen, was Ihr zu sehen wünscht. Falls Ihr aber die Worte nicht in der richtigen Reihenfolge sprecht oder auch nur einen Buchstaben verwechselt, bleibt die Beschwörung wirkungslos. Habt Ihr Euch satt gesehen, so saget: Kästchen, mach Schluß, es war mir ein Genuß!"

Der Affenhäuptling ließ den Scheuch die Beschwörung so lange wiederholen, bis er sie auswendig kannte.

Dann sprach der Scheuch die Zauberworte und bat: „Kasten, Kästchen, sei so lieb, zeige mir die Fee Elli!" Die Mattscheibe blieb jedoch finster.

„Das geht nicht", lachte der Anführer. „Auch ich würde gern die Fee Elli sehen, aber der Zauber wirkt nur in den Grenzen unseres Landes."

Da bat der Scheuch den Kasten, ihm den Eisernen Holzfäller zu zeigen. Und siehe, der Bildschirm begann zu leuchten und zeigte den Holzfäller! Der gute Mann befand sich wieder einmal in Behandlung. Er stand mit erhobenen Armen da, während ein Meister den Flicken an seiner Brust zulötete. Als es soweit war, machte der Holzfäller ein paar Schritte im Zimmer, Die Figuren waren zwar klein, aber sehr deutlich. Mehr noch: aus dem Kasten drang sogar die Stimme des Holzfällers, die zwar leise, aber gut zu verstehen war. Er sagte:

„Ich danke Euch, Freund Lestar, mein Herz schlägt wieder in der Brust, und wieder erfüllen es Liebe und Zärtlichkeit." Der Scheuch hüpfte vor Begeisterung.

„Das ist ja ein famoses Mittel gegen die Langeweile!" rief er und wünschte sogleich, den Löwen zu sehen.

Sein Wunsch ging prompt in Erfüllung. Der Löwe lag, wahrscheinlich nach einem ausgiebigen Frühstück, in einer geräumigen Höhle, neben ihm die Löwin und die Löwenjungen.

„O Wunder, o Wunder!" rief der entzückte Scheuch und befahl, man solle die Abgesandten Stellas mit den schönsten Früchten seines Gartens bewirten. Dann bat er den Anführer des Rudels, er möge Frau Stella seinen allerherzlichsten Dank ausrichten. Beim Abschied sagte der Anführer leise zum Scheuch: ,,Frau Stella hat mir aufgetragen, Euch vor Urfin Juice zu warnen. Ihr sollt aufpassen, was er treibt." Zu jener Zeit lebte Urfin noch griesgrämig in der Verbannung, aber Stella, die die Gabe der Voraussicht besaß, wußte, daß man von ihm die schlimmsten Überraschungen zu gewärtigen habe.

Der Scheuch war über die Warnung der guten Fee beunruhigt. Kaum hatten die Affen die Smaragdeninsel verlassen, sprach er die Beschwörung und bat: „Kasten, Kästchen, bitte zeig mir Urfin Juice!"

Da zeigten sich auch schon auf der Mattscheibe das ferne westliche Land, das trostlose Haus Urfins und dieser selbst, wie er verdrossen in seinem Garten grub, Vor dem Haus saß Meister Petz und zankte sich mit dem Holzclown, An diesem Bild gab es jedoch nichts Verdächtiges, und der Scheuch schaltete um.

Tagelang saß er nun vor dem Zauberkasten. Stellas Warnung beherzigend, beobachtete er von Zeit zu Zeit, was Urfin trieb, Es gab jedoch keinen Grund zur Beunruhigung. Einmal sah er Urfin im Garten graben, ein andermal ein gebratenes Kaninchen essen oder spazierengehen.

Ich kann nicht begreifen, welche Gefahr mir von diesem Ausgestoßenen drohen soll, brummte der Scheuch, Mehrere Monate lang war er von seinem Zauberkasten wie berauscht, doch dann verlor er die Lust daran und schaltete ihn immer seltener ein. Er war von dem Kasten enttäuscht, und in diesem Gefühl bestärkte ihn noch die Krähe Kaggi-Karr:

„Ist dir das Ding noch nicht zuwider?" fragte sie, „Schön, du hast den Eisernen Holzfäller gesehen und den Löwen! Und was weiter? Kannst du sie vielleicht umarmen? Kannst du mit ihnen sprechen? Na, siehst du! Da ist es doch besser, wir statten dem Violetten Palast mal wieder einen Besuch ab." Zweimal im Jahr pflegten der Scheuch und der Holzfäller einander zu besuchen und längere Zeit beisammen zu sein. Dann und wann kam auch der Tapfere Löwe, obwohl seine Reisefreudigkeit mit der Zeit merklich abgenommen hatte.

Bei den Zusammenkünften führten die Freunde endlose Gespräche darüber, was besser sei: ein Gehirn, ein Herz oder Mut, und gedachten der glücklichen Zeit, da ihre geliebte Elli im Zauberland weilte und man gemeinsam viele spannende Abenteuer erlebte. Bei diesen Begegnungen vergaß der Scheuch völlig, den tückischen Urfin zu beobachten. Das hätte er aber tun sollen! Denn nach sieben Jahren erzwungener Untätigkeit machte sich jetzt Urfin daran, seine neuen ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen.

DAS GLÜCK LIEGT HINTER DEN BERGEN!

Es waren etliche Monate vergangen, nachdem Urfin Juice im Lande der Marranen als Feuergott erschienen war.

Im Volk wuchs die Unzufriedenheit mit jedem Tag. Die Bürger dachten mit Sehnsucht an die schöne Zeit zurück, da sie das Feuer noch nicht kannten, aber auch nicht so schwer für die Adligen zu arbeiten brauchten. Zu murren wagten die Marranen jedoch selbst im engsten Familienkreis nicht. Es kam jetzt oft vor, daß eine Schmähung wider den Feuergott, die außer der Frau und den Kindern eines Bürgers niemand gehört hatte, der Obrigkeit bekannt wurde, die den Schuldigen grausam bestrafte. Wenn der Ärmste dann im funkelnagelneuen Gefängnis saß und sich die zerschlagenen Rippen rieb, mußte er sich fragen:

,Wer mag wohl meine dreisten Worte gehört haben? Hat vielleicht die Ratte, die in den Abfällen vor meiner Hütte wühlte, sie dem Großen Urfin hinterbracht?' Die vermeintliche Ratte war in Wirklichkeit der Spion Eot Ling, der im Kaninchenfellkleid überall herumschnüffelte.

Urfin fühlte, daß die Empörung des Volkes sich bald in einem Aufruhr entladen würde, den die drei Dutzend Polizisten, die Fürst Torm aus den Reihen verläßlicher Untertanen rekrutiert hatte, nicht würden unterdrücken können,

„Es ist höchste Zeit, die erbitterten Marranen über die blühenden Stätten der Zwinkerer und Käuer herfallen zu lassen!" entschied Urfin. „Durch Hunger und Wut aufgestachelt, werden sie sich wie eine Lawine über das Zauberland wälzen und alles zerstören!" Eot Ling billigte den Beschluß seines Herrn.

„Wenn wir länger zaudern, kann ein Aufstand ausbrechen", sagte der Clown. „Ich habe schon in vielen Hütten Knüppel unter dem Stroh versteckt gesehen." „Diese Knüppel sollen jetzt auf die Köpfe der Untertanen des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers niederprasseln", sagte Urfin grimmig.

Am folgenden Tag versammelten sich auf Befehl des Feuergottes alle Einwohner des Marranenlandes auf einer großen Wiese am See. In den ersten Reihen standen die kräftigen Männer, hinter ihnen drängten sich Greise, Frauen und Kinder. Urfin bestieg einen großen Stein, den der Bär herbeigewälzt hatte. Im roten Mantel, den roten Federhut auf dem Kopf, sah er im funkelnden Sonnenlicht wie ein echter Feuergott aus. Urfin erhob die Hand und alles verstummte.

„Meine geliebten Marranen!" begann er. „Ich weiß, daß viele von euch schlecht leben und mir die Schuld dafür geben,.." Die Männer senkten die Köpfe, während Urfin fortfuhr: „Eure Herzen liegen offen vor mir, ich sehe genau, was in ihnen vorgeht. Sag, Bois, und du, Hart, und du, Klem, gegen wen wollt ihr die Knüppel erheben, die ihr in euren Hütten versteckt habt?"

Auf den Stirnen der Männer, die Juice genannt hatte, röteten sich die senkrechten Furchen, die Male ihrer ehemaligen Unfreiheit. Die Polizisten wollten sich auf sie

stürzen, um sie ins Gefängnis zu schleppen, aber eine gebieterische Handbewegung Urfins hielt sie zurück.

„Halt!" rief er. „Ich verzeihe ihnen, weil sie aus Unvernunft handelten. Marranen, meine geliebten Kinder! Ja, ihr habt es schwer. Aber wer ist daran schuld? Vielleicht euer guter Fürst Torm und seine edlen Räte? O nein! Sie möchten euch alle Wohltaten des Lebens geben, aber sie können es nicht, und schuld daran ist das Schicksal! Ja, das Schicksal!" wiederholte Urfin mit markiger Stimme. „Seht euch doch um!" Mit einer weit ausholenden Armbewegung wies er ringsum, und die Marranen schauten auf ihre Ebene, als sähen sie sie zum erstenmal.

„Diese enge und kümmerliche Landschaft hat viele Steine und sehr wenig fruchtbare Erde! Hier gibt es nicht einmal die herrlichen Obstbäume, die im übrigen Teil des Landes in Überfluß vorhanden sind. Hier gibt es keine Wiesen, auf denen man fette Schafe und Milchkühe züchten könnte. Und jetzt schaut einmal nach dem Norden und dem Westen!"

Die Blicke der Zuhörer folgten den' Bewegungen seiner Hand.

„Würden euch die Berge nicht die Sicht nehmen, ihr würdet dort fruchtbare Ebenen mit Obsthainen und blühenden Feldern und vielen warmen und behaglichen Häusern sehen. Dorthin will ich euch führen, meine Kinder, dort werdet ihr alle Lebensgüter in Überfluß vorfinden! Euer Glück liegt hinter den Bergen!"

Ein Jubel brach unter den Zuhörern aus.

„Führe uns, Vater!" riefen die erregten Marranen, und am lautesten schrien diejenigen, die mit dem Mal der Unfreiheit gezeichnet waren. „Führe uns, großer Gott!" Urfin stellte mit einer Handbewegung die Ruhe wieder her. „Dort leben schwache, verzärtelte Wesen, die von Schlagen und Raufen nichts verstehen... "

„Wir werden's ihnen schon beibringen!" brüllte der bärenstarke Bois, der in seiner Hütte einen Knüppel versteckt hatte. „Wir werden es diesen Waschlappen zeigen, ha-ha-ha!" Ein Chor kriegerischer Stimmen unterstützte ihn.

So lenkte Urfin den Zorn des Volkes gegen die völlig unschuldigen Zwinkerer und Käuer.

Nach der Versammlung begann Urfin, Befehle zu erteilen. Er ernannte Boris, Klem, Hart und andere Raufbolde, alles kräftige Kerle und Draufgänger, zu Führern der Hundertschaften, die er aufstellen wollte.

„Nehmt in eure Hundertschaften nur junge kräftige Burschen auf. Altes Gerümpel brauchen wir nicht, mag es zu Hause bleiben und sich auf den Empfang der Kriegsbeute vorbereiten."

An jenem Morgen hatte sich Karfax auf die Jagd in die Berge begeben. Zurückgekehrt gewahrte er mit Staunen die ungewöhnliche Geschäftigkeit. Auf den Straßen marschierten Trupps. Auf festgestampften Plätzen exerzierten Marranen mit Knüppeln. Überall waren kriegerische Stimmen zu hören. „Was ist los?" fragte der verwunderte Adler.

„Die Marranen wollen gegen die Zwinkerer und Käuer in den Krieg ziehen, und ich kann sie, auf Ehr und Gewissen, nicht davon abhalten", erwiderte Urfin unverfroren. „Die Ärmsten leben ja so schlecht in ihrem Jammertal!" „O du Nichtswürdiger!" rief Karfax . „Du hast sie dazu aufgestachelt, weil du die Früchte eines Eroberungskrieges einheimsen willst!"

Mit weit aufgesperrtem Schnabel bewegte sich der riesige Vogel auf Urfin zu. Dieser

aber entblößte seine Brust und sagte:

„Da, töte mich, wenn du kannst!" Karfax wich zurück.

„Schurke!" rief er. „Du weißt, daß ich meinem Retter kein Leid zufügen kann. Das hast du schon immer gewußt, Elender! Hast hinter meinem Rücken Ränke geschmiedet, und ich habe dir dabei sogar geholfen. O ich Unglücklicher! Ich war ein nichtswürdiges Werkzeug in den Händen eines Schurken! Aber ich will meine Sünde durch den Tod büßen. Nur merke dir, Urfin! Du wirst kein gutes Ende nehmen, das sage ich dir in der Stunde der Voraussicht, die uns Riesenadler manchmal erleuchtet!" Nach dieser Prophezeiung schwang sich Karfax in die Lüfte und flog in Richtung des Adlertals seinem Schicksal entgegen. Er wußte, daß Arraches, sein ärgster Feind, ihn töten würde. Aber er wollte nicht länger bei Urfin bleiben, damit niemand denke, daß er die tückischen Pläne des Bösewichts gutheiße.

AUF DEM MARSCH

Urfins Armee bestand aus 20 Kompanien, jede 100 Mann stark. Juice dachte, daß 2000 Soldaten für die Eroberung des Violetten und des Blauen Landes sowie der Smaragdeninsel ausreichen würden. Um die Mittagszeit setzte sich die Armee in Marsch. Bis zu den Bergen gab ihr die Bevölkerung des Tals das Geleit. Jeder Soldat trug eine Schleuder mit Steinen als Munition, einen dicken Knüppel und einen Ranzen mit Proviant.

Als die Marranen vom Berg hinabstiegen, kostete es die Obersten große Mühe, die Marschordnung aufrechtzuerhalten. Immer wieder gerieten die Kolonnen in Unordnung, weil bald ein Soldat, bald ein anderer aus der Reihe lief, um nach einem Schmetterling oder einem Vogel zu haschen oder ein Blümchen zu bestaunen, -das alles gab es nämlich in ihrer Heimat nicht.

Urfin saß rittlings auf seinem Bär und dachte mit Kummer an seine ehemaligen disziplinierten Holzköpfe. Es sollte aber noch schlimmer kommen. Als es dunkelte, entstand ein wirres Durcheinander, weil sich die Soldaten des Schlafs nicht erwehren konnten. Urfin konnte gerade noch Posten aufstellen, da versank die ganze Armee in tiefen Schlaf. Nach einer halben Stunde ging er die Posten inspizieren und fand sie alle schlafend, obwohl sie strengen Befehl hatten, das Lager zu bewachen. Manche lagen zusammengerollt auf der Erde, andere schnarchten sitzend, andere wieder waren stehend eingeschlafen und hielten sich an den Bäumen fest. Zornig befahl Urfin dem Bären, sie auf den Kopf zu stellen und an die Bäume anzulehnen. Keiner der Schlafenden wachte darüber auf.

Bei einem nächtlichen Überfall hätte ein Feind alle diese „Helden" wie Küken abschlachten können. In der Nähe gab es aber keinen Feind, und Urfin beschloß, es mit den Dienstvorschriften nicht so genau zu nehmen. Er ging in sein Zelt und legte sich schlafen. Über seine Ruhe wachte der nimmermüde Bär.

Ein kühler Morgenwind weckte die Marranen. Fröstelnd liefen sie zum nahen Bach, um sich zu waschen. Nach einem kargen Frühstück setzte sich die Armee wieder in Marsch. Einige Stunden später stand sie vor dem großen Fluß, an dem einst das Hochwasser Elli und ihre Freunde überrascht hatte. Das Wasser hatte damals den Scheuch fortgerissen, und der Löwe und das Mädchen waren beinahe in den Wellen ertrunken. Ängstlich blickten die Marranen jetzt auf den Fluß. In ihrem Tal hatten sie niemals so viel fließendes Wasser gesehen. Die Bäche, die dort den Hängen entsprangen, strömten schnell dem Mittelsee zu und bildeten keine Flüsse.

Der Fluß hielt die Armee lange Zeit auf, denn die Marranen konnten nicht schwimmen. Es mußten Flöße gezimmert werden, mit denen der Feldherr selbst die Soldaten über das Wasser setzte. Schließlich war dieses Hindernis überwunden, und die ungeordneten Kolonnen marschierten weiter. Die Soldaten waren hungrig, denn schon am zweiten Tag des Feldzuges hatten sie den ganzen Proviant verzehrt. Der Weg führte durch einen Obsthain, in dem ein schrecklicher Tumult entstand. Hungrig stürzten sich die Soldaten auf die Bäume, schlugen die Früchte ab, die reifen wie die grünen, und begannen sie wahllos in sich hineinzustopfen. Vergeblich hielt Urfin sie zur Mäßigung an - niemand hörte auf ihn. Am Abend bekam die ganze Armee Bauchschmerzen. Davon blieben weder der Oberste Feldgeistliche Krag noch die Kompanieführer verschont.

Drei Tage wälzte sich die Armee in Krämpfen, und wenn niemand starb, so war das nur den starken Magen der Marranen zu verdanken. Als sie sich zu erholen begannen, schärfte ihnen Urfin stundenlang ein, daß sie strengste Disziplin wahren und seinen Befehlen blindlings zu gehorchen hätten.

Aber wer hätte diese unwissenden Menschen, die zwar schnell begriffen, was man von ihnen wollte, aber ebenso schnell wieder alles vergaßen, in so kurzer Zeit umerziehen können?

Am zehnten Tag tauchte abseits von der Straße ein Dorf der Zwinkerer auf. Es kostete Urfin große Mühe, seine Krieger davon abzuhalten, das kleine Dorf mit der ganzen Armee anzugreifen. Als sie schließlich begriffen hatten, erteilte der Feldherr der Kompanie Bois' Befehl, das Dorf zu nehmen.

Selbstverständlich kam es nicht zu einer Schlacht. Kaum sahen die Zwinkerer die Rotte brüllender, großköpfiger Menschen auf ihr kleines Dorf zurennen, ergaben sie sich und wurden augenblicklich aus ihren Häusern gejagt. Es begann ein wüstes Plündern. Das Dorf zählte 23 Häuser, und in jedem rauften und balgten sich die Eroberer untereinander.

„Das gehört mir!" schrie ein wütender Marrane, dem ein anderer irgendeinen Gegenstand zu entreißen suchte - einen Stuhl, ein Handtuch oder ein Kissen - ,und dabei bearbeiteten sie sich gegenseitig mit ihren Fäusten, daß es krachte. Bald da, bald dort flog durch ein Fenster oder eine offene Tür ein Kämpfer auf die Straße, während die anderen zum Entsetzen der umstehenden Zwinkerer wild aufeinander eindroschen. Das dauerte so lange, bis im Zimmer nur ein Mann übrigblieb, der im Raufen die anderen übertraf. Triumphierend sah er sich um und brüllte:

„Das ist jetzt mein Haus. Noch heute will ich meine Familie holen!"

Als Bois' Kompanie zur Truppe zurückkehrte, fehlten der Kommandeur und zweiundzwanzig Mann.

„Wo sind die übrigen?" fragte Urfin. „Sind sie im Kampf gefallen?" „Nein, Herr", erwiderte ein Soldat, „sie sind im Dorf geblieben." „Was heißt das?" Urfin zog seine schwarzen Brauen zusammen.

„Du hast doch gesagt, wir werden in warmen, bequemen Häusern wohnen, wenn wir sie erobern", sagte der Soldat. „Jetzt haben sie sie erobert und wollen in ihnen wohnen." „Das hat gerade noch gefehlt!" entschlüpfte es Urfin. „Wenn ich nicht eingreife, verstreut sich meine Armee über die eroberten Dörfer, und dann kommen wohl nur ich und der Bär bis zum Violetten Palast. Nein, so geht es nicht!" Urfin kehrte in das Dorf zurück, um Bois mit seinen Soldaten zurückzuholen.

Eine geschlagene Stunde redete der Feldherr auf die Dickschädel ein. Er malte ihnen aus, welch herrliche Schätze ihrer harrten und wie verlockend die Smaragdenstadt sei. Aber das konnten die Marranen mit ihren unentwickelten Hirnen nicht begreifen. Wie sollten sie auch, wenn vor ihnen die Häuser der Zwinkerer so schön und einladend standen!

Nur mit Mühe gelang es Urfin, die Soldaten doch zu überreden. Als sie fort waren, gingen die Zwinkerer daran, ihre verwüsteten Behausungen wieder herzurichten. Aber wie sah die Kompanie Bois' nach diesem ersten „Gefecht" aus! Der eine hatte sich einen Kochtopf auf den Kopf gestülpt, ein anderer hielt viele Messer und Gabeln in den Händen, ein dritter hatte sich einen gewaltigen Waschtrog auf den Rücken geschnallt, und zwei Riesenkerle schleppten ein Bettgestell mit Federbett, Kissen und Decke mit sich.

Über dieses komische Bild mußte selbst der mürrische Urfin lachen. Übrigens wurden die Soldaten ihrer Beute bald überdrüssig. Zuerst warfen sie das Bett fort, diesem folgte der Trog und dann alles andere. Sie taten wie Kinder, die ihre Spielsachen schnell satt haben und liegenlassen.

DIE GEFANGENNAHME DES EISERNEN HOLZFÄLLERS

Urfins Armee bewegte sich schnell vorwärts. Die Zwinkerer, friedliche Handwerker und Bauern, konnten der Rotte kraftstrotzender Burschen keinen Widerstand leisten. Die Marranen hatten Urfins Lehren beherzigt. Jetzt blieben sie nicht mehr in den eroberten Häusern, rührten auch Geschirr und Möbel nicht an und nahmen nur Kleidung und Decken mit. Allerdings raubten sie alles Eßbare: Milch und Butter, Käse und Mehl, Hühner und Gänse und schlachteten Kühe und Schafe. Nach ihrem Abzug sahen die Dörfer wie Felder nach einer Heuschreckenplage aus. Kein Zwinkerer konnte den Eisernen Holzfäller vor der nahenden Gefahr warnen, denn Urfin handelte nach allen Regeln der Kriegskunst. Er schickte der Truppe eine Schar Späher voran, die alle Einwohner, die nach Nordost zu entweichen suchten, abfingen. Deshalb traf der Herrscher des Violetten Landes keine Vorsichtsmaßnahmen.

Als die Armee sich dem Schloß des Eisernen Holzfällers auf einige Meilen genähert hatte, befahl Urfin zu halten, während er selbst mit etwa zwei Dutzend Aufklärern, dem Bären und dem Clown weiter vorstieß.

Die Kundschafter bewegten sich sehr vorsichtig. Sie krochen auf dem Bauch und horchten nach allen Seiten. Als ein verdächtiges Geräusch an ihr Ohr drang, legte sich Urfin auf die Erde und machte den Soldaten und dem Bären ein Zeichen, dasselbe zu tun. Nur Eot Ling, der in seinem Kaninchenfellkleid von der grauen Erde nicht zu unterscheiden war, pirschte sich weiter vor. Nach wenigen Minuten kam er zurück und sagte leise: „Ich habe den Eisernen Holzfäller gesehen. Er rodet Wurzeln."

Das Wurzelroden war die Lieblingsbeschäftigung des eisernen Mannes. Sie erinnerte ihn an die Vergangenheit, da er noch ein Mensch war wie jeder andere und im Walde arbeitete, denn er wollte sich ein Heim bauen und das Mädchen heiraten, das er liebte. Das Mädchen hatte aber eine böse Tante, die sich bei der Hexe Gingema lieb Kind machte und sie anstiftete, die Axt des Holzfällers zu verzaubern. Die Axt hieb dem Ärmsten zuerst die Beine ab, dann die Arme und zuletzt auch den Kopf. Ein geschickter Schmied machte dem Mann neue Beine und Arme und einen Kopf aus Eisen, nur ein Herz konnte er für ihn nicht anfertigen. Das bekam der Holzfäller später vom Zauberer Goodwin und war damit sehr zufrieden.

Das Wurzelroden brachte auch großen Nutzen, denn der Holzfäller übergab die gesäuberten Felder den Zwinkerern, die auf ihnen Weizen säten. Nicht umsonst waren diese so stolz auf den eisernen Mann und liebten ihn wie einen Vater, war er doch der einzige Herrscher auf der Welt, der für seine Untertanen arbeitete. Urfin fragte den Clown: „Ist er allein?" „Ja."

„Und wo ist seine schreckliche Axt?" „Sie liegt zwanzig Schritt weit von ihm." „Oh, dann ist er in unserer Hand!" frohlockte Urfin. Er befahl den Marranen, den Holzfäller einzukreisen und sich von allen Seiten auf ihn zu stürzen. Der Bär sollte indessen auf die Axt zulaufen und sie mit seinem schweren Leib bedecken. Der Holzfäller, sagte er, dürfe auf keinen Fall die Axt in seine Hand bekommen, andernfalls könnte er mit seiner gewaltigen Kraft die Angreifer zurückschlagen, wie zahlreich sie auch sein mochten.

Nichtsahnend drückte der eiserne Mann auf seinen dicken Knüppel, den er unter eine Wurzel geschoben hatte, während in seinem Kopf freudige Gedanken umgingen. Er hatte vor kurzem die Nachricht erhalten, daß der Scheuch und die Krähe Kaggi-Karr ihn demnächst besuchen wollten, und jetzt schwelgte er im Vorgefühl der Gespräche über die Vergangenheit, die sie führen würden.

Mit einemmal veränderte sich das friedliche Bild: Hinter Wurzeln und kleinen Erdhügeln sprangen grimmige Gestalten hervor, die sich brüllend auf den Holzfäller stürzten. Der Mann war so überrascht, daß er nicht einmal den Knüppel ergriff, der in seinen Händen eine furchtbare Waffe sein konnte.

,Die Axt, nur die Axt kann mich retten!' schoß es dem Holzfäller durch den Kopf. Er schüttelte die Angreifer ab und machte ein paar Sätze auf die Axt zu, die in diesem Augenblick unter dem mächtigen Leib des Bären verschwand.

Marranen hingen am Rücken des Holzfällers und umklammerten seine Arme und Beine. Urfin hatte für seinen Kundscha^ertrupp die kräftigsten und flinksten Soldaten ausgesucht. Der Kampf dauerte nicht lange. Bald lag der eiserne Mann gefesselt auf dem Boden. Es fehlte nicht viel, daß Tränen ohnmächtiger Wut aus seinen Augen rannen, aber zum Glück fiel ihm rechtzeitig ein, daß er dann verrosten und niemand sich finden würde, ihm die Glieder einzuölen.

Mit der ganzen Kraft seines Willens drängte der Holzfäller die Tränen zurück und hob die Augen. Vor ihm stand, den Mund zu einem höhnischen Grinsen verzogen, Urfin Juice.

„Ihr... Ihr seid es!" entfuhr es dem Holzfäller. „Wie ist das möglich? Der Scheuch hat doch gesagt, Ihr lebt zurückgezogen in Eurem Haus im Blauen Land..." „Woher wußte er das?" fragte Urfin argwöhnisch.

Der Holzfäller hätte sich beinahe versprochen und vom Zauberkasten erzählt, besann sich aber, daß er dieses Geheimnis dem Feind nicht verraten durfte. Übrigens half Urfin selbst ihm aus der Verlegenheit.

„Oh, ich verstehe! Das haben ihm natürlich die Käuer hinterbracht. Ja, ich habe dort lange Jahre gelebt, aber, wie Ihr seht, bin ich jetzt hier, und mir gehorchen nicht zweihundert steife Holzsoldaten, sondern Tausende kräftiger und flinker Springer!" „Wie konntet Ihr nur die Macht über sie erringen?" fragte der Holzfäller. „Die haben doch niemals jemanden an sich herangelassen!"

„Bei mir haben sie eben eine Ausnahme gemacht", prahlte Urfin. „Die wissen ja, wer ich bin. Aber zur Sache. Ich schlage Euch wieder vor: Wollt Ihr mein Statthalter im Violetten Lande werden und die Zwinkerer in meinem Namen regieren?" Juice konnte sich natürlich einen anderen Statthalter nehmen, aber er wollte, daß ein so berühmter Mann wie der Eiserne Holzfäller ihm diene und seine Befehle ausführe.

Aber der Holzfäller erwiderte stolz: „Nein, niemals!" „Ihr werdet es noch bereuen!" drohte Urfin. „Diesmal werde ich Euch nicht in den Turm sperren, sondern in einen finsteren Keller, wo Euch die Feuchtigkeit rasch den Garaus machen wird!" Der Holzfäller erschauerte beim Gedanken an ein so schreckliches Ende, wiederholte aber mit fester Stimme: „Nein, tausendmal nein!"

,Oh, würde der Scheuch doch einen Blick auf den Zauberkasten werfen!' wünschte er sich. Mir wird das freilich nicht mehr nützen, aber er selbst könnte sich retten!' Zum Glück flog gerade eine Meise vorbei. Als sie den Herrscher des Landes in einer so üblen Lage sah, stieg sie hinab und begann, um den gefesselten Mann zu kreisen. Da rief der Holzfäller, so laut er konnte:

„Sag dem Scheuch in der Smaragdenstadt, er soll auf den Kasten gucken!" ,Er redet wirr vor Schreck', dachte Urfin.

Die Meise fuhr fort, ihre Kreise über dem Holzfäller zu ziehen, der ihr wieder und wieder zurief, der Scheuch sollte unbedingt auf den Kasten gucken, davon hinge sein Schicksal ab. Ärgerlich warf Urfin einen Stein nach dem Vogel, doch dieser wich geschickt aus und piepste im Davonfliegen:

„Hab verstanden! Der Scheuch soll auf den Kasten gucken, das ist sehr wichtig!" Beruhigt legte sich der Holzfäller hin und verstummte. Bald rückte das Gros der Truppe heran, und der Holzfäller sah, daß es eine schreckliche Streitmacht war. Nicht zu vergleichen mit den dummen Holzköpfen, die man mit einem einzigen Schuß aus der Holzkanone hatte ins Bockshorn jagen können!

Da der eiserne Mann sehr schwer war, zimmerte Urfin für ihn eine feste Trage, die vier Springer auf ihre Schultern nahmen. Die Armee setzte sich in Marsch zum Violetten Palast.

Natürlich war nicht zu erwarten, daß die Zwinkerer, ihres Führers beraubt, den Palast würden verteidigen können. Urfin nahm ihn ohne jeden Widerstand ein. Seinen siegestrunkenen Soldaten verbot er, den Palast zu betreten, weil er befürchtete, sie würden die Einrichtung demolieren. Die Kommandeure quartierte er in den Wirtschaftsbauten ein, und dem Feldgeistlichen, Krag, wies er den Eisenkäfig zu, in dem die Zauberin Bastinda einst den Löwen gefangengehalten hatte. Krag gefiel der Käfig, obwohl es ihm darin etwas zu eng war.

Die gemeinen Soldaten lagerten im Freien. Für die Nacht hüllten sie sich in die Decken, die sie den Zwinkerern entwendet hatten.

Der Eiserne Holzfäller wurde in einen tiefen Keller gesperrt. Dort lag er nun in einer feuchten Ecke und fragte sich verzweifelt:

,Was wird nun geschehen? Wird der Scheuch die Smaragdeninsel halten können, oder wird er wie ich ein Gefangener des grausamen Landräubers werden?'

DIE DIENSTE DES ZAUBERKASTENS

Der Scheuch bereitete sich auf die Reise in das Land der Zwinkerer vor. Er reiste gewöhnlich in einer Sänfte, die von Holzköpfen getragen wurde, die jetzt die nettesten und fleißigsten Arbeiter im Smaragdenland waren.

Der Scheuch gab dem langbärtigen Soldaten gerade die letzten Weisungen für die Zeit seiner Abwesenheit, als durch das offene Fenster die zerzauste Kaggi-Karr in den Thronsaal flatterte. Als alte Freundin des Herrschers durfte sie jederzeit unangemeldet vor ihm erscheinen, denn ihr hatte er ja das hohe Amt zu verdanken, das er jetzt einnahm. Sie war es auch, die ihm geraten hatte, sich nach einem Gehirn umzusehen, als er, auf einem Pfahl aufgesteckt, das Weizenfeld hütete.

„Alarm", schrie Kaggi-Karr. „Über die Vogelstaffel ist eine sehr wichtige Meldung eingetroffen!"

„Was für eine Meldung? Von wem?" fragte der Scheuch. „Von unserem Freund, dem Eisernen Holzfäller", erwiderte die Krähe. „Er befiehlt, du sollst sofort in den Zauberkasten gucken, das sei sehr wichtig!"

„Wo ist der Zauberkasten?" fragte der Scheuch beunruhigt. „Man bringe ihn her!" Der Zauberkasten stand nicht auf seinem alten Platz. Die Putzfrau, die es müde war, jeden Tag den Staub von ihm zu wischen, hatte ihn in die Rumpelkammer gestellt.

Als der Kasten schließlich hereingetragen wurde, stellte sich der Scheuch vor ihm und stieß aufgeregt die magischen Worte hervor:

„Birelija-turelija, buridakl-furidakl, es röte sich der Himmel, es grüne das GrasKasten, Kästchen, bitte zeig mir den Eisernen Holzfäller!"

Als die Mattscheibe aufleuchtete, schlugen der Scheuch und Din Gior die Hände über den Köpfen zusammen, und die Krähe stieß einen Schrei des Entsetzens aus, denn was sie auf dem Bildschirm sahen, war der große Saal des Violetten Palastes, in dem Urfin Juice auf dem Thron saß, während der Eiserne Holzfäller gefesselt vor ihm stand. „O weh!" rief der Scheuch. „Der Holzfäller gefangen! Jetzt weiß ich, warum Stella mir geboten hat, auf Urfin, diesen Schuft, aufzupassen. Pst! Hört einmal zu!" Aus dem Fernseher drang die Stimme Urfins:

„Ihr weigert Euch also zum fünftenmal, mir im Violetten Land zu dienen?"

„Zum fünften Male sage ich Euch: Nein, abscheulicher Landräuber, und ich werde es zum hundertsten und zum tausendsten Male sagen!"

Dem Scheuch schwoll die Brust vor Stolz über den wackeren Freund, während die Krähe zornig aufschrie: „Urfin, du Lump!" Urfin befahl eben den Wachen:

„Führt den Verhafteten ab und sperrt ihn in den tiefsten Keller des Palastes!" Der Scheuch zitterte vor Wut. Oh, wie gern wollte er jetzt an der Seite seines Freundes stehen! Selbst wenn er ihm nicht helfen konnte, würde er zumindest sein Schicksal teilen. Kaggi-Karr stieß zornig ihren Schnabel in das verhaßte Gesicht Urfins auf dem Bildschirm. Nur gut, daß das Glas nicht zerbrach. Wahrscheinlich hatten die Leute, die es hergestellt hatten, mit solchen Vorfällen gerechnet. „Nicht so stürmisch!" rief der Scheuch.

Empört beobachteten die Zuschauer, wie die Marranen den Holzfäller durch halbdunkle Gänge abführten. Dann erlosch der Bildschirm, weil es im finsteren Keller keinen Lichtstrahl gab, den er hätte auffangen können. „Was fangen wir jetzt bloß an?" fragte Kaggi-Karr aufgeregt.

„Ich will es mir überlegen", antwortete der Herrscher der Smaragdeninsel und versank in tiefes Nachdenken.

Wie immer in solchen Fällen, schwoll ihm der Kopf und blähte sich auf, und die Nadeln und Stecknadeln des Gehirns kamen zum Vorschein.

„Tut es weh?" fragte die Krähe voller Mitgefühl. „Schweig, bitte", brummte der Scheuch, „wenn du mich störst, kann ich mich nicht sammeln." Eine geschlagene Stunde brütete der Scheuch vor sich hin und sagte schließlich mit blitzenden Augen:

„Ich hab's! Du mußt zur Truppe Urfins fliegen!" „Wozu?" fragte die Krähe verwundert, „soll ich es vielleicht mit einer ganzen Armee aufnehmen?"

„Das habe ich natürlich nicht gemeint", entgegnete der Scheuch, und fügte belehrend hinzu: „Du sollst nur mein Informator sein im Lager des Feindes." „Informator?" fragte Kaggi-Karr verdutzt. „Das verstehe ich nicht." „Siehst du, der Kasten wird uns wenig nutzen, solange der Holzfäller im finsteren Keller sitzt. Du aber wirst im Violetten Land überall spähen und horchen können und folglich über alles Bescheid wissen. Jeden Tag, Punkt zwölf auf der Sonnenuhr, werde ich den Kasten bitten, dich mir zu zeigen, und du wirst uns mitteilen, was du ausgekundschaftet hast."

Die Krähe war von diesem Einfall begeistert. „Ich soll also Aufklärerin sein im Lager Urfins?" „Genau!"

„Das hättest du doch gleich sagen können! Woher soll ich denn wissen, was Informator bedeutet? Wo nimmst du nur all die kniffligen Worte her?"

„Da, Mütterchen, da!" tippte sich der Scheuch auf den sägespänegefüllten Kopf, in den die Nadeln und Stecknadeln langsam zurückkrochen.

„Oh, nicht umsonst nennt man dich den Dreimalweisen", sagte die Krähe respektvoll. „Na, siehst du!" nickte der Scheuch geschmeichelt. Man durfte keine Zeit verlieren, denn ein Vogelflug nach dem Violetten Lande dauerte volle 24 Stunden. Vor dem Aufbruch sagte die Krähe:

„Falls ich etwas besonders Wichtiges erfahre, werde ich es über die Vogelstaffel weitergeben. Du aber halte die Fenster des Thronsaales Tag und Nacht offen." Der Hofuhrmacher erhielt Order, den Herrscher jeden Tag kurz vor 12 an die Sendezeit zu erinnern.

Am ersten Tag blieb die Sendung aus, weil die Krähe sich noch im Vorgelände des Violetten Landes befand.

Am folgenden Tag aber klappte es. Kaggi-Karr hatte offenbar die genaue Zeit erfahren, denn Punkt 12 sah der Scheuch sie auf dem Dach des Schlosses sitzen, die Augen der Smaragdeninsel zugewandt.

„Lieber Freund", sprach die Krähe langsam, so, daß jedes ihrer Worte deutlich zu verstehen war. „Die Lage ist schlimmer, als wir dachten. Urfin Juice hat sich zum Herrscher der Springer erhoben und eine große Armee aufgestellt. Wie er es geschafft hat, weiß ich nicht. Auch kann ich dir nicht sagen, wie viele Soldaten er hat, denn sie halten keine Minute still, rennen hin und her und springen wie toll herum, daß es unmöglich ist, sie zu zählen. Aber es sind gewiß viel mehr als tausend. Sie haben das ganze Violette Land erobert, die Zwinkerer ausgeplündert und ihnen alles Eßbare genommen. Die Einwohner hungern. Sie essen wilde Kräuter und sammeln die Getreidekörner ein, die nach der Ernte auf den Feldern geblieben sind. In ein paar Tagen will Urfin gegen die Smaragdeninsel ziehen. Vorerst exerziert er mit den Soldaten, die, das muß man sagen, recht dumm sind. Ich wollte den Eisernen Holzfäller aufsuchen, konnte aber nicht in sein Gefängnis eindringen. Ich fürchte, der Ärmste rostet ein. Dies wär's für heute. Bis morgen zur selben Stunde!" Die Krähe machte eine Verbeugung zu den unsichtbaren Zuhörern hin und flog in einen nahen Obstgarten, um etwas zu sich zu nehmen. Der Scheuch wunderte sich, wie klar Kaggi-Karr, trotz der Kürze ihres Berichts, die Vorgänge im Lager des Feindes geschildert hatte. Er hätte ihr gern sein Lob ausgesprochen, aber das war leider über den Fernseher nicht möglich.

DIE ERSTÜRMUNG DER SMARAGDENSTADT

Die Fernsehverbindung wurde wie verabredet jeden Tag um 12 Uhr hergestellt. Aber es gab nichts Neues zu melden. Der Holzfäller sitze nach wie vor im Keller, erzählte die Kundschafterin, aber nichtsdestoweniger sehe sie ihn jeden Tag. Er werde täglich Urfin vorgeführt, der ihn zu überreden versuche, sich ihm zu unterwerfen. Doch der eiserne Mann sei unerschütterlich. Nachdem er Kaggi-Karr im Fenster des Palastes gesehen und begriffen habe, daß der Scheuch gewarnt sei, habe sich sein Wille noch mehr gefestigt, und er ertrage jetzt die qualvolle Gefangenschaft leichter als früher.

Das Exerzieren der Marranen nahm seinen Fortgang. Die Rekruten lernten Marschieren in Reih und Glied, Ausschwärmen, Wendungen und ähnliche militärische Weisheiten. Urfin verbrachte alle Tage von früh bis spät bei seinen Soldaten. Vom Dienstpersonal des Violetten Palastes hatte er nur die Köchin Fregosa behalten, weil sie so gut kochte. Sie diente schon viele Jahre im Palast und wußte von Bastinda zu erzählen, die eine Schlemmerin gewesen war, aber alles Flüssige, z. B. Mus oder Kompott, verabscheute. Trotz aller Vorsicht war die Hexe durch eine Flüssigkeit umgekommen. Als Elli einen Eimer Wasser auf sie ausgoß, zerschmolz sie und war auf der Stelle tot.

Von allen Herrschaften, denen sie gedient hatte, liebte Fregosa den Holzfäller am meisten, weil er so anspruchslos war. Nun war der sanfte Mann vom grausamen Urfin abgelöst worden. Fregosa hatte sich viele Male vorgenommen, ein giftiges Kraut in die Suppe des Bösewichts zu schütten, gab es aber auf, weil Urfin zu jeder Mahlzeit den Oberpriester an den Tisch rief und ihn jedes Gericht zuerst probieren ließ. Fregosa beruhigte sich, als die Armee mit Urfin an der Spitze auszog, die Smaragdeninsel zu erobern. Im Violetten Lande ließ Urfin den Statthalter Bois zurück, der sich unter allen Mannschaftsführern als der aufgeweckteste erwiesen hatte. Die Garnison bestand aus einer halben Hundertschaft. Diese, dachte Urfin, reiche völlig, um die ängstlichen Zwinkerer in Botmäßigkeit zu halten.

Während des Marsches fiel es Kaggi-Karr sehr schwer, ihren Auftrag zu erfüllen. Die Verbindung mit dem Scheuch durfte nicht abbrechen, aber wie sollte die Krähe die genaue Zeit erfahren, wo es weit und breit keine Sonnenuhr gab? Beim Nahen der Mittagszeit beobachtete die Kundschafterin die Sonne und die Schatten der Bäume, um an ihrer Länge die Zeit zu bestimmen. Sie faßte ihre Berichte sehr kurz und wiederholte sie mehrmals in der Hoffnung, daß wenigstens einer den Scheuch erreichen würde. Das traf auch zu, denn der Herrscher der Smaragdeninsel saß jedesmal lange vor dem Fernseher und wartete geduldig auf die Sendung. Aus den täglichen Meldungen erfuhr der Scheuch, daß Kaggi-Karr nachts, wenn die Marranen fest schliefen, lange Gespräche mit dem Holzfäller führte und ihn nicht verzagen ließ. Sie erbot sich sogar, mit ihrem starken Schnabel seine Fesseln zu zerschlagen, damit er entfliehe. Er lehnte jedoch ab mit der Begründung, daß die kurze Nacht für eine Flucht nicht ausreiche. Am nächsten Tag, sagte er, würden die schnellfüßigen Marranen ihn bestimmt einholen und zurückführen. Immerhin erwies Kaggi-Karr

dem Holzfäller einen guten Dienst, indem sie aus dem Proviantlager der Armee Öl entwendete, das sie in die eingerosteten Gelenke des Mannes träuf elte. Der Scheuch beschränkte sich nicht auf die Fernsehverbindung mit der Krähe. Oft drehte er an den Knöpfen des Kastens so lange, bis er auch den finsteren Urfin ins Bild bekam.

Einmal sah er ihn an der Spitze der Truppe marschieren, ein andermal erblickte er einen Zug Soldaten, der über steiniges Gelände zog, ein drittes Mal die Sänfte, auf der die Marranen den gefesselten Holzfäller trugen.

Die Smaragdeninsel bereitete sich unter der Führung des Scheuchs, Din Giors und Faramants tatkräftig auf die Verteidigung vor.

Der langbärtige Soldat, den der Scheuch wieder zum Feldmarschall ernannt hatte, kümmerte sich jetzt nicht mehr um seinen Bart, Faramant nicht mehr um seine Tasche mit den grünen Brillen. Zu dritt bildeten sie den Obersten Stab. Sie wußten, daß der Kanal die Angreifer eine Zeitlang aufhalten werde. Alle Bürger lobten den Scheuch, der die Smaragdenstadt in eine Insel verwandelt hatte.

„Unser Herrscher", sagten sie stolz, „sieht die Zukunft um Jahre voraus."

Trotzdem war es klar, daß der Feind so oder so über den Kanal setzen werde, und dann mußten die Stadtmauern als Hauptverteidigungslinie dienen.

Unter Anleitung des Feldmarschalls schleppten die Einwohner Steine und Kessel mit Wasser herbei, unter die sie Stroh legten. Beim Anrücken des Feindes sollte es angezündet und das kochende Wasser auf die Köpfe der Angreifer ausgeschüttet werden.

Die Waffenschmiede schliefen jetzt nicht mehr als zwei bis drei Stunden täglich. Sie fertigten straffe Bogen und Pfeile mit Eisenspitzen an. Auf den Zufahrtsstraßen zur Stadt konnte man zahllose, von kleinen Pferden gezogene Wagen und von Menschen geschleppte Handkarren mit Proviant sehen, der für eine lange Belagerung reichen sollte. Die Einwohner der Smaragdenstadt hatten die Herrschaft Urfins noch gut in Erinnerung und wollten nicht ein zweites Mal unter sie geraten. Als die Springerarmee sich dem Smaragdenland auf drei Tagesmärsche genähert hatte, traf über die Vogelstaffel eine wichtige Nachricht ein. Ein Eichelhäher überbrachte sie. „Im Auftrag der Krähe Kaggi-Karr melde ich Euch, Dreimalweiser Herrscher", krächzte der Häher, der vor Erschöpfung kaum atmen konnte, „daß die Armee Urfin Juices von den Farmen Bretter und Balken mitnimmt, die die Soldaten tragen müssen. Den Zweck dieser Handlungen weiß Frau Kaggi-Karr nicht zu erklären, darum läßt sie es Euch mitteilen."

Der Scheuch berief sofort einen Kriegsrat ein. Feldmarschall Din Gior äußerte die Vermutung, der Feind wolle die Balken zum Rammen des Stadttores verwenden. Wozu er aber die Bretter brauche, konnte Din Gior nicht sagen. Der Leiter des Versorgungsdienstes, Faramant, meinte, die Bretter und Balken würden für Lagerfeuer verwendet werden, damit die Soldaten sich nachts wärmen und ihr Essen darauf kochen könnten. Die vornehmen Bürger schwiegen. Dann ergriff der Scheuch das Wort.

„Und ihr wollt Strategen sein?" sagte er verächtlich. „ist es euch denn nicht klar, daß Urfin von unserem Kanal weiß? Damit Menschen über ein Wasser gehen, müssen sie doch eine Brücke bauen. Zu diesem Zweck schleppen die Feinde die Bretter und Balken mit!"

Die Ratsmitglieder schwiegen beschämt.

Am dritten Tag nach der Ratssitzung überschwemmten Urfins Horden das Vorland der Smaragdeninsel.

Auf ihrem Marsch hatten die Marranen die Bevölkerung ausgeplündert, und jetzt stolzierten sie in den violetten Kleidern der Zwinkerer und den grünen Mänteln der Farmer des Smaragdenlandes einher. Die mit Schleudern und Knüppeln bewaffnete Truppe sah bedrohlich aus.

Urfin ließ seine Augen über das breite Wasser schweifen. Er hatte natürlich vom Bau des Kanals um die Smaragdenstadt gehört, denn das Gerücht hatte sich überall verbreitet und war bis zu den Zwinkerern gedrungen. Aber der Eroberer hatte sich die Breite des Kanals nicht vorgestellt. Er hatte nicht gedacht, daß es ein so ernstes Hindernis sein würde. Jetzt lobte er sich in Gedanken dafür, daß er für Baumaterial vorgesorgt hatte.

Beim Auftauchen der Feinde wurde die Fähre sofort zur Stadtseite abgeschleppt und auf Befehl Faramants mit Stroh gefüllt, das der Hüter des Tores ansteckte. Der Bretterbelag verbrannte binnen wenigen Minuten, und kurze Zeit später versanken die angekohlten Tragboote. Nach der Fähre wurden auch alle Segel- und Ruderboote verbrannt.

Urfin hatte vorausgesehen, daß die Verteidiger gerade so verfahren würden, und wunderte sich daher nicht über die Fährenverbrennung. Er beschloß, sofort mit dem Brückenbau zu beginnen, obwohl er wußte, daß das viel Mühe kosten werde. Urfin war aber nicht der Mann, der so schnell vor Schwierigkeiten zurückwich. Am Tag arbeiteten die Marranen, nachts aber schliefen sie wie betäubt. Oh, hätte der Führungsstab der Belagerten das gewußt! Kaggi-Karr hatte nichts davon erwähnt-viel-leicht, weil sie diesen todesähnlichen Schlaf der Marranen für normal hielt. Auch ist es fraglich, ob die Belagerten einen Ausfall versucht hätten, denn für sie war der Kanal doch auch ein Hindernis.

Bangen Herzens sahen die Verteidiger, wie die schmale Brücke mit jedem Tag länger wurde, sie konnten aber nichts dagegen tun, denn zwischen der Stadtmauer und dem Kanal lag der breite Park, in dem sich ihre Pfeile verfingen. So verging ein Monat. Die Brücke zog sich jetzt von einem Ufer des Kanals zum anderen. Der erste Zug der Marranen passierte sie im Gänsemarsch, ihm folgten andere. Mit Schleudern bewaffnete Soldaten trugen lange Bretter und zersägte Baumstämme. Bald füllten sie den ganzen Park. Unter dem Schutz der Bäume stießen sie bis zur Stadtmauer vor, doch hier prasselte ein Hagel von Pfeilen auf sie nieder, der viele Soldaten verwundete. Die Getroffenen krochen stöhnend zurück. Da ließ Urfin die Trompeter zum Rückzug blasen. Die Soldaten verschanzten sich in Stellungen, in denen die Pfeile sie nicht erreichen konnten.

Urfin schickte mehrere Hundert Marranen nach Ruten in den Wald, aus denen die Soldaten Schilde zu flechten begannen. Am Abend befiel sie wie gewöhnlich der Schlaf, worüber der Feldherr sehr besorgt war, da die Belagerung daran scheitern konnte. Da rief er den Bären, und während die Armee schlief, machten sich beide an die Arbeit...

Aber auch Din Gior und Faramant schliefen nicht in dieser Nacht. Sie hatten sich einen kühnen Plan ausgedacht. Als es finster wurde, schlichen sie sich geräuschlos aus der Stadt. Mit Stroh und brennenden Fackeln in den Händen liefen die beiden zur Brücke, um sie anzuzünden. Am Ufer blieben sie jedoch wie angewurzelt stehen, denn was sich ihnen darbot, war nicht das Brückenende, sondern der Widerschein der Fackeln im dunklen Wasser. Urfin und der Bär hatten nämlich das Ende der Brücke abgetragen! Am Morgen stießen die Angreifer unter dem Schutz ihrer Schilde bis zur Mauer vor. Es begann ein erbitterter Kampf. Urfins Schleuderer schickten einen Hagel von Steinen gegen die Mauer, und die Verteidiger mußten hinter den Zinnen Deckung suchen. Von

dort aus schossen sie ihre Pfeile ab und warfen Steine und brennendes Stroh auf die Köpfe der Angreifer.

Durch die Schilde gedeckt, wälzten die Marranen Klötze heran, auf die sie lange Bretter legten. Der Scheuch und sein Stab beobachteten dieses Treiben, das sie nicht verstehen konnten.

Als entlang der Wand etwa 100 Bretter auf Klötzen lagen, ertönte ein Trompetensignal, worauf mit Keulen bewaffnete Soldaten sich aufje ein Brettende stellten, wodurch das andere, freie Brettende sich anhob. Bei diesem Anblick wurde Feldmarschall Din Gior leichenblaß.

„Wir sind verloren... Das sind Schleudervorrichtungen!" murmelte er. „Ich habe davon in alten Chroniken gelesen. Aber wie ist bloß Urfin daraufgekommen?" Die Marranen waren sehr behende. Aufjedes freie Brettende sprangen auf einmal zwei oder drei Soldaten, wodurch das entgegengesetzte Ende hochschnellte und die darauf stehenden Männer emporschleuderte.

Mehrere Dutzend Marranen erreichten das Ziel. Sie klammerten sich an den Mauersims, zogen sich hoch und fielen über die Verteidiger her.

Unter den Bürgern brach eine Panik aus. Viele sprangen von der Mauer und eilten auf ihre Häuser zu, in denen sie Schutz zu finden hofften. Faramant und Din Gior kämpften wie Löwen. Selbst der Scheuch versuchte, mit seinen weichen Stroharmen einen großen Stein aufzuheben, den er den Angreifern entgegenschleudern wollte. Die Übermacht war aber zu groß. Im Nu hatte man den Oberkommandierenden und seinen Stab gefesselt. Der Scheuch wurde wieder Urfins Gefangener. Der Eroberer bot ihm auf der Stelle das Amt eines Statthalters an. Wie der Holzfäller, schlug aber auch der Strohmann das Angebot aus.

„Man führe diesen Dickschädel und seinen eisernen Freund in den Turm, wo sie schon einmal lagen!" befahl Urfin.

„Sperrt sie aber nicht in das obere Gelaß, sondern in den nassen Keller! Wollen mal sehen, wie lange sie es dort aushalten werden!"

Trotz des Unglücks, das über ihn hereingebrochen war, freute sich der Scheuch über das Wiedersehen mit seinem Freund.

Der Holzfäller begrüßte ihn nur mit einem Kopfnicken, denn er konnte vor Schwäche kein Wort hervorbringen.

Der Scheuch watschelte hinter dem Holzfäller her und dachte voller Gram an den herrlichen Kasten: Wenn Urfin das Geheimnis des Kastens errät, wird er noch mächtiger sein als bisher', sagte er sich. Da fiel ihm jedoch ein, daß außer ihm niemand die magischen Worte kannte. Ohne diese Worte ist der Kasten aber nur ein Möbelstück. Mir wird Urfin die Beschwörung bestimmt nicht entlocken', entschied der Strohmann.

Man brachte' die Gefangenen in den Keller, in dem der Scheuch einst an einem Haken aufgehängt worden war, weil er gegen Urfin gemeutert hatte. Der Haken stak noch in der Wand, nur daß er jetzt verrostet war.

„Von hier bin ich schon einmal ausgebrochen, das wird mir wohl auch ein zweites

Mal gelingen!" rief der Scheuch munter.

Der Eiserne Holzfäller schüttelte nur den Kopf.

Nach der Eroberung des Smaragdenlandes beschloß Urfin, die Holzköpfe wieder in seine Dienste zu nehmen. Da sie unverwundbar waren und niemals müde wurden, konnten sie ihm gewaltigen Nutzen bringen. Kaggi-Karr machte dem Eroberer jedoch einen Strich durch die Rechnung. Kaum war die Stadt gefallen, rief sie die Holzköpfe zu einer Versammlung in einer Lichtung des Waldes. Da eine Tribüne nicht vorhanden war, setzte sich die Krähe auf den Kopf eines hochaufgeschossenen Holzkopfs und hub an:

„Hölzerne Leute! Hört, was ich euch zu sagen habe! Ich eröffne euch, daß ich, Kaggi-Karr, anstelle unseres guten Herrschers, des Weisen Scheuchs, die Regierung im Smaragdenland übernommen habe! Wollt ihr schwören, daß ihr mir als eurer rechtmäßigen Gebieterin gehorchen werdet?" „Wir schwören!" riefen die Holzköpfe.

„Schön. Und jetzt paßt mal auf: Als man eure grimmigen Fratzen in freundlich lächelnde Gesichter verwandelte, veränderte sich euer Charakter. Ihr konntet den Menschen nichts Böses mehr antun, und jedermann achtete euch als wackere und fleißige Arbeiter. Jetzt will der grausame Urfin Juice euch wieder mit seinem Meißel bearbeiten und erneut in Scheusale und Bösewichter verwandeln. Wollt ihr das?" „Nein, nein! Wir wollen gut sein!"

„Dann müßt ihr in den Tigerwald fliehen und dort in tiefen Schluchten abwarten, bis Urfins Macht zu Ende ist. Ich, die Gebieterin des Landes, verspreche euch, daß ihr nicht lange werdet warten müssen."

Grinsend stapfen die Holzköpfe dem Tigerwald zu. Urfins Hoffnungen brachen zusammen. Nur unter den ehemaligen Polizisten fanden sich etliche, denen es einerlei war, wem sie gehorchten, und die in Urfins Dienste traten.

DIE NÜSSE DES NUCH-NUCH-BAUMS

Als die Stadt gefallen war, strömten die Springer in die Häuser und Geschäfte und in den Palast. Alles rief bei ihnen Staunen und Begeisterung hervor. Lachend rissen die Soldaten den Bürgern die grünen Brillen von den Nasen und setzten sie sich auf. Wie staunten sie aber erst, als plötzlich alles ringsum grün wurde!

Über die Smaragde zwischen den Pflastersteinen und in den Dächern und Wänden der Häuser wunderten sie sich nicht, denn Smaragde gab es ja auch in den Bergen ihrer Heimat. Dafür aber starrten sie mit offenen Mäulern die Häuser an, deren Dächer sich oben fast berührten, und die prächtigen Zimmer mit den weichen Teppichen und schönen Möbeln. Beim Anblick dieser Herrlichkeiten gingen den Strohhüttenbewohnern die Augen über.

„Jetzt haben sich die großherzigen Versprechungen des Feuergottes erfüllt!" jubelten die Marranen. Brüllend stürzten sie in die Häuser der reichen Handwerker und Kaufleute und jagten die Einwohner auf die Straße. Jammernd verließen diese die Insel. Jetzt sehnten sie sich sogar nach der Zeit zurück, da Urfin mit seinen Holzköpfen die Stadt zum erstenmal erobert hatte. Die Holzköpfe hatten wenigstens fremdes Eigentum nicht geraubt, denn sie brauchten weder ein Dach, noch Essen, noch Kleidung. Zwar hatte Urfin den Bürgern schwere Steuern auferlegt, aber aus den Häusern hatte er sie nicht vertrieben.

Urfin begann, Ordnung in der Stadt zu schaffen. Vor allen Dingen befahl er den Soldaten, den Palast zu räumen. „Der Palast ist die Wohnstätte des Gottes!" rief er. „Hier dürfen sich nur die Leibwachen des großen Urfin aufhalten - er wird sie aus den

Reihen der wackersten Kämpfer auswählen. Wer den Herrscher besuchen will, muß sich vorher anmelden lassen."

Die Leibwachen rechtfertigten aber nicht sein Vertrauen. Schon in der ersten Nacht fielen sie in einen bleiernen Schlaf. Wären Din Gior und Faramant nicht in Gefangenschaft, hätten sie Urfin schon in dieser ersten Nacht überrumpeln können. Erst bei Tagesanbruch atmete Urfin, der die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte, erleichtert auf.

Wie erstaunt aber war er, als durch das offene Fenster des Thronsaals seine alte Freundin und Zaubergehilfin, die Eule Guamokolatokint, hereinflatterte. „Guam!" rief Urfin aus.

„Guamoko!" korrigierte ihn streng die Eule. „Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, haben wir vereinbart, daß du mich zumindest beim halben Namen nennst." Urfin wunderte sich über den Starrsinn des Vogels, der trotz der vergangenen zehn Jahre nichts von seiner Gespreiztheit eingebüßt hatte.

„Meinetwegen, Guamoko!" sagte Urfin. „Jedenfalls freut es mich, dich wieder wohlauf zu sehen, alte Freundin!"

„Weißt du übrigens, daß ich gleich an dem Tag, an dem deine Armee die Insel belagerte, von deinem Eintreffen erfuhr?"

„Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen?" wollte Urfin wissen.

„Ich bin eben alt und nicht mehr so reisefreudig wie früher. Jeden Tag nahm ich mir

vor, dich zu besuchen, und schob es immer wieder auf."

In Wirklichkeit hatte die schlaue Eule nur abgewartet, wie die Belagerung ausgehen werde. Wäre Urfin zurückgeschlagen worden, hätte Guamoko ihn gewiß nicht besucht, jetzt aber, da er gesiegt hatte, beschloß sie, die alte Freundschaft wiederaufzunehmen. „Ich habe für dich ein nettes Geschenk", fuhr die Eule fort. „Weißt du, daß ich jetzt die Gebieterin aller Eulen und Uhus der Umgebung bin? Aus Achtung vor meinem Wissen und meiner Erfahrung füttern sie mich mit Mäusen und kleinen Vögeln..." „Na, sag schon, worauf du hinauswillst", unterbrach Urfin die Eule ungeduldig. „Laß mich doch ausreden. Einmal konnten meine Untergebenen die fällige Portion Mäuse nicht aufbringen und boten mir statt dessen Nüsse des Nuch-Nuch-Baums an. Süße Nüsse sind für unsereins natürlich kein Essen, wie du weißt, aber ich mußte mich eben zufriedengeben. Ich hatte nur eine Handvoll davon gegessen, und - stell dir vor? -einen ganzen Tag und eine ganze Nacht konnte ich dann kein Auge schließen." Urfins Gesicht hellte sich auf. „Nuch-Nuch-Nüsse, sagst du?" „Das wäre etwas für deine Wachen. Ich bin seit gestern in der Stadt und habe deine Posten mehrmals auf die Probe gestellt. Aufrichtig gesagt, habe ich solche Schlafmützen in meinem Leben noch nicht gesehen. Selbst, wenn du sie totschießt, wachen die nicht auf."

„Nüsse gegen Schlaf, das ist ja großartig", sagte Urfin. „Ich will sogleich ein Dutzend meiner Leute mit Körben in den Wald schicken. Zeige ihnen, liebe Guamokolatokint, den Nuch-Nuch-Baum, tu mir bitte den Gefallen. Im Lande der Käuer habe ich von einem solchen Baum nichts gehört." „Der wächst freilich nur in der Umgebung der Smaragdeninsel", sagte die Eule, der es schmeichelte, daß Urfin sie beim vollen Namen nannte.

„Falls es sich mit der Nuch-Nuch-Nuß wirklich so verhält, wie du sagst, will ich meinen Jägern befehlen, dir jeden Tag frisches Wild zu beschaffen", sagte Urfin großmütig. Wenige Stunden später waren die Nüsse im Palast. Urfin befahl, aus den Kernen einen kräftigen Likör mit Vanille und anderem Gewürz zu brauen und jedem Wachsoldaten am Abend eine Tasse voll zu geben.

Jetzt schliefen die Wachen in der Nacht nicht mehr, und der Thronräuber fühlte sich sicher. Allerdings erwiesen sich die Nüsse als nicht so unschädlich, wie er gedacht hatte. Die Springer, die den Sud tranken, sahen bei hellichtem Tag Gespenster, rollten die Augen, stotterten und fühlten sich elend. Dieser Zustand verging nicht eher, als bis sie eine neue Portion des Likörs getrunken hatten.

Da aus dem Violetten Lande keine Nachrichten eintrafen, meinte Urfin, seine Macht dort sei gesichert, und wollte nunmehr auch den Westen erobern. Zu diesem Zweck schickte er drei seiner besten Einheiten unter der Führung Harts, den er zum Obersten ernannt hatte, gegen die Käuer und Erzgräber aus. „In drei Wochen sollst du mir das Blaue Land erobern", befahl der König. Urfins Freude kannte jetzt keine Grenzen. Ihm schien, er habe alle seine Pläne mit bewundernswerter Schlauheit ausgeführt, ungeachtet dessen, daß der Riesenadler ihn verlassen hatte.

„Gut, daß Karfax gegangen ist", murmelte er, während die Kolonne unter der Führung Harts auf der gelben Backsteinstraße davonzog. „Es war eine Plage mit diesem Vogel, dem es die Ehrlichkeit angetan hatte. Er duldet keinen Betrug, ha, ha, ha! Wäre ich vielleicht ohne Betrug König und Gott geworden? Jetzt verheißt mir die Zukunft Sieg und Ruhm... "

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