Epilog


Es kam ihm vor, als sei der Hang seit damals steiler geworden. Steiler und schwerer zu erklimmen. Es war sein Widerwille, der ihm dieses Gefühl gab. Er hatte nicht hierher zurückkehren wollen, niemals wieder. Nun hatte er auch diesen Schwur gebrochen. Noch etwas, das falsch war. Eine Sünde, ein Frevel, ein Verrat an sich selbst. Aber einer mehr oder weniger, was bedeutete das schon?

Mit seinem einen Auge blickte Hagen zur Ruine der Burg hinauf. Die Türme waren eingestürzt, die Dächer zerfallen, die Zinnen ausgefranst wie verschlissenes Leinen. Raben schwebten über den Mauern, vielleicht seine eigenen, vielleicht auch nur solche, die sich hier eingenistet hatten.

Dieser Ort war seiner würdig, eine Ruine wie er selbst, ausgebrannt, zerstört. Nicht einmal Raubritter und anderes Gesindel hatten hier Quartier bezogen. Sie fürchteten die Burg; das, was davon übrig war. Und sie hätten auch Hagen gefürchtet; das, was von ihm übrig war.

Sein linkes Auge war hinter einer schwarzen Binde verborgen, die schräg über Stirn und Wangenknochen saß. In den Wochen, die seit den Ereignissen von Zunderwald vergangen waren, war sein Gesicht noch hagerer geworden, seine Falten noch tiefer. Sein Mantel schützte ihn vor dem eisigen Wind, der ihm vom Fluß herauf folgte, doch gegen die Kälte in seinem Inneren konnte auch der Überwurf nichts ausrichten. Ihm war, als habe sich ein faustgroßes Hagelkorn in seiner Brust eingenistet.

Vor dem Torbogen der Ruine verharrte er kurz, ein unmerkliches Zögern, der eigenen Kindheit zu begegnen. Dann trat er hindurch. Hinter dem Tunnel des Torhauses lag der Innenhof, von Gras und Brennesseln überwuchert wie eine Waldlichtung. In Fenstern und Türen hingen Schatten wie Spinnweben, allein das Flattern der Raben kündete von Leben.

Hagen hatte sich oft gefragt, woher sein Mantel wirklich stammte. Irgendwann, vielleicht, würde er die Antwort darauf finden, ebenso wie auf die Frage, warum Nimmermehr ihm das Stück zum Geschenk gemacht hatte.

Erinnerungen überkamen ihn, schmerzliche Bilder, in sein Gedächtnis gebrannt wie mit glühenden Eisen. Er sah sich selbst, einen Jungen, ausstaffiert wie ein Krieger. Allein auf der Flucht vor dem Grauen, das er über Otbert von Lohe und seine Familie gebracht hatte. Er hatte lange gezögert, nach Hause zurückzukehren. Doch nach einigen Wochen in der Einsamkeit war ihm klargeworden, daß er mit der Ungewißheit nicht leben konnte. Er hatte wissen müssen, ob seine Ahnungen wahr waren.

Damals, vor so vielen Jahren, war er genauso wie heute diesen Hang hinaufgestiegen, in seinem Rücken das Geplapper der Strömung. Er hatte alles so vorgefunden, wie seine schlimmsten Träume es prophezeit hatten.

Verlassen. Menschenleer. Die Burg nur ein Gerippe aus Stein.

Wie hatte er jemals glauben können, der Siebenschläfer hätte ihren Pakt vergessen? Die Festung des Grafen von Lohe war nicht der erste Ort gewesen, den der Flußgeist heimgesucht hatte. Er hatte sein Zerstörungswerk dort begonnen, wo er Hagen am empfindlichsten zu treffen glaubte - zu Hause.

Hagen aber hatte es während seiner Abwesenheit nicht einmal bemerkt. Nicht, bevor Malena und die anderen verschwanden. Wie lange waren seine Eltern zu jenem Zeitpunkt schon tot gewesen? Tage, Wochen? Oder hatte der Siebenschläfer sie gleich zu Anfang geholt, nachdem das erste Opfer ausblieb?

Fast ein Jahr lang hatte Hagen nur für seine Selbstvorwürfe gelebt. Er war am Morgen erwacht, um sich selbst zu martern, und er war des Nachts eingeschlafen, damit die Alpträume ihm seine Fehler und Vergehen vor Augen hielten. Wie oft hatte er seinem Leben ein Ende setzen wollen, doch damit hätte er nur seine Niederlage eingestanden. Er war nicht fähig, sich selbst zu töten, und so tötete er andere. Mond für Mond für Mond.

Nie mehr war er in all der Zeit zur Burg derer von Tronje zurückgekehrt. Er hatte Dankwart in Worms aufgesucht, das letzte Mal vor vielen Jahren, und sie hatten nächtelang über das gesprochen, was geschehen war. Doch die volle Wahrheit hatte Dankwart nie erfahren. Er mochte sie ahnen, und vielleicht war das der Grund, weshalb er Hagen gebeten hatte, in Worms zu bleiben. Er hatte ihn um sich haben wollen, hatte verhindern wollen, daß noch mehr Schaden angerichtet wurde. Dennoch hatte Hagen die Königsburg verlassen.

Statt dessen war er nun nach all den Jahren heimgekehrt. Dies war die Burg seiner Väter. Hier war er geboren, aufgewachsen. Hier hatte der weise Bärbart ein Stück von Hagen in einen Baum verpflanzt, und mit ihm einen Teil seines Fluches. Bärbart hatte das damals schon begriffen und war rechtzeitig geflohen. Vor dem Fluß, vor Hagen - und vor dem Baum.

Hagen schaute sich ein letztes Mal im verwilderten Burghof um und wunderte sich, wie wenig vertraut ihm dieser Ort doch war. Es war nicht nur die Zeit, die zwischen ihm und diesen Mauern stand. Heute war Hagen ein anderer, nicht mehr der staunende Junge, dem all das groß und mächtig und unüberwindlich erschien. Welcher Feind, so hatte er damals stolz gedacht, würde diesem Bollwerk etwas anhaben können?

Jetzt wußte er, daß er selbst dieser Feind war. Der Gedanke schmerzte, aber Schmerz war für Hagen längst ein enger Vertrauter.

Er schaute zu Boden, als er den Burghof verließ. Er brachte es nicht über sich, den Blick der leeren Fenster und Scharten zu erwidern; er wußte, daß hinter ihnen weitere Erinnerungen schliefen.

Nachdenklich trat er aus dem Dunkel der Burg ins Tageslicht und fühlte sich dabei, als sei er selbst ein Stück ihres Schattens, losgelöst aus der Finsternis, erfüllt von falschem Leben. Mit großen Schritten ging er zum Waldrand, durchquerte die Reihen der Bäume und stand schließlich vor einem Geländestreifen, der hüfthoch mit Ranken, Sträuchern und Büschen bewachsen war. Dazwischen blickten halbverfaulte Baumstümpfe zum verhangenen Himmel empor. Einst war dies ein Ödland gewesen, und jenseits davon, bedrohlich und krumm, stand damals wie heute die Eiche.

Sein Baum.

Hagen kämpfte sich durch die Wildnis, ohne die Augen von der knorrigen Krone zu nehmen. Immer noch schien sie ihm, als wollte sie die ganze Welt mit ihren Ästen umfassen. Ein kindischer Gedanke, gewiß, aber er kam zurück zu ihm wie alle anderen Empfindungen von damals. Sogar ein Hauch der alten Angst war wieder da.

Er verdrängte alles, was ihn von seinem Plan hätte abbringen können. Entschlossen schritt er auf den Baum zu. Seine Augen suchten den Spalt der Zweiten Geburt, und, ja, da war er. Die Jahre hatten ihn in die Länge gezerrt, und die Lippenwülste an seinen Rändern waren flacher geworden. Die ganze Öffnung hatte sich verengt, als der Baum versucht hatte, die Wunde zu schließen. Vergeblich.

Immer noch fiel kein Licht durch den Spalt. Hagen bückte sich, schaute hindurch. Das Nachtstück, das im Stamm gefangen war, schien ihn um Hilfe anzuflehen. Daran hatte sich nichts geändert, auch nicht nach über zwanzig Jahren. Hagen sah den schwarzen Himmel über den Hügeln, sah die Sterne darin glühen und flackern. Er brachte es nicht über sich, auch von der anderen Seite hindurchzublicken. Er wußte, was er sehen würde: seine Mutter, den Pfaffen Viggo, die Diener mit ihren Fackeln. Alle gefangen, festgehalten in einem einzigen Augenblick, den der Baum für sich beansprucht hatte.

Doch das war nicht alles. Da war noch etwas, unsichtbar, aber Hagen konnte es fühlen. Es war ein Teil seiner Seele, und darin ein Teil seines Fluchs.

Die Worte, die seine Mutter ihm in jener Nacht zugezischt hatte, traten ihm wieder ins Bewußtsein, so wie seit Wochen Tag für Tag: Fällt man den Baum, der den Geheilten geboren hat, und läßt man ihn als Teil eines Schiffes zu Wasser, so entsteht daraus ein Klabautermann. Ein Wassergeist, ein Teufel.

Sie hatte geahnt, wie es kommen würde. Hatte es zumindest befürchtet. Ein Teufel, schlimm genug. Und schlimmer noch: mit Hagens Fluch beladen.

Seit Zunderwald war ihm klargeworden, daß er das nicht zulassen konnte.

Er entkorkte den Lederschlauch, den er einem fahrenden Händler abgenommen hatte. Stinkendes Öl ergoß sich über die Wurzeln der Eiche, rundherum, dann auch über die Rinde des Stammes, und so hoch hinauf in die Äste, wie Hagen es gerade noch schleudern konnte.

Dann hockte er sich ins Gras. Mit grellem Klang schlugen die Feuersteine aneinander. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Funken sprühten.

Der Baum stieß ein Fauchen aus wie ein wildes Tier. Vielleicht war es auch nur die Feuerlohe, die schlagartig am Stamm hinaufloderte. Flammen züngelten wie gelbe Schlangen an der Rinde empor, zwischen die Zweige, hoch in die Krone. Innerhalb weniger Augenblicke stand der ganze Baum in Flammen. Glut umhüllte ihn von den Wurzeln bis zu den Astspitzen. Eine Fahne aus pechschwarzem Rauch quoll gen Himmel, vereinigte sich mit trüben Wolkenballen.

Hagen sah zu, wie die Eiche verbrannte, sah zu, wie das Feuer sie mit solcher Wut verzehrte, als hatte es nur auf diesen Augenblick gewartet.

Mit dem Baum verging ein Teil seiner selbst. Niemand würde diesen Stamm mehr fällen und zu Wasser lassen. Kein Klabautermann, kein Teufel mit Hagens Seele würde durch die Tiefen ziehen. Kein zweiter Siebenschläfer.

Er wartete, bis die Zweige zu Asche zerfielen und nur noch der brennende Baumstamm dastand, eine Fackel vor dem Grau des Himmels. Das Nachtstück war endlich frei. Nach zwei Jahrzehnten verging auch dieses winzige Bruchstück der Zeit.

Hagen aber wandte sich um und lief zurück zum Wald, schlug sich quer durch die Bäume, ließ sie hinter sich und mit ihnen die Ruine auf ihrem einsamen Felsbuckel. Nur einmal schaute er sich um, sah das Feuer auf der Klippe und dachte, daß er das Richtige getan hatte. Zum ersten Mal seit Jahren: das Richtige.

Hagen schöpfte neue Hoffnung. Er hatte jetzt ein Ziel. Und vielleicht erwartete ihn dort etwas, das Glück zumindest nahekam.

Da vorne, ja, er sah es vor sich!

Sein Ziel, seine Zukunft, sein Frieden.

Worms.



ENDE

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