Kapitel 7


»Der Siebenschläfer ist der Wächter des Herbsthauses«, sagte Nimmermehr und zog ihre Finger von Hagens Hand zurück.

Es war das letzte, das er für lange Zeit von ihr hörte. Als er seinen Schrecken überwunden hatte und sie ansprach, gab sie keine Antwort mehr. Seine Hände tasteten blind ins Leere. Nimmermehr war fort. Er hatte nicht einmal gehört, wie sich ihre Schritte entfernten.

Einen Moment lang überkam ihn nacktes Grauen. Die Schwärze schien von allen Seiten nach ihm zu greifen, ihn in ihren Abgrund zu ziehen, hinab zu dem Ding, das darin lauerte.

Dann aber riß er sich zusammen und dachte nach. Das Herbsthaus. Es war an der Zeit, daß er erfuhr, was es damit auf sich hatte. Doch viel dringender schien ihm, die Wahrheit über Nimmermehr zu erfahren. Über ihre Ziele. Über das, was sie vom Siebenschläfer wußte.

Wohin war sie verschwunden? Warum wich sie seinen Fragen aus?

Wer war sie überhaupt?

Hagen stemmte sich an dem gefällten Baumstamm auf die Beine. Seine Lage war hoffnungslos. Er war blind, allein, unbewaffnet und wurde von einer Meute Verrückter gejagt.

Das Vernünftigste wäre gewesen, sich wieder hinzusetzen und ergeben auf den Tod zu warten. Aber es war nicht die Vernunft, die ihn antrieb. Sie am allerwenigsten.

Er stand still, hielt den Atem an und versuchte, sich zu orientieren. Nimmermehr hatte gesagt, er befände sich am Nordende der Landzunge, unweit des Dorfes. Seine Ohren sagten ihm, daß der Fluß vor ihm strömte, ebenso rechts und links. Dann mußten die Häuser hinter ihm liegen.

Wenn er sich so nahe am Wasser befand, wo waren dann die Wächter, von denen Nimmermehr gesprochen hatte? Mußten sie ihn nicht unweigerlich entdecken, wenn er sich von dem Baum entfernte?

Stimmen wurden hinter seinem Rücken laut. Mehrere Männer, die näher kamen.

Hagen ließ sich fallen und rollte unter den gefällten Baumstamm, der ein leidlich gutes Versteck abgab. Er schloß die Augen - als ob das einen Unterschied machte! - und lauschte.

Jemand fluchte, ein anderer stieß ein gedämpftes »Nun seht euch das an!« hervor. Sie waren noch zu weit entfernt, um Hagen entdeckt haben zu können - wenigstens redete er sich das ein. Allmählich kamen ihre Schritte näher, jetzt viel schneller. Sie rannten an seinem Versteck vorbei, ohne ihn zu bemerken, weil irgend etwas anderes ihre Aufmerksamkeit beanspruchte.

Er hörte, wie sie stehenblieben, unweit des Ufers.

»Sind sie tot?« fragte einer.

»Nein«, erwiderte ein anderer. »Bewußtlos.«

»Der Hundsfott muß sie niedergeschlagen haben.«

»Ich seh’ keine Wunden. Aber ihre Gesichter...«

»Als wäre ihnen der leibhaftige Satan erschienen«, stöhnte jemand.

Sie haben irgendwen gefunden, dachte Hagen. Und dann durchfuhr ihn die Erkenntnis: Das konnten nur die Wächter sein. Offenbar lagen sie ohne Bewußtsein am Ufer, mußten dort schon gelegen haben, während er mit Nimmermehr sprach.

»Der Kerl ist ins Wasser gegangen«, sagte einer der Männer. »Er hat sie von hinten überrumpelt und ist dann an Land geschwommen.«

»Dann kriegen wir ihn nicht mehr.«

»Was soll’s«, meinte einer ergeben. »Der war sowieso blind. Außerdem liegt das Gold sicher beim Vorsteher.«

Den Geräuschen nach machten die drei sich an den Bewußtlosen zu schaffen. Ohrfeigen ertönten, dann leises Stöhnen. Wasser klatschte irgendwem ins Gesicht.

»Sieht aus, als müßten wir sie tragen.«

»Verfluchter Mist!«

»Ich hätte den Kerl gern brennen sehen.«

»Ach, was. Wir hätten ihn doch nur mit rauf zu den Hütten schleppen müssen.«

»Du bist jetzt wohl auf der Seite von diesem Schweinehund?« fuhr einer auf.

»Paß auf, was du sagst!«

Ein schnelles Rascheln ertönte, dann ein dumpfer Schlag.

»Hört auf, verflucht nochmal!« schrie der dritte Mann.

Noch mehr Rascheln, unterdrückte Flüche und Beschimpfungen, dann war der Streit geschlichtet.

»Wir haben keine Zeit für eure Kindereien. Das Wasser steigt immer schneller. Bis zum Abend muß das Dorf geräumt sein.«

»Die Frauen und Kinder müßten mittlerweile alle an Land sein.«

»Wenigstens sind dann die Hütten sauber, wenn wir kommen.« Jemand lachte rauh.

»Hast du deinen Karren schon beladen?«

»Ich denke gar nicht dran. Ich hab alles unterm Dach verstaut. Das Wasser reicht fast schon bis zur Brücke. Wenn das den Karren mitreißt, dann schwimmt mein Zeug im Fluß. Nee, oben im Haus ist es sicherer, bis dahin steigt das Hochwasser nicht.«

»Wollen wir hoffen, daß es nicht wieder über die Dächer steigt.«

»Hört endlich auf mit dem Gerede und packt an! Du bist am stärksten, du kannst Norwin allein tragen. Wir beiden schnappen uns Wibald.«

Jener, der einen Mann allein tragen sollte, murrte. »Ich hätte Lust, den Dummkopf hier liegen zu lassen. Läßt diesen blinden Bastard einfach entkommen...«

»Norwins Weib wird dir den Arsch versohlen, wenn du ihren Goldschatz ersaufen läßt.« Der Sprecher kicherte.

»Fangt ihr jetzt schon wieder an?«

»Ist ja gut«

Stöhnen und Keuchen verriet, daß die Ohnmächtigen aufgehoben und davongetragen wurden. Wenig später kehrte Ruhe ein, die Männer waren fort.

Hagen lag stocksteif in seinem Versteck. Ein einziges Wort hallte wie ein Echo in seinem Kopf wider.

Hochwasser.

Warum hatte Nimmermehr ihn nicht gewarnt? Was für ein Spiel spielte sie mit ihm?

Die Vorstellung, auf der Halbinsel gefangen zu sein, während von allen Seiten das Wasser herankroch, ohne einen Ort zur Flucht - wenigstens nicht für einen Blinden -, jagte ihm eisiges Entsetzen ein.

Noch einmal überkam ihn die Erkenntnis: Zunderwald versank im Rhein, und Nimmermehr hatte ihm nichts davon gesagt! Sie hatte ihn hier sitzenlassen, allein, auf sich gestellt, während die Menschen in ihre Fluchthütten am Ufer entkamen.

Mühsam rief er sich zur Ruhe, versuchte, sich allein auf das zu konzentrieren, was er als nächstes tun mußte. Fest stand, daß er ungesehen ins Dorf gelangen mußte. Am besten war, wenn er sich in Geduld übte und noch eine Weile wartete, bis Zunderwald geräumt war.

Dennoch hatte er keine Wahl. Er mußte abwarten, bis die Leute fort waren. Vielleicht gelang es ihm dann, sich in eines der Häuser vorzutasten und unters Dach zu klettern, dorthin, wo ihn das Wasser nicht erreichen konnte.

Aber auch dann war er noch nicht in Sicherheit. Wie lange würde er dort oben festsitzen, ganz ohne Nahrung und, schlimmer noch, ohne Gold! In spätestens einer Woche war das nächste Opfer fällig.

Freilich, wenn es ihm gelang, vorher das Haus des Vorstehers zu finden, Runolds Schatz zu stehlen und in den Fluß zu werfen...

Liebe Güte, dachte er und hätte beinahe lauthals aufgelacht; du bist blind! Blind! Du kannst nicht einmal drei Schritte ohne fremde Hilfe gehen, und da willst du ein Wunder vollbringen?

Er war nahe daran, endgültig zu verzweifeln. Dennoch riß er sich zusammen, kauerte sich neben dem Baumstamm zusammen und begann zu warten.

Er wartete lange Zeit, während sich in seinem Kopf die Gedanken und waghalsigen Pläne überschlugen, die er ein ums andere Mal verwarf.

Währenddessen glaubte er zu hören, wie der Fluß immer näher kam. Das Rauschen schien lauter zu werden, das abscheuliche Flüstern der Strömung deutlicher. Gelegentlich hörte er laute Rufe, die vom Dorf herübertönten, manchmal auch das Knirschen von Karrenrädern. Immer wieder erklang das Getrappel von Hufen auf Holz. Daß die Dorfbewohner die Brücke benutzten, schien ihm ein Hinweis darauf, daß die Landverbindung zum Ufer längst unter Wasser stand.

Es war schwierig, die Länge eines Tages abzuschätzen, doch als Hagen keine Geräusche mehr vom Dorf her hörte und sein Gefühl ihm sagte, daß es Abend geworden war, machte er sich auf den Weg.

Den Tag über hatte er hin und wieder geglaubt, vor seinem rechten Auge erneut einen Schimmer von Helligkeit wahrzunehmen. Er war nicht sicher, ob ihm nicht seine Einbildungskraft einen Streich gespielt hatte, aber er setzte all sein Hoffen auf diesen winzigen Lichthauch. Wie lange konnte es jetzt noch dauern, bis er auf dem einen Auge wieder sehen konnte? Drei Tage? Drei Wochen? Er hatte nicht die geringste Vorstellung.

Er kämpfte sich erneut auf die Füße und war verwundert, wie starr seine Glieder vom langen Sitzen geworden waren. Mit einem festen Stock, den er tastend zwischen den Bäumen gefunden hatte, suchte er nach Anzeichen für einen befestigten Weg, den die Männer am Morgen gegangen sein mochten.

Er fand ihn schon nach wenigen Schritten. Hier war der Boden festgeklopft und federte nicht wie am Fuß der Bäume; auch lagen keine Äste und Steinbrocken umher. Mit seinem Stock tastete er sich vor und betete, daß Zunderwald wirklich verlassen war. Wenn man ihn jetzt entdeckte, würde man ihn auf der Stelle töten.

Doch niemand schien ihn zu sehen. Nach zwanzig Schritten wandte er sich versuchsweise nach rechts und ging so lange vorwärts, bis sein Stock gegen eine feste Wand stieß. Ein Haus. Also hatte er die Grenze des Dorfes überschritten.

Er wandte sich wieder um und setzte seinen Weg fort, ließ die Stockspitze dabei an der Mauer schleifen. Er wünschte sich einen zweiten Stock, mit dem er den Boden vor sich hätte abtasten können, gemahnte sich aber, daß das Glück ihm wohl hold genug gewesen war.

Das nächste Gebäude war leicht nach hinten versetzt. Hagen kam an eine Tür, überlegte, ob er hineingehen sollte, entschied sich aber dann dagegen.

Das Schleifen des Stockes war nicht zu überhören. Falls sich wirklich noch jemand in Zunderwald befand, so mußte er Hagen jetzt bemerkt haben. Noch immer aber rührte sich nichts. Auch als er noch einmal stehenblieb und lauschte, war alles, was er hörte, ein Fensterladen, der im Wind auf und zu schlug.

Er fragte sich, ob die Dorfbewohner keine Wachen aufgestellt hatten. Für Räuber mußte es ein leichtes sein, von der Flußseite in Zunderwald einzudringen und die verlassenen Häuser zu plündern. Die Fluchthütten lagen sicher nicht allzu weit entfernt, wahrscheinlich am nahen Uferhang, da, wo das Hochwasser sie nicht erreichen konnte. Wenn die Dorfbewohner ihn von dort aus entdeckten, würden sie sicher jemanden herunterschicken, der ihn ein für allemal erledigte.

Dann fiel ihm ein, daß es vielleicht schon dunkel war. Ja, bestimmt war es das. Deshalb sah niemand, wie er sich durch die leeren Straßen schleppte! Dann hatte er tatsächlich lange genug gewartet. Ein kleiner, aber wichtiger Erfolg.

Ruckartig blieb er stehen. Fast wäre er gegen eine Mauer gelaufen; das nächste Haus war weit vorgezogen, oder aber die Straße machte einen Biegung. Er machte eine Vierteldrehung, lief bis zur nächsten Ecke an der Wand entlang und bog dann wieder nach rechts. Den Fenstern und der Tür nach war dies die Vorderseite. Das hieß, die Straße verlief weiter geradeaus.

Ihm war klar, daß er eigentlich gar nicht wußte, was er hier tat. Wenn Nimmermehr nicht bald auftauchte und ihm half, Runolds Gold aus dem Haus des Vorstehers zu holen und in den Fluß zu werfen, konnte er wirklich nichts anderes tun, als sich vor dem Hochwasser auf irgendeinem Dachboden zu verkriechen.

Hagen gestand sich endgültig ein, daß er in Zunderwald gefangen war.

Selbst wenn Nimmermehr zurückkehrte - er konnte ihr schwerlich noch einmal vertrauen. Andererseits war sicher sie es gewesen, die die beiden Wachen überwältigt hatte, damit es so aussah, als sei Hagen schwimmend ans Ufer geflohen. Damit hatte sie zumindest dafür gesorgt, daß nicht mehr nach ihm gesucht wurde.

»He!« sagte eine Männerstimme. »Blinder Mann!«

Hagen blieb stehen. Schützend hob er den Stock wie ein Schwert. Die Bewegung mußte mehr als lächerlich wirken.

Er war ihnen direkt in die Falle gelaufen!

»Ich mag blind sein«, gab er so kühn wie nur möglich zurück, »aber ihr werdet kein leichtes Spiel mit mir haben.«

Ein Moment des Schweigens verging, dann war die Stimme ganz in seiner Nähe. »Wollt Ihr einem Mann Gottes drohen?« fragte sie sanft.

»Jedem, der es wagt, näher zu kommen.«

»Nun, ich bin näher gekommen. Aber nicht, um Euch zu schaden. Ihr seht aus, als könntet Ihr Hilfe gebrauchen - meine bescheidene und die unermeßliche des Herrn.«

Hagen ließ sich von den Worten des Mannes nicht beirren. »Sprecht Ihr von der gleichen Art von Hilfe, die Ihr Runold habt zukommen lassen?«

»Wüßte ich, wer Runold ist, könnte ich Euch darauf eine Antwort geben, mein Freund.«

Hagen mußte sich eingestehen, daß dies nicht wie die Stimme eines aufgebrachten Mörders klang. Zudem schien der Sprecher allein zu sein. Es gab weder Gemurmel im Hintergrund noch das Scharren von Füßen. Nur die warmherzigen Worte eines einzigen Mannes.

»Ihr seid ein Mann des Christengottes?« fragte Hagen argwöhnisch.

»In der Tat. Und ich habe so oft Nächstenliebe gepredigt, daß ich Euch schwerlich allein hier draußen stehenlassen kann. Das Hochwasser wird bald die ersten Häuser erreichen.«

»Ist es Nacht?«

»Stockfinstere noch dazu«, gab der Priester zur Antwort. Der Stimme nach war er nicht mehr jung. »Laßt mich Euch in meine Unterkunft führen. Dort können wir ausharren, bis die Gefahr vorüber ist. Es gibt sogar Vorräte im Überfluß. Aber sagt, mein Freund, wie ist Euer Name?«

»Ich bin Hagen von Tronje.«

Eine Hand legte sich sanft auf Hagens Unterarm. Er zuckte kurz, ließ dann aber geschehen, daß der Priester ihn führte. Nach einigen Schritten sagte der Mann: »Mich nennt man Bruder Morten.«

Hagen blieb wie vom Blitz getroffen stehen, öffnete den Mund - und schloß ihn wieder. Es war besser, er würde sich nichts anmerken lassen.

»Seid Ihr aus Zunderwald?« fragte er statt dessen als sie weitergingen.

»Nur auf der Durchreise.«

»Im Auftrag des Herrn, nehme ich an.«

»Aber ja.«

»Weshalb seid ihr nicht vor dem Hochwasser geflohen wie alle anderen?«

»Der Wille des Herrn hat mich hierher entsandt, und ich werde bleiben, bis der Herr mich von hier abberuft. Der Dorfvorsteher war so freundlich, mir für die Zeit meines Aufenthalts sein Haus zur Verfügung zu stellen.«

Hagen blieb gefaßt. »Ihr wohnt im Haus des Vorstehers?«

»Auf dem Dachboden. Man sagte mir, ich sei dort sicher vor dem Hochwasser. Aber vielleicht wird es gar so arg nicht kommen. Ich habe das Dorf gesegnet, damit ihm das Schlimmste erspart bleibt.«

»Ihr glaubt, Euer Segen kann das Wasser zurückdrängen?«

»Wenn es der Wille des Herrn ist, ja.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Moses hat ein ganzes Meer verdrängt, als Gott ihm die Macht dazu gab.«

Hagen wußte nicht, wer Moses war, aber er hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß irgendwer Macht über ein Meer haben konnte. »So seid Ihr nach Zunderwald gekommen, um die Worte der Bibel zu verkünden?« fragte er.

Bruder Morten zögerte einen Moment. »Für Segen und Predigt ist immer Zeit, ganz gleich wohin meine Mission mich führt. Aber was ist mit Euch selbst, Hagen von Tronje? Ihr scheint gleichfalls fremd hier zu sein.«

»Ein Mann namens Runold hat mich gezwungen, ihn hierher zu begleiten.«

Der Priester verharrte. »Ihr meint den Mann, der von den Dorfbewohnern hingerichtet wurde? Lieber Himmel, Ihr müßt mir glauben, daß ich versucht habe, seinen Tod zu verhindern.« Er klang jetzt ehrlich aufgebracht, und der Druck seiner Finger auf Hagens Unterarm wurde kräftiger, fast schmerzhaft. »Sie wollten nicht auf mich hören, sagten, er sei ein Sünder vor Gott.«

»Nicht vor dem Euren«, entgegnete Hagen. »Sein Vergehen war es, Menschen zu Göttern zu machen - zumindest ließ er die Leute das glauben. Er hat einen schönen Batzen Gold damit verdient, wie ich hörte.«

»O ja«, stöhnte Bruder Morten. »Das hat er wohl. Die Dorfbewohner haben es sichergestellt und im Haus des Vorstehers untergebracht. Ich erklärte ihnen, daß auch das eine Art der Sünde wäre, aber sie stritten es ab. Schließlich versprachen sie mir, es den Vertretern der christlichen Kirche zukommen zu lassen.«

»Also Euch«, bemerkte Hagen. »Mir?« fragte Morten entsetzt. »Der Herr bewahre mich vor solchen Gaben. Nein, ich könnte es auf meinen Reisen nicht einmal tragen, geschweige denn ausgeben. Ich bin ein bescheidener Mensch. Gold ist eher für die Kirchenherren bestimmt, für den Bau neuer Gotteshäuser.«

»Der Vorsteher hat Euch tatsächlich versprochen, das Gold solch ehrbaren Zwecken zukommen zu lassen?«

»Er leistete einen Eid auf die Bibel.«

»Welch großzügige Geste.«

»Allerdings, mein Freund, allerdings.« Hagen wurde nicht schlau aus seinem Führer. Wenn dies der Morten von Gotenburg war, vor dem Nimmermehr solche Angst gehabt hatte - und daran konnte eigentlich kein Zweifel bestehen -, wie ließ sich ihre Beschreibung dann mit dem Mann vereinbaren, der jetzt neben ihm ging?

»Sagt«, bat Hagen, »wie ist Euer voller Name?«

»Er wird Euch nichts sagen. Ich stamme aus dem Geschlecht derer von Gotenburg. Warum wollt Ihr das wissen?«

»Mir war, als hätte ich schon von Euch gehört.«

»Ihr scherzt!« Der Priester wirkte erfreut. »Dann eilt mir die Lehre Gottes voraus?«

Hagen zögerte. »Ja, so könnte man es nennen.«

Morten schien seine Zurückhaltung nicht zu bemerken. Statt dessen redete er weiterhin fröhlich drauflos. Von seinen Reisen sprach er, von den zahllosen Sünden, die er auf seinem Weg hatte mitansehen müssen, aber auch vom Guten in den Menschen, selbst in jenen, denen man es nicht ansah.

Als Bruder Morten stehenblieb und eine Haustür öffnete, tat Hagen, als stolpere er. Dabei ließ er sich gegen den Priester fallen und fuhr wie zufällig mit der freien Hand über dessen Gewänder.

»Wartet, wartet, mein Freund«, rief Morten aus und klang vergnügt. »Das Haus läuft uns nicht fort.«

Morten trug einen langen Umhang oder Mantel, vielleicht auch eine weite Kutte. Aber winzige Teufel, wie Nimmermehr gesagt hatte, saßen keine darunter. Morten schien nichts weiter zu sein als ein untersetzter, ja geradezu kleinwüchsiger älterer Mann, der zu Leibesfülle neigte; eine Gestalt, wie Hagen sie schon zu Dutzenden in den Klöstern der Christenorden gesehen hatte.

Der Priester führte ihn vorsichtig eine enge Holztreppe hinauf, dann eine zweite, bis sie auf dem Dachboden des Hauses standen. Es roch nach Tuch und Kleidung, die hier oben zum Trocknen aufgehängt wurden, nach Staub und Holz und kaltem Rauch.

»Seid so gut und beschreibt mir Eure Kammer, Bruder Morten«, bat er.

Der Priester half ihm, sich auf einem Schemel niederzulassen. »Es ist keine wirkliche Kammer, nur der hohle Giebel des Hauses. Der Dachboden ist ziemlich groß, aber der Vorsteher und seine Familie haben all ihren Besitz hier oben verstaut, und so ist nicht allzuviel Platz übriggeblieben. Es gibt ein offenes Kaminfeuer, außerdem hängen überall Laken und Decken.« Er lachte leise. »Es soll aussehen, als seien sie von der letzten Wäsche übriggeblieben. Aber ich vermute, der Vorsteher ließ sie aufhängen, damit sie sein Hab und Gut vor meinen Blicken schützen.«

»Er hat Euch kein Bett unten im Haus angeboten?«

»Das wäre mir nicht recht gewesen. Die Kargheit dieses Speichers läßt mich nur noch inniger Gottes Nähe und Wärme spüren.«

Am Rascheln der Kleidung hörte Hagen, daß auch Morten sich irgendwo hinsetzte.

»Bewahrt Ihr das Gold hier oben auf?« fragte Hagen.

»Ihr wollt es doch nicht stehlen, nicht wahr?« Einen Moment lang klang der Priester erschrocken, dann aber lachte er beschämt. »Verzeiht mir, Freund Hagen, ich vergaß Eure Blindheit... Ihr müßt mein Mißtrauen entschuldigen, gerade einem Kranken wie Euch gegenüber, aber -«

»Ich bitte Euch«, unterbrach Hagen ihn rasch. »Ihr habt mich gerettet. Wie könnte ich Euch etwas übelnehmen?«

»Habt Dank, mein Freund. Was das Gold angeht... es liegt gleich neben Euch, ein ganzer Sack voll.«

Hagen streckte die Hand aus und ertastete tatsächlich nach kurzer Suche grobes Leinen, das sich über etwas Hartem spannte. Seine Finger fanden eine Öffnung und glitten hinein. Er fühlte Münzen, unzählige Münzen, aber auch Ringe, Ketten und Geschmeide. All das schien ihm weniger der Lohn für Runolds Vorführungen zu sein als vielmehr die Beute eines Diebes. Offenbar war der Gaukler nicht davor zurückgeschreckt, seine Zuschauer um das eine oder andere edle Stück zu erleichtern. Er fragte sich, ob die falschen Götter von den Räubereien ihres Anführers gewußt hatten.

»Ich möchte Euch um eine ehrliche Antwort auf eine Frage bitten, Bruder Morten.«

»Natürlich, mein Freund.«

»Habt Ihr je zuvor meinen Umhang gesehen?«

Morten lachte verwundert. »Euren Umhang? Ein schönes Stück, zweifellos. Aber ich habe es heute zum ersten Mal gesehen. Ich bin sicher, es wäre mir in Erinnerung geblieben. Vor allem der Kragen aus Rabenfedern ist wundervoll gewirkt. Es sind doch Rabenfedern, nicht wahr?«

»Ja.« Hagen entspannte sich und versuchte, seine Gedanken in geordnete Bahnen zu zwingen. Nimmermehr hatte gesagt, sie habe den Mantel von Morten gestohlen. Noch eine Lüge.

Er faßte sich ein Herz und fragte: »Kennt Ihr ein Mädchen namens Nimmermehr?«

Morten schwieg eine Weile, und Hagen wünschte sich verzweifelt, er könnte sein Gesicht sehen, die Empfindungen, die es ausdrückte. So aber mochte Mortens Schweigen alles mögliche bedeuten.

Schließlich sagte der Priester nachdenklich: »Das ist ein merkwürdiger Name. Aber ich glaube nicht, daß ich ihn je zuvor gehört habe. Mein Gedächtnis ist nicht das beste, aber einen Namen wie diesen... nein, den habe ich nie gehört. Sagt mir, wer ist dieses Mädchen?«

»Jemand, den ich vor einigen Tagen getroffen habe«, entgegnete Hagen geschwind, ohne etwas preiszugeben.

»Sie muß über ein edles Wesen verfügen, wenn Ihr Euch nach ihr erkundigt, ohne sie je gesehen zu haben.«

»Ein edles Wesen, ja«, gab Hagen tief in Gedanken zurück.

Morten kicherte. »Nun, ich sehe schon, Ihr wollt mir nicht mehr davon erzählen. Ich bin ein Priester und wäre Euch in diesen Belangen ohnehin kein guter Ratgeber.«

Bemüht, so schnell wie möglich das Thema zu wechseln, fragte Hagen: »Was gedenkt Ihr eigentlich zu tun, wenn Räuber vom Fluß aus über Zunderwald herfallen? Das Gold liegt hier oben vollkommen unbewacht.«

»Oh, sie werden es nicht so einfach haben, wie Ihr glauben mögt, mein Freund.« Morten kramte lautstark zwischen irgendwelchen Gegenständen, dann drückte er Hagen einen langen Holzstab in die Hand. »Mein treuer Speer«, erklärte er. »Er hat mir auf meinen Reisen gute Dienste geleistet. So manchen Wegelagerer habe ich damit in die Flucht geschlagen, das dürft Ihr mir glauben. Wenn wirklich Räuber kommen und sich am Gold der Kirche vergreifen wollen, nun, dann sollen Sie kommen und sich Ihre Abreibung holen.«

Die kindliche Selbstüberschätzung des Priesters rührte Hagen zutiefst. Er tastete an dem Speer entlang und fand an seinem Ende eine scharfe, langgezogene Spitze, fast wie die Klinge eines Kurzschwertes.

»Wenn Ihr wollt«, sagte Morten, »dann behaltet ihn für eine Weile als Stock. Ich brauche ihn im Augenblick nicht, und er scheint mir besser geeignet als der krumme Ast, den Ihr aufgelesen habt.«

»Glaubt Ihr, daß das nötig ist? Ich meine, hier oben im Haus brauche ich keinen Stock und -«

»Ach, was«, fiel Morten ihm ins Wort. »Nehmt ihn schon. Ihr seht aus wie ein Krieger, ganz gleich ob blind oder nicht, und Ihr werdet schon wissen, wie man mit so einem Ding umzugehen hat, ohne daß Ihr einem von uns damit den Bauch aufschlitzt.«

»Ihr seid ein wahrlich guter Mensch, Bruder Morten.«

»Alle Menschen sind gut, Freund Hagen, nur daß manche es besser zu verbergen wissen als andere.«

»Wie lange seid Ihr schon Priester?« Hagen rammte die Spitze des Speers in den Boden, damit er ihm mehr Halt geben konnte.

»Über dreißig Jahre.«

»Und Ihr habt es nie bereut?«

Leise Erheiterung sprach aus Mortens Stimme. »Es gab die ein oder andere Versuchung des Fleisches, wenn es das ist, worauf Ihr hinauswollt. Aber das ist lange her. Damals war ich jung und noch nicht so gefestigt im Glauben wie heute.«

»Hattet Ihr jemals mit Geistern zu tun?« Hagen sprach das Wort nur mit Widerwillen aus. Zu nahe war der Fluß, zu nahe der Siebenschläfer.

»Abgesehen vom Heiligen Geist, meint Ihr?« Morten zögerte kurz, dann fuhr er fort: »Hin und wieder hat man mich gebeten, eine Austreibung vorzunehmen. Man könnte sagen, daß ich eine gewisse Übung darin habe, arme Menschen vom Fluch der Toten zu reinigen. Aber ich muß zugeben, daß es lange Zeit zurückliegt, seit ich dergleichen gewagt habe.«

Hagen spürte, daß ein zaghaftes Zittern durch seine Glieder strömte.

»Ist Euch kalt?« fragte Morten. »Wartet, ich helfe Euch hinüber zum Kamin.«

Der Priester nahm ihn bei der linken Hand. Mit der Rechten stützte Hagen sich auf den Speer, benutzte ihn wie eine Krücke, während er dem Mann die wenigen Schritte zum Kaminfeuer folgte.

»Laßt mich Holz nachlegen«, sagte Morten und ließ Hagen los.

Unruhig tastete Hagen die Hand vor, berührte die Kutte des Priesters. Morten hockte vor ihm am Boden, hatte ihm den breiten Rücken zugewandt. Holzblöcke polterten in die Flammen, es knisterte.

»Es ist feucht hier oben, das tut weder uns noch dem Feuer gut.« Er schien mit irgend etwas in der Glut zu stochern.

»Es tut mir leid«, sagte Hagen.

»Was meint Ihr?« fragte Morten, immer noch mit dem Kamin beschäftigt. »Daß die Flammen so leicht ausgehen? Daran trifft Euch nun wahrlich keine Schuld.«

»Nein«, sagte Hagen leise. Und nochmal: »Es tut mir leid.«

Dann nahm er den Speer in beide Hände, zielte blind und rammte ihn dem Priester zwischen die Schulterblätter.



Er fror, als er hinaus auf die Straße trat. Ein eiskalter Wind peitschte vom Fluß herüber durchs Dorf, heulte in den verwinkelten Gassen und Treppenfluchten, pfiff durch morsche Dächer und klappernde Fensterläden. In der Ferne schlugen Hunde an, irgendwo am Ufer, bei den Fluchthütten. Die Strömung sang ein klagendes Trauerlied, durchsetzt vom Wispern und Kichern der Geister. Stimmen voller Häme, Gesänge aus der Tiefe des Leids.

Hagen schulterte den Goldsack und tastete sich mit dem blutigen Speer die Straße entlang. Mehrmals drohte er zu stolpern, doch sein Wille trieb ihn weiter voran. Er hörte, wie über ihm am Himmel die Raben krächzten, doch keiner von ihnen kam näher oder setzte sich auf seiner Schulter nieder. Er flößte sogar den Tieren Furcht ein, hager und ganz in Schwarz, bis zum Scheitel mit Mortens Blut besudelt.

Er folgte dem Glühen vor seinem rechten Auge und wußte, daß es ihn nach Süden führte, zum unteren Ende der Landzunge. Die Dorfstraße verlief vollkommen gerade, Hagen stieß nirgendwo an. Gut möglich, daß ein anderer ihm den Weg wies; jemand, der sich vor Gier und Vorfreude verzehrte. Der Fluß war unersättlich. Forderte, forderte.

Das Gelände stieg kaum merklich an. Hagen mußte die Häuser hinter sich gelassen haben. Der Schimmer vor seinem Auge schien zum Leben zu erwachen, er begann jetzt zu zucken, zu flackern. Fauchen und Knistern lag in der Luft. Tannennadeln knallten, als die Flammen auf sie übergriffen. Es wunderte Hagen nicht mehr, als die gelbrote Helligkeit sich bei seinem Näherkommen aufspaltete. Aus einem Feuer wurden fünf. Fünf brennende Tannen.

Hitze schlug ihm entgegen und vertrieb die Kälte der Nachtwinde. Nur das Eis in seinem Innerem ließ die Wärme unangetastet.

Als die Glut auf der Haut fast unerträglich wurde, blieb Hagen stehen. Er stützte sich schwer auf Mortens Speer und wuchtete den Goldsack auf den Boden. Münzen und Geschmeide klirrten beim Aufprall.

Die Stimmen der Flußgeister wirbelten in seinen Ohren, drifteten auseinander, fanden neue Form, verdichteten sich, mal zu unverständlichen Worten, dann wieder zum Rauschen der Strömung.

Nimmermehr war plötzlich neben ihm.

»Sag, Hagen, wie lange ist es her, daß du begonnen hast, für Gold zu morden?«

Ihre Stimme: so leise, so zaghaft, so sanftmütig.

Hagen war müde, die Erschöpfung schwächte seine Sinne. »Ich hatte nie eine andere Wahl.«

Der schwarze Abgrund vor seinem zerstörten linken Auge wurde allmählich von dem Flackern von rechts verdrängt. Was immer in der Tiefe gelauert hatte - es würde entweder von dem Licht emporgespült oder vernichtet werden.

»Aber wie lange ist es her?« fragte sie beharrlich. »Wann ist es zum ersten Mal geschehen?«

»Kurz, nachdem ich die Burg des Otbert von Lohe verließ.« Nach einem langen Atemzug fügte er hinzu: »Die Burg deines Vaters, Malena.«

Nimmermehrs Stimme wechselte von seinem linken zum rechten Ohr, ohne daß er eine Bewegung wahrnahm. Kein Luftzug, kein Geräusch. »Malena? Nein, Hagen. Nicht Malena.«

Er zögerte, versuchte nachzudenken. Dann, auf einen Schlag, verstand er. »Nane«, sagte er leise. »Du bist Nane.«

»Malenas Schwester, ja«, sagte sie bar jeder Empfindung. »Ich war nicht zu Hause, als es geschah. Ich habe geweint, weil du und Malena fortgeritten wart. Ich bettelte und flehte so lange, bis Mutter mir gestatte, mit meiner Amme einen Ausflug in die Wälder zu machen. Wir versprachen ihr, uns nicht weit von der Burg zu entfernen, dennoch verirrten wir uns. Als wir den Weg zurück fanden, war es dunkel. Wir sahen vom Waldrand aus, wie du die Burg verließest, in voller Rüstung, mit Vaters Langbogen bewaffnet. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, aber die Amme hat es mir später erzählt. Nachdem ihr klargeworden war, daß alles Leben aus der Burg verschwunden war, brachte sie mich weit, weit fort und zog mich auf, in einem Dorf am Fluß, ähnlich wie diesem hier.

Jahre später überraschte uns in einer Nacht das Hochwasser. Die meisten Menschen konnten sich retten, sie hatten gelernt, wie man schwimmt. Ich nicht. Meine Amme überlebte, aber ich ertrank. Das Mädchen Nane wurde eins mit den Rheingeistern.

Von ihnen erfuhr ich, was meiner Familie zugestoßen war, und auch, wer die Schuld daran trug. Dennoch: So lange ich auch suchte, Malena und meine Eltern waren nicht unter den verlorenen Seelen am Grunde des Flusses. Sie waren anderswo, denn der Siebenschläfer verweigerte ihnen die Gnade, mit den anderen durch die Tiefen zu schweben.

Ihre Seelen waren zu Gefangenen geworden, an einem Ort, den die Geister das Herbsthaus nannten. Lange Zeit suchte ich nach dem Siebenschläfer, um ihn anzuflehen, mich zu ihnen zu bringen, doch ich fand ihn nicht. Er ist nicht wie wir anderen. Er ist böse, verschlagen und hinterhältig, und er spricht allein durch seine drei Dienerinnen, zeigt sich selbst keinem anderen, nicht einmal den übrigen Geistern des Flusses.

Eine Ewigkeit lang zog ich durch die Klüfte des Rheins, durch die eisigen Abgründe, wo das Schreien und Flehen und Weinen niemals ein Ende hat. Doch das alles war vergebens - bis mir endlich klar wurde, was ich zu tun hatte. Wenn ich nicht zum Siebenschläfer kommen konnte, dann mußte er zu mir kommen. Und es gab nur einen, der regelmäßig mit ihm oder seinen Dienerinnen zusammentraf.«

Hagen hob den Speer und schleuderte ihn voraus in die lodernde Helligkeit. Ein kaum hörbares Klatschen verriet, daß der Wurf fehlgegangen war; der Speer war irgendwo im Rhein versunken. Es würde noch Tage, noch Wochen dauern, bis er wieder sehen oder gar zielen konnte.

»Du warst die ganze Zeit über bei mir?« fragte er ins Leere. »Während ich mit Runold ritt, bewußtlos in der Scheune lag - und auch auf dem Dachboden?«

»Die ganze Zeit«, bestätigte Nanes Geist. »Niemand sieht mich, Hagen. Das gilt nicht nur für dich, sondern auch für jeden anderen, ganz gleich ob sehend oder blind. Ich kann dich meine Stimme hören lassen, und ich kann dir das Gefühl geben, mich zu berühren. Aber sehen? Nein, Hagen, sehen kann mich keiner.«

Er brauchte eine Weile, um die Bedeutung ihrer Worte völlig zu erfassen. Dann erst sagte er langsam: »Dieses Gold, es hat niemals Runold gehört, oder?«

»Nein. Es gibt viel davon unten im Rhein, in den Wracks gesunkener Schiffe. Die Geister der Bootsleute behüten es mit wachsamen Blicken. Es war nicht leicht, etwas davon heraufzuholen.«

Die heiße, rauchgeschwängerte Luft strömte wie flüssige Glut in Hagens Brust. Er aber verschwendete keinen Gedanken an den Schmerz. »Du hast Runold das Gold untergeschoben um -«

»Die Gier der Dorfbewohner zu wecken, natürlich. Ich mußte die Gaukler loswerden, so schnell es nur ging. Und Zunderwald hat eine lange Tradition, was Raub und Diebstahl angeht.«

»Weshalb aber diese Geschichte über Bruder Morten? Warum das Gerede vom Pakt mit dem Bösen, von Teufeln unter seinem Mantel?« Die Hitze wurde immer unerträglicher, aber Hagen wagte nicht zurückzutreten, aus Angst, Nanes Geist, Nimmermehr, könne verschwinden.

»Ich kannte ihn schon lange. Er hat viele von uns vertrieben, die in die Körper von Menschen schlüpften. Er -«

Hagen unterbrach sie. »So wie du in die Tochter des Vorstehers geschlüpft bist?«

»Ja. So etwas ist schwierig, und niemals von Dauer, aber Priester wie Bruder Morten können uns dabei vernichten.«

»Er war ein guter Mann.«

»Was dich nicht daran gehindert hat, ihn hinterrücks zu ermorden.«

Hagen verzog keine Miene. »Ich habe es früher getan, und ich werde es in Zukunft tun. Das ist mein Fluch.«

»Dein Fluch ist es, dem Siebenschläfer Gold zu opfern, nicht Unschuldige zu töten!« Sie klang jetzt eine Spur schärfer.

»Das eine ist nur eine Folge des anderen.« Seine Stimme bebte; die Kälte, die er hineinlegen wollte, wirkte gekünstelt und falsch. Die Überzeugung, die er sich übergestreift hatte, war zu groß für ihn, wie ein falsches Paar Stiefel. Sie war für andere gemacht, nicht für ihn, und doch hatte er keine Wahl. »Du hast mir meine Frage nicht beantwortet«, sagte er langsam. »Warum dieses Märchen von Mortens Pakt mit dem Bösen?«

»Ich wollte sicher sein, daß du seine Unschuld und Reinheit in ihrer vollen Größe wahrnimmst«, gab sie zur Antwort. »Du hast einen Hexer erwartet, und begegnet ist dir ein Heiliger. Ich wollte wissen, ob du ihn trotzdem tötest.«

Er schnaubte verächtlich - nur ein weiterer schwacher Versuch, sich selbst zu schützen. »Und nun, da du es weißt?«

»Nun kann ich Malena berichten, was aus dir geworden ist«, sagte sie eisig. »Wenn ich ihr im Herbsthaus gegenüberstehe, wird sie erfahren, wie du wirklich bist, Hagen von Tronje. Und sie wird ihren Schmerz, von dir getrennt zu sein, überwinden können.«

Darauf schwieg er eine lange Zeit, während die fünf Tannen immer heller brannten. So wie sie Hagen den Weg gewiesen hatten, würden sie auch die Dienerinnen des Siebenschläfers herbeilocken.

Erst als er nicht mehr sicher war, ob Nanes Geist überhaupt noch um ihn wehte, stellte er seine letzte Frage:

»Warum dieser Ort?«

»Du hast ihn doch erkannt, oder?«

»Aber warum gerade hier?«

Jetzt lachte sie leise, hell und sanft und mädchenhaft. »Du hast ihn gesucht, Hagen. Ohne es zu wissen, vielleicht, ohne es wahrhaben zu wollen. Aber all deine Wege, deine Reisen, immer kreisten sie um dieses eine Ziel. Du wolltest erfahren, was damals unter dir war, in jener Nacht, als du zwischen den Tannenwipfeln dahintriebst. Du hast davon geträumt, nicht wahr? Von schwarzen Abgründen voller Bestien und böser Götter. Aber so war es nicht, Hagen. Da war nichts, als ein einfacher Opferplatz der Dorfbewohner, die mit dem Gold den Siebenschläfer um Schonung baten. Sie haben ihm geopfert, was sie von anderen geraubt hatten. Er aber hat ihr Flehen nicht erhört. Der Fluß überschwemmte ihre Häuser bis über die Giebel. Einige dieser Menschen warfen sich verbittert in die Fluten, trugen das Gold hoch hinauf in die Wipfel, damit das Wasser es nicht mehr erreichen möge. Und dann, Hagen, kamst du. Du hast nicht nur die Dorfbewohner um ihre Beute gebracht, du hast auch das Opfer des Siebenschläfers gestohlen. Du hast deine Strafe verdient, jeden Tag voller Elend, der über dich kam. Wir aber, die wir mitgerissen wurde von der Rachsucht des Siebenschläfers, wir waren unschuldig. Unschuldig, Hagen! Trotzdem wurde meine Familie zu einem Leid verdammt, das viel größer ist, als das deine je sein wird.«

Hagen ging in die Knie, schlug die Hände vors Gesicht. Lange Zeit hockte er da, während der Opferplatz des Siebenschläfers von den Flammen verzehrt wurde. Erst als er langsam den Kopf wieder hob und abermals ins Feuer blickte, kam ein Flüstern über seine Lippen.

»Aber ich war nur ein Kind! Nichts von all dem habe ich gewußt!«

Ihre Stimme wehte wie eiskalter Atem in sein Ohr. »Ich war auch nur ein Kind, Hagen. Malena war ein Kind. Sie hat nie -«

Ein tosender Windstoß übertönte ihre Worte, ein donnerndes Krachen und Rauschen erklang, und tausendfache Gischt sprühte Hagen ins Gesicht.

»Er kommt«, flüsterte er in den Lärm einer Flutwelle. »Der Siebenschläfer kommt.«

Und er nahm den Goldsack, ungeachtet von Nimmermehrs Anwesenheit, wandte sich von der Helligkeit ab und schleppte sich so lange vorwärts, bis seine Stiefel ins Wasser traten.

Er hörte dreistimmiges Kichern, dreistimmigen Wahnsinn. Dann entriß ihm eine Woge das Gold und zog es strudelnd in die Tiefe. Er selbst wurde nach hinten geschleudert, prallte zurück in aufgeweichtes Erdreich.

Ein Lufthauch schabte hart wie Eiskristalle an seiner Wange vorüber; Nanes Geist folgte den drei Wasserfrauen zum Herbsthaus. Sie würden ihr den Weg weisen, wissentlich, vielleicht, oder blind in ihrer Gier nach dem Gold und dem Lob ihres Meisters.

Hagen wollte sich erheben, rückwärts ins Trockene kriechen, als ihn eine weitere Welle erfaßte, mit sich in den Fluß riß, weit, weit hinaus, tanzend wie Treibholz über der eisigen Tiefe.

Ich ertrinke, dachte Hagen und war glücklich.

Aber er ertrank nicht. Der Siebenschläfer wachte neidisch über seinen Sklaven, und er spülte Hagen ans Ufer, fern von Zunderwald, fern aller Gefahr.


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