Kapitel 4


Hagens Ausflug zur Eiche hatte zur Folge, daß er eine weitere Woche im Bett zubringen mußte, eingesperrt in seiner Kammer, warmherzig umsorgt von Tilda, der Amme. Sie brachte ihm heiße Milch mit Honig, Brot und herzhaftes Fleisch und einmal sogar süßes Gebäck, das der Mundschenk für ihn hatte backen lassen. Hagens Vater, Graf Adalmar, kam jeden Abend vorbei, um nach ihm zu schauen, Dankwart sogar noch öfter, nur seine Mutter ließ sich nicht sehen. Wahrscheinlich war sie bei Viggo in der Kapelle und betete Rosenkränze für Hagens Genesung - so ihr überhaupt daran lag.

Im großen und ganzen erging es ihm während dieser Woche nicht schlecht, doch die Tatsache, daß die Tür verriegelt war, grämte ihn zutiefst. Die Aussicht aus dem einzigen Fenster, schmal und hoch wie eine Schießscharte, endete nach wenigen Schritten vor hohen Kiefern, die den Blick auf den Wald, den Fluß und die Klippe versperrten. Und auf den Baum, seinen Baum.

Am Abend des sechsten Tages bat er den Grafen: »Vater, ich würde gerne meine Eiche sehen können. Ich spüre, wie sie nach mir ruft. Ich muß sie sehen.«

Adalmars Gesicht umwölkte sich, denn es gefiel ihm nicht, daß ein Baum solche Macht über seinen Sohn hatte. Trotzdem beriet er sich mit Bärbart darüber und ließ sich von ihm überzeugen, daß alles zum Besten stünde.

Schon am nächsten Morgen wurde Hagen vom Lärm heftiger Axthiebe geweckt. Am Mittag schließlich lagen drei der Bäume gefällt neben dem Burggraben, und die Sicht war endlich frei.

Die Klippe ragte grau und spitz jenseits des Waldstreifens empor, und obenauf stand, wie die Warze auf Tildas Nase, Hagens alte Eiche. Er versuchte, den Spalt zu erkennen, doch die Entfernung war zu groß. Er spürte, daß das Stück Nacht noch immer im Baumstamm festhing, und darin, wie ein Edelstein auf schwarzem Stoff, ein winziger Splitter der Zeit.

Ob die Zeit sich ebenso eingesperrt fühlte wie er selbst in seiner Kammer? Etwas, das so uralt war wie sie, mußte die Gefangenschaft doch tausendmal schlimmer empfinden als er, der er nur ein Kind war und den Geschmack der Freiheit erst seit wenigen Jahren kannte! So seltsam es klang, plötzlich fühlte Hagen Mitleid mit der Zeit, mit jenem einsamen Augenblick, der aus seinem Gefüge gerissen und in einen Baum gesperrt worden war.

Und er fragte sich auch, ob das, was dem Baum und der Nacht und der Zeit angetan worden war, nur um einen kleinen Jungen zu heilen, wirklich richtig gewesen war.

Während er noch hinüber zur Klippe blickte, wurde er mit einemmal einer Bewegung gewahr, unten im Schatten des Waldes, nicht weit entfernt vom Ufer. Das Hochwasser war fast völlig zurückgegangen, der Rhein floß wieder in seinem angestammten Bett, und so verstieß die Gestalt dort unten nicht mehr gegen Adalmars Verbot, als sie sich so nahe am Fluß aufhielt.

Dankwart tat irgend etwas am Fuß einer Buche, unweit der einstigen Hochwassergrenze. Hagen blinzelte, um seinen Bruder besser erkennen zu können. Ja, er täuschte sich nicht: Es war Dankwart, und er grub etwas mit bloßen Händen aus der Erde. Dabei schaute er immer wieder verstohlenen Blickes in die Umgebung. Widerwillig trat Hagen einen Schritt zurück in den Schatten seiner Kammer, damit sein Bruder ihn nicht am Fenster entdeckte. Obwohl er keine Einzelheiten erkennen konnte, so hatte er doch nicht die geringsten Zweifel, was Dankwart dort unten versteckt hatte.

Unbändige Wut überkam ihn. Er spürte, wie sich Hitze in ihm breitmachte, so als setze der Zorn sein Inneres in Brand. Sein eigener Bruder hatte ihn bestohlen!

Starr blickte Hagen den Hang hinab, sah zu, wie Dankwart fündig wurde und ein hellbraunes Bündel zwischen den Wurzelsträngen hervorzog. Er öffnete es und wandte dabei Hagen den Rücken zu, so daß dieser nicht erkennen konnte, was sich darin befand.

Mein Gold! dachte Hagen immer wieder. Dieser Hundsfott hat mein Gold gestohlen!

Die Buche, an deren Fuß Dankwart kniete, war viele Mannslängen vom Baum der Zweiten Geburt entfernt. Doch als jetzt ein Wind aufkam, wandten sich die Äste der Eiche knarrend in Dankwarts Richtung, als wollten sie mit spitzen Zweigen nach ihm greifen.

Dankwart bemerkte es nicht, nahm überhaupt nichts um sich herum wahr. Er schien große Angst zu haben. Hagen wunderte sich, daß sein Bruder nicht zu seinem Fenster heraufblickte. Vor wem, wenn nicht vor Hagen, mußte er sich fürchten?

Irgend etwas stimmte nicht. Dankwart knüllte das Bündel zusammen, sprang auf und lief eilig Richtung Rheinufer. Auf dem Weg dorthin passierte er eine Mauer aus Tannen, die zwischen ihm und der Burg stand wie eine Reihe finsterer Wachtposten. Dahinter verschwand er aus Hagens Blickfeld.

Abermals ließ der Wind die Zweige der Eiche erbeben. Sie erinnerten Hagen an die ausgestreckten Hände einer Menschenmasse, die einer Hinrichtung entgegenfieberte.

Wo blieb Dankwart? Er hätte längst das andere Ende der Tannenmauer erreicht haben müssen.

Der Uferhang jenseits der Bäume blieb leer. Keine Spur von Dankwart.

Ein seltsames Gefühl beschlich Hagen, verdrängte seine Wut. Eine merkwürdige Mischung aus Furcht und angespannter Erwartung. Plötzlich wußte er, daß etwas geschehen würde. Und er war nicht sicher, ob er dabei zusehen wollte.

Ein Knirschen kroch über die Waldwipfel zum Fenster. Die Eichenzweige! Ihr morsches Reiben und Brechen drang bis zur Burg herauf, bis in Hagens Kammer, direkt an sein Ohr.

Ein Schemen lenkte seine Aufmerksamkeit von der Eiche zurück zum Spalier der Tannenwächter.

Da - sein Bruder lief den Hang hinunter! Er humpelte leicht, mußte hinter den Bäumen gestolpert sein. Über seinem rechten Knie war das Beinkleid zerrissen. Noch gut zehn Schritte, dann würde er am Ufer sein. Er lief so schnell er konnte, schaute sich nicht um. Falls etwas hinter ihm her war, so hatte er es noch nicht bemerkt.

Ein Rauschen lief durch die Reihe der Tannen. Der Wind, vielleicht - oder etwas, das sich von Stamm zu Stamm hangelte, rasend schnell im Schutz der Zweige.

Dankwart erreichte das Ufer. Die Strömung leckte zu seinen Füßen empor, schäumte vor Wut, als sie ihn nicht zu packen bekam.

Dankwart ergriff das Bündel mit der Rechten, holte weit damit aus.

Ein irres Kreischen gellte über den Wald.

Auch Hagen schrie. »Nein!« brüllte er aus dem Fenster, ein langgezogener Laut voller Zorn und Enttäuschung.

Das Bündel raste nach vorne. Der braune Sack sauste über das Wasser hinweg, noch in der Luft löste sich der Knoten. Gold regnete auf die Oberfläche herab, Geschmeide aller Art, grell und funkelnd. Wie Sternschnuppen sausten die Schmuckstücke über das Grau der Wellen, klatschten auf, versanken. Das zerfetzte Bündel fiel als letztes ins Wasser, wurde ebenso verschluckt wie sein Inhalt.

Die Tannen erstarrten im selben Augenblick. Ein Zittern durchlief die Krone der Eiche, dann erschlafften auch ihre Äste. Der Wind heulte weiter um die Burg, über die Wälder und den Fluß, aber er vermochte weder Eiche noch Tannen so zu bewegen wie noch vor wenigen Augenblicken.

Dankwart sackte am Ufer zusammen, sein Blick löste sich von der Oberfläche und huschte herauf zu Hagens Fenster.

Die beiden Brüder starrten sich stumm in die Augen.

Hinter Hagen flog mit einem Krachen die Tür auf.



»Ist Bärbart bei dir?«

Es war sein Vater, und er wirkte besorgt. Sein Gesicht war gerötet. Hinter ihm auf dem Gang standen zwei Männer seiner Leibgarde, die Hände an den Schwertgriffen.

Ehe Hagen noch aus seiner Erstarrung erwachen, den Schreck überwinden konnte, gab Adalmar sich selbst die Antwort: »Nein, offenbar nicht.« Trotzdem sah er sich eingehend um, als erwartete er ernsthaft, Bärbart habe sich unter Hagens Lager versteckt.

»War er hier?« fragte er schließlich. Er sah aus, als würde er ein Nein nicht akzeptieren, so zornig war sein Blick.

Hagen fand allmählich zurück zu sich selbst. »Nein«, stammelte er. »Nein, er war nicht bei mir. Was ist geschehen?«

Adalmar drängte an Hagen vorbei zum Fenster, schaute mit wildem Blick hinaus und stapfte wütend zurück zur Tür. »Bärbart ist fort. In Luft aufgelöst!«

Hagen versuchte, seinen Schmerz über den Verlust des Goldes zu überspielen. Bärbarts Verschwinden kümmerte ihn nicht, er hatte ihn nie gemocht. »Fort? Einfach so?«

»Vorher hat er noch mit Viggo gesprochen.«

»Mit Viggo?« Das war allerdings eigenartig; Bärbart und der Pfaffe hatten sich gehaßt.

»Bärbart hat ihm gesagt, es sei an der Zeit, daß er uns verläßt. Viggo behauptet, Bärbart habe ganz offensichtlich vor etwas Angst gehabt, er sei fahrig und unbeherrscht gewesen.«

»Ich glaube nicht, daß Bärbart Viggo gegenüber jemals beherrscht war.«

Adalmar hob eine Augenbraue. »Das hier ist kein Spaß, Junge«, sagte er scharf.

Hagen zuckte zusammen. »Natürlich nicht, Vater.«

»Bärbart hat Viggo aufgetragen, mir eine Nachricht zu übermitteln, einen gutgemeinten Rat.« Der Graf atmete tief durch, als hätte er die Worte noch immer nicht verkraftet. »Bärbart hat gesagt, ich soll dich töten, Hagen!«

Hagen ließ sich gegen die Mauer sinken, schloß die Augen. Schwindel überkam ihn. Er sah wieder das Gold über den Fluß trudeln, sah es versinken in einem grauen Mahlstrom, rund und rund und rund.

»Mich... töten?« brachte er stockend hervor.

»Ja.« Adalmar klang hart, Verbitterung sprach aus seiner Stimme. »Es sei sein letzter Rat an mich, hat er gesagt. Verflucht, kannst du dir das vorstellen?« Jetzt schrie er, daß sogar die Wachen auf dem Flur zusammenfuhren. »Mein engster Berater verlangt von mir, meinen eigenen Sohn zu ermorden!«

Ganz kurz überkam Hagen die Gewißheit, daß sein Vater nur deshalb hier war: um Bärbarts Rat in die Tat umzusetzen. Er würde die beiden Männer hereinwinken, damit sie Hagen erschlugen. Doch der Graf drückte seinen Sohn fest an die breite Brust, fuhr ihm mit der Rechten übers Haar, dann drehte er sich um und verließ die Kammer. Hagen hörte, wie er mit seiner Garde davonstürmte, um Bärbart anderswo zu suchen.

Dabei vergaß er, den Riegel vorzuschieben.

Erst später kam Hagen die Ahnung, daß sein Vater die Tür in voller Absicht offengelassen hatte. Vielleicht hatte er gehofft, Hagen würde fliehen, würde fortgehen aus der Burg, fort aus den Landen derer von Tronje. Was immer Bärbarts Befürchtungen gewesen waren, sie wären damit hinfällig geworden.

Doch Hagen blieb. Zwar trat er aus der Kammer, die drei Wochen lang - mit einer kurzen Unterbrechung - sein Gefängnis gewesen war. Aber er stieg nicht die Treppen hinab, um die Burg zu verlassen. Ganz im Gegenteil: Er lief die Stufen zum höchsten Turm hinauf, die unteren aus Stein, die letzten aus knarrendem Holz. Durch eine Luke kletterte er schließlich ins Freie.

Dankwart hockte vor den Zinnen, die Knie angezogen, den Rücken gegen die Mauer gepreßt. Die Abschürfung unter seinem zerrissenen Hosenbein blutete noch immer, ganz schwach. Er war nicht überrascht. Er sah zu, wie Hagen aus der Falltür stieg und sich vom düsteren Himmel abhob wie ein Riese. Dies hier war immer ihr Lieblingsort gewesen, hier hatten sie gespielt, gelacht, gestritten.

Diesmal stritten sie nicht. Sie lachten auch nicht.

Hagen ließ sich stumm auf der anderen Seite der Zinnenkrone nieder, hockte sich genauso hin wie sein Bruder, und so saßen sie sich gegenüber, zwei Kinder mit den Gedanken von Erwachsenen.

Über ihnen schwebten Wolken dem trüben Horizont entgegen wie riesige Schwärme von Zugvögeln. Weit, weit unter ihnen toste der Fluß.

Als das Schweigen lauter wurde als jeder Wutausbruch, sagte Hagen: »Bärbart hat es so gewollt, nicht wahr?« Er sprach sehr leise, so daß Dankwart die Worte gerade noch verstehen konnte.

»Er kam zu mir.« Dankwarts Gesicht war bleich, als wäre es aus Wolken geformt. »Er sprach über dich, über viele Dinge, auch über das Gold. Er hat mir vom Siebenschläfer erzählt.«

Hagen rieb sich mit den Fingern durch die Augen. »Vom Siebenschläfer?« fragte er verständnislos.

»Das Gold gehörte ihm«, sagte Dankwart. »Du hast es ihm gestohlen.«

»Du hast Bärbart von den Tannen im Wasser erzählt?«

»Ich konnte nicht anders. Ich hatte Angst um dich.«

Hagen blickte seinem Bruder eingehend in die Augen, beobachtete jede seiner Regungen, um festzustellen, ob Dankwart die Wahrheit sagte.

Es gab nicht das geringste Anzeichen einer Lüge.

»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du das Gold hast?« fragte Hagen.

»Weil ich es für mich haben wollte, Dummkopf. Warum sonst?«

Hagen blinzelte. »Aber du hast Angst bekommen - nicht um mich, sondern um dich selbst. So war es doch, oder?«

Aus der Tiefe des Burghofs drangen Rufe herauf. Immer noch suchte man nach Bärbart. Offenbar wollte Adalmar nicht glauben, daß sein Berater wirklich fortgegangen war. Möglicherweise fürchtete er auch, Bärbart könnte sich im Schloß verstecken, um Hagen später mit eigener Hand zu töten.

»So einfach war es nicht«, sagte Dankwart. Er erwiderte Hagens stechende Blicke ernsthaft, aber ohne Trotz. »Ich habe Bärbart erzählt, was du erlebt hast. Heute morgen erst. Er wurde aschfahl im Gesicht. Ich habe nie erlebt, daß jemand so erschrocken aussah, nicht mal Tilda, als wir ihr die tote Ratte unters Kissen geschoben haben.« Er kicherte, aber Hagen blieb ernst. Dankwart fuhr fort: »Bärbart wollte das Gold mit eigenen Augen sehen, aber ich habe nein gesagt. Ich dachte, er wollte es stehlen. Da hat er gesagt, ich müsse es in den Fluß werfen, zurück zum Siebenschläfer. Es sei verflucht, hat er gesagt, und wir alle mit ihm. Vor allem du.«

Hagen zog eine verächtliche Grimasse. »Und das hast du ihm geglaubt?«

»Nicht sofort. Ich bin vor ihm fortgelaufen, ich dachte, er würde das Versteck des Goldes aus mir herausprügeln. Dann sah ich vom Gang aus, wie Bärbart seine Kammer verließ. Ich dachte, er würde wohl zu Vater gehen und ihm alles erzählen. Das hat mir wirklich angst gemacht, mehr als alles, was Bärbart bis dahin gesagt hatte. Deshalb bin ich ihm nachgeschlichen, um zu hören, wieviel er Vater verraten würde. Du kannst dir vorstellen, wie überrascht ich war, als er hinunter in die Kerker stieg, in Viggos Kapelle. Bis dahin hatte ich geglaubt, er wüßte nicht einmal den Weg dorthin. Der Pfaffe hat ihn erst beleidigt, hat irgendwas von Entweihung eines heiligen Ortes gefaselt. Na, du kennst ihn ja.«

»Nicht so gut wie Mutter.«

»Irgendwann hat Viggo sich beruhigt. Und dann hat Bärbart ihm gesagt, daß er die Burg verlassen würde. Es sei nicht mehr sicher hier, hat er gesagt, alle würden bald sterben.«

»Hat er gesagt warum?«

»Wegen dir.«

»Das dachte ich mir.«

Dankwart sah ihn einen Moment lang erschrocken an, dann schweifte sein Blick von Hagens Gesicht über die Zinnen hinweg in den Himmel. Ein Raubvogel kreiste mit weiten Schwingen um den Turm.

»Bärbart hat gesagt, du hast den Fluch des Siebenschläfers auf dich geladen«, sagte Dankwart. »Und auf uns. Auf alle hier. Viggo täte gut daran, ebenfalls zu fliehen, hat Bärbart ihm geraten.«

»Wahrscheinlich wollte er ihn nur überzeugen, wie wichtig es sei, daß ich sterbe.«

Dankwarts Kopf ruckte hoch. »Dann weißt du es schon?«

»Vater war bei mir.«

»Etwa um -«

»Vielleicht«, unterbrach Hagen ihn ruhig. »Aber er hat es nicht getan, wie du siehst.« Er hörte sich sprechen wie einen Fremden und zweifelte einen Herzschlag lang, ob es wirklich er selbst war, der da redete.

Auch Dankwart wunderte sich über Hagens Gelassenheit. Eine Spur von Mißtrauen lag in seiner Stimme, als er fortfuhr: »Bärbart hat Viggo aufgetragen, er müsse Vater ausrichten, wie wichtig es für alle sei, daß du getötet wirst. Dabei warst du doch immer sein Liebling.«

»Ich konnte ihn genausowenig leiden wie du.«

»Aber er hat dich für den besseren Erben der Grafschaft gehalten«, sagte Dankwart bedrückt. »So wie alle es tun.«

»Hast du deshalb das Gold genommen? Aus Furcht, Vater könnte dich verstoßen, wenn er auf die anderen hören würde?«

Dankwart gab darauf keine Antwort. Es war nicht nötig. Statt dessen blickte er betreten auf seine Stiefel und sagte: »Ich dachte, wenn das Gold fort ist, dann verschwindet auch der Fluch. Zumindest hätte es dann keine Beweise mehr gegeben für das, was Bärbart gesagt hat. Ich hoffte, Vater würde ihm dann nicht mehr glauben und dich am Leben lassen.« Zum ersten Mal sprach Verzweiflung aus einer Stimme, er redete immer schneller, ohne Pausen. »Vater tut doch sonst immer alles, was Bärbart sagt, und ich habe Angst gehabt, er könnte dich wirklich töten, nur wegen einem Bündel voll Gold, und dann wäre ich ganz alleine gewesen, und alle hätten mich nur noch mehr verabscheut, hätten mir vielleicht gar die Schuld an allem gegeben, wer weiß?«

Hagen schloß einen Atemzug lang die Augen, dann kroch er auf Dankwart zu und legte den Arm um die Schultern seines Bruders. Dankwart blickte zu Boden, er weinte. Hagen hatte ihn seit Jahren nicht mehr weinen sehen, nicht seit ihr Vater ihn im Zorn angebrüllt hatte, daß niemals ein so tapferer Ritter aus ihm werden würde wie dereinst aus Hagen. Damals hatten ihn Dankwarts Tränen geschmerzt wie Nadelstiche.

»Es ist gut«, sagte er jetzt, denn er spürte erneut, daß er es nicht ertragen konnte, wenn Dankwart weinte. »Ich lebe ja noch, und Bärbart ist fort, hoffentlich für immer. Und das Gold« - er zögerte einen Augenblick lang - »das Gold liegt auf dem Grund des Flusses.«

Dankwart wischte sich die Tränen von den Wangen. »Was ist mit dem Siebenschläfer?«

»Was soll mit ihm sein? Glaubst du wirklich daran?« Hagen bemühte sich, die eisige Kälte, die in ihm aufstieg, zu unterdrücken. Der Siebenschläfer - vielleicht war er wirklich schon in ihm, zornig über den Diebstahl seiner Schätze.

»Viggo hat Bärbart ausgelacht, als er davon sprach«, sagte Dankwart. Seine Augen waren rot, aber wenigstens weinte er nicht mehr. »Bärbart hat ihn angebrüllt, der Siebenschläfer sei keine Erfindung alter Weiber, es gebe ihn wirklich, ganz tief unten im Wasser des Rheines. ›Er ist selbst schon wie der Fluß‹, hat er gesagt, ›kalt und finster und reißend wie ein wildes Tier‹.«

Hagen löste sich von Dankwart und zog sich an einer Zinne auf die Füße. Über die Mauerzacken hinweg starrte er hinab auf das farblose Band des Flusses. Es verschwand im Norden und Süden hinter fahlgrünen Berghängen. Von hier oben war die Strömung kaum auszumachen, der Fluß sah so friedlich aus; er lockte Hagen, sich über die Zinnen zu schwingen, hinabzuspringen ins Leere und, vielleicht, tief ins kalte Wasser zu tauchen. Dorthin, wo sein Gold war, hinab zu den Klüften der Rheintöchter.

Dankwarts Hand legte sich auf Hagens Schulter und zog ihn zurück in die Wirklichkeit. »Was weißt du über den Siebenschläfer?«

Der jammernde Wind drohte Hagens Worte von den Lippen zu pflücken wie faule Früchte. »Er ist ein Gespenst, der Geist von sieben goldgierigen Räubern, die in ihrer Höhle vom Hochwasser überrascht wurden, vor vielen, vielen Jahren. Manche Bauern bringen ihm Opfer dar, wenn der Rhein über die Ufer tritt. Sie glauben, der Siebenschläfer könne den Fluß beruhigen.«

Dankwart stützte sich mit dem Ellbogen auf eine Zinne, zog den Arm aber schnell zurück, als er bemerkte, wie kalt das Gestein war. »Ich meinte nicht die Legende. Ich wollte wissen, was du über den Siebenschläfer weißt

»Du denkst, ich hätte ihn wirklich getroffen?« Hagen schüttelte verwundert der Kopf. »Du schenkst Bärbarts Worten mehr Glauben als denen deines Bruders?« Er schnaubte verbittert und schaute abermals in die Tiefe. »Sag mir die Wahrheit, Dankwart, was hat Bärbart noch zu dir gesagt, bevor er sich bei Viggo ausgeheult hat?« Ganz kurz durchzuckte ihn beim Wort »heulen« ein Anflug von Schuldgefühl; es war unrecht, es als Beleidigung zu benutzen, wenn Dankwarts eigene Tränen kaum getrocknet waren.

Dankwart sah an Hagen vorbei, sein Blick folgte dem kreisenden Raubvogel. »Er hat gesagt, wenn ein Geist einen Menschen trifft, dann weiß er im gleichen Augenblick alles über ihn. Er kennt die Freunde des Menschen, seine Familie, sogar seine geheimsten Gedanken. Einfach alles. Und manchen Geistern gefalle es, einem Menschen all diese Dinge wegzunehmen. Bärbart hat gesagt, der Siebenschläfer ist so ein Geist. Erst würde er mich töten, dann Vater und Mutter, alle anderen in der Burg, und ganz zum Schluß, wenn du ihn darum bittest, auch dich.«

»So weit wird es nicht kommen«, widersprach Hagen. »Wir werden den Siebenschläfer vernichten, du und ich.«

Sein Bruder schüttelte traurig den Kopf. »Bärbart hat gesagt, nur ein Geist kann einen anderen Geist zerstören. Menschen haben nicht die Macht dazu.«

»Bärbart hat gesagt, Bärbart hat gesagt«, äffte Hagen ihn zornig nach. »Irgendwas wird uns schon einfallen.«

»Vielleicht reicht es ja, daß er sein Gold zurückbekommen hat.«

Hagen schaute wieder zum Fluß hinunter, auf die Stelle, an der Dankwart das Gold in die Wogen geschleudert hatte. War der Siebenschläfer jetzt irgendwo dort unten? Hörte er jedes ihrer Worte?

Standhaft faßte er einen Entschluß. »Ich werde hinuntergehen und mit ihm reden.«

Dankwarts Unterkiefer klappte herunter. »Mit dem Siebenschläfer? Bist du verrückt geworden?«

»Mit ihm«, sagte Hagen grimmig, »oder mit dem Fluß. Einer von beiden wird mir schon zuhören.«



In der Nacht schlich er sich aus der Burg.

Ungesehen ins Freie zu gelangen war keineswegs einfach, denn der Graf hatte nach Bärbarts Verschwinden die Wachen an den Toren und oben auf den Wehrgängen verdoppeln lassen. Aber Hagen kannte alle geheimen, unbewachten Winkel des Gemäuers, und er wußte, wie man in ihrem Schatten nach draußen gelangte. Allerdings brauchte er länger dafür, als er gehofft hatte, und so war Mitternacht vorüber, als er im Schutz der Bäume zum Fluß hinabhuschte.

Der Mond spiegelte sich auf den Wellen, und das Flüstern der Strömung rauschte in Hagens Ohren. Er versuchte, es zu verstehen, dachte, es wolle vielleicht zu ihm sprechen, doch er hörte nur wirres Säuseln und Wispern und Glucksen.

Auf halbem Weg drehte Hagen sich noch einmal um und schaute hinauf zur Burg. Nur eine Reihe von Fackeln auf den Zinnen verriet, daß sie sich nicht in Luft aufgelöst hatte; der Rest verschmolz völlig mit der pechschwarzen Nacht.

Sein Blick streifte auch die Klippe, auf deren Spitze die Eiche stand. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn das Hochwasser jemals so weit steigen würde, daß es den Baum erreichte. Das Gerede seiner Mutter vom Klabautermann kam ihm in den Sinn. Er schauderte und wandte sich ab.

Während seines Abstiegs zum Ufer passierte er die hohe Mauer der Tannen, hinter der Dankwart sich das Knie aufgeschlagen hatte. Es lag kaum einen halben Tag zurück, da Hagen in den Zweigen eine wellenförmige Bewegung beobachtet hatte. Nur der Wind, dachte er verbissen. Dann aber kam ihm in den Sinn, daß die Bäume noch vor wenigen Tagen unter der Wasseroberfläche gestanden hatten. Hatte irgend etwas die Gelegenheit genutzt und sich in ihren Ästen eingenistet?

Er rannte so schnell er konnte, panisch fast, bis er die Tannen hinter sich gebracht hatte und den Fluß erreichte.

Der Mondschein umrahmte drei Gestalten. Stumm blickten sie Hagen entgegen.

Er blieb schlagartig stehen.

Es waren drei Frauen, mit nassem, hüftlangem Haar. Sie standen bis zu den Knien im Wasser, die Säume ihrer Gewänder wogten auf den Wellen. Der Mond beschien sie von hinten, ihre Gesichter waren in Schwärze gehüllt.

»Du also bist Hagen von Tronje«, sprach die erste mit altersloser Stimme.

Die zweite kicherte hinter ihrem Schattenschleier. »Er ist jung.«

»Ein Kind noch«, sagte die dritte.

Hagen raffte all seine Kühnheit zusammen. »Manns genug jedenfalls, Euch zurück ins Wasser zu jagen, wenn es sein muß.«

»Er spricht mutig.«

»Wagemutig.«

»Waghalsig.«

»Hals über Kopf.«

»Den Kopf will ich. Mit dem Hals macht, was ihr wollt.«

Haltloses Gekicher folgte.

»Für mich die Beine.«

»Die Arme mir.«

»So wird geteilt die Hühnerbrust, das kleine Herz darin.«

»Habt ein Herz, Schwestern, und nehmt ihn euch zur Brust.«

Hagen stand starr, wie angewurzelt. Viel hörte man in jenen Tagen von den kindischen Späßen der Wasserfrauen, doch sie dabei tropfend und gackernd vor einem zu sehen, das war eine ganz andere Sache.

Er hatte große Angst, obgleich er sich vornahm, sie so gut als möglich zu verbergen. »Seid Ihr Damen hier, um mit mir zu sprechen, oder wollt Ihr nur dumme Scherze machen?«

»Er nennt uns Damen.«

»Der Gute.«

»Aber unsere Scherze nennt er dumm.«

»Der Wicht.«

Trotz seiner Furcht wurde Hagen allmählich ungeduldig, zumal er wußte, daß die Wasserfrauen ihm nichts zuleide tun würden; der Siebenschläfer würde seine Beute nicht so leichtfertig aus der Hand geben. Die drei Weiber waren nur seine Botschafter.

»Also?« fragte Hagen mit leichtem Schwanken in der Stimme.

In der Finsternis, die ihre Gesichter verhüllte, war es unmöglich zu erkennen, welche der Frauen gerade sprach. Ohnehin schienen sie wie drei Körper einer einzigen Wesenheit.

»Dumm sind nicht unsere Scherze, sondern du, kleiner Hagen.«

»Niemand legt sich ungestraft mit den Rheingeistern an.«

»Der Fluß ist zornig. Der Siebenschläfer hat ihn gegen dich aufgebracht.«

»Gegen dich und die deinen.«

»Dumm, dumm, dumm.«

Sie nahmen die Worte als Rhythmus auf und summten ein seltsames Lied dazu. Es endete in erneutem Gekicher.

Hagen räusperte sich gewichtig. »Ich möchte den Fluß um Vergebung bitten. Und natürlich den Siebenschläfer.«

»Beide sind eins«, kam die Antwort.

»Eins wie wir.«

»Eins mit uns.«

»Werdet Ihr meine Entschuldigung annehmen?« Obwohl Hagens Knie zitterten, war es ihm doch, als spräche er mit Kindern, mit drei albernen, neckischen Mädchen.

»Das ist nicht so einfach, wie du denkst«, sagte eine der Wasserfrauen.

»Du wirst für deine Tat Buße tun müssen, ganz ohne Zweifel.«

Hagen hatte Mühe zu sprechen, die Worte steckten in seinem Hals fest. »Welche Art von... Buße meint Ihr?«

»Der Fluß verlangt Opfer.«

Statt weiteren Geplappers folgte ein Moment der Stille, der Hagen schmerzlich viel Zeit gab, sich darüber klarzuwerden, daß er mit leibhaftigen Wasserfrauen sprach. Und daß es hier nicht um ihre einfältigen Späße ging, sondern um sein Leben.

»Opfer?« fragte er schließlich. Er sprach sehr leise, voller Argwohn und Sorge.

»Aber ja doch«, sagte eine der Wasserfrauen. »Nur Opfer können den Siebenschläfer gnädig stimmen.«

»Vielleicht«, fügte eine andere hinzu.

»Von was für Opfern sprecht Ihr?« wollte Hagen wissen - genaugenommen wollte er es nicht, aber sich einfach umzudrehen und davonzulaufen wäre unklug gewesen.

»Wertvolle Opfer.«

»Kostbare Opfer.«

»Goldene Opfer.«

Hagen schluckte schwer. »Der Siebenschläfer will Gold?« Er war erleichtert - er hatte schon befürchtet, der Fluß verlange Menschenopfer -, doch zugleich beunruhigte ihn dieser merkwürdige Wunsch zutiefst. Ganz bestimmt konnte es nicht so einfach sein...

Die drei Wasserfrauen nickten in einer einzigen Bewegung ihrer mondscheinumrahmten Häupter.

»Ja«, sagten sie wie aus einem Munde. »Gold ist es, das er verlangt.«

Eine fügte hinzu: »Sehr viel Gold.«

Hagens Gedanken überschlugen sich. Woher sollte er Gold nehmen? Er selbst besaß nicht ein einziges Stück. »Ich habe dem Siebenschläfer doch zurückgegeben, was sein war«, protestierte er schwach.

Die Wasserfrauen lachten.

»Nicht du«, sagte eine in hämischem Tonfall.

»Dein Bruder war es.«

»Deshalb hat es nichts zu bedeuten.«

»Der Fluß verlangt, daß du selbst deine Tat bereust.«

»Aber ich bereue doch«, rief Hagen verzweifelt.

»Nicht genug«, erwiderten die Frauen.

»Es ist ganz einfach: Du opferst regelmäßig Gold -«

»- und der Fluß wird dich dafür verschonen.«

Hagen sank im feuchten Gras auf die Knie. »Wieviel verlangt Ihr?«

»Nicht ›wieviel‹«, wurde er verbessert. »Die Frage muß lauten: ›Wie oft?‹.«

»Und die Antwort heißt: Dein Leben lang.«

»Einmal in jedem Mond wirst du uns Gold bringen, erst wenig, dann immer mehr.«

»Niemals darfst du uns weniger bringen als beim Mal davor.«

»Heute einen Ring, in dreißig Tagen zwei Ringe.«

»Dann einen Goldreif.«

»Danach zwei.«

»Darauf vielleicht ein Sack mit Münzen.«

»Und so weiter, und so weiter.«

»Bis du stirbst.«

»Dann erlischt der Fluch.«

»Dann bist du frei.«

Wieder kicherten sie. »Kein schlechter Handel, was?«

Hagen erkannte die Grausamkeit dieser Forderung selbst durch den Nebel aus Furcht, der ihn umhüllte. Sehr, sehr leise fragte er: »Und was, wenn ich mich weigere? Oder nicht genug Gold zusammenbringen kann?«

»Dann sterben alle, die dir etwas bedeuten.«

»Dein Bruder.«

»Dein Vater.«

»All deine Freunde und Gefährten.«

»Und später, deine Frauen. Jede, der du ein Lächeln schenkst. Jede, an die du nur einen Gedanken verschwendest.«

»Der Fluß wird es wissen.«

»Wird wissen, was zu tun ist.«

»Wird es tun.«

Mit diesen Worten drehten sich die drei Frauen um, wandten Hagen den Rücken zu. Schweigend und aufrecht, mit Schritten voller Grazie, entfernten sie sich vom Ufer, sanken tiefer und tiefer in den Rhein hinab. Zuletzt schwebte nur noch ihr Haar zwischen den tanzenden Mondsplittern, dann waren sie gänzlich in der Tiefe verschwunden.

Hagen blieb allein zurück, blickte starr hinaus auf das Wasser. Er weinte nicht, flehte nicht. Nur in seinem Schädel jagten sich die Gedanken.

Als schließlich die Morgendämmerung über den Bergen erglühte, da erhob er sich und schleppte sich müde zurück zur Burg.


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