Kapitel 3


»Wieso hörst du auf?« Nimmermehrs Stimme klang atemlos. Zum ersten Mal seit langem bewegte sie sich wieder. Während Hagen geredet hatte (und geredet und geredet), war sie stumm geblieben, hatte ihn kein einziges Mal unterbrochen.

Er erforschte die Leere hinter seinen Augenlidern. »Ist es schon abend?«

»Schon lange. Es ist stockdunkel.«

Unwirsch tastete er nach den Zügeln in ihren Händen, zog heftig daran. »Dann laß uns rasten. Es ist gefährlich, im Dunkeln zu reiten. Zumal so nahe bei einem Schlachtfeld - wer weiß, wer sich in dieser Gegend herumtreibt.«

»Leichenfledderer? Plünderer?«

»Vielleicht, ja.«

Nimmermehr sprang von Paladins Rücken und seufzte, als wollte sie damit klarstellen, daß sie keineswegs einverstanden war. »Wenn du meinst«, sagte sie gedehnt.

»Ich soll doch dafür sorgen, daß dir nichts zustößt, oder?« Er spürte, daß er schärfer klang als nötig, aber er konnte nichts dagegen tun. Er mochte sonst nichts über Nimmermehr wissen, doch eines hatte er längst erkannt: Sie konnte ungemein anstrengend sein.

Das Mädchen gab keine Antwort. Geräusche verrieten, daß sie Decken auf dem Boden ausrollte. Mochten die Götter wissen, woher sie sie genommen hatte; sie mußten am Sattel gehangen haben, ohne daß Hagen sie bemerkt hatte. Kleinigkeiten wie diese verunsicherten ihn mehr als alles andere.

Zögernd ließ er sich vom Rücken des schnaubenden Pferdes zu Boden gleiten. Auch als er schon Fels unter den Füßen spürte, hielt er sich weiter am Sattelknauf fest.

»Beschreib mir, wo wir sind«, verlangte er und setzte mit einer Hand den Helm ab.

»Es ist dunkel«, sagte sie trotzig. »Ich kann nichts sehen.«

»In freiem Gelände ist es niemals so dunkel, daß man nichts sieht.« In seiner Lage war das eine so absurde Aussage, daß er scharf die kühle Nachtluft einsog, ehe er weitersprechen konnte: »Wie hat es ausgesehen, bevor es dunkel wurde?«

»Wir sind immer noch oben in den Bergen«, sagte sie und griff nach seiner Hand. Ihre Finger waren warm und führten ihn zu den Decken. »Ich glaube, ein Stück weiter vor uns führt das Gelände wieder abwärts. Wir sind die meiste Zeit durch eine Senke geritten, wahrscheinlich ein altes Flußbett mit hohem Gras rechts und links. Oben an der Böschung standen noch mehr von diesen Dornenbüschen.«

»Das hättest du mir sagen müssen«, fuhr er sie aufgebracht an. »Wir hätten direkt in einen Hinterhalt reiten können.«

»Morten von Gotenburg hat es nicht nötig, mir irgendwo aufzulauern. Außerdem müßte er immer noch hinter uns sein. Er hat es nicht sonderlich eilig damit, mich einzufangen.«

»Sind wir immer noch in diesem Flußbett?« fragte Hagen.

»Ja, es ist breiter geworden.«

»Hast du in der Nähe einen Weg gesehen oder eine Straße?«

»Nirgends.«

Hagen holte tief Luft und stellte sich vor, wie sie vor ihm im Dunkeln saß, das hübsche Gesicht zu einem altklugen Naserümpfen verzogen.

Wie kommst du darauf, daß sie hübsch ist?

Er versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. »Wir müssen wohl davon ausgehen, daß dieser Morten denselben Weg nimmt.«

»Das müssen wir wohl.«

»Das scheint dich nicht sehr zu bekümmern«, stellte er fest.

»Kannst du das beurteilen?« gab sie beleidigt zurück. »Ich bin seit einer Ewigkeit auf der Flucht vor ihm. Irgendwann lernt man, mit der ständigen Gefahr zu leben. Man beginnt, sie als Teil seiner selbst zu akzeptieren.«

Sie war noch so jung, dachte er bekümmert, und war schon zum selben Schluß gekommen wie er selbst. Es war nicht richtig, daß sie aus Erfahrung über solche Dinge sprechen konnte. Er hatte sich sein Leid selbst aufgebürdet, er allein trug die Schuld daran. Aber sie? Wieder wurde ihm bewußt, daß er nichts über sie wußte.

»Woher kennst du diesen Mann?« Er nahm seinen Waffengurt ab und streckte sich auf der Decke aus. Der Boden darunter war uneben und mit scharfkantigen Steinen übersät.

»Du bist mit deiner Geschichte noch nicht am Ende«, erwiderte sie. »Erst erzählst du, dann ich, das war unsere Abmachung.«

»Wie soll ich dich vor jemandem beschützen, über den ich nicht das geringste weiß?« Er war viel zu müde, um sich auf einen Streit mit ihr einzulassen. Das viele Reden war er nicht gewohnt. Sie hatte schon mehr aus ihm herausgelockt als jeder andere Mensch, den er getroffen hatte.

Und wer weiß, dachte er, vielleicht gibt es diesen Morten ja gar nicht. Seltsamerweise beunruhigte ihn dieser Gedanke nicht im mindesten; mit seiner Blindheit ging eine gefährliche Gleichgültigkeit einher.

»Erzählst du nun weiter?« fragte sie.

»Ich bin müde.«

»Ich kann nicht einschlafen, wenn ich nicht weiß, wie es weitergeht«, sagte sie beharrlich. Ihre Stimme war jetzt direkt neben ihm. Als er sich bewegte, stieß er mit dem Knie gegen ihr Bein. Ja, da lag sie, ganz nahe bei ihm.

»Ich kann kein weiteres Wort mehr sagen, wenn ich nicht vorher schlafe«, gab er zurück.

»Es hat dich schlimmer erwischt, als du zugeben willst.«

»Wie kommst du denn darauf?« fragte er mürrisch.

»Ich hab dich für ausdauernder gehalten.«

Empört fuhr er auf. »Ich bin ausdauernd.«

»Ja, im Jammern.«

»Hör zu, Nimmermehr, oder wie auch immer du in Wirklichkeit heißen magst -«

»Aber ich heiße so«, unterbrach sie ihn und klang nun gleichfalls gekränkt.

»Gut. Nimmermehr. Von mir aus. Ich bin hundemüde, und ich habe, verdammt nochmal, allen Grund dazu. Ich habe drei Tage lang in einer Schlacht gekämpft, im Dienste von Männern, die der Ansicht waren, alles, was ein Krieger braucht, wird aus Eisen geschmiedet. Verstehst du, ich habe Hunger! Ich habe Wunden am ganzen Körper -«

»Die ich versorgt habe.«

»Ich habe Wunden am ganzen Körper«, wiederholte er betont, ohne sich beirren zu lassen, »und mein Schädel tut weh, weil ich einen Tag lang einen Helm tragen und darunter reden mußte. Und, glaube mir, das ist sonst überhaupt nicht meine Art.«

Sie wollte ihn erneut unterbrechen, doch er brachte sie schon nach der ersten Silbe zum Schweigen, indem er mit erhobener Stimme fortfuhr: »Als ob das alles noch nicht genug wäre, muß ich Kindermädchen spielen für jemanden, den ich nicht kenne und der keinerlei Anstalten macht, daran etwas zu ändern. Ich weiß nicht, wer du bist, Nimmermehr, und ich weiß nicht, warum man dich angeblich verfolgt. Und soll ich dir noch etwas sagen: Im Augen blick mag ich auch gar nichts darüber hören. Alles, was ich will, ist eine Weile Ruhe und ein wenig Schlaf, damit ich mich morgen wieder auf dieses Pferd setzen, deine Anwesenheit ertragen und mir den Mund in Fransen reden kann.« Er schnappte nach Luft wie ein Schwimmer in Bedrängnis. »War das deutlich genug?«

Nimmermehr gab keine Antwort. Er horchte auf ihren leisen, weichen Atem in der Nacht, und plötzlich hatte er das verrückte Bedürfnis, sie zu berühren, einfach um zu wissen, daß sie wirklich noch da war. Im Moment war sie das einzige, das ihn am Leben hielt. Ohne sie war er verloren.

Er wartete, erst gelassen, dann immer ungeduldiger, daß sie endlich wieder mit ihm sprechen würde, und wenn es nur eine weitere kindische Bemerkung oder eine neue Besserwisserei war. Seine Müdigkeit war immer noch da, aber er konnte nicht einschlafen, ohne daß sie irgend etwas erwiderte; dafür haßte er sich beinahe selbst.

Sie aber sagte nichts. Schwieg nur und schmollte wahrscheinlich stur vor sich hin.

Irgendwann, er hatte das Gefühl, die halbe Nacht sei vergangen, fragte er: »Schläfst du?«

Ein Augenblick verging. »Nein«, sagte sie dann. Nichts sonst, nur das eine Wort. Das paßte gar nicht zu ihr.

»Ich habe das eben nicht so gemeint.« Liebe Güte, was war nur aus ihm geworden!

»Was meinst du?« fragte sie verständnislos.

Vielleicht hatte sie ihn ja schon um den Verstand gebracht, ohne daß er selbst es bemerkt hatte. »Vergiß es«, sagte er deshalb mit halbherzigem Grimm.

»Tut mir leid, ich habe nicht zugehört.«

Einen Moment lang war er sprachlos. Dann, ganz allmählich, fand er wieder zu sich selbst. Er durchschaute ihre List. Nicht zugehört? Natürlich nicht, dachte er hämisch. Was sie nicht hören wollte, das hörte sie nicht!

Nimmermehr flüsterte: »Ich habe hinaus in die Nacht gelauscht. Er kommt näher.«

»Wer?« fragte Hagen und setzte sich ruckartig auf. »Dein Magier?«

»Morten, ja. Spürst du ihn nicht?«

Widerwillig horchte er ins Dunkel. Eine Grille zirpte nahe an seinem rechten Ohr. Und vom Himmel ertönte das Kreischen ferner Raben.

Raben? Mitten in der Nacht?

Zum ersten Mal seit Stunden überkamen ihn wieder Zweifel. Sagte sie die Wahrheit? War es wirklich so dunkel, wie sie behauptete? Wer sagte ihm denn, daß es nicht heller Nachmittag war? In seiner Verfassung hätte er zu jeder Tageszeit müde sein können, das war kein Anhaltspunkt. Und seine Blindheit machte die Unterscheidung unmöglich.

Die Erkenntnis war wie ein Schlag ins Gesicht: Er war nicht nur auf Nimmermehr angewiesen, er war ihr mit Haut und Haaren ausgeliefert! Er mußte ihr vertrauen, weil er gar keine andere Wahl hatte!

Unwillkürlich gab er sich alle Mühe, ihr zu glauben. Es war Nacht.

»Sind es vielleicht die Raben, die du hörst?« fragte er gefaßt.

»Nein. Die sind immer da. Ich meine ihn. Seine Gedanken.«

»Du hörst Mortens Gedanken?«

»Ich kann den Haß darin spüren. Er wird bald hier sein.« Leiser fügte sie hinzu: »Er wird mir weh tun.«

Ein böser Traum, dachte er. Sie hatte geschlafen, ohne daß er es bemerkt hatte, und nun konnte sie nicht mehr zwischen Nachtmahr und Wirklichkeit unterscheiden.

»Niemand wird dir weh tun.« Er versuchte sanft zu klingen, aber darin war er nie besonders gut gewesen. »Ich passe auf dich auf.« Selbst in ihrem Zustand mußte sie durchschauen, wer hier in Wahrheit auf wen achtgab. Aber es war das beste, das ihm in den Sinn kam. Nicht viel, gestand er sich ein.

Die Furcht in ihrer Stimme war jetzt noch deutlicher. »Er wird kommen, und er wird dich töten, und mich wird er auch töten, aber nicht gleich. Und vorher wird er mir Schmerzen zufügen, schlimme Schmerzen, aber du bist ja dann tot und wirst nichts mehr davon mitbekommen.«

Er lächelte; vielleicht war es wirklich an der Zeit, einen Arm um sie zu legen.

Aber er tat es nicht. »Ich mag zwar blind sein, aber so schnell bringt man mich nicht um.« Insgeheim wußte er genau, was für einen Unsinn er da redete.

»Morten schon.«

Hagen unterdrückte einen Seufzer. »Was schlägst du denn vor? Sollen wir weiterreiten?« Mitten in der Nacht, wollte er hinzufügen, ließ es dann aber bleiben.

Sie klang immer noch, als spreche sie im Halbschlaf. Ängstlich zwar, aber zugleich seltsam fern und gedankenverloren. »Ich kann ihm nicht entkommen. Er ist das Buch ohne Seiten. Er weiß alles, sieht alles, sogar, daß du bei mir bist.«

»Buch ohne Seiten?« fragte er verwundert. »Was soll das sein? Ein Gleichnis?«

»Morten von Gotenburg ist Das-Buch-das-lebt.«

»Das was?« So albern es auch war: In ihm regte sich plötzlich Besorgnis, eine Unruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte.

»Es ist... nicht einfach«, sagte sie stockend.

Sein Tonfall wurde um eine Spur schärfer. »Vielleicht sollten wir unsere närrische Abmachung einen Moment lang vergessen. Wer ist dieser Morten von Gotenburg? Und was hat es mit diesem Buch auf sich?«

»Du hast noch nie davon gehört?«

»Mir ist nicht nach Rätselraten zumute.« Nimmermehr wandte sich zu ihm um. Hagen spürte ihren Atem auf seiner Wange; er fühlte sich kühl an.

»Man erzählt sich, Morten habe einen Pakt mit dem Bösen geschlossen.«

»Das erzählt man sich von vielen.« Er wünschte sich, sie würde die Gerüchte überspringen und endlich zur Sache kommen.

Nimmermehr schien seinen Einwurf überhört zu haben. »Seither trägt er einen langen, weiten Mantel, der seinen ganzen Körper verhüllt. Aber darunter ist er nicht allein! Manche sagen, sie kennen wiederum andere, die Mortens Leib gesehen haben - und das, was darauf lebt.« Sie verstummte für einen Augenblick, als erfülle sie allein die Vorstellung mit Abscheu. »Seine Glieder sind übersät mit winzigen Teufeln, jeder nicht größer als ein Finger. Es sind Dutzende. Sie klettern auf ihm herum wie Ameisen, tagein, tagaus. Mit ihren Krallen ritzen sie Runen und Zeichen in sein Fleisch, bedecken ihn damit von oben bis unten. Es sind Zaubersprüche, sagen die Leute! Immer wieder finden diese Kreaturen verborgene Stellen an seinem Körper, die noch unbeschriftet sind, und überall hinterlassen sie ihre Spuren. Deshalb nennt man ihn Das-Buch-das-lebt. Er ist ein lebendiges Zauberbuch! Die Teufel schreiben und schreiben und schreiben auf ihm... Die Schmerzen haben ihn längst in den Irrsinn getrieben. Er hat Wahnvorstellungen, sieht überall Feinde und Gespenster, obgleich er selbst die Essenz des Bösen in sich trägt.«

Nimmermehr hatte immer schneller gesprochen, hatte die Worte ausgespien, als wäre sie froh, sich ihrer endlich zu entledigen. Sie hatte die Wahrheit - oder das, was sie dafür hielt - schon viel zu lange mit sich herumgetragen.

Hagen dagegen war alles andere als erleichtert. Wenn es stimmte, was sie gesagt hatte, dann war dieser Morten eine viel größerer Gefahr, als er bisher angenommen hatte. Log sie jedoch, so hatte Hagen sich in die Obhut einer Wahnsinnigen begeben. Und er wußte nicht recht, was schlimmer war.

»Du glaubst, in diesem Herbsthaus bist du sicher vor ihm?«

»Völlig sicher.«

»Warum verfolgt er dich?«

»Er hat schon auf viele Jagd gemacht. Eines Tages hörte er, wie ich das, was ich dir eben erzählt habe, zu einem anderen sagte. Seither haßt er mich. Er hat geschworen - vor mir und vor anderen -, daß er nicht ruhen wird, bis er mich für meine Worte bestraft hat.«

»Empfindsam ist er außerdem, wie mir scheint«, bemerkte Hagen.

»Würdest du ihn kennen, würdest auch du ihn ernstnehmen.«

»Ich habe schon mit vielen Verrückten zu tun gehabt. Dein Morten von Gotenburg ist nur einer mehr. Ich habe keine Angst vor ihm.«

»Die anderen konntest du sehen, als du ihnen begegnet bist.«

Er schluckte eine wütende Erwiderung und sagte dann: »Du hast gesagt, du kannst ihn spüren. Wie weit entfernt ist er noch?«

»Nahe, sehr nahe.«

Hagen stemmte sich auf die Beine. »Dann sollten wir weiterreiten.«

»Sagtest du nicht, du bist müde.«

»Nicht müde genug, um mich im Schlaf erschlagen zu lassen.«

Wenig später saßen sie wieder auf Paladins Rücken und setzten ihren Weg fort, der anderen Seite der Berge entgegen.

Hagen horchte auf den Hufschlag des Tieres. Sie ritten immer noch über blanken Stein. »Wie lange dauert es noch bis zum Sonnenaufgang?«

»Ich weiß nicht«, gab Nimmermehr kläglich zurück. »Vielleicht können wir bis dahin den Rhein erreichen.«

Bei der Erwähnung des Flusses fuhr ihm eine schreckliche Kälte in die Glieder. »Weißt du, ob Morten auch bei Nacht reitet?«

»Die Schmerzen lassen ihn ohnehin nicht schlafen.«

»Er schläft nicht? Niemals?«

»Die Runen geben ihm alle Kraft, die er braucht.«

»Vielleicht doch kein so schlechter Handel.«

»Darüber solltest du keine Scherze machen.«

Hagen hatte den Helm am Sattel befestigt; im Dunkeln würde niemand den blinden Blick seiner Augen bemerken. Der kühle Wind, der ihm ins Gesicht schlug, vertrieb seine Müdigkeit ein wenig. Er hoffte, es würde im Sitzen ein wenig Ruhe finden; es wäre nicht das erste Mal, daß er im Sattel eines Pferdes schlief.

Doch bereits kurz darauf ließ ihn ein Geräusch zusammenfahren. Einen Augenblick lang war er verwirrt, wußte nicht einmal, ob er tatsächlich eingeschlafen war.

»Was war das?« zischte er.

Nimmermehr mußte es ebenfalls gehört haben, denn sie wartete mit ihrer Antwort, als lausche sie aufmerksam in die Nacht. »Hufschlag«, brachte sie schließlich hervor, »von mehreren Pferden.«

»Reitet Morten in Begleitung?«

»Als ich ihn zuletzt sah, war er allein.«

»Wie lange ist das her?«

»Wochen.«

Er spürte, wie sie mit jedem Atemzug unruhiger wurde. Ihre Aufregung griff auf ihn über.

»Kannst du irgendwas erkennen?« fragte er.

Sie rutschte hinter ihm hin und her, schien sich umzuschauen: »Nichts.«

»Wir müssen hoch auf die Böschung.«

Nimmermehr gab dem Pferd eine neue Richtung. Wenig später schaukelten sie einen kurzen Hang hinauf. Oben brachte Nimmermehr den Hengst zum Stehen.

»Schnell«, forderte er, »sag mir, was du siehst!«

»Es ist zu dunkel. Der Mond steht hinter Wolken; es sind kaum Sterne am Himmel. Ich kann nur ganz schwach den Horizont sehen. Aber zwischen ihm und uns ist alles schwarz.«

Hagen fluchte leise, seine Gedanken rasten. Er schwieg eine Weile und horchte auf verräterische Laute. Erst glaubte er, der Hufschlag sei verstummt, dann aber vernahm er ihn erneut; er klang jetzt näher, war nicht einmal besonders schnell. Kein Galopp, keine übermäßige Eile.

Nimmermehr hörte es ebenfalls. »Ich glaube, sie sind hinter uns im Flußbett. Sie müssen uns längst bemerkt haben.«

Hagen traf eine Entscheidung. »Los, steig ab!«

»Aber -«

»Kein Aber. Steig ab und versteck dich irgendwo.«

»Wenn es wirklich Morten ist, wird er dich töten.« Aus ihrer Stimme sprach jetzt nackte Angst.

»Vielleicht.« Er schnaubte verächtlich. »Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall verschafft es dir einen Vorsprung. Lauf so schnell wie möglich ins Tal hinunter, zum Fluß. Dort gibt es sicher bessere Verstecke als hier oben.«

Sie wollte abermals widersprechen, doch Hagen gab ihr einen Stoß, der sie nach hinten von Paladins Rücken schob. Mit einem Keuchen fiel sie zu Boden.

»Tu das nicht, Hagen!« flehte sie.

Er tastete nach den Zügeln und wies den Hengst in eine Richtung, von der er annahm, es sei die richtige. »Viel Glück!«

Nimmermehr bekam ihn am Unterarm zu fassen.

So schnell! durchzuckte es ihn.

»Warte noch!« raunte sie ihm zu und zerrte an etwas, das hinter ihm am Sattel befestigt war. »Hier«, sagte sie schließlich, »leg das um.«

Sie preßte etwas Weiches aus Stoff an sein Bein.

»Was ist das?«

»Ein Umhang. Nimm ihn. Er wird dir Glück bringen.«

Hagen schüttelte den Mantel auseinander und warf ihn sich über die Schultern. Der Kragen war mit langen, borstigen Vogelfedern besetzt. Rabenfedern, dachte er aus einem vagen Gefühl heraus.

Ohne ein weiteres Wort trat er dem Pferd in die Flanken. Paladin setzte sich in Bewegung, sprang überhastet die Böschung hinunter. Einen Moment lang kämpfte Hagen um sein Gleichgewicht, dann fing er sich wieder. Nach einigen Schritten brachte er das Tier zum Stehen, in der Hoffnung, sich ungefähr in der Mitte des ausgetrockneten Flußbettes zu befinden. Er sandte ein stummes Stoßgebet zu den Göttern, daß er nicht in die falsche Richtung blickte, als er laut rief:

»Halt! Wer da?« Er vertraute darauf, daß die anderen noch weit genug entfernt waren, als daß sie in der Dunkelheit seine Blindheit hätten erkennen können.

Stille legte sich über die Senke, als die Verfolger ihre Pferde zügelten. Hagen nutzte den günstigen Moment, um seinen Helm aufzusetzen und - ein wenig unbeholfen - das Schwert aus der Scheide zu ziehen. Er legte es vor sich über den Sattel, um klarzumachen, daß er niemanden herausfordern wollte.

Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so erbärmlich, so vollkommen hilflos gefühlt. Er vergaß Nimmermehr, vergaß alles andere, konnte nur noch daran denken, daß in jedem Augenblick eine Schwertklinge heranzucken und ihn töten konnte. Und er würde sie nicht einmal kommen sehen.

»Wer seid Ihr?« ertönte plötzlich eine Stimme. Ziemlich weit entfernt, den Göttern sei Dank!

»Ein Ritter!« Eine Lüge. »Und Ihr?«

Die Hufe schepperten wieder über das Gestein, die Reiter kamen näher.

»Haltet ein!« Hagen gab sich Mühe, eine düstere Drohung in seinen Tonfall zu legen. Offenbar mit Erfolg, denn die anderen hielten abermals an. »Sagt mir erst, wer Ihr seid und was Ihr im Schilde führt.«

Dieselbe Stimme, die eben schon gesprochen hatte, meldete sich erneut zu Wort: »Es ist eine üble Gegend, und eine noch üblere Zeit. Ich würde gerne einen Blick auf Euch werfen, bevor ich Euch Vertrauen schenke.«

»Erst Eure Namen und Eure Bestimmung!« verlangte Hagen beharrlich.

Schweigen, dann: »Also gut.« Der Mann klang keineswegs überzeugt. Es war nicht zu überhören, daß er Angst hatte. Hagen entspannte sich ein wenig.

»Meine Leute bleiben zurück, und ich komme näher. Wir werden reden, nur wir beide. Seid Ihr einverstanden?«

»Und Euer Name?«

»Runold, auf dem Weg nach Zunderwald.«

Hagen wußte, daß er nun keine andere Wahl mehr hatte, als den Mann herankommen zu lassen. Er wandte den Kopf so gut es ging der Stimme entgegen. »Kommt«, rief er dann und fügte hinzu: »Langsam.«

Ein einzelnes Pferd trottete heran, blieb kurz vor ihm stehen. Raben krächzten ganz in der Nähe. Etwas flatterte. Er war nicht sicher, ob es die Federn seines Kragens oder nahe Vogelschwingen waren.

Runold blieb lange Zeit still. Offenbar bemühte er sich, Hagen in der Dunkelheit so genau wie möglich zu betrachten. Als er schließlich wieder sprach, klang neue Ehrfurcht aus seiner Stimme: »Verzeiht, wenn wir Euren Unmut herausgefordert haben, Herr«, sagte er unterwürfig. »Ich... ich ahnte ja nicht, daß Ihr es seid.«

Hagen war sicher, daß er niemanden mit dem Namen Runold kannte. Andererseits hatte er an der Seite so vieler Männer gekämpft, deren Namen er nie erfahren hatte, daß dieser hier durchaus einer von ihnen sein mochte. Die Stimme jedenfalls war ihm fremd; sie verriet, daß Runold schon älter sein mußte. »Sollte ich Euch kennen?« fragte Hagen unsicher.

»Nicht mich, Herr«, gab der andere zurück. »Ich bin nur ein fahrender Gaukler, nichts sonst. Ganz unbedeutend neben Eurer Größe.«

Was faselte der Kerl da? Sein Unbehagen stieg.

»Was sagtet Ihr, wohin Euch Euer Weg führt?«

»Nach Zunderwald. Ein Dorf unten am Strom. Wir wollen die Leute dort mit unseren Künsten unterhalten.«

»Künsten oder Kunststücken?«

»Wie immer Ihr es nennen mögt, Herr.«

Runold verlangte nicht länger, daß Hagen seinen Namen nannte - und daß, obgleich er doch eben noch so voller Mißtrauen gewesen war. Hagen entschied, daß es an der Zeit war, diese Begegnung zu einem Ende zu bringen.

»Ihr habt nicht vielleicht ein wenig Wegzehrung, die Ihr einem hungrigen Fremden abtreten könntet?« Hagen schämte sich, fühlte sich jetzt schon wie die blinden Bettler in den Gassen, aber er wußte keine andere Möglichkeit, seinen Hunger zu stillen.

Verwunderung schwang in Runolds Stimme. »Nicht viel, Herr. Aber wenn Ihr etwas davon benötigt, so wollen wir gerne mit Euch teilen.«

»Die Götter werden Euch Eure Freundlichkeit vergelten«, sagte Hagen.

»Die Götter, Herr?«

»Seid Ihr Christen?« Hagen zog scharf die Luft ein, um seinen Unmut zu zeigen. »Nun, sicher wird der Christengott Eure Güte ebenso zu schätzen wissen.«

»O nein, Herr, keiner von uns ist getauft, das ist es nicht.« Runold stockte und rang hörbar um die richtigen Worte. »Aber... seid Ihr denn nicht der, der Ihr scheint?«

Hagen war durch Runolds merkwürdiges Verhalten - seine Scheu, die sich in Ergebenheit und nun wieder in Zweifel gewandelt hatte - mehr als verwirrt. Die Tatsache, daß er das Gesicht des anderen nicht sehen, nicht in seinem Ausdruck lesen konnte, verstörte ihn zutiefst.

»Wer glaubt Ihr denn, daß ich bin?« fragte er mit betonter Härte.

»Nun, ich...«, stammelte Runold. »Wißt Ihr, die Raben auf Euren Schultern...«

Die Raben auf meinen Schultern? Etwas in Hagens Kopf schlug Alarm. Vermochte die Dunkelheit den Alten so zu täuschen, daß er den Federkragen für lebende Vögel hielt?

Hagen horchte abermals auf das Krächzen. Es klang sehr nahe, fast an seinem Ohr. Aber ein Helm konnte Geräusche verzerren.

»Man hört nur von einem, der solche Macht über Raben besitzt«, sagte Runold.

Hagen schob alle Vorbehalte von sich. In seiner Lage mußte er jeden Vorteil nutzen, und wenn eine Täuschung ihm Macht über Runold und die seinen verlieh, nun gut, dann würde er sie nicht verschmähen. »Ihr habt recht«, sagte er kalt. »Ich bin der, für den Ihr mich haltet.«

Runold zögerte noch einen Moment, dann klang seine Stimme erfreut. »Ich wußte es gleich, als ich bemerkte, daß Euer Augenlicht nicht das beste ist.«

Und da verstand Hagen, worauf Runold hinaus wollte.

Aber das konnte doch nicht wirklich sein Ernst sein? Unmöglich.

Und doch war es so.

»Ich beuge mein Haupt vor Wodan, dem Herrn aller Götter«, sagte Runold. »Bitte, Herr, erweist mir die Gnade meiner Familie berichten zu dürfen, daß ihr wieder unter uns Menschen wandelt.«

Der Alte war verrückt, kein Zweifel. Vollkommen wirr im Kopf. Doch wenn das zu Hagens Vorteil war, hatte er nichts daran auszusetzen. Fraglich blieb, ob auch die anderen dieser Wahnvorstellung Glauben schenken würden; wie es schien, hatte er gar keine andere Wahl, als es darauf ankommen zu lassen.

Wodan, Oberhaupt der Götter, der während seiner Wege im Reich der Menschen als einäugiger Krieger umherzieht, gefolgt von seinen Raben, auf jeder Schulter einer. Der Graue Wanderer, der am Abend als ferner Schemen über Hügelkuppen geistert.

Der Gedanke war so abenteuerlich, so durch und durch irrsinnig, daß Hagen sich unter dem Helm ein Lachen verkniff.

Seine Verwirrung aber mehrte sich, als die übrigen Gaukler herankamen - jene, die Runold »meine Familie« genannt hatte. Es war unmöglich, aus dem Getuschel und dem Schlagen der Hufe heraushören, wie viele es waren. Hagen schätzte sie grob auf ein Dutzend, vielleicht ein oder zwei mehr. Sie hatten mindestens einen Pferdewagen dabei.

Zu Hagens Verblüffung glaubten sie Runold jedes Wort. Nicht einer äußerte Zweifel, nicht einer hatte Einwände.

Die Gaukler nahmen Paladin und seinen geheimnisvollen Reiter in ihre Mitte, reichten ihm Fladenbrot und Milch und schienen sich nicht im mindesten über seine offensichtliche Blindheit zu wundern. Schaukelnd setzte sich der Zug in Bewegung, schob sich knirschend und krachend durch die Nacht.

Hagen wurde von der Liebenswürdigkeit seiner Gastgeber überrumpelt und begann schon nach kurzer Zeit, sich in seiner Rolle recht wohl zu fühlen. Er überlegte, was wohl ein Gott in seiner Lage tun würde, um die Menschen bei Laune zu halten, und so beschloß er, ihnen Rätsel aufzugeben.

»Was wird auf der Erde geboren«, fragte er, »und stirbt im Himmel?«

Es gab viele Vermutungen, doch als Runold schließlich die Antwort fand - »Rauch« -, da klatschten die Gaukler begeistert Beifall.

Hagen kam sich albern vor. Nimmermehr, dachte er verzweifelt, wo bist du, wenn ich dich brauche?

Die Gaukler forderten weitere Rätsel, und er stellte ihnen eines, das schwieriger war: »Der Tote begräbt den Lebenden. Wer ist der Tote, wer der Lebende?«

Wieder gab es viele Mutmaßungen, und nach einigem Hin und Her erklärte Runold gelassen: »Asche und Feuer.«

Hagen hatte den Eindruck, als hätte Runold absichtlich die Fehlschläge der anderen abgewartet, damit sein eigener Triumph noch größer war. Wieder jubelten die Gaukler ihrem Anführer zu.

»Nicht schlecht«, sprach Hagen mißmutig. »Hier ist noch eines: Kein Meer ist es und macht doch Wogen, kein Schaf ist es und wird geschoren, kein Schwein ist es und hat doch Stoppeln.« Das war nun beileibe nicht schwer, und Hagen hoffte, daß einer der anderen die richtige Antwort finden würde, bevor Runold sich einmischte.

Viel Gemurmel gab es, viele falsche Ahnungen, dann sagte Runold: »Ein Kornfeld.« Jetzt klang er fast gelangweilt.

Waren denn diese Leute wirklich so schwer von Begriff? Hagen versuchte es ein viertes Mal. »Zwei treffliche Pferde, das eine schwarz wie Pech, das andere hell wie Kristall; sie laufen eilend voreinander her, aber niemals erreicht das eine das andere.«

Murren, Brummen, ein paar dumme Antworten.

Nach einer Weile sagte Runold: »Es sind Tag und Nacht. Das war leicht.«

»Mehr, mehr!« rief jemand. Andere pflichteten bei.

Auch Runold sagte: »Bitte, Herr, stellt mich noch einmal auf die Probe.«

Er sagte »mich«, nicht »uns«.

Hagen zögerte, dann nickte er. »Überlegt gut, denn es ist das letzte Rätsel, das ich Euch aufgeben will.« Er schwieg einen Augenblick, bevor er unheilschwanger fortfuhr: »Was kann der nicht geben, der es hat?«

Keiner sagte etwas, alle taten wohl, als dächten sie nach. Doch Hagen war jetzt sicher, daß der einzige Grund ihres Zögerns ihr Respekt vor Runold war; sie wagten nicht, ihrem Anführer zuvorzukommen.

Ich muß auf der Hut sein, dachte er düster. Und zugleich erinnerte er sich an die Gauklertruppen, die er früher getroffen hatte; sie alle waren am hellichten Tage, unter Tanz und Fanfaren, von Stadt zu Stadt gezogen.

Diese hier aber ritten bei Dunkelheit, wenn niemand sie sah. Etwas hatte ihnen den Frohsinn ausgetrieben. Sie scherzten nicht und tanzten nicht und sangen keine Lieder.

Da löste Runold das Rätsel.

Er sagte dumpf: »Der Tod.«


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