Kapitel 2


»Hagen!« rief eine Stimme. Sein Name. Der Junge schlug die Augen auf, blickte in ein Rund von Gesichtern. Sein Bruder Dankwart war unter ihnen, aber nur klein, ganz am Rand. Da war sein Vater, grimmig und mit aufgerissenem Mund; er war es, der gerufen hatte, und so wie es aussah, nicht zum ersten Mal. Seine Mutter stand auch dabei, verschlossen wie immer, mit grauem, unglücklichem Gesicht. Der Burgpfaffe Viggo, schmal und faltig, einer, den niemand ernstnahm. Daneben ein weiterer Mann, Bärbart, der sich auf Arzneien verstand, halb Wunderheiler, halb Gelehrter. Und natürlich Tilda, die Amme der beiden Brüder.

»Hagen!« grollte Adalmar von Tronje erneut, und als er sah, daß sein Sohn ihn hörte, tastete sich ein rauhes Lächeln auf sein Gesicht.

Nachdem die erste Aufregung über Hagens Erwachen abgeklungen, das Ritual des gegenseitigen Schulterklopfens vollzogen und das Lobpreisen der Tronjeschen Zähigkeit vorüber war, durfte Hagen sich im Bett aufsetzen. Tilda, die Amme, sorgte dafür, daß sich ihr Schützling dabei nicht mehr als unbedingt nötig bewegte.

Pfaffe, Medicus und Hagens Mutter wurden aus dem Zimmer gewiesen, Tilda folgte unter leisem Widerspruch nach. Zurück blieben Graf Adalmar und seine Söhne.

»Bärbart hat einen Baum für dich bereitet«, knurrte der Graf.

Hagen erbleichte. Er wußte, was die Worte seines Vaters zu bedeuten hatten. Sie machten ihm angst.

»Ich will vorerst auf eine Strafe verzichten«, fuhr Adalmar fort, in einem ganz und gar unerhörten Anflug von Großmut. »Sechs Tage hast du dagelegen wie ein besoffener Bauernknecht, das ist wohl erst einmal Züchtigung genug.« Er grummelte etwas vor sich hin, das keiner seiner beiden Söhne verstand, dann sagte er: »Wärest du wenigstens betrunken gewesen, ich könnte verstehen, was geschehen ist. Alle könnten das. Aber so? Ein wenig Wasser geschluckt, erschöpft natürlich - doch sechs Tage Bewußtlosigkeit? Keiner kann das begreifen. Entweder man ersäuft, oder man ersäuft nicht. Aber so etwas...« Er schüttelte verständnislos den Kopf.

Nun hatte weder Adalmar von Tronje noch einer seines Hofstaates, sogar der kluge Bärbart, allzuviel Ahnung von Belangen der Gesundheit, die über Jagdunfälle und das ein oder andere Fieber hinausgingen. Doch eine Ohnmacht von sechs Tagen, ohne daran zu sterben, das war allerdings ungewöhnlich. Hagen hatte fast den Eindruck, allen wäre es lieber gewesen, er wäre gar nicht mehr erwacht - wenigstens wäre dann alles mit rechten und bekannten Dingen zugegangen.

»Ich...« brachte er schwerfällig hervor, als müßte er erst wieder das Sprechen erlernen. »Ich... kann mich nicht erinnern.«

»Erinnern?« fuhr Adalmar auf. »Dankwart hat mir alles erzählt. Ihr wart am Wasser, und eine Welle hat dich hineingerissen. Dankwart hat ein Pferd aus dem Stall geholt und ist der Strömung nachgeritten. Irgendwann hat er dich angeschwemmt am Ufer gefunden und nach Hause gebracht.« Er wandte sich an Hagens Bruder und hob eine buschige Augenbraue. »War es nicht so?«

»Genau so«, bestätigte Dankwart, ohne eine Miene zu verziehen.

Hagen schluckte. »Ja, ich glaube, jetzt fällt es mir wieder ein.«

Die Wahrheit war, er erinnerte sich an nahezu alles - bis zu dem Moment, da das Wasser unter ihm zu gefrieren schien. Was dann geschehen war, blieb ihm rätselhaft. Er wußte noch, daß da etwas gewesen war, doch der Gedanke an die unvorstellbare Kälte des Flusses ließ ihn so sehr frösteln, daß er die Vorstellung eilig verdrängte. Aber war es wirklich die Erinnerung an das Wasser, die ihn zittern ließ? Oder war da -

»Der Baum kann warten«, unterbrach Adalmar Hagens Gedankenfluß. Er wuchtete seinen Leib vom Stuhl und trat zur Kammertür. »Ruh dich noch ein wenig aus. Heute abend ist Zeit genug für Bärbarts Wunder.«

Damit verließ er den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Die Brüder lauschten seinen schweren Schritten, die sich langsam den Gang hinab entfernten. Erst als Hagen sicher war, daß sein Vater sie nicht mehr hören konnte, ließ er seine Hand vorschnellen und packte Dankwarts Unterarm.

»Wo ist das Gold?« Seine Stimme klang jetzt viel fester und entschlossener als noch vor wenigen Augenblicken.

Dankwart blickte erstaunt auf die blutleeren Furchen, die Hagens Finger in seinen Arm preßten. Dann schaute er seinem Bruder in die Augen. »Welches Gold?«

Hagen starrte zurück, bis beide den Blick des anderen nicht mehr ertragen konnten und sich gleichzeitig abwandten - ein Spiel, das sie den Erwachsenen abgeschaut hatten. »Ich hatte Gold bei mir, als ich im Wasser schwamm. Viel Gold.«

»Von dem Boot?« Dankwarts Stirn glänzte vor Aufregung. Er sah aus, als hoffte er ein spannendes Abenteuer zu hören, schien überhaupt nicht zu begreifen, wie ernst es seinem jüngeren Bruder war.

Hagen überlegte noch einen Moment, dann schob er den Gedanken an den Schatz für eine Weile beiseite und fragte statt dessen: »Hast du mich wirklich am Ufer gefunden?«

»Sicher. Die Strömung hat dich angeschwemmt. Du hast entsetzliches Glück gehabt.«

Ja, dachte Hagen, das habe ich wohl. »War das Wrack noch in der Nähe?«

»Ich habe es nicht mehr gesehen.«

»Auch keine Teile? Irgendwelche Planken oder Bretter?«

»Nichts.«

»Es war wirklich fort?«

Dankwart wurde ungehalten. »Verdammt, das habe ich doch gerade gesagt! Weshalb liegt dir soviel daran? Und von was für Gold hast du eben gefaselt?«

»Nur ein... ein Fiebertraum«, stammelte Hagen und wußte sofort, daß Dankwart ihm kein Wort glauben würde.

»Sag mir die Wahrheit!« Dankwart spielte die Rolle des großen Bruders selten, sie lag ihm nicht besonders, denn Hagen war genauso hochgewachsen wie er und sogar um einiges stärker. Lediglich in Vernunftsdingen war Dankwart ihm voraus.

Hagen spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Er wünschte sich, sein Bruder würde endlich verschwinden. »Ich weiß nicht«, gestand er tonlos, »vielleicht war es wirklich ein Traum.« Und dann erzählte er Dankwart widerwillig alles, was geschehen war. Vom Kreis der fünf Tannen, vom Schatz in ihren Wipfeln. Mit jedem Bruchstück der Ereignisse, das er preisgab, kehrte ein wenig Kraft in seinen Körper zurück. Sein Schweigen war schlimmer gewesen als jede Krankheit, das spürte er jetzt. Selbst das heftige Niesen, das ihn in kurzen Abständen überkam, wurde erträglicher.

Eines aber ließ er trotz allem in seiner Erzählung aus: die plötzliche Kälte, die aus der Tiefe des Flusses aufgestiegen war. Er stellte sie sich immer noch vor wie einen Riesenfisch aus Eis, der mit aufgerissenem Rachen und Zähnen aus Kristall vom Grund des Stroms zu ihm emporschoß.

So beendete er seinen Bericht damit, daß er das Bewußtsein verloren hatte und sich an nichts weiter erinnern konnte. Genaugenommen war das sogar die Wahrheit.

Dankwart sah ihn eindringlich an, mit kunstvoller Ernsthaftigkeit, die die Sorge eines Mannes nachahmte. »Am besten vergißt du das alles. Das Gold ist fort, und du bist am Leben. Du solltest dankbar sein.« Er grinste bemüht. »Ich jedenfalls bin es, sonst hätte Vater mir wohl den Kopf abgerissen.«

Wenn ich herausfinde, daß du das Gold gestohlen hast, werde ich das höchstpersönlich übernehmen, dachte Hagen. Aber er sagte nur matt: »Ich will jetzt schlafen.«

Dankwart nickte verständnisvoll. In seinen Augen war nach wie vor Sorge, aber sie schien nicht mehr allein Hagens Befinden zu gelten. »Ich werde Bärbart bitten, den Baum erst für heute abend fertigzumachen. Er wird das verstehen.«

»Danke«, sagte Hagen und schloß die Augen.



Tatsächlich war es nicht der Gestank, der ihm das größte Unbehagen bereitete, aber er war fraglos das erste, was Hagen wahrnahm, als man ihn auf einer Trage vom Burgtor zum Baum schleppte. Ein widerlicher Geruch nach Schmutz und Abfall, durchmischt mit dem Fäulnisodem toter Fische. Warum hatte Hagen ihn nicht bemerkt, als er mit Dankwart am Ufer gespielt hatte?

»Es riecht erst seit ein paar Tagen so«, sagte Tilda, die an der Seite der Trage ging und ihn mit sorgenvollen Blicken bedachte. An seinem Naserümpfen hatte sie erkannt, welche Gedanken er hegte. »Die Alten sagen, es ist der Fluß, das, was auf seinem Grund liegt. Tote Tiere und Pflanzen, die tief unter der Oberfläche verfaulen. Das Hochwasser hat sie nach oben gewirbelt.«

Bei Anbruch der Dämmerung war die Amme in Hagens Kammer gekommen und hatte ihm beim Aufstehen geholfen. Wenig später waren auf Tildas Geheiß zwei Männer eingetreten, riesenhafte Stallknechte mit Schultern so breit wie Wagenräder. Hagen hatte protestiert, er könne allein gehen, doch sie hatten darauf bestanden, ihn zum Baum zu tragen.

Jetzt lag er nackt unter einer Felldecke, und immer noch hallte der Anblick der leeren Flure und Zimmer der Burg in ihm nach; alle Bewohner mußten sich draußen versammelt haben, um dem Schauspiel beizuwohnen. Aber es war nicht der Gedanke an ihre Blicke, der ihn ängstigte.

In der Dunkelheit erkannte Hagen Dutzende lodernder Fackeln, wie eine Versammlung zuckender Irrlichter. Als sich die Träger der Menschenmenge näherten, begann sich vor ihnen geschwind eine Gasse zu bilden. Der Ring aus Leibern öffnete sich und gab den Blick frei auf den Baum selbst, eine gewaltige Eiche, deren Krone sich weit über den Rand einer Felsklippe spannte. Alle anderen Bäume im Umkreis von zehn Schritten waren gefällt worden. Die Eiche erhob sich einsam und eitel über einem Ruinenfeld aus Baumstümpfen, die wie Grabmonumente aus dem schlammigen Boden ragten. Das Gelände führte bergauf, die Eiche stand auf dem höchsten Punkt der Klippe. Hinter ihr in der Finsternis rauschte der Rhein.

Am Fuß des Baumes standen Bärbart und Graf Adalmar. Hagens aufgeregter Blick fand seine Mutter an der Seite des Pfaffen Viggo, in der vorderen Reihe der Menschenmenge. Ihre Leibdiener hielten rußende Fackeln. Der Wind schien die Flammen in Stücke zu reißen.

Dankwart stand neben der Gräfin und schenkte seinem Bruder ein flüchtiges Lächeln. Es sollte ihn aufmuntern, verfehlte aber gänzlich seine Wirkung. Im zuckenden Fackelschein wirkte es verzerrt, die schattenhafte Fratze eines Kobolds.

Tilda blieb am inneren Rand des Menschenringes zurück, während die beiden Träger Hagen zum Baum brachten. Zwischen der Eiche und den Zuschauern lagen mehr als fünf Mannslängen Ödland; niemand, dem es nicht ausdrücklich erlaubt war, durfte näher herantreten.

Der Baum war von Bärbarts Vorgängern, Männern wechselnder Weisheit, angepflanzt und aufgezogen worden. In der Umgebung der Burg gab es noch mehr solcher Eichen, zehn oder elf insgesamt. Sie alle unterschieden sich von den übrigen Wald bäumen durch ihre Form: Ihre Stämme teilten sich in Brusthöhe zu einer feigenförmigen Öffnung, groß genug, daß ein Mensch mit Mühe hindurchkriechen konnte. Jede der Eichen war einem Mitglied der gräflichen Familie geweiht, sie blieb sein ein ganzes Leben lang. Und doch wurden die wenigsten dieser Bäume je ihrer Bestimmung zugeführt, denn die Folgen des Rituals waren unerforscht und galten als gefährlich.

Trotzdem hatte Graf Adalmar sich von Bärbart überzeugen lassen, daß in Hagens Fall ein Wunder vonnöten war, denn was immer auch dem Jungen widerfahren war, es konnte nichts Natürliches gewesen sein. Daher gab es nur einen Weg: Hagens Leib und Seele mußten gereinigt werden. Gereinigt durch die Zweite Geburt.

Bärbart war ein großer Mann mit buschigen Brauen und einem dunklen, struppigen Bart. Sein wildes Haar stand zumeist in alle Richtungen ab, doch an diesem Abend hatte er es sich mit Tierfett zu zwei mächtigen Hörnern geformt, eine Tribut an die Waldgeister. Die schwarzen Spitzen stachen schräg über seiner Stirn empor, jede so lang wie ein Unterarm.

Kein Wunder, daß Viggo, der Burgpfaffe, bei diesem Anblick die Augen geschlossen und die Hände gefaltet hatte. Seine Lippen zuckten aufgeregt in einem stummen, nicht enden wollenden Gebet. Hagens Mutter tat es ihm nach, sie hob nicht einmal die Lider, als man ihrem Sohn von der Trage half. Ihre Lippen waren farblos, fast weiß. Sie war die einzige in der ganzen Burg, die dem Christenpriester blind vertraute; alle anderen hatten wenig für sein Geschwafel übrig, wenngleich einige sicherheitshalber seine Messen besuchten. Viggo hielt sie in einem ehemaligen Kerker ab, den Adalmar ihm auf Drängen der Gräfin - und voller Verachtung - überlassen hatte.

Der gehörnte Bärbart führte Hagen nun auf die andere Seite des Baumes, jene, die der Felskante und dem strudelnden Fluß darunter zugewandt war.

»Kannst du allein hindurchklettern?« fragte er leise.

Hagen nickte, obgleich er dessen keineswegs sicher war. Die Gewißheit, den schwarzen Fluß im Rücken zu haben, ängstigte ihn fast noch mehr als das bevorstehende Ritual.

Bärbart nahm die stumme Antwort seines Schützlings zufrieden und nicht ohne Stolz zur Kenntnis. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß er Hagen für einen geeigneteren Erben der Grafschaft hielt als den älteren Dankwart. Trotzdem mochte Hagen ihn ebensowenig wie sein Bruder; beide Jungen fürchteten Bärbarts Klugheit ebenso wie seine Vertrautheit mit Geistern und Göttern. Die kunstvollen Hörner, die er sich auf die Stirn modelliert hat, waren nur die äußeren Zeichen einer dämonischen Aura, die Bärbart umgab wie ein schlechter Geruch.

»Dieser Baum ist dir seit deiner Geburt geweiht, ihr seid wie Brüder, er weiß das, du weißt das.« Bärbart sprach, als rezitiere er eine Zauberformel, seltsam gleichförmig, unbetont. »Du wirst durch den Spalt gehen und auf der anderen Seite zum zweitenmal geboren werden. Schließt sich der Spalt innerhalb der nächsten Jahre, so weiß jeder, daß du geheilt bist. Was immer dir in den vergangenen Tagen widerfuhr, die Spuren werden verblassen.«

Hagen wußte das alles längst, jedes Kind in dieser Gegend kannte die Regeln der Zweiten Geburt. Dennoch gehörte die Unterweisung durch den Zeremoniemeister zum Ritual.

»Du und der Baum«, fuhr Bärbart fort, »ihr werdet nach deiner Heilung eng miteinander verbunden sein, enger, als dies zwei Menschen jemals sein könnten. Nicht Mann und Weib, nicht Kind und Mutter. Du und der Baum, ihr werdet im Angesicht der Götter eins sein. Scheidest du dereinst aus dem Leben, so wird dein Geist in den Stamm fahren und in ihm weiterleben.« Er sah dem Jungen eindringlich in die Augen, bis Hagen glaubte, nicht nur sein Körper sei nackt, sondern auch seine Gedanken. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, wie sehr er fror. Aber Kleidung war während des Rituals nicht gestattet.

»Hast du alles verstanden?« fragte Bärbart streng.

»Ja.«

»Bist du bereit, die Zweite Geburt zu vollziehen?«

»Ich bin bereit.«

Bärbart hob die Stimme, so daß alle ihn hören konnten. »Die Zeremonie kann beginnen!«

Stille legte sich über die Menge der Burgbewohner. Nur das Knistern der Fackeln und das Flüstern des Flusses waren zu hören. Hagen schien es, als vernähme er Stimmen im Rauschen der Strömung, ein Glucksen voller Schadenfreude, ein Wispern in der Finsternis.

Adalmar trat vor und zog seinen Sohn kraftvoll an sich. Er umarmte ihn, als sei dies ein Abschied für immer, die Geste eines Kriegers vor der Schlacht. Dann trat er einige Schritte zurück. Nur Bärbart blieb bei Hagen am Baum, nahm jedoch an der bergabgewandten Seite Aufstellung, um den Jungen dort entgegenzunehmen.

Hagen stand ganz allein zwischen Eiche und Abgrund, sein nackter weißer Körper schimmerte wie ein Geist in der Dunkelheit. Die Nacht schien ihn zu liebkosen, mit ihrem Versprechen von Stille und Schlaf, doch da war noch etwas anderes. Die Stimme der Strömung raunte Geheimnisse zu ihm empor, deren Bedeutung unterwegs verlorenging. Der Fluß schien eine Kälte auszustrahlen, die sogar den frostigen Wind übertraf.

Die Rinde des Baumes fühlte sich hart und spröde an, als Hagen sie mit beiden Händen berührte. Bärbart stimmte im gleichen Augenblick ein leises Summen an, eine langsame, schwerfällige Melodie, die von der Menge aufgegriffen wurde. Bald schon wurde die Stille vom düsteren Singsang der Menschen verdrängt. Einen Moment lang glaubte Hagen, der Fluß stimme mit ein.

Er legte die Hände an die Holzwülste, die den Spalt wie ein Paar riesiger Lippen flankierten. Sachte steckte er den Kopf ins Innere des Stammes, den Blick dabei fest auf das andere Ende gerichtet, auf einen schmalen Ausschnitt der Menge. Dort standen, Zufall oder Vorsehung, der Pfaffe und die Gräfin. Beide beteten immer noch stumm zu ihrem Christengott, hielten fest die Augen geschlossen. Alle anderen sahen gebannt zum Baum herüber.

Auch Hagen wollte die Lider schließen, aber sie flackerten und zuckten nur, verweigerten ihm die Blindheit. Zitternd schob er die Schultern durch den Spalt. Die Öffnung war zu eng, die Rinde riß seine Haut auf. Er spürte, wie Blut über seine Oberarme rann; in der eisigen Nachtluft fühlte es sich kalt wie Eiswasser an.

Er kletterte weiter, zog die Brust hinterher. Sein Gesicht kam auf der anderen Seite schon wieder zum Vorschein. Immer mehr Holzsplitter bissen in seine Haut, bald schon war er bis zur Hüfte voller Blut. Als Bärbart schließlich nach ihm griff und ihm wie eine Amme beim Austritt aus der Baumspalte beistand, da war sein Körper tatsächlich so rot und naß wie ein Neugeborenes.

Die Zweite Geburt war vollzogen.

Hagen fühlte sich genauso kraftlos wie zuvor, nur waren jetzt zahllose Wunden hinzugekommen, winzig klein, aber schmerzhaft. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Seine Knie gaben nach, er sackte in Bärbarts Armen zusammen. Sogleich eilten Tilda und zwei andere Frauen herbei und hüllten ihn in Decken.

Als man ihn vorsichtig auf die Trage legte, hörte er Bärbarts leise Worte: »Die Jahre werden zeigen, ob die Heilung gelungen ist.« Dabei strich er mit der Rechten über den blutigen Rand der Spalte, senkte den Kopf, bis seine Hörner gegen die Rinde stießen.

Hagen wurde fortgetragen, zurück zur Burg. Rote Schleier schwirrten vor seinen Augen. Er wußte nicht, ob er phantasierte, als er die raunende Stimme seiner Mutter vernahm, ganz nahe an seinem Ohr:

»Weißt du, was man über die Zweite Geburt sagt, Hagen? Fällt man den Baum, der den Geheilten geboren hat, und läßt man ihn als Teil eines Schiffes zu Wasser, so entsteht daraus ein Klabautermann.« Flüstern und Wispern in seinem Schädel, eine Spirale aus Warnungen, Drohungen, ein Versprechen. »Ein Wassergeist entsteht, mein Sohn. Ein Teufel.«



Zwei Wochen vergingen, ehe Hagen sein Lager verlassen konnte, auf eigenen Füßen und ohne die Begleitung anderer. Sein erster Weg führte ihn hinaus aus dem Burgtor, die Klippe hinauf, zum Baum. Seinem Baum.

Er fragte sich, ob die Eiche etwas ähnliches dachte. Ihr Mensch.

Nein, dachte er lächelnd, Bäume denken nicht.

Aber sie gebären auch keine nackten Jungen.

Das hat sie nicht, widersprach er sich selbst. Es war nur eine Zeremonie, etwas, das man tut, um die Götter für sich einzunehmen.

So, war es das? Erinnere dich an Bärbarts Worte: Du und der Baum, ihr werdet eins sein! Das war es, was er gesagt hat. Besser, du glaubst ihm.

Eins sein! schoß es ihm durch den Kopf. Und wieder, eindringlicher: Eins sein!

Verunsichert blieb Hagen vor der Eiche stehen, in sicherem Abstand. Sein Vater hatte einen Wächter, mit Schwert und Spieß bewaffnet, am Fuß des Baumes Stellung beziehen lassen. Der Mann nickte Hagen grüßend zu, aber seine Freundlichkeit wirkte aufgesetzt. Nicht, daß er den Grund seiner Wache nicht einsah; ganz im Gegenteil, er verstand sehr wohl, was es mit der Eiche auf sich hatte. Gerade deshalb fürchtete er sie.

Hagen konnte es ihm schwerlich verübeln. Die Nähe zwischen sich selbst und dem Baum, die Bärbart heraufbeschworen hatte, mochte da sein, doch viel war von ihr nicht zu spüren. Was da vor ihm stand, groß und mit weitverästelter Krone, war nichts als ein knorriger Baum, sehr viel älter als er selbst, und das Dämonische, das von ihm auszugehen schien, mochte nicht mehr sein als die Furcht der Jugend vor dem Alter.

Unterhalb der Klippe brauste immer noch das Hochwasser vorüber, es hatte während der vergangenen Tage kaum nachgelassen. Die Alten raunten sich in den Fluren der Burg zu, dies sei die längste Flut, von der sie je gehört hätten.

Der Wächter machte zwei Schritte auf Hagen zu. »Ich erwarte Euch am Fuß der Klippe, Herr.«

Hagen runzelte verwundert die Stirn. »Warum bleibst du nicht?«

»Der Weise Bärbart trug mir auf, Euch, wann immer Ihr mögt, mit dem Baum alleinzulassen. Er sagte, es gäbe vielleicht Dinge, die Ihr mit ihm... besprechen müßtet.« Unruhe glomm wie ein Funke in den Augen des Mannes.

»Besprechen?« wiederholte Hagen.

»Das war das Wort, das Bärbart gebrauchte.« Der Mann deutete eine Verbeugung an. »Wenn Ihr also erlaubt...« Und damit war er bereits an Hagen vorbei und eilte den Hang hinunter. Vom Ödland der abgeholzten Bäume trat er in den Schatten des Waldes und verschwand darin. Jenseits der Wipfel kauerte die Burg auf ihrem Bergrücken wie ein kraftloser Riese aus Stein.

Hagen sann nicht länger über das merkwürdige Verhalten des Postens nach. Statt dessen trat er einige Schritte vor. Als er jene Stelle erreichte, an der während der Zeremonie seine Mutter mit dem Pfaffen gestanden hatte, fiel sein Blick geradewegs auf den Spalt. Die Sonne schien grell, und der Himmel war von strahlendem Blau; das hätte er auch jenseits der Öffnung sein müssen.

Doch der Spalt war schwarz. Ein finsteres, pupillenloses Auge, das Hagen starr entgegenglotzte.

Er begann zu frösteln, spürte, wie sein Atem schneller ging.

Die Öffnung blieb schwarz. Etwas verdeckte sie von der anderen Seite.

Hagen keuchte auf, als ihn die Erkenntnis traf.

Jemand stand hinter dem Baum!

»Wer ist da?« fragte er leise, in einer Tonlage, die das Kind in ihm verriet. Er hätte sich herumwerfen und fliehen können, aber was hätte dann der Wächter von ihm gedacht?

Vielleicht spielte ihm jemand einen Streich.

»Dankwart? Bist du das?«

Der Gedanke schien ihm einleuchtend, und er faßte neuen Mut. Langsam machte er zwei, drei Schritte auf den Baum zu. Wenn es wirklich sein Bruder war, der sich hinter dem Stamm verbarg, dann würde er ihm die frechen Scherze austreiben.

Nichts rührte sich. Der Baum stand hoch und ehrfurchtgebietend vor ihm, breit genug, um zwei Männern gleichzeitig Schutz zu bieten. Als Hagen nach oben schaute, bemerkte er, daß er bereits unterhalb der äußeren Äste stand, so weit fächerten sie hinaus in den Himmel. Als wollte der Baum das ganze Firmament umkrallen.

»Dankwart?« fragte er noch einmal, kühner als zuvor.

Im Kampf gegen seinen Widerwillen machte er schwerfällig Schritt um Schritt. Noch drei Mannslängen, dann würde er den Stamm erreicht haben. Die Schatten der Äste legten sich verzerrt über sein Gesicht wie Kerkergitter.

Sein Bruder - wenn er es denn war - gab keine Antwort. Auch sonst regte sich nichts. Kein Rascheln, keine sichtbare Bewegung.

Wieder pfiff der Wind über die Felskante. Kalt, so kalt. Etwas regte sich in Hagens Erinnerung, wie ein Tier, das sich im Winterschlaf wälzt.

»Das ist nicht lustig«, brachte er schwach hervor. Sein Mut schwand schon wieder, und an seine Stelle trat... Zorn? Oder eher ein Anflug von Panik?

Er hatte es vermieden, noch einmal in den Spalt zu blicken, in der Befürchtung, sein Geist könne ihm einen Streich gespielt, ihn schlichtweg getäuscht haben. Doch als er nun erneut durch die Öffnung schaute, war die Finsternis immer noch da. Dort, wo ein feigenförmiger Splitter des Himmelsblau hätte sein müssen, war nichts als tiefe Schwärze. Was aus der Ferne noch wie ein Auge gewirkt hatte, erschien ihm jetzt als langgestrecktes Maul. Die hölzernen Lippenwülste rechts und links der Öffnung waren immer noch von seinem getrockneten Blut bedeckt. Es hatte sogar dem Regen widerstanden, fast als hätte die Rinde es aufgesogen.

Der Wind aus der Tiefe wimmerte leise. Er trug das Flüstern des Flusses herauf.

Ganz langsam, zögerlich, trat Hagen nach rechts. Erst nur einen Schritt, dann einen zweiten. Ahnungsvoll machte er sich daran, den Baum zu umrunden.

Und wenn der andere es nun genauso machte? Sie würden sich im Kreis drehen, den Stamm immer zwischen ihnen. Hagen würde sich dem Klippenrand nähern, kaum zwei Schritte hinter dem Baum. Dort wartete der Abgrund auf ihn, an seinem Grund der Fluß und in dessen Tiefe -

Nein! kreischte es in ihm. Tu das nicht! Geh nicht weiter, bleib stehen!

Er machte noch einen Schritt, dann noch einen, unendlich langsam. Näherte sich der Felskante und der Rückseite des Baumes. Legte den Kopf schräg, um besser dahinterschauen zu können.

Der schmale Streifen zwischen Stamm und Kante war leer. Niemand war da. Wurzelstränge ragten aus dem Boden wie Beine einer zertretenen Riesenspinne.

»Ist da wer?« fragte er wieder. Er schluckte, aber der Knoten in seinem Hals wollte nicht weichen.

Hagen überlegte fieberhaft. Er mußte einmal um den Baum herumgehen, um wirklich sicher sein zu können. Aber immer noch war ihm der Gedanke, so nahe an den Abgrund zu treten, zuwider. Falls ihm der andere, der sich hinter dem Stamm verbarg, Böses wollte, würde es ihm ein leichtes sein, Hagen in die Tiefe zu stoßen.

Zaghaft trat er um die vordere, dem Wald zugewandte Seite, horchte angestrengt auf Kleiderrascheln oder andere verräterische Laute. Sein Atem rasselte in seinen Ohren. Hätte er nicht auch das Atmen des anderen hören müssen?

Was, wenn der andere gar nicht zu atmen braucht?

Unsinn. Das sind Ammenmärchen.

Aber du hast es doch gefühlt, unten im Fluß. Du weiß, daß da etwas war. Etwas, das im Fluß lebt, muß nicht atmen...

Hagen schüttelte sich. Ein eisiger Schauder lief ihm über den Rücken. Es kostete ihn einige Überwindung, überhaupt weiterzugehen. War es nicht gleichgültig, was der Wächter von ihm dachte?

Nein, er war des Grafen Sohn! Keine Wahnvorstellung würde ihn in die Flucht schlagen.

Nur ein Alptraum, hämmerte er sich ein.

Er war jetzt völlig sicher, daß es nicht Dankwart war, der seine Späße mit ihm trieb. Das hier war etwas ganz anderes.

Hagen stand nun an der Vorderseite, genau vor dem Spalt. Widerwillig senkte er den Kopf, um noch einmal hindurchzuschauen.

Die Schwärze war unverändert. Seine schale Hoffnung, jemand habe vielleicht etwas in die Öffnung gestopft, schwand dahin. Und noch etwas begriff er: Die Spalte wurde gar nicht von der anderen Seite versperrt.

Hagen war ganz allein am Baum. Da war niemand, der sich vor ihm versteckte.

Jetzt erkannte er, woraus die Schwärze in Wahrheit bestand.

Es war die Nacht.

Ein Stück des dunklen Nachthimmels hatte sich in der Spalte verfangen. Hagen konnte jetzt sogar Sterne erkennen, und wenn er seine Position ein wenig änderte, dann sah er durch die Öffnung das andere Ufer, düster und schlummernd im Mondenschein.

Mit einem Ruck riß er den Kopf zurück, schaute um den Stamm herum. Er sah das Ufer jenseits des Flusses, rotgelbe Wälder im Licht der Herbstsonne.

Noch ein Blick durch den Spalt. Dahinter herrschte abermals Finsternis.

Soviel Dunkelheit in jeder Nacht, daß sie nicht von einem Tag auf den anderen aufgebraucht wird; irgendwohin muß der Rest verschwinden. Warum nicht in diesen Baum?

Einen Moment lang schien das fast vernünftig.

Hagen taumelte zurück, stolperte, landete auf dem Boden.

Was, bei allen Göttern, war das?

Er rappelte sich auf, trat noch einmal näher an den Baum. Ganz langsam hob er die rechte Hand, überlegte, ob er sie in den Spalt stecken sollte. Widerwillig berührte er die hölzernen Lippenwülste. Es war viel kälter im Inneren des Baumes; mit der Dunkelheit hatte sich auch die Frische der Nachtluft im Eichenstamm eingenistet.

Wieder machte er sich daran, den Baum zu umrunden, und diesmal zögerte er nicht, sich in die Nähe des Abgrundes zu wagen. Es war niemand da, der ihn hinabstoßen konnte. Niemand, außer ihm selbst.

Die Rückseite der Eiche war in Sonnenschein gebadet. Hagen bückte sich, blickte nun von der anderen Seite durch den Spalt. Von hier aus hätte er den Waldrand sehen müssen, davor das Feld der Baumstümpfe.

Aber er sah Fackeln. Züngelndes, zuckendes Fackellicht. Eine Menschenmenge unter dem Nachthimmel. Und davor seine Mutter und der Priester, beide betend, die Augen geschlossen.

Es war das gleiche Bild, das er gesehen hatte, als er vor zwei Wochen zum ersten Mal durch den Stamm geschaut hatte, unmittelbar bevor er hindurchgekrochen war.

»Der Baum hat seine Unschuld verloren«, sagte plötzlich eine Stimme jenseits der Eiche. »Das feine Gespinst der Wirklichkeit in seinem Inneren ist zerrissen. Der Augenblick der Zweiten Geburt wird für immerdar in ihm gefangen sein.«

Hagen schrak zurück, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Seine Ferse trat auf den Rand der Klippe, rutschte ab. Er schrie auf, ein Kreischen in höchster Panik, als sich der Fluß unter ihm auftat wie ein Maul. Die Oberfläche war grau und trübe, trotz des blauen Himmels.

Finger schossen vor, umfaßten sein Handgelenk. Zwei, drei Atemzüge lang schwebte Hagen über dem Abgrund, stumm, erstarrt, unter sich nichts als die Tiefe.

Jemand riß ihn zurück auf festen Grund. Das Maul des Flusses schloß sich wieder.

»Eine Dritte Geburt kann es nicht geben«, sagte Bärbart.


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