Kapitel 5


Sie ritten einen steilen Berg hinab, und Runold verkündete, das Dorf Zunderwald liege nur noch eine kurze Wegstrecke vor ihnen. Ein eigenartiger Geruch durchdrang die kühle Bergluft; es dauerte eine Weile, ehe Hagen begriff, wonach es roch.

Es war der Gestank von faulenden Wasserpflanzen am Ufer, von Fisch und aufgewühltem Schlick. Es war der Rhein.

Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto schweigsamer wurden die Gaukler. Nur Runold ergriff ab und an das Wort und übte sich in aufgesetzter Fröhlichkeit. Die meiste Zeit aber sprach niemand. Es wurden auch keine Rätsel mehr verlangt, der Rabengott hatte längst an Faszination verloren. Hagen fragte sich immer noch, ob sie wirklich glaubten, er sei Wodan im Leib eines Menschen, oder ob sie diese Behauptung nur ebenso leichtfertig hinnahmen wie alles andere, das ihr Anführer von sich gab.

Es machte Hagen keine Mühe, durch das Geklapper der Hufe und Knirschen der Wagenräder die Strömung herauszuhören. Ihr fernes Plätschern und Strudeln war noch weit genug entfernt, als daß es ihm ernsthafte Sorgen bereitet hätte, und doch schon so nah, daß er wachsam wurde. Sein letztes Goldopfer lag erst drei Wochen zurück, der Siebenschläfer war besänftigt. Der Fluß hatte nie gegen seine eigenen Gesetze verstoßen. Bisher.

»Könnte mir jemand die Landschaft beschreiben?« bat er ins Leere und hoffte, irgendwer würde ihm Antwort geben.

Einen Augenblick lang war es, als hätte man seinen Wunsch überhört; dann aber meldete sich neben ihm eine Frauenstimme zu Wort: »Die Hänge sind dicht bewaldet, die Bäume reichen bis ans Ufer. Das Dorf liegt auf einer Landzunge. Man kann es über eine Sandbank erreichen oder auch über eine hölzerne Brücke.«

»Es ist rundum vom Fluß umgeben?« Hagen gab sich Mühe, seine Unruhe im Zaum zu halten.

»Nahezu, ja.«

»Runold!« rief Hagen aus. »Ich muß mit dir sprechen!«

Schnelle Hufschläge näherten sich von der Seite. »Ja, Herr?«

Die Schwärze vor seinen Augen schien von allen Seiten auf Hagen einzudrängen. Einen Herzschlag lang glaubte er, etwas darin zu erkennen, nicht zu sehen, sondern zu spüren. Wieder hatte er das Gefühl, als käme langsam etwas aus der Finsternis auf ihn zu. Es brachte Kälte mit sich.

»Herr?« fragte Runold noch einmal, eine Spur ungeduldiger.

Hagen riß sich zusammen. »Ich werde Euch hier verlassen... mein Freund«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu. Er hoffte, das würde Eindruck auf den gottesfürchtigen Gaukler machen.

Der Anführer gab keine Antwort.

»Runold?« fragte Hagen nach einer Weile. »Seid Ihr da?«

»Ich bin da, Herr.«

»Gut. Ich sagte -«

»Daß Ihr uns verlassen wollt, Herr. Ich habe es gehört.«

Ein weiterer Augenblick des Schweigens verging. Hagen wollte schon auffahren, als jemand unvermittelt Paladins Zügel aus seinen Fingern riß. Das Schlachtroß wurde zum Halten gebracht. Der ganze Gauklerzug blieb stehen.

»Runold, was soll das?« Hagen bemühte sich, seine Panik nicht offen zu zeigen; statt dessen gab er seiner Stimme einen drohenden Unterton.

»Es tut mir leid«, entgegnete Runold.

Hagen entging nicht, daß der Gaukler auf die Anrede »Herr« verzichtet hatte. Auf einmal mußte er den heftigen Drang niederkämpfen, wild mit den Armen um sich zu schlagen. Nie zuvor hatte er seine Blindheit entsetzlicher empfunden als in diesem Moment.

»Ich muß um Verzeihung bitten«, sagte Runold, »aber ich kann nicht zulassen, daß Ihr uns verlaßt.« Eine unheilvolle Schärfe lag jetzt in seiner Stimme.

»Laßt sofort mein Pferd los!« zischte Hagen. »Ihr wißt ja nicht, was Ihr tut.«

Ganz in der Nähe hörte er wieder die Raben schreien. Federn streiften seinen Hals, doch das mußte der Kragen des Umhangs sein. Ein Raunen ging durch die Gauklertruppe. Paladin tänzelte leicht.

»Ihr müßt einsehen«, sagte Runold, »daß ich Euren Wünschen nicht entsprechen kann. Ich muß Euch bitten, bei uns zu bleiben. Euer Talent ist zu beachtlich, um es ungenutzt zu lassen.«

»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.« Hagen fragte sich, ob es ratsam sei, auf seinen Status als Gott hinzuweisen, doch etwas sagte ihm, daß es damit vorbei war.

»Ob Ihr es wißt oder nicht ist unbedeutend«, erwiderte Runold gelassen. »Eure Macht über Raben ist ganz erstaunlich. Eure ganze Erscheinung ist verblüffend. Ihr seid wie geschaffen für meine Truppe.«

Hagens Stimme war schneidend: »Welche Kunststücke führt Ihr vor, Runold? Es ist an der Zeit, mir die Wahrheit zu sagen.«

»Die Wahrheit?« Runold lachte krächzend. »Die Wahrheit mag sein, daß Ihr ein Gott seid - oder auch nicht. Und die Wahrheit mag sein, daß mein ganzer Trupp aus Göttern besteht - oder eben nicht.«

»Was meint Ihr damit?«

Runold lachte noch immer, ein heiserer, böser Laut. »Es sind Götter, die ich den Menschen verkaufe. Ein ganzer Trupp voller Götter. An Eurer Seite reiten der mächtige Donar, die liebliche Frija, der jugendliche Balder und noch einige mehr. Und Ihr, blinder Mann, werdet fortan der Herr aller Götter sein. Ihr seid Wodan, mein Wodan!«

»Ihr seid ja wahnsinnig!« Hagens Hand fuhr zum Sattel, dorthin, wo sein Schwert gehangen hatte. Es war nicht mehr da.

»Ich gestattete mir, Eure Waffe zu entfernen«, gestand Runold. »Vorsichtshalber. Und was den Wahnsinn angeht, den Ihr mir vorwerft, so muß ich ihn weit von mir weisen. Ich bin, wenn Ihr so wollt, nichts weiter als ein Kaufmann. Ich verkaufe den Menschen auf ihren Märkten und Festwiesen das, wonach es ihnen verlangt. Und was begehren sie mehr, als eine Begegnung mit den Göttern selbst? Ihr wißt doch sicher, wie es ist: Die Menschen glauben, was sie glauben wollen. Und sie sind bereit, dafür zu bezahlen, oft sogar ein hübsches Sümmchen. Meine Leute und ich leben gut davon.«

»So lange man uns Glauben schenkt«, warf jemand ein. Es klang mißmutig.

»Wer war das?« keifte Runold. »Ah, Ludwig! Wer sonst? Habe ich euch nicht allen ein feines Auskommen verschafft? Wer wart ihr denn, bevor ich euch zu dieser Truppe zusammenschloß? Bettler, Taugenichtse, eine Hure!«

Links von Hagen begann eine Frau leise zu weinen. Wahrscheinlich die »liebliche Frija«.

Runold steigerte sich weiter in seinen Zornesausbruch. »Alles verdankt Ihr mir, nur mir allein. Noch ein weiteres Wort, Ludwig, und du kannst gehen. Verschwinde, geh mir aus den Augen, wenn dir nicht paßt, was ich tue! Aber denk daran, was du hinter dir läßt!«

Der Mann namens Ludwig murrte leise, dann zog er es vor zu schweigen.

»Was Euch angeht«, sagte Runold nun wieder zu Hagen, »so wird es Euch bei mir gutgehen. Ihr seid der beste Wodan, der mir je über den Weg gelaufen ist. Irgendwann müßt Ihr mir verraten, wie Ihr das mit den Raben anstellt.«

Hagen hatte nicht die geringste Ahnung, was er meinte, hielt es aber für klüger, seine Unkenntnis fortan zu verschweigen. »Ihr zwingt mich also, bei Euch zu bleiben?« fragte er kühl. Allmählich bekam er sich wieder in den Griff.

»Folgt mir nach Zunderwald und schmeckt den Lohn, den ich Euch biete«, sagte Runold. »Es wird Euch gefallen. Ihr werdet mir noch dankbar sein.«

»Dafür, ein paar dummen Bauern das wenige aus den Taschen zu ziehen, was sie besitzen?« Hagens Lachen war voller Hohn. »Auf diesen Lohn verzichte ich gerne.«

Der Anführer der Gaukler - oder Götter - ließ abermals sein schnarrendes Lachen ertönen. »Um so besser. Mehr für uns andere.«

Damit war das Gespräch für ihn beendet. Jemand gab Paladin einen Klaps, der ganze Zug setzte sich erneut in Bewegung. Schweigen senkte sich über die Gruppe.

In Hagen rumorten Haß und abgrundtiefer Zorn. Wie hatte er je annehmen können, daß Runold ihn wirklich für einen Gott hielt? Was für ein Narr war er gewesen! Und ein Narr sollte er auch weiterhin sein, ausgestellt auf einer Bühne, vorgeführt und begafft.

In nicht einmal zehn Tagen - eher früher - würde der Fluß ein neues Opfer verlangen. Zum ersten Mal machte Hagen sich Gedanken, woher er all das Gold nehmen sollte.

Der Hang wurde flacher, der Flußgeruch stärker, und schon kurz darauf schlugen die Pferdehufe auf Holz. Das mußte die Brücke sein. Der Gedanke, daß unter ihm nichts als Wasser war, ängstigte ihn über alle Maßen. Hagen hatte nicht mehr die Kraft, sich gegen Runold und seine Pläne zu wehren. Er wollte nur noch auf festen Boden, fort vom Fluß und dem erbärmlichen Gestank, den er ausdünstete.

Der hohle Schlag von Paladins Hufen verklang. Sie ritten jetzt wieder über Land. Rechts und links des Göttertrupps wurden Stimmen laut, verhaltenes Flüstern, gelegentlich ein hölzernes Krachen - Läden, die vor den Fenstern geschlossen wurde. Offenbar war der Anblick der Reiterschar ehrfurchtgebietender, als Hagen für möglich gehalten hatte. Er stellte sich seine eigene Erscheinung vor: ein düsterer Mann mit Helm und Kettenhemd, angewiesen auf die Führung anderer, Scharten und Flecken in der Kleidung, die notdürftig von Nimmermehrs Mantel verborgen wurden. Wie sollte irgendwer allen Ernstes annehmen können, er sei das Oberhaupt der Götter?

Der Gedanke an den Mantel brachte die Vorstellung von Nimmermehrs warmer Stimme, ihrer Freundlichkeit und Sanftmut zurück. Er vermißte sie, auch wenn er sich gegen diese Empfindung wehrte. Er hoffte mit aller Kraft, daß sie in Sicherheit war, weit fort von ihrem Jäger, Morten von Gotenburg.

Eine Berührung riß Hagen aus seinen Gedanken. Erst glaubte er, eine Hand habe sich auf seine rechte Schulter gelegt.

Aber es war keine Hand. Es war viel leichter. Ein leises Schnarren drang an sein Ohr, dann das Rascheln von Federn. Durch die Reihe der falschen Götter ging ein atemloses Wispern. Da wußte Hagen, daß ein Rabe auf seiner Schulter saß. Und als wäre das nicht genug, wiederholten sich Berührung und Rascheln auch auf der linken Seite.

»Wunderbar«, jubelte Runold gedämpft. »Du machst das großartig. Du solltest die Leute am Wegesrand sehen! Alle schauen nur dich an.« Er lachte leise. »Ein paar der Männer scheinen allerdings auch von unserer Frija recht angetan...«

Hagen hatte erwartet, daß Runold sie nach Gauklerart anpreisen würde, lautstark und aufdringlich. Doch der Alte schwieg ebenso wie die anderen.

»Wie bringst du die Leute dazu zu glauben, es seien tatsächlich Götter, die in ihr Dorf einreiten?«

»Ein bescheidenes Talent, über das ich verfüge«, gab Runold im Flüsterton zurück. »So hat eben jeder von uns sein kleines Geheimnis, nicht wahr?«

Wo waren die Stimmen der Kinder, die jeden Gauklerzug bei seiner Ankunft umgaben? Wo die Musik, wo das Jubeln der Dorfbewohner?

Statt dessen empfing man sie mit zugeschlagenen Fensterläden und und furchtsamem Raunen. Für die Menschen hier waren die Reiter keine Gaukler, keine Spaßmacher und Illusionäre. Egal welche Magie Runold auch einsetzte, um diese Leute den Schwindel glauben zu machen, sie tat ihre Wirkung mit größtem Erfolg.

Und da erst begriff Hagen mit aller Klarheit, daß er für diese Menschen wirklich ein Gott war.

Unwillkürlich fragte er sich, was wohl Wodan - der echte, der wahrhaft göttliche - von Runolds Betrügereien halten mochte. Aber Hagen fürchtete sich nicht. Er hatte andere Feinde, die ihn ängstigten. Die Götter waren weit entfernt, doch der Fluß umarmte ihn mit seiner eisigen Flut, mit seinem Gestank, mit seinem hohnvollen Flüstern.

Nimmermehr, dachte er in einem Anflug von Panik, wenn du irgendwo in der Nähe bist, dann komm her und hilf mir!



Kurz darauf ließ Runold die Pferde anhalten. Ein Mann mit dröhnender Stimme - er spielte die Rolle des Gewittergottes Donar - erklärte Hagen, sie befänden sich ein wenig außerhalb des Dorfes, an der Spitze der Landzunge. Einige von ihnen würden jetzt ein Zelt aufbauen. Darin dürfe je ein Dorfbewohner gegen Bezahlung einem der Götter gegenübertreten. Die meisten würden um Beistand flehen, erklärte der falsche Donar schmunzelnd, manche ein Opfer darbringen und wieder andere einfach nur dummes Zeug reden, bis einem die Ohren schmerzten.

»Hat nie jemand Zweifel an eurer Echtheit gehabt?« fragte Hagen ungläubig.

Der Mann stieß ein grollendes Lachen aus. »Niemals. Sie alle kommen brav wie Lämmer, demütig, ängstlich - und durch und durch gläubig.«

»Und das bewirkt allein Runolds Zauber?«

»Es muß wohl so sein.« Der Mann klang nicht, als hätte er sich allzu viele Gedanken über diese Frage gemacht. »Keiner weiß das ganz genau. Weißt du, wir Menschen sind ein Haufen dummer Esel; wenn wir glauben wollen, daß ein Gott zu uns spricht, nun, dann glauben wir es eben.«

Hagen hörte, wie sich der Mann entfernte. Er tastete mit den Händen über seine Schultern, doch die beiden Raben waren verschwunden. Er fragte sich, ob er dieses Wunder Nimmermehrs Mantel zu verdanken hatte; es war die einzige Erklärung, die ihm einfiel.

Bis zum Abend geschah wenig. Hagen saß am Boden, wünschte sich, er könne sein Kettenhemd ausziehen, hielt es aber in seiner Lage nicht für ratsam. Runolds Leute mochten - im Gegensatz zu ihrem Anführer - wie harmlose Narren klingen, doch konnte er dessen nicht sicher sein. Ihr demütiges Verhalten beim Rätselraten war ihm noch gut im Gedächtnis, und er wollte es nicht darauf ankommen lassen, sich allein ihrem guten Willen auszuliefern.

Das hast du doch längst, sagte eine Stimme in seinem Inneren. Erst hast du dich dem Mädchen ausgeliefert und nun diesem Haufen von goldgierigen Wirrköpfen.

Plötzlich hob Runold seine Stimme. »Wir sind soweit. Ich habe den Leuten im Dorf gesagt, bei Sonnenuntergang seien wir bereit für sie.« Er räusperte sich lautstark. »Nun, die Sonne ist untergegangen, und dort hinten sehe ich die ersten Fackeln. Wollen wir hoffen, daß unsere Freunde genug Münzen dabeihaben.«

Der eine oder andere aus der Truppe spendete Beifall. Runold verstummte für einen Moment, dann stand er plötzlich direkt neben Hagen. »Komm, Freund Rabengott. Du kannst hier nicht sitzen bleiben. Wenn sie dich so sehen, wird nicht einmal der dümmste Bauer glauben, daß du der Herr aller Götter bist.«

»Was geschieht jetzt?« fragte Hagen und rang mit seiner Wut. Er wünschte sich nichts so sehr, wie aufzuspringen und Runold den Hals umzudrehen.

»Ihr wartet alle gemeinsam hinter dem Zelt. Die Leute kommen der Reihe nach dran. Sie bezahlen bei mir, sagen mir, mit welchem von euch sie sprechen wollen, und betreten das Zelt. Ich komme dann zu euch und führe den gewünschten Gott von hinten ins Zelt.«

»Klingt wie ein Kinderspiel.«

Runold gab einen kehligen Laut von sich. »Das ist es, mein Freund, das ist es.«

Während er sich widerwillig von Runold hinter das Zelt führen ließ, wo die anderen schon bereitstanden, fragte Hagen: »Wie lange tut ihr das schon, von Ort zu Ort ziehen und -«

»- den Leuten ihren eigenen Glauben verkaufen? Schon lange, sehr lange. Nichts ist so einträglich wie die Bereitwilligkeit der Leute, an etwas zu glauben.«

Runold ließ Hagen bei den anderen zurück und verschwand, um sich den herankommenden Dorfbewohnern zu widmen. Vorher flüsterte er Hagen noch zu: »Und sieh zu, daß du deine Raben dabei hast, wenn ich dich holen komme.«

Hagen hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er die Tiere herbeirufen sollte, und es war ihm auch gleichgültig. Längst hatte er sich vorgenommen, den ganzen Schwindel zunichte zu machen, sobald man ihn in das Zelt führte. Runold sollte wenig Freude an seiner neuesten Attraktion haben.

Die falschen Götter tuschelten miteinander, einige tauschten alberne Weisheiten aus, die sie vor den erwartungsvollen Dorfbewohnern zum besten geben wollten. Andere brachten ihre Hoffnung zum Ausdruck, man möge das Schauspiel schnell hinter sich bringen. Einer oder zwei schimpften auch auf Runolds Geiz und Gier, doch niemand pflichtete ihnen bei.

Hagen schwieg nachdenklich und bemühte sich, das allgegenwärtige Wispern des Flusses zu verdrängen. Er konnte die Nähe des Siebenschläfers fühlen, spürte seinen Haß und seinen Hunger. Hagen mochte Runolds Göttertruppe entkommen können, doch vor dem Rheingeist gab es keine Flucht.

Lärm riß ihn aus seinen Gedanken. Auf der anderen Seite des Zeltes wurden Stimmen laut. Vor allem eine, die einer jungen Frau, war deutlich aus den übrigen herauszuhören: »Betrüger!« schrie sie immer wieder. »Greift euch diesen elenden Scharlatan!« Hagen hoffte einen Augenblick lang, es sei Nimmermehr, doch die Stimme gehörte einer anderen.

Die Männer und Frauen, die mit Hagen hinter dem Zelt warteten, horchten auf. Die ersten wurden unruhig.

»Mögen uns die Götter beistehen!« Aus dem Mund der falschen Freija klang das einigermaßen bemerkenswert. Es schien keineswegs üblich zu sein, daß irgendwer den Betrug durchschaute.

Ein Rascheln ertönte, dann - schlagartig - das Fauchen emporschießender Flammen.

»Das Zelt brennt!« schrie jemand.

Hagen stolperte zurück, stieß gegen einige der anderen und stürzte. Niemand half ihm auf. Trampelnde Schritte rechts und links von ihm, aufgeregte Rufe. Innerhalb weniger Herzschläge stürmten die Männer und Frauen auseinander, einige fluchten und schrien, andere flohen stumm vor Entsetzen.

Immer mehr Dorfbewohner stimmten in die haßerfüllten Rufe der jungen Frau ein. Hagen war sich im klaren darüber, daß man ihn ebenso für einen Schwindler halten würde wie alle anderen. Ein aufgebrachter Pöbel, der nichts anderes im Sinn hatte, als ihn aufzuknüpfen, hatte ihm gerade noch gefehlt.

Verzweifelt versuchte er sich aufzurappeln. Er spürte ganz in der Nähe die Hitze des Feuers, hörte sein prasselndes Lodern und Fauchen. Die Angst, blind in die Flammen zu stolpern, überkam ihn mit aller Macht. Zum ersten Mal seit Jahren rief er um Hilfe.

Aus dem Abgrund seiner Blindheit schoß etwas empor, traf ihn wie ein Blitz aus Helligkeit. Das Licht verblaßte so schnell, wie es gekommen war, doch ein ganz schwacher Abglanz blieb zurück.

Hagen erkannte, daß ein winziger Teil seiner Sehkraft zurückgekehrt war. Es war das gleißende Licht des Feuers, das sich durch die Schwärze fraß und ihn schlagartig an das erinnerte, was Nimmermehr gesagt hatte: Sein rechtes Auge würde wieder sehen können, früher oder später.

Der schwache Lichthauch war das erste Anzeichen. Es drängte Hagen, vor dem brennenden Zelt sitzen zu bleiben, geradewegs in die Glut zu starren, seinem Auge beim Gesundwerden zuzuschauen. Er riß sich freudig den Helm vom Kopf, schleuderte ihn unbeholfen von sich. Vor Begeisterung vergaß er einen Moment lang sogar die Gefahr, in der er sich befand. Er heulte auf vor Freude.

»Seht ihr den da vorne?« brüllte eine Stimme über das Inferno aus Prasseln und Getrampel hinweg.

Sehen. Ja, dachte Hagen, ich werde wieder sehen können. Schön, daß ihr es auch könnt.

Ein irres Lachen stieg in ihm auf, quoll über seine Lippen wie Erbrochenes, gallig, bittersüß.

Wieder versuchte er aufzustehen, wieder streifte ihn etwas, warf ihn mit tückischer Wucht zu Boden.

Hagen hob den Kopf. Das Feuer! Verdammt, wo war das Feuer? Einen Moment lang sah er nichts als Schwärze, wirbelte panisch hin und her, auf der Suche nach der Helligkeit, nach dem Gleißen, nach dem Licht in der Tiefe des Abgrunds.

Da! Da war es wieder! Ein vages Schimmern.

Hände packten ihn grob an den Oberarmen.

»Nein!« schrie eine Mädchenstimme.

Zugleich traf etwas seine Stirn, hart und grausam, und die Helligkeit, gerade erst wiedergefunden, verblaßte zum zweiten Mal.



Das Erwachen war eigenartig. Eigenartig, weil Hagen es nicht von sich aus bemerkte. Es gab keinen Wechsel von einem Dunkel ins andere. Da war nur Schwärze, ohne Abgrenzungen, ohne Schattierungen. Jemand hatte ihm einst erklärt, Schwarz sei keine Farbe, und jetzt erkannte Hagen mit plötzlicher Gewißheit, welche tiefere Wahrheit sich hinter dieser Behauptung verbarg. Schwarz beinhaltete nichts als sich selbst, es war nur ein Zustand vollkommener Leere. Hagen hätte tagelang darüber nachgrübeln können, ohne zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Schwarz war einfach nur - schwarz.

Erst als eine Stimme sagte »Er ist wach«, da wußte er, daß sich etwas verändert hatte. Um zu hören, mußte er wach sein.

»Gut, laßt ihn liegen.« Schritte, dann das Schlagen einer Tür. Das Schaben eines Riegels. Geräusche, die Hagen kannte; Geräusche der Gefangenschaft.

Seine Hände waren vor seinem Körper gefesselt. Er lag auf einem Boden aus Holzbohlen und verstreutem Stroh. Wahrscheinlich eine Scheune, die jetzt als Gefängnis herhalten mußte. Es roch nach Heu und Pferdedung.

»He da!« rief er. »Ist da wer?«

Niemand antwortete. Er fragte sich, wo der Rest von Runolds Truppe steckte. Einige waren sicher durch einen Sprung ins Wasser entkommen, doch wo waren die übrigen? Und was war mit Runold selbst geschehen?

Hagen rieb sich mit gebundenen Händen die Augen, doch die Dunkelheit blieb unverändert. Offenbar war sein rechtes Auge noch nicht gesund genug, um irgend etwas wahrzunehmen, daß weniger hell als eine Feuersbrunst war. Zudem herrschte in der Scheune sicherlich Finsternis. Kein Grund also, seine neugewonnene Hoffnung fahrenzulassen.

Hoffnung? durchfuhr es ihn bitter. In dieser Lage? Vermutlich wollte man nur bis zum Morgengrauen warten, um ihn am höchsten Giebel Zunderwalds aufzuhängen, mit oder ohne Augenlicht.

Ein leises Schaben zu seiner Rechten ließ ihn aufhorchen. Kurz darauf wiederholte es sich. Es klang, als würde eine Holzlatte in der Wand zur Seite geschoben.

»Ist da jemand?« fragte er noch einmal.

Einen Moment der Stille, dann:

»Hagen!« Ein Flüstern nur, ganz leise. »Hagen von Tronje!«

Er spürte, wie sich vor Aufregung Hitze in ihm breitmachte. »Nimmermehr, bist du das?«

»Wer sonst, Dummkopf?«

So, wie die Dinge standen, hätte sie alles zu ihm sagen dürfen, und er hätte sie noch dafür umarmt.

Er wandte den Kopf nach rechts und versuchte, sich mit dem Rücken an der Wand auf die Beine zu schieben. Zu spät bemerkte er, daß man seine Stiefel mit einem unterarmlangen Strick aneinandergebunden hatte; scheppernd fiel er zurück auf den Boden.

»Wo bist du?« fragte er beschämt.

»Ganz nahe bei dir.«

»Kannst du die Fesseln an meinen Füßen durchschneiden?«

»Ohne Messer?«

Ungeduldiger sagte er: »Dann sei so gut, und mach den Knoten auf.«

»Deine Hände sind frei. Warum machst du es nicht selbst?«

Und, tatsächlich: Noch während sie sprach, spürte er, daß der Strick an seinen Händen locker genug saß, um ihn mühelos abzuschütteln.

»Wie hast du das gemacht?« fragte er verblüfft, während er sich an seinen Fußfesseln zu schaffen machte.

»Wahrscheinlich waren die Knoten nicht fest genug angezogen«, antwortete sie ausweichend.

Er blieb beharrlich. »Eben waren sie noch fest.«

»Du mußt dich beeilen. Die Dorfbewohner können jeden Moment kommen, um dich zu holen.«

Sein rechter Fuß war frei. Jetzt noch der linke. »Was werden sie dann mit mir tun?«

»Dir einige Fragen stellen.«

»Folter?«

»Du hättest Runold sehen sollen, als sie mit ihm fertig waren.«

Er bekam den Knoten an seinem linken Knöchel auf und taumelte auf die Füße. »Was ist mit Runold?«

»Er ist tot.«

»Und die anderen?«

»Alle geflohen. Runold war der erste, den die Dorfbewohner fingen, ihm blieb keine Zeit mehr, um zu entkommen. Du hast am Feuer gekauert, als sie dich fanden. Die übrigen sind alle noch rechtzeitig in den Fluß gesprungen.« Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Einige werden wohl heil ans andere Ufer gekommen sein.«

Hagen griff mit den Armen nach rechts ins Leere. »Verdammt, Nimmermehr, wo bist du?«

»Geh einfach geradeaus. Ja, genau so. Langsam. Jetzt streck die Hand aus.«

Seine Finger stießen gegen eine Seitenwand aus Holz, ertasteten eine schmale Öffnung. Kühle Luft wehte herein.

»Ich bin hier draußen«, flüsterte das Mädchen. »Der Spalt ist zu schmal für dich. Du mußt dich an der Wand entlang bis zur Tür vortasten. Ich kann sie von außen entriegeln.«

Er schob sich seitwärts ins Dunkel, in der Hoffnung, nicht über unsichtbare Gegenstände und Kisten zu stolpern. Es dauerte nicht lange, da erreichte er eine Ecke, und dann, kurz darauf, ein Tor. Der eine Flügel stand einen Spalt weit offen. Hagen fragte sich, weshalb Nimmermehr nicht einfach hereingekommen war. Doch der Gedanke verblaßte, als er ihre Hand an der seinen spürte. Hastig zog ihn das Mädchen ins Freie.

»Schnell«, wisperte sie. »Hier vorne können sie dich sehen. Wir müssen schleunigst ein Versteck für dich finden.«

»Können wir nicht einfach über die Brücke ans Ufer laufen?«

»Sie wird bewacht. Die Leute hier fürchten, die Gaukler könnten versuchen, euch zu befreien. Sie haben rund ums Dorf Wachen aufgestellt. Ich fürchte, es gibt keine andere Möglichkeit, als sich in Zunderwald selbst zu verkriechen.«

Eine Weile lang liefen sie stumm, dann streiften Zweige Hagens Gesicht. Nimmermehr hatte ihn in den Schutz einiger Bäume geführt.

»Beschreib mir das Dorf«, bat er. »Ich muß mir ein Bild davon machen.«

»Es ist nicht besonders groß, die Häuser sind fast alle aus Stein gebaut.« Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Warte, setz dich hin. Ja, genau da, hinter den gefällten Baumstamm. Im Augenblick bist du hier sicher.« Es knisterte, als sie sich neben ihm im Gras niederließ. »Also, die Häuser sind aus Stein, wohl wegen der Überschwemmungen. Einige sind bis zu drei Stockwerke hoch. Ganz oben bewahren die Leute bei Hochwasser ihre Sachen auf. Die Landzunge ist nicht besonders groß, und Zunderwald nimmt gerade mal die Hälfte davon ein. Aber die Gebäude sind eng aneinandergebaut, die Wege dazwischen verschachtelt und voller Steintreppen.« Sie nahm seine Hand und streichelte sie sanft mit ihren zarten Fingern. »Wir sind jetzt am Nordzipfel der Landzunge. Das Südende ist nicht bebaut, da wachsen nur ein paar einzelne Bäume. Dort unten war es, wo sie Runolds Zelt abbrannten.«

»Was für Leute leben hier?« fragte Hagen. »Ich meine, Runold war überzeugt, daß sie ihm glauben würden. Wieso ist sein Betrug gerade hier aufgeflogen?«

Nimmermehr lachte wie ein kleines Mädchen. »Ich fürchte, das war meine Schuld.«

»Aber die junge Frau, die die anderen aufgestachelt hat, hatte eine andere Stimme«, wandte er argwöhnisch ein.

»Das war die Tochter des Dorfvorstehers.« Nimmermehr schien kurz zu überlegen, dann sagte sie: »Ich konnte sie überzeugen, daß ihr keine echten Götter seid.«

»Du hast Runolds Zauber aufgehoben?«

»Zauber? Das nennst du Zauber?« Ungewohnte Verachtung sprach aus ihrer Stimme. »Liebe Güte, das war gar nichts. Runold war kein Magier, sonst wäre er jetzt nicht tot. Er hat die Gutgläubigkeit der Menschen ausgenutzt, ihre erbärmliche Torheit. Das war alles. Es gibt einen viel schlichteren Namen für diesen Zauber, wie du ihn nennst: Menschenkenntnis.«

Hagen packte blitzschnell ihre Hand wie ein lästiges Insekt. Er wußte, daß er zu fest zudrückte, aber wieder konnte er nichts anders, als ihr zu mißtrauen.

Hast du sie nicht eben noch herbeigesehnt? fragte es spöttisch in ihm. Sie hat dich schon wieder gerettet, und als Dank dafür tust du ihr weh.

»Du hast in Kauf genommen, daß die Dorfbewohner uns alle umbringen«, sagte er vorwurfsvoll und viel zu laut.

Sie legte sanft den Zeigefinger ihrer freien Hand an seine Lippen. »Leise, sonst hören sie uns.«

Schuldbewußt verstummte er, ließ sogar ihre Hand los. Sie zog sie nicht zurück, sondern streichelte weiter über seine Finger.

»Sie haben dich doch am Leben gelassen, nicht wahr?« sagte sie ruhig. »Und was Runold angeht, so hat er kaum etwas Besseres verdient. Wie sonst hätte ich dich denn aus seiner Gewalt befreien sollen? Er hat dich nicht aus den Augen gelassen, ich wäre nicht einmal an dich rangekommen. Hier im Dorf aber war das etwas anderes. Einen Scheunentor zu öffnen ist keine Kunst.«

»Die Raben«, entfuhr es ihm plötzlich, »das hast du getan, oder?«

»Nicht ich - der Mantel. Er hat die Macht dazu. Ich habe ihn von Morten gestohlen.«

»Ist er auch hier?«

Sie senkte ihre Stimme, als fürchtete sie, ihr Verfolger könne sie hören. »Er genießt die Gastfreundschaft des Vorstehers, ich habe sein Pferd vor dem Haus gesehen. Er muß kurz vor uns angekommen sein.«

»Woher wußte er, daß er dich hier finden kann?«

Sie klang traurig. »Ich weiß es nicht. Im Gegensatz zu Runold verfügt Morten tatsächlich über gewisse Kräfte.«

Hagen stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das heißt also, wir sitzen hier fest, in einem Dorf voller mordlustiger Verrückter und deinem Morten von Gotenburg mittendrin.«

»Ich fürchte, ja«, bestätigte sie kleinlaut.

»Und nun?«

Sie streichelte sachte seine Wange. »Ich habe gehofft, dir würde etwas einfallen.«

Erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Er war hungrig und brauchte Schlaf, und es sah nicht aus, als würde sich daran in naher Zukunft etwas ändern. »Warum wurde Runold eigentlich gefoltert? Sie hätten ihn aufhängen oder an den Pranger stellen können - aber foltern? Das paßt nicht zu ein paar gewöhnlichen Bauern.«

»Die Tochter des Dorfvorstehers hat ihnen eingeredet, Runold verstecke einen Goldschatz.«

»Ein Schatz? Ich bitte dich, das ist lächerlich.«

»Vielleicht«, erwiderte sie, »vielleicht auch nicht.«

»Wo hätte er ihn denn verstecken sollen außer in der Satteltasche?« fragte Hagen lakonisch.

»Ich nehme an, diese Frage haben sie ihm ebenfalls gestellt.«

Hagen schüttelte fassungslos den Kopf. Noch immer verstand er nicht recht, welche Rolle Nimmermehr bei den Vorgängen gespielt und was es mit dieser Vorstehertochter auf sich hatte. Doch er hätte beide Fragen liebend gern unbeantwortet gelassen, wenn ihn das nur heil von hier fortgebracht hätte. Zumal er nicht den geringsten Einfall hatte, wie ihnen unter den gegebenen Umständen eine Flucht gelingen sollte. Und selbst dann war da immer noch der Mann, der es auf Nimmermehrs Leben abgesehen hatte.

»Wir könnten versuchen, an den Wachen vorbeizukommen und durch den Fluß zu schwimmen«, schlug Nimmermehr vor.

»Niemals.«

Sie nahm seine Rechte in beide Hände. »Du hast immer noch Angst vor dem Siebenschläfer?«

»Du hast ihn nicht erlebt. Du kennst ihn nicht und weißt nicht, wie -« Er brach ab, als er blitzartig etwas begriff. »Ich habe dir nie von ihm erzählt!« Mit einem scharfen Ruck riß er seine Hand zurück.

Nimmermehrs Stimme klang unverändert sanft und warm. »Nein«, gab sie zu, »das hast du nicht.«

»Wie -«, begann er, doch sie fiel ihm ins Wort:

»Ich kenne ihn, Hagen«, sagte sie ruhig. »Ich weiß viel mehr über ihn, als du glaubst.«

Woher? wollte er fragen, doch abermals kam sie ihm mit ihrer Antwort zuvor:

»Der Siebenschläfer ist der Wächter des Herbsthauses.«


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