Zweiter Teil Den Freunden zu Hilfe

EIN SELTSAMER BRIEF

Es war fast ein Jahr vergangen, seit Elli das Wunderland verlassen hatte, das durch eine Kette riesiger Berge und eine große Wüste von der übrigen Welt geschieden war. Sie lebte jetzt wieder bei ihren Ettern in Kansas, das sich nicht verändert hatte: Steppe ringsum, Weizenfelder und staubige Wege. Nur der Wohnwagen, mit dem Elli und Totoschka durch den Sturm in das Wunderland verschlagen worden waren, stand nicht mehr da. An seiner Stelle hatte der Farmer John ein Häuschen gebaut, in dem er jetzt mit seiner Frau Anna und seinem Töchterehen Elli wohnte.

An einem Sommerabend näherte sich ein müder Wanderer der Farm. Der Mann war in mittleren Jahren, breitschultrig, kräftig gebaut und trug einen Rucksack. Ein Holzbein, an das linke Knie geschnallt, hinterließ runde Spuren im Straßenstaub. Der Mann hatte den wiegenden Gang eines Matrosen, der über das schwankende Deck eines Schiffes schreitet. Die weit auseinanderstehenden grauen Augen in dem gebräunten Gesicht blickten gleichsam auf das weite Meer hinaus.

Totoschka sprang bellend den Ankömmling an und wollte ihn ins Holzbein beißen. Auf das Gebell hin wandte sich Frau Anna, die gerade die Hühner fütterte, um und lief mit einem Schrei auf den Mann zu.

„Charlie, mein Bruder", schluchzte sie und fiel ihm weinend um den Hals. „Du lebst!" „Natürlich lebe ich, wo ich doch wieder da bin", sagte Charlie Black, seine Schwester umarmend.

„Dein Kapitän hat uns vor fünf Jahren geschrieben, Menschenfresser hätten dich auf der Insel Kuru-Kusu gefangen!"

Elli. die vor der Tür stand, erbebte, als sie diese Worte hörte, denn sie wußte ja, was

Menschenfresser sind. Aber warum hatte die Mutter ihr niemals von einem Onkel Charlie

erzählt, dem Seemann, der Menschenfressern in die Hände gefallen war?

Bald sollte ihr aber alles klarwerden.

„Elli", rief die Mutter, „komm, sag Onkel Charlie guten Tag."

Elli ging auf den Onkel zu und reichte ihm die Hand, doch dieser nahm das Mädelchen in die Arme und küßte es.

„Erinnerst du dich noch an mich, Kindchen?" fragte er.

„Aber was red ich, du warst ja erst drei Jahre alt, als ich zum letzten Mal bei euch war. Die

Mutter hat dir sicherlich von mir erzählt, nicht wahr?"

Elli schaute die Mutter an und wußte nicht, was sie sagen sollte.

Verwirrt gestand Frau Anna:

„Verzeih, lieber Bruder. Als wir den Brief von deinem Kapitän erhielten, war Elli erst fünf,

und da beschlossen John und ich, dem Kind die schreckliche Nachricht nicht mitzuteilen.

Jahre vergingen. Elli fragte immer seltener nach dir . . . und dann hatte sie ihren Onkel

Charlie ganz vergessen."

Anna senkte schuldbewußt die Augen.

Charlie war ihr jedoch nicht böse.

„Na, wenn schon. Eigentlich habt ihr das richtig gemacht, wo ich doch lebe! Na, was meinst du, Elli, wollen wir gute Freunde sein?" „Aber klar, Onkel Charlie", rief das Mädchen erfreut. „Und wie bist du mit den Menschenfressern fertig geworden? Hast dich mit ihnen geschlagen und sie besiegt, ja?" „Nein, liebes Kind, so war es nicht", lachte Charlie. „Ich hätte die Msnschenfresser niemals besiegt, denn es waren viele Tausende. Aber sie zeigten sich als prächtige Kerle, diese Menschenfresser. Ich bewies ihnen, daß ich ihnen lebend mehr nützen würde, als wenn sie mich über dem Feuer rösteten, und so ließen sie mich gerne am Leben." „Wieso, Onkel, kennst du die Menschenfressersprache?" wunderte sich Elli. „Ich will's dir erklären, meine Liebe", lächelte der Seemann. „Wo der gute Wille vorhanden ist, kann man sich immer verständigen. Die Inselbewohner nahmen mich in den Stamm der Kuru-Kusu auf, und ich zeigte ihnen fünf neue Arten der Zubereitung von Fischgerichten, außerdem fand ich auf der Insel neun neue Sorten von eßbaren Pflanzen ... Als vier Jahre vergangen waren, gaben sie mir ein Boot mit Proviant und mehreren Fäßchen Trinkwasser und begleiteten mich ein gutes Stück aufs Meer hinaus. Beim Abschied empfahlen sie mich dem Schutz ihrer zahlreichen Götter. Wahrscheinlich bin ich aus diesem Grunde erst nach 42 Tagen endlich einem Schiff begegnet . . . Und so bin ich jetzt bei euch . . . Aber da kommt ja John!"

John hatte von den Nachbarn auf dem Feld erfahren, daß ein Unbekannter da war, hatte sich sogleich auf sein Pferd geschwungen und kam nun im Galopp angeritten. Er freute sich sehr, als er seinen Schwager Charlie Black erblickte. Die beiden begrüßten sich herzlich.

„Ich komme sozusagen geschäftlich, Schwager John", sagte Charlie, als sie mit dem Händeschütteln fertig waren.

„Sonst hättest du uns wohl noch immer nicht besucht?" erwiderte John mit leisem Vorwurf.

„Du weißt ja, ein Weltenbummler, wie ich es bin, hat immer etwas zu besorgen", rechtfertigte sich Charlie. „Weißt du, ich träume schon lange davon, mir ein kleines Schiff zu kaufen, um meine Freunde auf Kuru-Kusu zu besuchen. Mir fehlen nur etliche Tausender . . ."

Farmer John wußte, daß Charlie einen Hang zu absonderlichen Unternehmungen hatte, und so wunderte er sich nicht weiter über sein Anliegen.

„Schön", sagte er, „das Geschäftliche wollen wir morgen besprechen. Jetzt laßt uns lieber zu Tisch gehen."

Beim Essen ging die Fragerei erst richtig los. Charlie erzählte bis weit nach Mitternacht von seinen Abenteuern, als die müde Elli schon längst in ihrem Bettchen schlief. „Ihr seid ja ziemlich reich geworden, wie ich sehe", stellte Charlie fest, als die Hausfrau ihm das Bett machte. „Ihr habt jetzt ein neues Häuschen anstelle des Wohnwagens." Erst jetzt fiel es Ellis Eltern, die von den Geschichten ihres Gastes ganz hingerissen waren, ein, daß sie ihm ja von den wunderbaren Abenteuern ihres Kindes nichts erzählt hatten. Als Frau Anna von dem Sturm zu sprechen begann, der ihr Häuschen mit Elli und Totoschka erfaßt und durch die Lüfte getragen hatte, schlug der Matrose mit der Faust auf den Tisch.

„Alle Maschinen stop!" schrie er. „Anker auswerfen! Sei mir nicht böse, Schwester, aber meine Nichte soll mir diese wunderbare Geschichte selber erzählen. Und wenn ich vor

Neugier auch platze, so will ich doch lieber etwas warten, bis sie mir alles haargenau berichtet . . ."

Am nächsten Morgen setzten sich Onkel und Nichte auf die Stufen vor der Tür, und Elli begann:

„Ach, Onkel Charlie, wenn du wüßtest, wie erschrocken ich und Totoschka waren, als der Sturm unser Häuschen durch die Luft trug.

Hätte ich damals gewußt, daß es kein gewöhnlicher, sondern ein Zaubersturm ist, ich wäre wahrscheinlich vor Schreck gestorben . . ." „Ein Zaubersturm?" staunte der Seemann.

„Aber gewiß, ein richtiger Zaubersturm, wie ihn böse Hexen auslösen." „Womit hast du die Zauberin denn so aufgebracht, daß sie gleich einen Sturm gegen dich losließ? Na, das war ja dumm von ihr. Als wenn man mit Kanonen auf Spatzen schießt!" „Aber nein, Onkel Charlie, du verstehst das nicht", entgegnete Elli geduldig. „Gingema wollte alle Menschen vernichten, aber die gute Fee Willina hat es nicht zugelassen " Das Mädchen erzählte dem staunenden Onkel, wie ihr Häuschen in das Wunderland verschlagen wurde, wie sie dort drei treue Freunde fand, mit denen sie zu Goodwin gezogen war, und wie sie dann gemeinsam ihre wunderbare Reise in das Land der bösen Bastinda unternommen hatten.

Als Elli noch von den silbernen Schuhen erzählte, mit deren Hilfe sie und Totoschka heimgekehrt waren, und damit ihre Geschichte beendete, konnte der Seemann vor Staunen lange kein Wort aussprechen. Schließlich rief er aus:

„Bei allen Schildkröten von Kuru-Kusu, dein Logbuch ist wirklich ungeheuer interessant!" „Was ist denn das, ein Logbuch?"

„Das ist ein Buch, in das der Kapitän jeden Tag alles einträgt, was sich auf dem Schiff und in seiner Nähe ereignet. Und soll mich gleich der erste Sturm versenken, wenn ich mir von den langweiligen Leuten, die alles besser wissen wollen, noch einmal sagen lasse, es gäbe keine Zauberer und keine Wunder auf der Welt! Ich würde gern zehn Jahre meines Lebens dafür geben, dieses Wunderland einmal mit eigenen Augen zu sehen!" Der tapfere Seemann bedauerte es, keine Zauberschuhe zu besitzen, die ihn in das Wunderland hätten tragen können, wo zu jeder Jahreszeit auf immergrünen Bäumen ungewöhnliche Früchte wachsen, die Tiere sprechen und die Stämme der Käuer, der Zwinkerer und der Schwätzer leben - liebe, drollige Menschlein, deren größten erwachsenen Männer kaum größer waren als Elli.

Die Erinnerung an das Wunderland stimmte Elli wehmütig. Sie gestand ihrem Onkel, daß sie sich nach ihren treuen Freunden - dem Scheuch, dem Holzfäller und dem Löwen sehne, und daß sie traurig sei, weil sie diese nie Wiedersehen werde.

Charlie und seine kleine Nichte hatten feste Freundschaft geschlossen. Jeden Abend saßen sie beisammen und erzählten sich von ihren Erlebnissen. Der Seemann hatte natürlich viel zu berichten. Er war mit 10 Jahren Schiffsjunge geworden, hatte in den Polargewässern mit Eisbären gekämpft und im Urwald der Insel Kuru-Kusu auf Nashörner Jagd gemacht, aber, das mußte er zugeben, noch nie hatte er von den schrecklichen Säbelzahntigern gehört, vor denen Elli nur dank der Geistesgegenwart und der Treue ihrer Freunde gerettet worden war. Charlie hatte auch keine Ahnung, daß es auf der Welt Ungeheuer mit mächtigen Schwingen gab, die Fliegende Affen genannt wurden.

Onkel Charlie war ein sehr interessanter Mensch, der sich auf alles verstand und, wie man sagt, goldene Hände hatte. Elli konnte sich über den Inhalt seiner Taschen gar nicht genug wundern. Was kam da nicht alles zum Vorschein! Es schien, als ob die Taschen seiner Jacke und seiner breiten Hosen jedes Werkzeug beherbergten, das man sich denken konnte. Sein riesiges Federmesser hatte zahllose Klingen für die verschiedensten Zwecke, eine Ahle, einen Bohrer, einen Schraubenzieher, eine Schere und noch vieles andere. Wenn nötig, entnahm Onkel Charlie seinen Taschen Rollen dünnen, festen Bindfadens, Schrauben und Nägel, Meißel und Feilen ... Manchmal schien es Elli fast, als verstehe sich ihr Onkel ein bißchen aufs Zaubern, daß er durch Zauberkunst die Sachen in seinen Taschen entstehen ließ, die er gerade brauchte.

Und was bastelte Onkel Charlie in seiner Freizeit nicht alles für Elli! Aus Abfällen von Brettern, Sperrholz- und Blechtafeln konnte er Wasser- und Windmühlen, Wetterhähne oder Karren bauen, die von selbstgefertigten Federn angetrieben wurden . . . Einmal stellte er zur freudigen Überraschung seiner Schwester eine mechanische Vogelscheuche in den Garten, die im Wind mit Armen und Beinen fuchtelte und entsetzlich heulte.

Aber schon nach zwei Tagen bat Frau Anna ihren Bruder, die Scheuche wieder stumm zu machen.

„Lieber weniger Gurken, dafür mehr Ruhe", sagte sie.

Wegen des entsetzlichen Geheuls, das die Vogelscheuche anstimmte, konnte niemand im Haus schlafen, und alle atmeten erleichtert auf, als sie endlich verstummte. Bei Sonnenuntergang, wenn das geschäftige Treiben auf der Farm aufhörte und Elli mit ihren Hausaufgaben fertig war, nahm Onkel Charlie sie gewöhnlich zu einem Spaziergang in die Steppe mit.

Der Staub, den die Wagen tagsüber auf den Straßen aufgewirbelt hatten, setzte sich, man konnte weithin in die Ferne blicken, und die Schatten wurden immer länger. Elli und ihr Onkel gingen, von Totoschka begleitet, langsam durch das weiche Gras am Straßenrand und sprachen über allerlei Dinge.

Bei einem dieser Abendspaziergänge ereignete sich etwas, was den Beginn eines neuen wunderbaren Abenteuers unserer Freunde bilden sollte.

Die Sonne war bereits untergegangen, es war aber noch ziemlich hell, als das Mädelchen plötzlich eine große struppige Krähe erblickte, die mit zornigem Geschrei umherflatterte, aufflog und niederging und allem Anschein nach zu Elli wollte.

Hinter dem Vogel lief ein rothaariger zerzauster Junge her, Jimmy von der Nachbarfarm, der schon viele Spatzen, Dohlen und Kaninchen getötet hatte. Er warf mit Erdklumpen nach der Krähe, konnte sie aber nicht treffen.

Totoschka wollte schon die Krähe schnappen, doch diese kam mit letzter Kraft noch einmal hoch und flog Elli direkt in die Arme. Das Mädchen umfing den vor Schmerz und Angst bebenden Vogel und fuhr den rothaarigen Jimmy an: „Mach, daß du fortkommst, böser Junge!"

„Gib mir meine Krähe zurück", plärrte Jimmy, „das ist meine Beute, du siehst doch, ich hab sie am Flügel getroffen."

„Scher dich fort, oder es setzt was!"

Jimmy machte kehrt und ging, leise Drohungen vor sich hin murmelnd, nach Hause. Er

wagte es nicht, in Onkel Charlies Anwesenheit mit Elli anzubändeln.

„Du Ärmste!" sagte Elli und streichelte den gespreizten Flügel der Krähe. „Tut es sehr

weh?"

„Kaggi-Karr !" krächzte der Vogel, der sich etwas beruhigt zu haben schien.

„Hab keine Angst, der böse Junge soll dich nicht bekommen", fuhr Elli fort, ,,ich werde

deinen Flügel heilen, und du wirst wieder frei fliegen können."

Da entdeckte Elli ein Blatt, das um das Bein des Vogels gewickelt war.

Geschickt löste sie den Faden, und als sie das Blatt entfaltete, überkam sie eine dumpfe

Unruhe.

„Onkel Charlie, schau nur!" rief sie aus.

Die beiden betrachteten im letzten Licht des Vages das Blatt und sahen eine eingekratzte Zeichnung. Sie zeigte zwei Köpfe: einen kugelrunden mit runden Augen, viereckiger, pflasterähnlicher Nase und breitkrempigem Spitzhut und einen anderen mit langer Nase und trichterförmigem Hut. Die Zeichnung bestand aus wenigen Strichen, war aber sehr klar.

Elli fiel vor Staunen fast um.

„Onkel Charlie", schrie sie, „das sind ja der Scheuch und der Eiserne Holzfäller!"

Bei näherer Betrachtung der Zeichnung entdeckten sie auf ihr mehrere gerade Linien, die

sich in rechten Winkeln schnitten.

„Was kann das bedeuten, Onkel Charlie?" fragte Elli.

Dem erfahrenen Seemann war nun alles klar.

„Tausend Anker!" rief er. „Deine Freunde sind hinter Gittern! Es ist ihnen etwas zugestoßen, und sie bitten dich um Hilfe !"

„Kaggi-Karr, Kaggi-Karr!" krächzte der Vogel, und Charlie Black hätte jetzt selbst vor Gericht beschwören können, daß diese Laute, in die menschliche Sprache übersetzt, nichts anderes als „Ja, ja" bedeuteten.

,,Bei allen Masten und Segeln der Wett!" brüllte er. „Diese Krähe würde uns viel Interessantes erzählen, wenn sie sprechen könnte!"

Aber in Kansas können die Vögel nicht sprechen, und es dauerte lange, ehe Elli erfuhr, was dem Scheuch und dem Eisernen Holzfäller zugestoßen, welches Unglück über sie hereingebrochen war.


DURCH DIE WÜSTE

In dieser Nacht schlief man im Hause des Farmers John fast überhaupt nicht. Elli bat Vater und Mutter, sie in das Wunderland ziehen zu lassen, und Charlie Black war bereit, sie zu begleiten. Er war auf Abenteuer versessen, und hier winkte eine Reise, mit der verglichen die nach der Insel Kuru-Kusu eine Spazierfahrt gewesen war. Der Matrose brannte darauf, das Wunderland mit eigenen Augen zu sehen, in dem die kleinen Käuer und Zwinkerer lebten, und den Strohmann, dem Goodwin ein kluges Gehirn aus Kleie und Nadeln gegeben hatte, den Eisernen Holzfäller mit dem seidenen Herzen, die sprechenden Tiere und die herrliche Smaragdenstadt.

Es war natürlich nicht leicht, den Farmer und seine Frau zu überreden, denn John und Anna wollten sich um keinen Preis von ihrem Töchterchen trennen. Aber Ellis Tränen und die Überredungskunst Onkel Charlies taten das Ihre, und schließlich willigten sie ein. Die Reisevorbereitungen nahmen nicht viel Zeit in Anspruch. Charlie Black und Elli fuhren zunächst in die Nachbarstadt, wo James Goodwin eine Gemischtwarenhandlung hatte.

Der ehemalige Zauberer war sehr erfreut, Elli wiederzusehen, und als sie ihm sagte, daß

der Seemann ihr Onkel sei, begrüßte Goodwin auch diesen sehr herzlich.

Elli erzählte ihm von der sonderbaren Botschaft aus dem Wunderland und zeigte ihm die

Zeichnung.

Goodwin, der vom vielen Sitzen im Laden dick geworden war, betrachtete aufmerksam den sonderbaren Brief und stellte schließlich stolz fest:

„Ich bin überzeugt, daß diese Idee vom klugen Scheuch stammt. Von wem hat er aber sein Gehirn? Von mir natürlich!

Du wirst zugeben müssen, Elli, daß ich als Zauberer gar nicht so übel war?"

„Ja", gab Elli zu und fragte: „Werden Sie uns ins Wunderland begleiten, um mit uns den

Eisernen Holzfäller und den Scheuch zu befreien'?"

Diese Frage hatte Goodwin nicht erwartet. Er dachte lange nach, ehe er antwortete: „Nein, ich fahr nicht mit! Ich will mit den Zauberern und Zauberinnen und mit der ganzen Zauberei nichts mehr zu tun haben!"

Charlie Black sagte flüsternd zu seiner Nichte, ein solch feiger Weggefährte würde ihnen auf ihrer gefahrvollen Reisen nur hinderlich sein, und Elli nickte.

Am Morgen brachen Charlie Black und Elli mit dem Hündchen Totoschka und der Krähe auf. Sie schlugen die gleiche Richtung nach Nordosten ein, in die der Sturm vor mehr als einem Jahr das Häuschen mit Elli und Totoschka fortgetragen hatte. Nachts schliefen sie auf freiem Feld in einem doppelwandigen Zelt, das Charlie aus wasserdichter Seide genäht hatte. Wenn man es aufblies, konnte es auch als Floß dienen. Auf diese Weise überquerten unsere Freunde die Flüsse, die auf ihrem Wege lagen. Nach vielen Tagen machten sich Anzeichen der nahen Wüste bemerkbar. Heiße Winde schlugen den Wanderern entgegen, die Brunnen und Quellen wurden immer seltener. Bei jeder Rast füllte Charlie die Wasserflaschen nach. Sanddünen mit spärlichem Gras tauchten auf, aus dem die häßlichen Köpfe riesiger Eidechsen hervorlugten.

Sie waren so schrecklich anzusehen, daß selbst der tapfere Totoschka sie nicht anzugreifen wagte. Am Tage war es unerträglich heiß, nachts entsetzlich kalt. Schließlich erreichte die kleine Schar den letzten Wald, der auf dem Wege zum Wunderland lag. Hinter diesem Wald begann die große Wüste. An eine Fußwanderung durch das unübersehbare Sandmeer war nicht zu denken, und Charlie beschloß daher, ein Wüstenschiff zu bauen.

Im Wald fand er das geeignete Material dafür, und Werkzeug hatte er ja immer bei sich. Der Seemann zimmerte ein Schiff mit hohem Mast, niedrigen Bordwänden und breiten Rädern. Als es fertig war, rollte er es mit Ellis Hilfe aus dem Walde hinaus. Vor den Wanderern dehnte sich, soweit das Auge reichte, die Große Wüste, heimlich und feierlich in ihrer Stille. Ein leichter Wind trieb gelbe Sandkörnchen über die sanft gewellte Fläche. Der Seemann nahm die Mütze ab. „Wie das Meer . . .", sagte er leise.

Ellis Augen waren vor Schreck geweitet. Sie hatte die Wüste zwar schon einmal überquert, aber damals war sie in ihrem Häuschen durch die Wolken geflogen, hatte geschlafen und war erst im Lande der Käuer wieder erwacht. Wie würde die Wüste sie jetzt empfangen:' „Da sind wir nun", rief Charlie munter. „Ich hab mich mit dem Meer herumgeschlagen, jetzt wollen wir's mit der Wüste versuchen, um so mehr, als sich die beiden wie Bruder und Schwester ähneln."

Nun hieß es, auf den richtigen Wind warten, denn ein Holzkarren mit Segel kann doch nicht wie ein Schiff auf dem Meer bei jedem Wind die gewünschte Richtung einhalten. Charlie pflanzte im Sand einen Wetterhahn auf, und jeden Morgen ging Elli nachsehen, in welcher Richtung der Wind blies.

Unsere Wanderer brauchten nicht lange zu warten. Schon nach drei Tagen stellte sich ein flotter Nordost ein, der sich immer mehr verstärkte.

Am Abend pflegten Charlie und Elli ihr Gepäck, mit Ausnahme der wenigen Sachen, die sie für das Nachtlager brauchten, auf das Schiff zu laden. Auch heute befanden sich das Fäßchen Trinkwasser, der Proviant und was sie sonst noch mitführten an Bord. Charlie hißte das Segel, in das er das Zelttuch umgewandelt hatte, und der Karren setzte sich in Bewegung.

„Onkel Charlie, aber das ist ja ein richtiges Zaubertuch!" rief Elli bewundernd aus. „Wie hast du gesagt?"

„Ein Zaubertuch, man kann es ja verwandeln, wie man will!"

„Das trifft zu", sagte der Seemann, „wir wollen das Tuch von jetzt an auch so nennen." Der Wind blähte das Segel, an dessen Mast Ellis kariertes Kopftuch wie eine Fahne flatterte, und der Karren rollte, in eine Wolke feinen Sandes gehüllt, leicht dahin. Charlie holte aus einer seiner zahlreichen Taschen zwei Brillen hervor, deren Gläser von einem dichten Netz umrandet waren, das sich an das Gesicht anschmiegte und die Augen gegen den Staub schützte. Nun konnten der Seemann und seine Nichte alles gut sehen, nur sprechen durften sie nicht, denn kaum taten sie den Mund auf, so war er schon voller Sand. „Nicht sprechen!" rief Onkel Charlie, dessen ganze Aufmerksamkeit dem Segel galt. Der Karren bewegte sich mit großer Geschwindigkeit. Kapitän Charlie riß das Segel nach rechts oder links herum, wenn es einen Hügel oder Graben zu umfahren galt.

Am Nachmittag tauchte am Horizont eine silberne Wolkengirlande auf. Charlies scharfes Seemannsauge ließ sich jedoch nicht täuschen. „Berge!" rief er freudig. „Ich sehe Berge!" Elli klatschte in die Hände.

Die Berge kamen schnell näher, und bald konnten die Wanderer die kahlen schwarzen Gipfel und den glitzernden Schnee auf den Hängen erkennen. „In ein paar Stunden sind wir am Fuße der Berge", sagte Charlie. „Wenn uns der Wind nicht im Stich läßt", fügte er hinzu.

Der Wind hielt an, und der Karren sauste unverwandt dem Ziel entgegen. Charlie war in bester Laune.

Doch bald wurde er unruhig: Das Wüstenschiff kam aus unerklärlichen Gründen vom Kurs ab - es war, als ob eine unüberwindbare Kraft es nach Norden hin treibe: „Merkwürdig", brummte Charlie. Dem Kompaß nach zu urteilen, hatte sich der Wind nicht gedreht, das Steuer war in Ordnung, trotzdem kam das Schiff vom Kurs ab. Besorgt blickte der Kapitän in die Ferne.

Plötzlich tauchte hinter einem Sandhügel ein haushoher Stein auf, der genau in Fahrtrichtung des Schiffes lag. Charlie riß das Steuer herum, um auszuweichen. Aber was war denn das? Das Steuer gehorchte nicht, und das Schiff sauste direkt auf das Hindernis zu. Der Kapitän drehte das Steuer herum, drückte mit aller Kraft auf die Bremse, doch vergeblich! Er zog das Segel ein, aber der Karren raste wie ein, scheues Pferd dem Verderben entgegen.

Charlie konnte gerade noch schreien: „Elli, halt dich am Mast fest!" - da schlug das Schiff krachend gegen den Stein. Passagiere und Gepäck flogen in wirrem Durcheinander nach vorn.

Durch die Wucht des Aufpralls wurde Elli vom Mast weggerissen, ihre Stirn schlug gegen das Deck und bekam eine Beule. Charlie Black fiel auf den Rücken, blieb aber unverletzt. Totoschka, der unter das Wasserfaß geraten war, winselte vor Schmerz, doch als Elli ihn hervorzog, beruhigte er sich wieder. Auch die Krähe war, durch ihr festes Bauer geschützt, unversehrt geblieben, obwohl sie laut krächzte.

Charlie stand auf und blickte um sich. Der Karren lag zur Seite geneigt wie ein Schiff, das auf ein Riff aufgelaufen ist. Die Vorderachse war zerbrochen. „Ach, ich alter Räucherhering!" wetterte der Seemann. „Als ob ich nie ein Steuer in der Hand gehabt hätte! Wie konnte mir das nur passieren? Ich könnte schwören, daß der verfluchte Stein an allem schuld ist! Wie ein Magnet hat er das Schiff angezogen!" Charlie verfluchte sich, das Schiff und den Stein, während er nach dem Werkzeug suchte, das er zur Reparatur brauchte. Elli, die inzwischen auf Deck aufgeräumt hatte, sprang in den Sand und ging hinter den Stein, wo sie vor dem Wind Schutz zu finden hoffte. Ihr Auge glitt über den zerfurchten Stein, und plötzlich schien ihr, als ob die Risse sich zu Buchstaben fügten. Sie trat näher, sah aber nur ein wirres Geflecht von Linien. Als sie jedoch etwas weiter zurücktrat, konnte sie tatsächlich ein paar riesengroße Buchstaben unterscheiden: G . . . I . . . N ...

„Gingema!" schrie Elli auf. ,,Was ist los?" fragte Charlie. „Onkel Charlie, sieh doch, was da steht!" Der Seemann trat näher.

„Das sieht ja aus, als wären es Buchstaben aber nein, nicht möglich . . ."

„Doch, ich sehe es genau", stieß Elli hervor. ,,Das ist ein Name, Gingema, siehst du's denn

nicht?!"

Charlie griff sich an den Kopf.

„Ja, wirklich . . . Oh, mir geht ein Licht auf! Das ist kein gewöhnlicher, sondern ein

verzauberter Stein! Er hat unser Schiff angezogen. Die verdammte Hexe, sie gibt uns auch

nach ihrem Tod keine Ruhe . . . !" Charlie schüttelte die Faust.

Dann kletterte er auf den Stein und hielt Ausschau: Zur Rechten gewahrte er, ein paar

Meilen entfernt, einen schwarzen Fleck im gelben Wüstensand. Charlie nahm das Fernrohr

aus der Tasche, und als er es auf den Fleck richtete, fing seine Hand zu zittern an.

In der Ferne ragte ein schwarzer Stein, ebenso groß wie der, auf dem der Seemann stand.

Jetzt war alles klar: Gingema hatte die Steine weit voneinander hingestellt und ihnen

Zauberkraft verliehen, und sie bildeten jetzt eine unpassierbare Schranke.

„Na warte, alte Hexe, frohlocke nur nicht zu früh!" rief Charlie hinabkletternd. Er sagte

dem Mädchen nichts von seinen Beobachtungen und schlug das Zelt auf, in dem Elli,

Totoschka und die Krähe vor der Hitze und dem fliegenden Sand Schutz fanden. Dann

ging er an die Reparatur des Karrens.


IM BANNE DES SCHWARZEN STEINS

Als Charlie seine Arbeit beendet hatte, war es schon dunkel. Am Himmel funkelten die Sterne. In dieser Nacht schlief der Seemann aber nicht so sorglos wie gewöhnlich. Er wälzte sich auf seinem Lager und zerbrach sich den Kopf, wie er die letzte Zauberei der alten Gingema unwirksam machen könnte.

So angestrengt er aber auch nachdachte, es kam ihm nichts in den Sinn. Am Morgen

schlummerte er ein, doch bald wurde er von Elli zum Frühstück geweckt.

Als sie gegessen hatten, sagte er: „Wenn es unserem Schiff in diesem Hafen so gut gefällt,

daß es nicht weg will, so werden wir eben zu Fuß weitergehen müssen."

,,Und das Schiff bleibt hier?" fragte Elli erschrocken.

„Wir haben keinen anderen Ausweg. Aber mach dir keine Sorgen, Kind, bis zu den Bergen sind es höchstens zwanzig Meilen, wir schaffen sie in anderthalb, zwei Tagen." Charlie Black verstaute den Proviant und den Wasservorrat im Rucksack und packte das Zelt und das allernotwendigste Werkzeug ein, alles andere blieb auf dem Karren. Die Wanderer warfen noch einen letzten Blick auf ihr Schiff und brachen dann auf. Nach etwa hundert Schritt fühlten sie sich jedoch in ihren Bewegungen gehemmt, als ob eine geheimnisvolle Kraft sie am Gehen hinderte.

Jeder weitere Schritt kostete sie größere Mühe. Es war ihnen, als ob ein unsichtbares Gummiseil sie zum Stein zurückziehe. Schließlich sanken sie erschöpft zu Boden. „Es hilft nichts, wir müssen umkehren", seufzte Charlie.

Als sie sich umwandten, gingen ihre Beine wie von selbst, ihre Schritte wurden immer schneller, und dann mußten sie richtig laufen. Nur mit Mühe konnten sie vor dem Stein haltmachen.

„Mir scheint, der Stein hält uns fest", sagte der Seemann heiser. Elli erschauerte.

„Wir wollen aber nicht verzweifeln", fuhr Charlie fort. „Laß uns überlegen, vielleicht gelingt es uns doch, mit Gingemas Hexerei fertig zu werden."

Es war ein qualvoller Tag. Mehrmals versuchten die Wanderer, vom Stein loszukommen, bald im Krebsgang, bald auf allen vieren. Doch vergeblich! Der Zauber war nicht zu brechen, und vom ungleichen Kampf erschöpft, kehrten Onkel und Nichte zum Karren zurück.

Die Mittag- und Abendration wurde auf die Hälfte gekürzt.

„Je länger wir uns halten, desto mehr Aussicht haben wir, daß uns irgendein Zufall hilft", sagte Charlie. „Deshalb müssen wir den Gürtel enger schnallen." Der nächste Morgen brachte nichts Neues. Sie versuchten erneut, dem Stein zu entrinnen, mußten jedoch wieder umkehren . . . Elli war es aufgefallen, daß die Krähe in ihrem Bauer unruhig hin und her lief und andauernd krächzte. Es war, als wollte sie sagen: ,Laßt mich frei! Laßt mich 'raus!'

„Onkel Charlie, wir wollen das Bauer öffnen! Schau nur, wie der arme Vogel sich quält!" schlug Elli vor.

„Der arme Vogel!" knurrte der Seemann. „Er allein ist an unserem Unglück schuld, und

jetzt will er sich davonmachen!"

„Onkelchen, tu doch nicht so! Du hast ja ein gutes Herz!"

Charlie öffnete das Bauer, nahm die Krähe in die Hand und warf sie empor:

„Flieg, tückischer Vogel, falls dich der Zauberfelsen nicht festhält!"

Die Krähe setzte sich auf Ellis Schulter und krächzte ihr etwas ins Ohr. Dann schwang sie

sich mit leichtem Flügelschlag in die Lüfte und verschwand in der Ferne. Der Seemann

staunte:

„Bei allen Zauberern und Hexen, sie steuert leicht ihren Kurs! Aber wie kommt es bloß,

daß der Stein sie nicht zurückhält'"'

Elli dachte einen Augenblick nach und sagte:

„Warum soll er sie auch halten, wo sie doch aus dem Wunderland ist!"

Charlie schmunzelte, während das Mädchen fortfuhr:

„Mir scheint, die Krähe wollte uns sagen, wir sollen die Hoffnung nicht aufgeben." „Schon möglich."

Der Lebensmittel- und vor allem der Wasservorrat verringerten sich zusehends. Die heiße Wüstenluft verursachte schrecklichen Durst. Charlie bemühte sich, die Rationen einzuschränken, aber Elli bat immer wieder so inständig um einen Schluck Wasser, daß der alte Seemann, dessen Herz sich vor Mitleid verkrampfte, es ihr nicht abschlagen konnte. Und wenn sie mit Wonne getrunken hatte, machte Totoschka Männchen, blickte zu Charlie empor und wedelte mit dem Schwanz. Der Seemann gab auch ihm zu trinken. Während Charlie die Rationen für Elli und Totoschka erhöhte, kürzte er die seinen. Er wurde immer magerer, sein Gesicht fiel ein, und die Haut bedeckte sich mit zahllosen tiefen Runzeln.


DIE RETTUNG

Am siebenten Tag war das Fäßchen leer, gegen Mittag gab es keinen Tropfen Wasser mehr. Elli hatte vor Erschöpfung das Bewußtsein verloren, der abgehärtete Seemann aber hielt sich. Als er sich einmal unter Aufbietung seines ganzen Willens aufraffte, um Ausschau zu halten, glaubte er in der Ferne einen schwarzen Punkt zu sehen, der sich zu bewegen schien. Charlie rieb sich die Augen . . . Was konnte sich in dieser schrecklichen toten Wüste schon bewegen? . . . Aber der Punkt wuchs und kam immer näher. „Die Krähe, bei allen Klippen von Kuru-Kusu, es ist die Krähe!" schrie Charlie mit einer Kraft, die er sich nicht mehr zugetraut hatte.

Der alte Seemann wußte natürlich nicht, was ihnen die Rückkehr der Krähe nützen würde,

fühlte aber, daß sie nicht ohne Grund kam. Jetzt war sie schon ganze nahe. Charlie sah, daß

sie schwer mit den Flügeln arbeitete, um sich in der Luft zu halten.

Es war, als ob sie etwas zur Erde drückte. Doch was konnte das sein? Da entdeckte das

scharfe Auge des Seemanns eine riesige Weintraube im Schnabel der Krähe.

„Trauben!" schrie Charlie freudig. „Elli, steh auf, wir sind gerettet!"

Elli aber hörte nichts.

Da setzte sich die Krähe schon neben den Karren in den Sand. Charlie nahm ein paar Trauben und zerdrückte sie zwischen den halbgeöffneten Lippen Ellis. Der kühle Saft rann ihr in den Mund, und sie schlug sogleich die Augen auf. „Onkel Charlie, was ist das? Wasser?"

„Besser als Wasser, mein Kind, es sind Trauben. Und weißt du, wer sie gebracht hat? Die Krähe!"

„Kaggi-Karr", rief die Krähe, als verstehe sie, daß von ihr die Rede ist.

Elli erhob sich ein wenig und stützte sich auf die Ellbogen. Da bemerkte sie das Hündchen,

das ohnmächtig dalag.

„Totoschka, mein Liebling'. Du bist ja fast verdurstet..."

Drei Beeren reichten, um das Hündchen zum Leben zurückzurufen. Es öffnete die Augen und begann mit dem Schwänzchen zu wedeln.

Als der Kapitän seine Mannschaft gerettet sah, nahm auch er ein paar Trauben zu sich. Die großen gelben Beeren zergingen auf der Zunge und stillten Hunger und Durst. „Ja, das nenn ich Trauben!" schnalzte der Seemann. „Solche hat es nicht einmal auf Kuru-Kusu gegeben!"

Er nahm die Krähe in die Hand und streichelte ihre struppigen schwarzen Federn.

„Ein kluger Vogel, das muß man sagen! Und ich alter Räucherhering war böse, als du

fortflogst. Wenn du uns jetzt noch belehren würdest, wie wir die Zauberkraft des Steins

brechen sollen, würde ich sagen, du bist der klügste Vogel auf der Welt."

Statt einer Antwort pickte die Krähe eine Weintraube auf und schielte mit ihren schwarzen

Augen verschmitzt zum Seemann hinauf.

Sie deutet auf die Trauben, das ist klar, dachte Charlie, aber was können die uns helfen? Nur unsere Qualen neben diesem verdammten Stein verlängern . . . Die Krähe begann über den Sand zu hüpfen und blickte sich dabei dauernd nach Charlie um, als fordere sie ihn auf, ihr zu folgen.

Der Seemann erhob sich und ging in Richtung der Berge. Welch ein Wunder! Er konnte jetzt so leicht und frei gehen, als hätte er nicht eine ganze Woche gehungert und kraftlos im Sande gelegen. Auch das hatten also die Trauben bewirkt!

„Donnerwetter!" brummte der Seemann. „So was ist mir noch nicht vorgekommen! Na, wir sollen doch mal sehen,

Da war schon die Stelle, wo er und Elli jedesmal erschöpft zu Boden gesunken waren. Jetzt aber schritt Charlie mühelos weiter.

„Hurra, hurra!" schrie er aus Leibeskräften. „Elli, komm, wir sind gerettet!" Verständnislos kam Elli herbeigeeilt, und dann erst begriff sie den Sinn seiner Worte. „Onkel, lieber Onkel, wir müssen uns beeilen!"

„Richtig, mein Kind. Wer weiß, wie lange die Zauberkraft der Trauben anhält!" Sie warfen eilig das Allernotwendigste in ihre Rucksäcke, nahmen das Zelt und verließen den entsetzlichen Ort. Toto schka sprang munter vor ihnen her, und die Krähe wies ihnen den Weg.

Nach etwa drei Meilen war der verzauberte Felsen nicht mehr zu sehen, und die Wanderer machten Rast. Jeder bekam ein paar Trauben, dann ging es mit neuen Kräften weiter. An diesem Tag schafften sie die Hälfte des Weges zu den Bergen.

Als sie am nächsten Morgen aufwachten, war die Krähe fort. Sie brauchten sich indessen nicht lange den Kopf über ihr Verschwinden zu zerbrechen, denn bald war sie, neue Trauben im Schnabel, wieder da.

„Donnerwetter?" rief Charlie. „Wer hätte gedacht, daß ich jemals auf so sonderbare Art und Weise versorgt werde!" und verteilte die saftigen Beeren an seine Gefährten.


DAS TAL DER KÖSTLICHEN WEINTRAUBEN

Sie kamen zu einem Tal, in dem ein schneller Bach rauschte, der hoch in den von ewigem Schnee bedeckten Bergen seinen Anfang nahm. An den Ufern wuchsen Obstbäume. Die Wanderer tranken gierig das klare, kalte Wasser und betraten dann eine grüne Wiese, die mit zahllosen unbekannten Blumen übersät war. Hier erwarteten sie wunderbare Erlebnisse.

Die Krähe legte feierlich den Kopf auf die Seite und sagte mit sehr klarer Stimme: „Kaggi-Karr !"

„Das haben wir schon gehört!" ließ sich - nicht gerade liebenswürdig - Totoschka vernehmen.

„Gehört, aber nicht verstanden!" bemerkte die Krähe spitz. „Das ist nämlich mein Name. Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: Kaggi-Karr, Erste Abschmeckerin in der Schloßküche am Hofe des Weisen Scheuchs, des Herrschers der Smaragdenstadt!" „Ach, bitte um Verzeihung! Hat mich sehr gefreut. Mein Name ist Totoschka!" Das Hündchen verneigte sich förmlich.

Charlie, der im Gras saß, war starr vor Staunen. Elli lachte so sehr über seine verdutzte Miene, daß ihr die Tränen in die Augen traten.

„Onkel Charlie, du bist ja ganz verstört!" rief sie, den Seemann am Ärmel zupfend. „Ich habe dir doch schon hundertmal gesagt, daß im Wunderland alle Tiere sprechen!"

„Was einem die Leute sagen, ist eins, und was man selbst erlebt, etwas ganz anderes", entgegnete der Seemann. „Also sind wir wirklich im Wunderland? Ich kann's einfach nicht fassen!"

Wie entgeistert blickte Charlie bald auf die Krähe, bald auf Totoschka.

„Das ist alles ganz einfach", ließ sich die Krähe hören. „Da gibt's nichts zu staunen. Man

sieht, daß Ihr aus einem Land kommt, wo keine Wunder geschehen."

„Na, wo du schon zu sprechen angefangen hast, Kaggi-Karr, so erklär uns doch, was die

geheimnisvolle Botschaft bedeutet, der wir diese beschwerliche Reise zu verdanken

haben."

„Ja, bitte, Kaggi-Karr", rief auch Elli.

„Meine Geschichte wird sehr lang sein", erwiderte die Krähe, „und ich möchte sie lieber auf morgen verschieben. Aber zu eurer Beruhigung will ich euch sagen, daß der Eiserne Holzfäller und der Scheuch am Leben und gesund waren, als ich nach Kansas aufbrach. Man hält sie einfach gefangen, in einem hohen Turm . . ."

„Einfach gefangen'." wiederholte Elli, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Sie tun dir wohl überhaupt nicht leid!"

Kaggi-Karr fühlte sich durch diese Worte gekränkt. Sie schwieg eine Weile und sprach dann bitter:

„So, so, sie tun mir also nicht leid! Aber natürlich! Ich hab sie ja gleichmütig ihrem Schicksal überlassen, ich bin mit ihrem Brief nicht Tag und Nacht geflogen, über Berg und Tal, habe mich nicht zahllosen Gefahren ausgesetzt . . ." Elli schämte sich ihrer Worte.

„Liebe, gute Kaggi-Karr, verzeih mir bitte. Wie konnte ich so etwas auch nur denken!" „Schon gut. Das nächste Mal überleg, was du sagst. Ich hab euch mitgeteilt, daß sie im Turm sitzen, doch das Wichtigste wißt ihr nicht. Der Feind, der sie gefangenhält, droht, sie umzubringen, wenn sie sich seinem Willen nicht fügen . . ." Elli sprang auf:

„Warum sitzen wir noch da! Auf, laßt uns den Freunden zu Hilfe eilen!" „Wieder bist du mir ins Wort gefallen!" sagte die Krähe. „Sie haben ein halbes Jahr Bedenkzeit. Davon sind nur etwas mehr als drei Monate vergangen. Also haben wir noch Zeit genug."

„Es versteht sich, wir dürfen nicht zaudern", machte Charlie Black dem Gespräch ein Ende. „Schon morgen brechen wir auf. Heute aber wollen wir ausschlafen. Und zum Abend müssen wir etwas Ordentliches zu essen auftreiben. Gibt es Fische in diesem Bach?"

„Natürlich, Onkel Charlie, sogar sehr gute", sagte die Krähe. „Ich für mein Teil esse gern rohen Fisch."

„Und ich gebratenen!" sagte Elli.

„Und ich gekochten!" ließ sich Totoschka hören.

Charlie begann eine Angel anzufertigen. Aus dem Futter seiner Schiffermütze holte er Schnur und Haken hervor, und mit dem Messer schnitt er eine lange Gerte von einem Baum. Den Schwimmer machte er aus Schilf. „Jetzt brauchen wir nur noch einen Köder", sagte er.

Zwischen den Bäumen schwirrten smaragdgrüne Käfer mit roten und goldenen Tupfen. Sie waren aber so flink, daß weder der Seemann nach Elli einen fangen konnten. Da kam ihnen Kaggi-Karr zu Hilfe. Sie hackte im Fluge mit ihrem starken Schnabel nach den Käfern, die, einer nach dem anderen, zur Erde fielen: dort einer, da noch einer, dort wieder einer, konnte sie gar nicht so schnell auflesen.

Nicht weit von der Stelle, wo die Wanderer ihr Lager aufgeschlagen hatten, ergoß sich der

Bach in einen großen Teich, der mit Wasserrosen bewachsen war.

Charlie setzte sich mit der Angel ans Ufer und hieß seine Nichte Reisig für ein Feuer

sammeln.

Es dauerte gar nicht lange, bis der Schwimmer erzitterte. Charlie hob die Angel, die Schnur straffte sich, und mit geübter Hand zog der Seemann einen großen, zappelnden Fisch heraus. Er sah wie ein Schlei aus, hatte aber azurblaue Schuppen. „Dieser Fisch heißt bei uns Krox", sagte Kaggi-Karr, die den Vorgang aufmerksam verfolgt hatte.

In einer halben Stunde hatte Charlie etwa ein Dutzend Kroxe gefangen. Vom Lagerfeuer, das Elli angezündet hatte, stieg bereits Rauch auf.

Die im eigenen Saft gebratenen Kroxe wurden mit großem Appetit verzehrt. Als Nachspeise gab es leckere Weintrauben und große Nüsse mit dünner Schale und zarten wohlschmeckenden Kernen.

Nach dem Essen streckten sich die Wanderer wohlig im weichen Gras aus. „Kaggi-Karr", sagte der Seemann, „erzähl uns doch, wie du zu den Weintrauben gekommen bist."

Die Krähe plusterte sich auf und begann mit wichtiger Miene:

„Ihr Menschen versteht manchmal die allereinfachsten Dinge nicht. Als Gingemas

Zauberstein euch festhielt, war ich euch, offen gestanden, sehr böse, weil ihr nicht darauf

kamt, mich aus dem Bauer herauszulassen. Nur Elli erriet, daß der Stein keine Macht über

mich hat, weil ich aus dem Wunderland bin ... "

Elli errötete, als sie dieses unverdiente Lob hörte.

„Das ist mir erst später eingefallen", entgegnete sie. „Ich gab dir die Freiheit, damit du unser Los nicht teilst."

„Das macht deinem guten Herzen nur Ehre. Als ich frei war und zu den Bergen flog, dachte ich nach, wie euch zu helfen wäre. Was konnte aber ich, eine Krähe, gegen die Hexenkunst der mächtigen Zauberin ausrichten? Da kam mir der Gedanke, Willina um Hilfe zu bitten. Willina ist mächtiger als Gingema, sagte ich mir, sie hat den Sturm gebannt und das Häuschen auf die böse Hexe fallen lassen. Willina wird wahrscheinlich auch die Zauberkraft des Steins brechen . . . Und ich flog in das Gelbe Land. Ganze sechs Tage dauerte die Reise. Einheimische Krähen wiesen mir den Weg zum Gelben Schloß Willinas. Als ich hinkam, geleiteten mich die Diener sogleich zu der guten Zauberin. Sie war ergriffen von meinem Bericht und fragte: ,Elli? Ist das nicht das Mädelchen, das im vorigen Jahr hier war und Goodwin auf die Schliche kam?'

,Ja', erwiderte ich. ,Und jetzt ist Elli wieder da, um ihre Freunde, den Scheuch und den Eisernen Holzfäller, zu befreien.'

,Wir müssen ihr helfen', sagte die Zauberin. ,Elli ist ein gutes und tapferes Mädchen!'

Willina holte aus den Falten ihres Gewandes ein winziges Büchlein hervor, blies darauf und . . ."

„. . . es verwandelte sich in ein riesiges Buch!" rief Elli.

„Richtig", sagte die Krähe. „Willina blätterte im Zauberbuch und murmelte:

,A . . . Ananas . . . Armee, Argus . . . B . . . Ballon, Bananen . . . Bastschuhe ... D ... Datteln

... Daumen ... Domino ..." Schließlich hatte sie's gefunden: ,Weintrauben!" rief sie, und

höre, Kaggi-Karr:

„Bambara, Tschufara, Skoriki, Moriki, Turabo, Furabo, Loriki, Joriki . . . Am Rande der Großen Wüste, im Tal der Ewigen Berge, wachsen herrliche Weintrauben. Nur diese können den Bann der Zaubersteine Gingemas brechen." Dann schrumpfte das Buch zusammen und verschwand im Gewand der Zauberin. ,Hatten deine Freunde noch viel Wasser, als du sie verließest?" fragte sie mich. ,Das Fäßchen war noch zu einem Viertel voll", erwiderte ich.

,Dann sind die Stunden deiner Freunde gezählt", sagte die Zauberin. ,Die Wüste wird sie

umbringen."

Mir stockte das Herz.

,Gibt es denn kein Mittel, sie zu retten?" fragte ich verzweifelt.

,Nur mit der Ruhe, ein Mittel wird sieh schon finden", sagte die Zauberin.

Sie stieg auf das Dach ihres Schlosses, verbarg mich unter ihr Gewand, rief eine

Beschwörung, die ich mir nicht gemerkt habe, und als sie mich wieder hervorholte,

befanden wir uns in dem besagten Tal, vor dem Weinstock, an dem herrliche Trauben

hingen.

Willina sagte, ich sollte mich stärken. Ich aß ein paar Beeren und fühlte, wie mir ungeahnte Kräfte zuströmten. Die Zauberin pflückte eine große Traube und gab sie mir mit den Worten:

,Fliege los, du darfst keine Zeit verlieren!"

,Meine Herrin, vielleicht laßt Ihr Euch lieber selber durch eine Beschwörung zu meinen verschmachtenden Freunden versetzen?" fragte ich. ,Vollendet doch das gute Werk, das Ihr so schön begonnen habt!"

,Alberner Vogel!" entgegnete die Zauberin. ,Meine Beschwörungen können mich nicht über die Grenzen des Wunderlandes tragen. Wollte ich aber zu Fuß gehen, so würde das viel zu lange dauern."

So bedankte ich mich denn herzlich bei der guten Fee und flog zu euch. Was weiter kam, wißt ihr", schloß die Krähe bescheiden.

Von Kaggi-Karrs Bericht ergriffen, schwiegen die Zuhörer. Schließlich sagte der Seemann: „Ja, Kaggi-Karr, du bist ein wahrer Freund. Und ich bitte dich um Verzeihung, daß ich so schlecht über dich gedacht hab.

Bei meinem Kompaß! Wärst du auf meinem Schiff Matrose, ich würde dich zum Obermaat machen?"

Im Munde des Seemanns war dies das höchste Lob.


DER WEG DURCH DIE BERGE

Am nächsten Morgen begann Kaggi-Karr von den Abenteuern des Scheuchs und des

Eisernen Holzfällers zu erzählen. Über Urfin wußte sie nichts Näheres zu berichten und

konnte auch nicht erklären, wie er die lebenden Holzsoldaten geschaffen hatte.

Den Worten der Krähe nach zu urteilen, war Urfin ein mächtiger Zauberer, dem schwer

beizukommen sei. Elli und ihre Gefährten empfanden brennenden Haß gegen den

machtgierigen und grausamen Diktator.

Der Verrat Ruf Bilans löste bei ihnen tiefste Verachtung aus.

Elli war von der Tapferkeit des. Scheuchs und des Eisernen Holzfällers begeistert, und der Seemann sagte, er würde mit solch mutigen Männern die gefährlichsten Seereisen wagen. Auch über die Treue und den Mut Din Giors und Faramants sprachen sich Charlie Black und Elli sehr lobend aus.

„Jetzt wißt ihr, wie sich alles zugetragen hat", schloß Kaggi-Karr ihren Bericht. Elli fragte:

„Und was ist aus dem langbärtigen Soldaten und dem Hüter des Tores geworden?"

„Ich hab sie nicht mehr gesehen, nachdem sie während der Einnahme der Stadt in

Gefangenschaft geraten waren. Aber ein bekannter Spatz aus der Smaragdenstadt sagte

mir, daß man sie in einem Keller hält und gut füttert. Urfin hofft wahrscheinlich, sie zu

überreden, in seine Dienste zu treten."

„Das wird ihm nicht gelingen!" sagte Elli.

„Das ist auch meine Ansicht", pflichtete ihr die Krähe bei.

„Urfin und seine Holzarmee sind ernste Gegner", bemerkte nachdenklich der einbeinige Seemann.

„Werden wir ihnen beikommen, Onkel Charlie?" fragte Elli. „Merke dir die kluge Regel: Kommt Zeit, kommt Rat. Wenn wir die Berge hinter uns haben, werden wir uns überlegen, was wir gegen Urfin unternehmen können." „Kaggi-Karr, erzähl uns bitte, wie du mich nur gefunden hast", bat Elli. „Ich kann euch sagen, das war keine leichte Sache", erwiderte die Krähe stolz. „Ich bin bei gutem Wind über die Wüste geflogen, und dann begannen die großen Schwierigkeiten. Ihr werdet wohl verstehen, daß ich nicht den Erstbesten fragen konnte, wo Kansas liegt. Ich maßte mich an die Leute heranschleichen und aus ihren Gesprächen erlauschen, wo ich bin . . . Mehrere Wochen irrte ich umher. Wie ich mich freute, als ich endlich das Wort ,Kansas' hörte' Dann kam ich mit jedem Tag meinem Ziel näher. Schließlich erblickte ich dich, Elli, von weitem und erkannte dich sofort, obwohl ich dich nur ein einziges Mal gesehen hatte, als du den Scheuch vom Pfahl nahmst. Ich freute mich so sehr, daß ich jede Vorsicht vergaß und den bösen Buben mit den Steinen an mich herankommen ließ . . ." „Kaggi-Karr, du hast eine außergewöhnliche Großtat voll-bracht'." rief Elli begeistert. „Nicht umsonst haben der Scheuch und der Holzfäller gerade dich nach Kansas geschickt." „Mag sein", erwiderte die Krähe mit gespielter Gleichmut und fügte hinzu: „Und jetzt ruht euch ein wenig aus, ich will derweilen den Weg über die Berge auskundschaften."

Kaggi-Karr lüftete die Flügel und flog davon.

Charlie Black hieß Elli schlafen gehen, um Kräfte zu sammeln, und begann mit den Vorbereitungen zu dem schweren Marsch über die Berge. Er fing etwa zwei Dutzend Kroxe, die er ausnahm und zum Trocknen in der Sonne aufhängte. An eine andere Schnur hängte er saftige Weintrauben, damit sie an der Sonne zu Rosinen werden.

Dann begann Charlie an den Schuhen zu werken. Seinen Stiefel und Ellis Schuhe beschlug er mit Nägeln, damit sie auf den Felsen und dem Eis nicht rutschten, und., in sein Holzbein trieb er einen dicken Nagel mit der Spitze nach unten. Für Totoschka fertigte der Seemann ein Paar kleine Schuhe aus weicher Baumrinde, die die Pfoten des Hündchens gegen Kälte schützen sollten, wenn es über die Gletscher gehen würde. Das alles nahm einen vollen Tag in Anspruch. Spätabends kehrte Kaggi-Karr völlig erschöpft zurück.

„Das sind aber Berge!" stieß die Krähe heiser hervor. „Nicht umsonst sagen die Leute, daß

noch niemand über sie gekommen ist. Aber ich laß mit mir nicht spaßen. Heute bin ich von

unserem Lager nach Westen geflogen, morgen geht's nach Osten."

Die Wanderer schliefen unter dem Rausche n eines Wasserfalls ein.

Die ganze Nacht träumte Elli von Urfins Soldaten, die auf dem Gelben Backsteinweg

stapften.

Am nächsten Tag zog die Krähe wieder in die Berge.

Auf einer Wanderung durch das Tal entdeckte Charlie wildwachsende Kürbisse, die wie riesige Birnen aussahen. Der Seemann freute sich gewaltig über diesen Fund. Er schnitt mehrere Früchte an, kratzte das Fleisch und die Kerne heraus und legte die leeren Kürbisse zum Trocknen an die Sonne. So erhielt er gute, leichte Trinkwasserbehälter. Dann fertigte Charlie aus Korkbaumrinde Pfropfen für die Behälter, die man jetzt mit Wasser füllen und in die Rucksäcke legen konnte.

Die Sonne stand noch hoch am Himmel, als Kaggi-Karr zurückkehrte. Mit triumphierender Stimme schrie sie von weitem:

„Ich hab den Weg gefunden! Die Berge wollten mich zum Narren halten, aber ich habe sie überlistet!"

Während sie erzählte, verschlang sie gierig große Stücke von den Kroxen, die der Seemann gefangen hatte.

„Es ist natürlich kein bequemer Weg, nur ein Pfad, aber man kommt schon durch, wenn

man sich ein bißchen anstrengt. Außerdem führt er über einen Paß, der weit unter dem

Kamm verläuft. Ich will mich nicht loben, Onkel Charlie, wenn ich sage, daß nicht jeder

Vogel in dem Gewirr von Gipfeln und Kämmen den Paß gefunden hätte."

„Bei allen Krähen der Welt, Kaggi-Karr, schon als ich dich zum erstenmal sah, war mir

klar, daß du ein außergewöhnlicher Vogel bist", sagte der Seemann.

Und Elli fügte hinzu:

„Es war ja auch kein Zufall, daß gerade du den Scheuch auf den Gedanken gebracht hast, sich nach einem Gehirn umzusehen!" Kaggi-Karr fühlte sich geschmeichelt.

„Morgen müssen wir früh aufbrechen", sagte sie, „denn der Weg ist weit und mühsam."

Charlie besaß keine Bergsteigerausrüstung - weder Keile noch Haken, die man in den Felsen schlägt, noch Strickleitern und was sonst noch dazu gehört. Aber die Wanderer kamen auch ohne diese Dinge aus. Von der Krähe geführt, umgingen sie Steilhänge und Abgründe. In der Tiefe hörten sie wilde Bäche rauschen.

An gefährlichen Stellen seilten sich Onkel und Nichte an, und Elli nahm Totoschka auf die Arme.

Sie hatten bereits einen großen Teil des Weges zurückgelegt, als sie unvermittelt auf einen tiefen Spalt stießen. Er war so breit, daß Elli ihn nicht überspringen konnte, von Onkel Charlie mit seinem Holzbein ganz zu schweigen.

Ratlos standen sie da. Am meisten ärgerte sich Kaggi-Karr, die sich an allem schuldig fühlte. Als sie über die Berge flog, war ihr der Spalt so klein vorgekommen, daß sie ihn nicht weiter beachtet hatte.

„Ich will nachsehen, ob wir ihn umgehen können", sagte die Krähe und flog, das Gelände auszukundschaften.

Nach einer halben Stunde kehrte sie niedergeschlagen zurück.

„Ringsum sind solche Felsen und Abgründe, daß man unmöglich durchkommt", meldete

sie.

Elli lächelte traurig.

„Mein Freund, der Scheuch", sprach sie, „hätte gesagt: ,Da ist ein tiefer Graben, über den kann man nicht springen. Um hinüberzukommen, braucht man eine Brücke. Also muß man eine Brücke bauen.'" Charlie sprang freudig auf:

„Elli, du hast mich auf eine famose Idee gebracht. Wir werden eine Brücke bauen!"

„Onkel Charlie, hier gibt es aber weit und breit keinen Baum.

Oder willst du vielleicht in das Tal der köstlichen Weintrauben zurückkehren?"

„Aber Kindchen, du hast wohl das Zaubertuch in meinem Rucksack vergessen? Heute wird

es sich in eine Brücke verwandeln!"

Er nahm eine Rolle dicken Bindfadens aus dem Rucksack, schnitt ein langes Stück ab, faltete dieses doppelt zusammen und warf es über den Spalt, bemüht, daß es sich an einem Felsvorsprung verfinge. Es gelang. Dann zog er beide Enden an und band sie auf seiner Seite an einen Stein. Das wiederholte er mehrmals, und bald hing die straff gespannte Schnur in mehreren Reihen über dem Spalt. Elli schaute verwundert zu.

„Onkel Charlie, über eine solche Schnur kann doch nur ein Spatz auf die andere Seite kommen."

„Geduld, mein Kind, das ist ja nur die Stütze unserer Brücke."

Der Seemann holte das Zaubertuch hervor, blies es zu einem prallen Polster auf und bettete

es auf die Schnüre. Elli hüpfte vor Freude, als er damit fertig war.

Charlie kroch vorsichtig über den Spalt und half dann Elli und Totoschka beim Übergang.

Als sie alle auf der anderen Seite waren, ließ Charlie die Luft aus dem Polster aus und legte

das Tuch wieder in den Sack. Dann zog er am Ende der Schnur, die auf Seemannsart

geknüpften Knoten lösten sich, und Charlie rollte die Schnur wieder zusammen.

Nun konnte die Schar ihren Weg fortsetzen.

Bald hatte sie den Paß hinter sich. Die Landschaft wurde freundlicher, die Hänge waren jetzt nicht mehr so felsig und steil, da und dort zeigten sich sogar Bäume. Hier Übernachteten die Wanderer.

Am nächsten Morgen begann der Abstieg. Als sie am Fuß der Berge angelangt waren, sahen sie das Blaue Land vor sich.

Elli erkannte auf den ersten Blick die herrlichen Gefilde der Käuer wieder.

Da waren die grünen Wiesen, umstanden von Bäumen, an denen saftige Früchte hingen,

und die Beete, auf denen herrliche weiße, blaue und lila Blumen wuchsen. Auf den

Bäumen saßen rotbrüstige Papageien mit goldig-azurblauem Gefieder und begrüßten Elli

mit schrillem Geschrei. In kristallklaren Bächen tummelten sich silbrige Fischlein.

Elli und Totoschka war diese ungewöhnlich schöne Landschaft vertraut. Charlie, der sie

zum erstenmal sah, war ganz begeistert. Er war durch viele Länder gekommen, hatte viel

Schönes gesehen, doch eine solche Pracht hatte er noch nie erlebt.

Wie vor einem Jahr, als Elli zum erstenmal hier war, traten hinter den Bäumen drollige,

kleine Käuer hervor, die blaue Samtröcke und schmale Hosen anhatten. Ihre Füße staken in

Stulpenstiefeln, und auf den Köpfen trugen sie Kegelhüte mit Kristallkugeln an der Spitze

und lieblich klingenden Schellen an den breiten Krempen.

Die Käuer lächelten Elli freundlich an, legten ihre Hüte auf den Boden, damit die Schellen sie beim Sprechen nicht störten, und dann sagte der Älteste:

„Wir begrüßen dich, Fee des Tötenden Häuschens, und deine Gefährten in unserem Lande! Wir freuen uns, dich wiederzusehen. Aber auf welche Weise bist du diesmal zu uns gekommen?"

„Zu Fuß über die Berge. Und ich freue mich sehr, euch wiederzusehen, meine lieben Freunde!"

Ein Käuer fragte ungläubig: „Gehen denn Feen zu Fuß?" Elli lachte.

„Ich hab euch ja schon damals gesagt, daß ich ein ganz gewöhnliches Mädchen bin." Der Älteste entgegnete entschieden:

„Gewöhnliche Mädchen kommen nicht mit tötenden Häuschen geflogen und gehen nicht - krack, krack - auf die Köpfe böser Zauberinnen nieder. Gewöhnliche Mädchen fliegen nicht mit silbernen Zauberschuhen in ein Land, das Kansas heißt und uns unbekannt ist!" „Wie gut ihr meine Abenteuer kennt!" wunderte sich Elli. „Na, wenn ihr mich unbedingt eine Fee nennen wollt, so mag's denn sein, ich kann's euch doch nicht ausreden! Und das ist mein Onkel Charlie. Ihm fehlt zwar das linke Bein, aber er ist dennoch der allerbeste und allerliebste Onkel, den es auf der Erde gibt."

Die Käuen die ihre Hüte wieder aufgesetzt hatten, verneigten sich tief vor dem Seemann, und ihre Schellen läuteten gar lieblich dabei.

Charlie flößte ihnen Scheu ein, denn er kam ihnen wie ein Riese vor, obwohl er nur mittelgroß war.

Jetzt begriff Charlie auch, warum man diese Menschlein Käuer nannte. Ihre Unterkiefer bewegten sich ununterbrochen, als kauten sie. Charlie gewöhnte sich aber schnell an diese Eigenheit der gastfreundlichen Menschlein und beachtete sie bald überhaupt nicht mehr. „Wie geht es euch, meine lieben Freunde?" fragte Elli.

„Schlecht", erwiderten die Käuer und fingen zu schluchzen an.

Damit die Schellen sie beim Weinen nicht störten, nahmen sie wieder ihre Hüte ab und

legten sie auf die Erde.

„Du hast uns von der tückischen Gingema befreit, und jetzt ist Urfin, ein böserer Zauberer,

an ihre Stelle getreten", klagte der Älteste. „Er hat ein Bärenfell und schreckliche

Holzsoldaten belebt und Prem Kokus, den wir zu unserem Herrscher gewählt hatten,

gestürzt und sogar die Smaragdenstadt erobert."

„Aber er lebt doch weit von hier, warum klagt ihr dann?" fragte Elli.

„Urfin hat einen Statthalter namens Kabr Gwin mit einem Dutzend Holzsoldaten in unser

Land geschickt. Kabr ist ein böser und habgieriger Mann. Er dringt mit seinen Holzköpfen

in unsere Häuser ein und nimmt uns alles fort, was ihm gefällt."

„Ich kenne diesen Kabr Gwin", sagte Kaggi-Karr. „Es ist einer von den Verrätern, die in

Urfins Dienste getreten sind."

„Nehmt euch vor Kabr Gwin in acht, liebe Frau Fee. Wenn er erfährt, daß ihr in unserem Land seid, wird es euch schlimm ergehen", sagte der Älteste der Käuer. ,,Bei den Piraten der südlichen Meere, soll doch Kabr Gwin sich in acht nehmen!" schrie der Seemann zornig. „Er soll uns noch kennenlernen!"

Der zornige Riese sah so furchterregend aus, daß die Käuer an allen Gliedern zu zittern begannen.

„Wir sind zu euch gekommen, um euch von Urfin uni seinen Soldaten zu erlösen", erklärte Elli.

Da freuten sich die Menschlein und begannen schallend zu lachen. Die Schellen an ihren Hüten, die sie in den Händen hielten, läuteten, daß man es weithin hören konnte. Am Fuße der Berge gab es keine Häuser, und Kabr Gwin zeigte sich hier niemals mit seiner Wache. Deshalb beschloß Charlie Black, für die erste Zeit das Lager hier aufzuschlagen.

Er stellte das Zelt mitten in einem wunderschönen, mit Obstbäumen bestandenen Hain auf. Die Käuer hatten noch niemals Zelte gesehen und waren daher sehr erstaunt, als in wenigen Minuten zwischen den Bäumen ein Häuschen entstand. Sie wollten die Wanderer beim Herrichten des Nachtlagers aber nicht stören und verabschiedeten sich. Am nächsten Morgen kamen sie wieder. Sie brachten so viel Essen mit, daß Charlie sie bat, einen großen Teil davon zurückzunehmen. Der Älteste sagte, die frohe Kunde von der Rückkehr der Fee des Tötenden Häuschens habe sich bereits über das ganze Land verbreitet, aber unter den Käuern werde sich I bestimmt niemand finden, der dies Kabr Gwin verraten würde.

Unsere Freunde schickten die lieben Menschlein nach Hause und beratschlagten dann, was weiter zu tun sei. Nach langem Überlegen kamen Charlie, Elli, Kaggi-Karr und Totoschka zu der Einsicht, daß ihre Kräfte für eine weite und gefahrvolle Reise in die Smaragdenstadt noch nicht ausreichten. Sie beschlossen daher, den Tapferen Löwen zu Hilfe zu rufen, der ihnen ein mächtiger Bundesgenosse sein konnte.

Der Löwe in seinem fernen Wald wußte natürlich nicht, in welcher Lage sich seine Freunde befanden. Kaggi-Karr sollte daher zu ihm fliegen, um es ihm mitzuteilen. Unter dem Schutz des Königs der Tiere werde die Reise dann zweifellos viel leichter und ungefährlicher sein.

Der Krähe wurde eingeschärft, daß die Ankunft Ellis und ihrer Gefährten im Wunderland streng geheimgehalten werden müsse und daß außer dem Löwen niemand davon erfahren dürfe.

Die Krähe versprach, das Geheimnis zu hüten.


KAGGI-KARR PLAUDERT DAS GEHEIMNIS AUS

Ohne Zwischenfälle kam die Krähe in den Wald, in dem der Tapfere Löwe herrschte. Als sie ihm von der Gefangennahme des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers erzählte, füllten sich seine Augen mit Tränen, die er mit seiner Schwanzquaste trocknete. Die Mitteilung, daß Elli im Wunderland eingetroffen sei, war ihm ein Trost. Der Löwe beauftragte den Tiger, in seiner Abwesenheit die Staatsgeschäfte zu führen, und machte sich auf den Weg. Kaggi-Karr, die viel schneller war als er, beschloß, einen Abstecher in die Smaragdenstadt zu machen.

Vor allem flog sie zu dem Turm, in dem sich der Scheuch und der Eiserne Holzfäller befanden. Als die beiden die so lange vermißte Botin erblickten, brachen sie in Jubel aus. Kaggi-Karr war so lange fort gewesen, daß sie sie schon für tot hielten und auf das Schlimmste gefaßt waren.

Und da beging Kaggi-Karr einen unverzeihlichen Fehler. Vor lauter Freude über das Wiedersehen mit ihren alten Freunden vergaß sie, daß die Ankunft Ellis im Wunderlande geheimgehalten werden müsse, und plauderte alles aus.

Die Krähe konnte sich nicht enthalten, damit zu prahlen, wie glänzend sie ihren Auftrag ausgeführt habe. Sie habe sich, sagte sie, nicht nur der Hilfe Ellis, sondern auch ihres Onkels Charlie Black versichert, der weit in der Welt herumgekommen sei und sich auf alles verstehe.

Die Freunde umarmten Kaggi-Karr so stürmisch, daß ihr fast der Atem ausging. Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie eine große Dummheit begangen habe, doch war daran nichts mehr zu ändern. Sie beruhigte sich ein wenig, als die Freunde ihr das Wort gaben, das große Geheimnis an niemanden zu verraten. Der Scheuch beschwichtigte sie:

„Verlaß dich auf mein kluges Gehirn. Es weiß, was ein Geheimnis ist und wie es gewahrt werden muß. Übrigens kann auch ich dir eine wichtige Neuigkeit mitteilen: Der Holzfäller hat mich zählen gelehrt und mir alle Grundrechnungsarten mit Zahlen bis zu Tausend beigebracht. Jetzt kann ich solche Rechnungen im Kopf machen. Das hat uns die Langeweile vertrieben, und es wird mir gewiß zustatten kommen, wenn ich wieder auf dem Thron der Smaragdenstadt sitzen werde."

Zerstreut beglückwünschte die Krähe den Scheuch zu diesem Erfolg und flog mit einem bangen Gefühl in die Stadt. Früher konnte man diese schon von weitem im grünen Glanz der Smaragden funkeln sehen, jetzt aber lag sie düster und traurig da.

Die Smaragden waren aus dem Stadttor herausgebrochen und auch von den Türmen des Schlosses entfernt worden. Sogar die gewöhnlichen Kristallsplitter, die in die Wände und das Pflaster eingesprenkelt waren. gab es nicht mehr. Die farbenprächtigen Wasserspiele waren verschwunden; die üppigen Blumenbeete ausgetrocknet, die Anlagen verwelkt. Auf der Schloßmauer, auf der einst Din Gior in funkelndem Panzer gestanden und seinen prächtigen Bart - den Stolz aller Stadtbewohner - gekämmt hatte, stand nun ein klobiger Holzsoldat mit abgeblätterter Farbe auf Brust und Rücken.

Kaggi-Karr, die nach ihrem langen Flug starken Hunger verspürte, suchte vor allen Dingen das Schloß auf, wo sie ihren Freund, den Koch, zu finden hoffte, der einst Goodwin gedient und dann, unter der Herrschaft des Weisen Scheuchs, die Krähe stets freigebig bewirtet hatte. Kaggi-Karr hatte sich nicht geirrt: Baluol, der Koch, konnte sich nach dem Sturz des Scheuchs nicht entschließen, die prächtige Schloßküche mit ihren schmackhaften Gerichten zu verlassen, und war - wenn auch schweren Herzens - in den Dienst des Tyrannen getreten.

Der feiste Baluol freute sich über das Wiedersehen und setzte seiner alten Bekannten einen Haufen Speiseabfälle vor.

Während Kaggi-Karr sie gierig verschlang, erzählte der Koch, der sich in letzter Zeit sehr einsam fühlte, seine Neuigkeiten.

Seit Urfin sich der Stadt bemächtigt hatte, gehe es ihren einst so fröhlichen und sorglosen Einwohnern sehr schlecht. Jetzt bereuen sie es schrecklich, daß sie dem Feind keinen Widerstand geleistet hatten. Aus ihren Herzen ist das letzte bisschen Freude ver­schwunden, der neue Herrscher hat es ihnen durch seine kleinlichen, bösen Kniffe geraubt. Aber auch Urfin hat an der Herrschaft über die Smaragdenstadt keine Freude, fuhr Baluol fort. Beim Auftragen der Speisen habe er gesehen, wie mürrisch sich der Diktator die Schmeicheleien seiner Höflinge anhöre. Es sei klar, daß er sich jetzt nicht weniger einsam fühle als zu der Zeit, wo er noch ein gewöhnlicher Tischler im Lande der Käuer war. Damals hätte er sich die Herzen der Menschen wohl leichter gewinnen können als heute, wo die Leute ihn haßten oder ihm nur aus Eigennutz dienten.

Die Krähe, die sich inzwischen satt gegessen hatte, bedankte sich und nahm von Baluol Abschied. Morgen, sagte sie, wolle sie wiederkommen. Diesmal hatte Kaggi-Karr mit keinem Wort erwähnt, wozu sie die Smaragdenstadt aufgesucht habe. Dann trieb sie sich in der Stadt herum. Bald setzte sie sich auf ein Fensterbrett, bald auf die Schwelle einer offenen Tür und horchte, was die Leute sprachen. Die Einwohner, stellte die Krähe fest, bereuten es, dem Aufruf des Scheuchs nicht gefolgt zu sein, als die Feinde die Stadt belagerten. Jetzt tat es ihnen um die verlorene Freiheit leid, und sie waren bereit, alles für sie zu opfern.

Kaggi-Karr war es aber auch klar, daß Urfin sich verrechnet hatte, als er den Holzfäller und den Scheuch in den hohen Turm verbannte, wo man sie von weit her sehen konnte. Er hatte gedacht, bei ihrem Anblick würden die Städter seine, des Herrschers, Kraft und Großmut zu preisen beginnen. Es kam aber anders. Die Bürger verwünschten seine Tücke und bewunderten den Heldenmut der Gefangenen.

Kaggi-Karr beging jedoch wieder eine Unvorsichtigkeit, als sie dem Scheuch ihre Wahrnehmungen mitteilte.

Diesem stieg nämlich die eigene Tapferkeit zu Kopf, und eine Kampflust überkam ihn, die seine Strohbrust zu sprengen drohte. Vor dem Turm hatten sich ein paar Menschen versammelt. Bei ihrem Anblick steckte der Scheuch seinen Kopf durch die Gitterstäbe und schrie, man solle mehr Volk herbeiholen, denn er wolle eine Rede halten. Die Nachricht verbreitete sich schnell in der Stadt und auf den anliegenden Farmen. Vor dem Turm versammelte sich eine große Menge, und wenn die Wachen keinen Argwohn schöpften, so war das nur dem Umstand zu verdanken, daß ihre Köpfe aus Holz waren.

Der Scheuch hielt eine zündende Rede. Er erinnerte die Einwohner der Smaragdenstadt an ihr schmachvolles Verhalten während des feindlichen Überfalls, rief sie auf, mutig zu sein und den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Dabei vergaß er, was er der Krähe versprochen hatte, und verkündete seinen Zuhörern, daß Elli bereits im Lande der Käuer sei und demnächst ihn und den Eisernen Holzfäller befreien werde. Der Scheuch war so sehr im Gang, daß alle Bemühungen des Holzfällers und der Krähe, seinem Redeschwall ein Ende zu setzen, nichts nützten. Der Strohmann schimpfte fürchterlich und stieß immer heftigere Drohungen gegen Urfin aus. Die Holzköpfe verstanden nicht, was er sagte. Doch da tauchte wie zum Unglück Ruf Bilan auf. Er begriff sofort, daß sich hier eine gute Gelegenheit bot, dem Diktator einen Dienst zu erweisen, wofür dieser ihn gewiß belohnen würde, und befahl seinen Holzsoldaten die Menge auseinanderzujagen.

Dann eilte er in die Stadt und meldete Urfin, daß der Scheuch eine aufrührerische Rede gehalten und die Ankunft Ellis im Wunderland verkündet habe, des Mädchens, das vor einem Jahr die bösen Zauberinnen Gingema und Bastinda vernichtet hatte. Urfin wurde aschfahl im Gesicht, tat aber so, als habe er keine Angst, und befahl: „Steckt den Meuterer für drei Tage in einen unterirdischen Karzer, das Mädchen Elli aber soll festgenommen und in die Smaragdenstadt gebracht werden, damit ich über sie richte!" Als die Soldaten mit ihren Knüppeln die Menge auseinandergejagt hatten, sagte Kaggi-Karr vorwurfsvoll zum Scheuch: „Schau, was du mit deinem klugen Gehirn angerichtet hast!"

Der Scheuch schlug die Augen nieder. Da schwieg auch die Krähe, denn sie wußte ja, daß sie selber an allem schuld war.

Jetzt mußte man sich überlegen, was in dieser Lage zu tun sei. Aber noch bevor die drei einen Entschluß fassen konnten, hatten Holzsoldaten die Turmtreppe erstiegen. Die ersten zwei flogen, von den Fäusten des Eisernen Holzfällers getroffen, die Stiegen hinunter. Dem Riesen war nicht so leicht beizukommen, die Soldaten mußten Verstärkung holen. Als sie den oberen Teil des Aufgangs verstopft hatten, so daß es einfach keinen Platz mehr gab, wohin sie hätten fallen können, drückten sie. mit ihrer Masse den Eisernen Mann an die Wand und banden ihm die Hände.

Der Scheuch wurde in den Karzer geschafft und an einen Nagel an die Wand gehängt. Er lächelte aber nur geringschätzig und begann Rechenaufgaben im Kopf zu lösen. Kaggi-Karr zerhackte mit ihrem Schnabel die Fesseln des Holzfällers und riet ihm, sich ruhig zu verhalten, bis sie Elli herbeigeholt habe.

„Sonst werden sie dich wieder fesseln! Ich fliege nur schnell in das Land der Käuer. Wenn du wüßtest, wie ich's bedauere . . ."

Was sie bedauerte, hatte die Krähe nicht gesagt, aber der Holzfäller verstand. Sie bedauerte, daß sie ihre Zunge nicht im Zaum gehalten und den unberechenbaren Scheuch in Versuchung geführt hatte.


DIE BEGEGNUNG MIT DEM TAPFEREN LÖWEN

Drei Wochen mußte Elli auf die Ankunft des Tapferen Löwen warten. Sie war schon ganz

verzweifelt, als sie plötzlich sein donnerartiges Gebrüll im nahen Wald hörte. Sie lief ihm

entgegen, umschlang seinen mächtigen Hals, auf dem die goldene Kette glänzte, die die

Zwinkerer ihm geschenkt hatten, streichelte seine mächtige Mähne, küßte ihn auf den

rauhen Schnurrbart und auf die großen gelben Augen. Der Löwe streckte sich im Gras hin,

scharrte mit den Vordertatzen die Erde und schnurrte glücklich.

„Ach, Elli, Elli, Elli!" wiederholte er in einem fort. „Wie froh bin ich, dich wiederzusehen!

Was macht's, daß ich mir auf dem weiten Weg die Pfoten zerschunden habe . . ."

Elli blickte auf die Tatzen des Löwen, und ihr Herz verkrampfte sich vor Mitleid.

„Wir werden sie heilen, lieber Löwe! Onkel Charlie hat eine wunderbare Salbe aus Nußöl,

sie wird dir bestimmt helfen... "

Der Seemann begrüßte höflich den Löwen, und dieser schloß ihn sogleich in sein Herz. Aus dem Wald kam Totoschka gelaufen, der auf Vögel Jagd gemacht hatte. Die Begegnung zwischen dem Löwen und Totoschka war sehr herzlich. Die beiden reichten sich die Pfoten, und dann tat der riesige Löwe so, als wolle er das Hündchen fressen, worauf dieses sich den Anschein gab, als habe es schreckliche Angst. Gleich darauf begann es um den Löwen herumzutanzen und versuchte, ihn an der Schwanzquaste zu schnappen. Jetzt tat der Löwe, als habe er Angst: Er zog den Schwanz ein und begann sich im Kreise zu drehen.

Elli lachte, daß ihr Tränen in die Augen traten, und Charlie Black rief:

„Bei meinem Holzbein! Das ist das komischste Schauspiel, das ich jemals gesehen habe!"

„Wo bleibt denn Kaggi-Karr?" fragte Elli. „Ist sie nicht mitgekommen?"

„Nein, ich habe die Reise allein gemacht", erwiderte der Löwe. „Als sie mir deine

Botschaft überbracht hatte, sagte sie, sie müsse noch etwas in der Smaragdenstadt

besorgen."

Der Seemann schüttelte mißmutig den Kopf.

„Was will sie denn dort? Ich fürchte, sie wird wieder was anstellen . . ."

„Aber, Onkel, Kaggi-Karr ist ja ein kluger Vogel", nahm Elli die Krähe in Schutz.

„Klug schon", brummte der Seemann, „aber ihre Prahlsucht . . ."

Charlie schmierte die Pfoten des Löwen mit Nußöl ein und verband sie mit weicher Rinde,

was den Schmerz sofort linderte. Der Tapfere kauerte sich ins Gras, und Elli setzte sich

neben ihn und begann sein Fell zu streicheln.

„Wie war's unterwegs?" fragte das Mädchen ihren großen Freund.

„Ich hatte zwei kleine Unannehmlichkeiten und eine große", sagte der Löwe, mit der Pfote

die goldene Halskette glättend. „Ich mußte zweimal über den Fluß schwimmen, dort, wo

damals das Hochwasser war, und dort, wo uns der Scheuch abhanden kam.

Diese Abenteuer habe ich leicht überstanden. Doch das dritte . . . Ach, wenn du wüßtest!"

Der Löwe verzog das Gesicht und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Erzähl doch!" rief Elli ungeduldig.

„Von wem konnte die dritte Unannehmlichkeit kommen, wenn nicht von den Säbel­zahntigern! Nachdem mir Goodwin aus dem goldenen Tellerchen Mut zu trinken gab, hatte ich vor diesen Ungeheuern keine Angst mehr. Aber ich mußte daran denken, wie ich unversehrt durch ihren Wald komme. Was hätte es auch genutzt, wenn ich wie ein Held im Kampf gefallen wäre, und du, Elli, hättest Wochen und Monate auf mich gewartet? Ich beschloß daher, mich unauffällig durch den Tigerwald zu schleichen. Leise ging ich den Gelben Backsteinweg entlang und träumte nur davon, den gefährlichen Ort - du wirst dich an die Stelle zwischen den Schluchten gewiß noch erinnern - hinter mich zu bringen. Plötzlich hörte ich rechts vor mir ein Schnauben, und als ich den Kopf wandte, funkelten mich zwei glühende Augen aus den Büschen an. Im gleichen Augenblick raschelte es links von mir. Auch dort lauerte der Feind. Ich vergaß meine wunden Pfoten und machte einen Satz, wie ihn wohl noch kein Löwe jemals vollbracht hat. Da sprangen aber auch schon zwei riesige Tiger auf den Weg. Sie wollten mich packen, flogen aber knapp an mir vorbei und prallten aufeinander. Hättet ihr gesehen, wie sie sich rauften! Sie gaben sich wohl gegenseitig die Schuld, daß ihnen die Beute entgangen war . . . Der Wald dröhnte von ihrem Gebrüll, Haarbüschel flogen auf die höchsten Bäume. Ich hatte aber keine Zeit, mich an dem Schauspiel zu ergötzen, und machte, daß ich fortkam. Nun rannte ich, so schnell ich konnte, bis der Tigerwald hinter mir lag. Das war die dritte und größte Unannehmlichkeit, die mir unterwegs zustieß", schloß der Löwe seinen Bericht. Am nächsten Tag kam Kaggi-Karr. Sie sah sehr verstört aus, und Charlie zweifelte nun nicht mehr daran, daß sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten. „Sprich!" sagte er barsch zur Krähe.

Diese wagte es nicht, die Wahrheit zu verheimlichen, und erzählte alles. Die Zuhörer waren sehr bekümmert, als sie erfuhren, daß Urfra über die Ankunft Ellis im Wunderland Bescheid wußte. Als die Krähe das verstimmte Gesicht Ellis sah, sagte sie gequält: „Ja, ich bin an allem schuld! Aber verzeiht mir, Freunde! Ich will alles wiedergutmachen und euch so in die Smaragdenstadt führen, daß Urfins Spione nichts erfahren ..." Charlie und Elli erinnerten sich, daß Kaggi-Karr sie schon einmal - in der Wüste - vor dem sicheren Tod gerettet hatte, und waren ihr nicht böse.

Nun war die Krähe wieder guter Dinge und begann zu erzählen, was sie alles in der Smaragdenstadt gesehen und gehört hatte.


DIE BEFREIUNG DER KÄUER

Der Löwe lag, den Bauch nach oben, im Gras und Ließ sich von Elli die Pfoten salben. Der Seemann ordnete das Gepäck im Rucksack und verstaute Werkzeug, Nägel, Schnüre und was er sonst noch brauchte in seinen Taschen.

Dabei entglitt ihm eine runde, flache Dose, die neben Elli auf die Erde fiel. Das Mädchen, das gerade nach dem Fläschchen Öl langte, trat auf die Dose, und plötzlich schwirrte ein langes glitzerndes Band auf den Löwen zu.

Flink wie alle Tiere des Waldes machte dieser einen gewaltigen Satz zur Seite, ins Gebüsch.

„Was ist mit dir?" rief Elli.

„Eine Schlange! Eine Schlange !" knurrte der Löwe hinter den Büschen und lugte ängstlich nach dem Band, das jetzt unbeweglich im Gras lag. Elli brach in Gelächter aus.

„Mein Lieber, das ist ja das Sandmaß von Onkel Charlie", sagte sie, als sie wieder zu Atem kam. „Na, wie soll ich dir's erklären, es ist ein Stahlband, mit dem man Längen mißt." „Wie, ist es nicht lebendig?" „Natürlich nicht."

Elli nahm das Ende des Bandes in die Hand und hielt es dem Löwen vor die Augen. Der mußte seinen ganzen Willen aufbieten, um nicht Reißaus zu nehmen. „Warum hat es dann gezischt?"

Elli schob das Band in die Dose, drückte auf den Knopf, und wieder flog es zischend heraus. Der Löwe zitterte am ganzen Körper, blieb aber, wo er war. Der Mut, den er von Goodwin bekommen hatte, wirkte!

Es vergingen mehrere Tage. Die Pfoten des Löwen waren verheilt, man konnte endlich aufbrechen.

Unseren Freunden, besonders dem Seemann, verkrampfte sich das Herz bei dem Gedanken, daß das Land der Käuer in der Gewalt des habgierigen Kabr Gwin und seiner Holzsoldaten verbleiben würde.

„Bei allen guten Winden!" rief Charlie, „wir müssen die braven Käuer befreien! Auch dürfen wir nicht vergessen, was die Kriegswissenschaft lehrt, mit der ich mich auf den Meeren vertraut gemacht habe: Du sollst den Feind nicht hinter dir lassen, damit er dir nicht in den Rücken fällt!"

Charlie konnte es natürlich nicht mit allen Holzsoldaten gleichzeitig aufnehmen, denn die Übermacht wäre zu groß gewesen. Nur einzeln war ihnen beizukommen. Aber wie, wo sie doch immer zugweise unter dem Kommando eines rotfratzigen Unteroffiziers marschierten.

Der Seemann beriet sich mit den Käuern und faßte schließlich einen Plan. Ihm war eingefallen, daß er früher das Lasso wie ein Cowboy zu handhaben wußte. Kurz vor Sonnenuntergang meldete sich bei Kabr Gwin, der auf dem Gut von Prem Kokus lebte, ein Käuer und bat um ein Gespräch unter vier Augen.

„Verehrtester Herr Statthalter!" sagte er leise. „Hört uns auch niemand? Ich will Euch

nämlich ein großes Geheimnis verraten!"

„Sprich!"

„Ich habe herausbekommen, daß ein reicher Kaufmann einen Sack mit Gold in seinem

Haus versteckt hält . . ."

Kabr Gwins Augen funkelten gierig.

„Wo wohnt der Kaufmann?"

„Verehrter Herr, für die Anzeige gebührt mir aber der zehnte Teil . . ."

„Den sollst du haben", knurrte Kabr. „Morgen führst du uns in das Haus."

„Verehrter Herr Statthalter, der besagte Kaufmann beabsichtigt, den Schatz heute nacht im

Wald zu vergraben... "

„So? Dann gehen wir gleich hin."

Binnen wenigen Minuten war ein Zug Soldaten zusammengestellt, der sich in folgender Ordnung bewegte: Vornan der Unteroffizier, der den Käuer fest bei der Hand hielt, hinter ihm die Holzköpfe und als letzter der Statthalter.

Nach einer halben Stunde bog der Zug von der Landstraße auf einen schmalen Pfad ab, wo man nur hintereinander gehen konnte, und kam an einen schmalen Fluß, über den ein Baumstamm gelegt war. Der Unteroffizier ließ den Käuer vorangehen. Am anderen Ufer machte der Pfad eine scharfe Biegung nach rechts und fiel dann steil zu einer Wiese ab, die von Bäumen umstanden war.

Obwohl der Baumstamm sehr schlüpfrig war, lief der Käuer schnell hinüber, während der Unteroffizier vorsichtig einen Holzfuß vor den anderen setzte. Als er auf die Wiese kam, war der Käuer verschwunden. Er öffnete schon den Mund, um ihn zu rufen, da schoß aus dem Gebüsch das Lasso hervor, legte sich dem Unteroffizier um den Kopf und riß ihn zu Boden. Der Mann kugelte die Böschung hinab, wobei er seinen Säbel verlor. Im gleichen Augenblick sprangen mehrere Käuer aus den Büschen, packten den Holzkopf und schleppten ihn in den Wald. Damit das Schellengeläut sie nicht verrate, hatten sie vorsorglich ihre Hüte abgenommen. Sie gingen so geschickt zu Werke, daß der Unter­offizier gar nicht dazukam, einen Schrei auszustoßen.

Der Seemann aber hielt bereits ein anderes Lasso bereit, und als der nächste Holzkopf auf der Wiese erschien, wirbelte es durch die Luft und riß ihn nieder. Bald lag auch er gefesselt vor den Käuern.

In zehn Minuten war das Unternehmen beendet. Als der ahnungslose Kabr Gwin über den Baumstamm ging, trat ihm der Seemann entgegen, schaute ihn aus seiner Riesenhöhe spöttisch an und sagte:

„Ihre Stunde hat geschlagen, Herr ehemaliger Statthalter. Geben Sie mir Ihren Dolch, damit Sie sich, Gott behüte, aus Versehen nicht in den Finger schneiden!" Dem Statthalter traten vor Entsetzen die Augen aus den Höhlen. „Holzköpfe! Hilfe! Hilfe!" schrie er gellend.

„Sie können sich das Geschrei ersparen. Ihre Soldaten sind gefangen." Kabr sah, daß jeder Widerstand vergeblich war, und fügte sich in sein Schicksal. Am nächsten Morgen wurde er vor Gericht gestellt. Die Verhandlung fand auf dem Gut von Prem Kokus statt, der wieder zum Herrscher des Landes eingesetzt worden war. Auf dem weiten Hof hatten sich Hunderte Männer und Frauen versammelt.

Manche Käuer waren so erbittert, daß sie die Todesstrafe für den Verräter forderten, andere sprachen sich für lebenslänglichen Kerker aus, wieder andere waren der Ansicht, man solle den ehemaligen Statthalter in ein Bergwerk verbannen, damit er dort Eisenerz grabe.

Charlie bat ums Wort.

„Ich bin anderer Ansicht", begann er ruhig, „wir sollten lieber Kabr Gwin in die Smaragdenstadt zu seinem Herrn Urfin ziehen lassen. Ich schlage vor, wir lassen ihn frei. Mag er allein auf dem Gelben Backsteinweg in die Smaragdenstadt gehen . . ." Kabr Gwin wurde kreideweiß. Entsetzt schrie er:

„Allein durch den Tigerwald? Nein, nein, nein! Lieber will ich im Erzbergwerk Tag und

Nacht arbeiten!"

Die Käuer aber riefen belustigt:

„Aber wir lassen dich doch frei!"

„Damit mich die Säbelzahntiger fressen? . . . Nein, ich will ins Bergwerk!" Die entwaffneten und gefesselten Holzköpfe wurden im Hof von Prem Kokus zu einem Stapel aufgeschichtet und sollten hier so lange bleiben, bis man eine Verwendung für sie finden würde.

Elli und ihre Gefährten aber zogen weiter. Wie vor einem Jahr klapperten die Schuhe des Mädchens auf den gelben Backsteinen der festgestampften Straße; es waren diesmal aber keine Silberschuhe, sondern gewöhnliche Stiefel aus Ziegenleder mit dicken Sohlen. An Ellis Seite schritt wie damals der riesige Löwe, und vor ihnen sprang Totoschka einher. Nur der Scheuch und der Eiserne Holzfäller fehlten. Ihre Stelle hatte der Seemann Charlie eingenommen, auf dessen Schulter die Krähe Kaggi-Karr saß. Ein paar junge kräftige Käuer trugen das Gepäck unserer Freunde.


WIE DIE SÄBELZAHNTIGER VERTRIEBEN WURDEN

Die Käuer begleiteten die Wanderer bis an die Landesgrenze. Als sie die letzten Farmen hinter sich hatten und zu beiden Seiten des Weges nur noch finsterer Wald stand, setzten die Käuer das Gepäck ab und verneigten sich tief.

„Lebe wohl, liebe Frau Fee des Tötenden Häuschens!" sagten sie. „Sei uns nicht böse, daß

wir nicht weiter mitgehen, aber uns graust vor dem unheimlichen Wald."

Dabei fingen sie bitterlich zu schluchzen an. Damit die Schellen sie dabei nicht störten,

hatten sie wieder die Hüte abgenommen und auf die Erde gelegt.

„Lebt wohl, teure Freunde", erwiderte ihnen Elli. „Und weint nicht mehr, denn ihr seid

jetzt freie Menschen, und ich hoffe, daß ihr's immer bleiben werdet!"

„Richtig, richtig! Wir hätten's fast vergessen!" riefen die Käuer und fingen zu lachen an. Es

war einfach unfaßbar, wie schnell die Stimmung bei diesen Menschlein wechselte.

Als die winzigen Gestalten hinter einer Biegung verschwanden und das liebliche Geläute

ihrer Schellen verhallt war, gingen die Wanderer weiter.

Bald gewahrten sie in einer Schneise neben der Straße eine Hütte.

„Das ist ja das Haus des Eisernen Holzfällers!" rief Elli freudig aus. „Dort hatten wir

übernachtet, ich und der Scheuch, und am nächsten Morgen trafen wir den Holzfäller. Der

Arme stand unbeweglich wie eine Statue unter einem Baum und stöhnte. Erinnerst du dich

noch, Totoschka?"

„Ja", erwiderte das Hündchen mürrisch. „Ich hab mir damals einen Zahn ausgebrochen, als ich ihn ins Bein beiß en wollte. Freilich hätte ich es nicht tun sollen, der Holzfäller war doch ein Prachtkerl. Aber damals wußte ich ja gar nicht, daß er aus Eisen war, und hielt es für meine Pflicht, Elli zu beschützen."

Es wurde Abend, und die Wanderer beschlossen, in der Hütte zu übernachten. Dem Seemann war die Hütte allerdings etwas zu klein, und so kam es, daß seine Beine aus der offenen Tür hinausragten. Am nächsten Abend sagte der Löwe:

„Bald werden wir in meinem heimatlichen Wald sein, wo ich Elli zum erstenmal erblickte. Dort werden wir auf prächtigem weichem Moos ausruhen, unter prächtigen hohen Bäumen neben einem prächtigen tiefen Teich, in dem prächtige Frösche leben, die die lautesten Stimmen im ganzen Wunderland haben."

„Merkwürdig", sagte Totoschka spöttisch, „wie hast du's nur über dich gebracht, einen so prächtigen Ort zu verlassen und in einen fremden Wald zu ziehen?" „Was sollte ich denn tun, wo mich doch die Staatsgeschäfte riefen?" seufzte der Löwe und griff sich mit der Tatze nachdenklich an den Hals, wo die goldene Kette hing. „Man hat mich doch zum König erwählt..."

Zwei Tage später kamen sie zu dem Wald, in dem die Säbelzahntiger hausten. Dumpfes Gebrüll schlug an ihr Ohr, das sich wie ferner Donner anhörte. Kalte Schauer liefen ihnen über die Rücken.

Charlie Black befahl, haltzumachen.

„Wir müssen Vorkehrungen treffen", sagte er.

„Was willst du tun, Onkel Charlie?" wollte Elli wissen.

„Du hast wohl wieder vergessen, daß wir ein Zaubertuch mitführen", erwiderte der Seemann.

„Ich versteh nicht, was es uns helfen kann!" „Oh, das Tuch kann alles!"

Der Seemann nahm das Tuch aus dem Sack, blies es ein wenig auf und breitete es am

Straßenrand aus. Dann nahm er aus einer der vielen Taschen seines Rucksacks ein

Fläschchen Farbe und einen Pinsel und begann das Tuch zu bemalen.

Er malte einen gräßlichen Tierkopf mit riesiger Mähne, ungeheuren Augen und einem

schrecklichen Rachen, aus dem riesige scharfe Zähne ragten.

Als die Farbe trocken war, wandte Charlie das Tuch um und malte das gleiche auf die

Rückseite. Seine Phantasie steigerte sich, und er setzte dem Ungetüm noch ein Paar riesige

Hörner auf.

Dann fällte er zwei junge Bäumchen, hieb ihnen die Zweige ab und band das Tuch wie ein Transparent an.

Er spitzte die beiden Bäumchen unten zu und stieß sie am Wegrand in die weiche Erde. Jetzt sah das gemalte Ungeheuer wie lebendig aus. Das Tuch war nicht straff gespannt, und wenn der Wind wehte, konnte man meinen, das Tier rolle die Augen und blecke die Zähne. Das Ungeheuer war so schrecklich anzusehen, daß selbst der Löwe Angst bekam. Totoschka kroch winselnd unter den Bauch seines großen Freundes, und Kaggi-Karr kniff vor Schreck die Augen zu.

„Bei allen Hexen und Zauberern! Ihr sollt noch was anderes zu sehen bekommen", rief der Seemann schmunzelnd.

Als die Nacht hereinbrach, begann der gemalte Kopf zu leuchten, und mit zunehmender Dunkelheit wurde er immer unheimlicher. Es war, als ob die Augen Funken sprühten und der Rachen Flammen spie, Blitze umzuckten die Mähne und die Hörner des Ungeheuers. „Onkel Charlie, was ist das?" fragte Elli entsetzt.

„Keine Angst, Kindchen, das ist alles sehr einfach. Die Farbe enthält Phosphor, der im Dunkeln leuchtet."

Elli beruhigte sich. Doch der Löwe, Totoschka und Kaggi-Karr hatten nichts begriffen, und das Tier schien ihnen nach wie vor ungeheuerlich.

„Ich glaube, das Bildchen wird uns die Säbelzahntiger vom Leib halten", sagte Charlie. „Und jetzt laßt uns weitergehen."

Er entnahm seinem Rucksack zwei Hörner aus biegsamer Baumrinde und reichte eines Elli mit den Worten:

„Blase aus Leibeskräften, sobald wir in den Tigerwald kommen!" Charlie Black ging voran, Elli hinter ihm. Sie hielten die Stangen in der Rechten, so daß der eine Kopf auf dem Tuch nach rechts, der andere nach links blickte. Die Hörner, in die Charlie und Elli bliesen, machten einen schrecklichen Lärm. Es war, wie wenn ein Schakal bellte, eine Hyäne lachte, ein Nashorn röhrte und andere wilde Tiere heulten. Zu diesen furchterregenden Lauten gesellte sich das Brüllen des Löwen, das Krächzen der Krähe und das Winseln des Hündchens.

Die Gesellschaft lärmte so entsetzlich und das funkensprühende Ungeheuer blickte so grimmig drein, daß die Säbelzahntiger, die am Wegrand in den Büschen lauerten, an allen Gliedern zu zittern begannen, die Schwänze einzogen und ins Dickicht flüchteten. Das nächtliche Unternehmen war von Erfolg gekrönt, und am Morgen erreichten unsere Wanderer den reißenden Fluß, in dem einst der Scheuch fast umgekommen wäre. Hier machten die Erschöpften halt, nahmen etwas zu sich und legten sich hin. Sie waren so müde, daß sie nicht einmal das Zelt auf schlugen.


NEUE SORGEN

Sie schliefen lange und erwachten erst am Nachmittag. Es war Zeit, an die Überfahrt zu denken. Da der Löwe viel schwerer war als Charlie, Elli und Totoschka zusammen, umrahmte der Seemann das aufgeblasene Zaubertuch mit vier dicken Baumstämmen, und die Überfahrt ging glatt vonstatten.

Während Charlie das „Floß" auseinandernahm und das Tuch zum Trocknen ausbreitete, schaute sich das Mädchen die Gegend an.

Ein bekannter Ort! Unten am Fluß zog sich das tückische rote Mohnfeld hin, in dem Elli, der Löwe und Totoschka seinerzeit aus ihrem tiefen Schlaf fast nicht mehr erwacht wären. Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller hatten damals das Hündchen und seine Herrin auf den Armen hinausgetragen. Der Löwe war ihnen aber zu schwer gewesen, und deshalb zimmerten sie für ihn einen Karren, den Tausende Mäuschen schleppten. Sie waren von der. Mäusekönigin herbeigerufen worden, die der Holzfäller einst aus den Fängen des Wilden Katers befreit hatte.

Elli lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie die Mäuschen sich damals anstrengen mußten, und griff nach dem Pfeifchen, das an ihrem Halse hing und das ihr die Mäusekönigin Ramina vor einem Jahr an der gleichen Stelle mit den Worten geschenkt hatte, sie brauche nur hineinzublasen, und im gleichen Augenblick werde sie, die Königin, vor ihr erscheinen. Einmal hatte Elli das Pfeifchen benutzt, als sie sich nach dem Sieg über Bastinda auf dem Rückweg in die Smaragdenstadt verirrt hatte. Ramina, die gleichfalls zur Zunft der Feen gehörte, war damals vor Elli erschienen und hatte ihr geholfen. Später, in Kansas, hatte Elli oft in das Pfeifchen geblasen, aber niemand kam dort auf den Ruf herbeigeeilt, was übrigens kein Wunder war, denn in Kansas geschahen eben keine Wunder.

,Ich möchte gern wissen, ob das Pfeifchen seine Zauberkraft bewahrt haf, dachte Elli. Die Überfahrt über den Fluß erfolgte am Nachmittag. Dann hielten die Wanderer Rat, ob sie gleich weitergehen oder den Abend abwarten sollten. Sie beschlossen, nachts weiterzuziehen, und zwar aus folgenden Gründen: Obwohl die Holzsoldaten bei Nacht ebenso gut sahen wie bei Tage, gewährte die Nacht doch einigen Schutz, zumal, wenn man Seitenwege benutzte. Während die Gesellschaft in einem dichten Wald am Ufer des Flusses ausruhte, machte sich Kaggi-Karr auf, die Umgebung auszukundschaften. Sie war lange weg und kehrte müde, aber gut gelaunt zurück. Zehn Meilen im Umkreis hatte sie weder auf dem Weg noch auf den Farmen einen Holzsoldaten gesehen. Also werde man diese Nacht ungehindert den Gelben Backsteinweg entlang gehen können, folgerte sie.

Der Seemann, der in militärischen Dingen gewitzt war, nahm jedoch an, daß der tückische Urfin tagsüber das Land unbewacht lasse, dafür aber nachts Späher aussende. Deshalb schickte Charlie, als sie ihre Sachen eingepackt hatten, den Löwen voraus, denn dieser konnte ja gut im Finstern sehen.

Der Löwe schlich lautlos auf seinen samtenen Pfoten mit eingezogenen Krallen dahin und spähte aufmerksam nach allen Seiten. Hinter ihm lief Totoschka, der mit seiner feinen Nase in die nächtliche Luft schnupperte.

Kaggi-Karr, die auf der Schulter des Seemanns saß, versank bald in einen tiefen Schlaf, und Elli maßte sie auf ihre Arme nehmen. Bald aber fielen auch ihr vor Müdigkeit die Augen zu, doch sie kämpfte, sich an Charlies Hand haltend, gegen den Schlaf an und schritt tapfer weiter.

Nach mehreren Wegmeilen stutzte der Löwe plötzlich. Totoschka reckte den Kopf und

begann zu schnuppern.

„Ich rieche Farbe und Holz", flüsterte er.

Augenblicklich war Elli hellwach und schmiegte sich ängstlich an Onkel Charlie. Sie mußten nun herausfinden, wie viele Holzsoldaten sich in der Nähe befanden. Waren es zwei oder drei, so konnte man es mit ihnen aufnehmen, waren es aber viele, so mußte man das Feld räumen.

Totoschka drückte sich an die Erde, daß sein schwarzes Fell mit ihr verschmolz, und robbte nach vorn. Wenige Minuten später war er wieder da.

„Dort stehen zwei Soldaten", sagte er, „und irgendeine dritte Figur, die ihnen ähnlich sieht und doch anders ist als sie. Der Mann ist auch aus Holz, nur ist er dünner, und seine Füße sind lang und krumm, während die Arme wie Spinnenbeine aussehen." „Pfui, wie ekelhaft", flüsterte Elli. Totoschka aber fuhr fort:

„Der Mann hat grüne Augen und große, abstehende Ohren. Wahrscheinlich hört er besser als eine Katze. Ich bewegte mich unhörbar, und doch spitzte er sofort die Ohren. Dann wandte er sich ab, und ich schlich mich eilends davon." Kaggi-Karr sagte, das könne niemand anders als ein Polizeimann sein. Charlie überlegte.

„Wir müssen uns in acht nehmen", sagte er. „Mit den Tölpeln von Soldaten sind wir leicht fertig geworden, den Polizisten aber werden wir schwerlich in unsere Hand bekommen. Er wird uns davonlaufen, Alarm schlagen und die ganze Meute auf uns hetzen." Zum Glück gab es in der Nähe dichtes Gestrüpp, das gute Deckung bot. Als unsere Wanderer in die Büsche eindrangen, rissen sie sich an den vielen Stacheln Löcher in die Kleider. Charlie machte sich mit seiner Säge einen Platz für das Zelt frei, und bald versanken der Seemann und Elli in tiefen Schlaf, während der Löwe und Totoschka Wache hielten.


DIE ABENTEUER IN DER HÖHLE

Am Morgen flog Kaggi-Karr die Umgebung auszukundschaften. Zum Mittag war sie wieder zurück. „So ein Pech: Auf allen Wegen stehen Polizisten."

„Was fangen wir nun an?" fragte Elli erschrocken. „Wir können unsere Freunde doch nicht im Stich lassen!" Da sagte Kaggi-Karr:

„In meiner Kindheit hörte ich einmal von meinem Großvater, daß es einen unterirdischen Gang zum Turm gibt. Dieser Gang, sagte er, wird aber schon lange nicht mehr benutzt, weil dort Ungeheuer hausen . . ."

„Ich habe nur vor den Polizisten Angst", rief Elli. „Wenn wir mit den Säbelzahntigern fertig geworden sind, so werden wir uns doch nicht vor unterirdischen Ungeheuern fürchten!"

..Aber wie finden wir diesen Gang?" fragte der Seemann.

„Ich hab eine Idee", rief die Krähe. „Elli soll mit ihrer Zauberpfeife Ramina rufen - die Mäuse treiben sich doch überall herum, sie werden bestimmt auch den unterirdischen Gang kennen."

„Und wenn das Pfeifchen nicht mehr wirkt?" fragte Elli. „Versuchen wir's doch!" schlug Totoschka vor.

Pochenden Herzens blies Elli in die Silberpfeife.

Da raschelte es auf einmal im Gras, und hervor trat Ramina, eine winzige goldene Krone auf dem Kopf.

Im Wunderland hatte das Pfeifchen seine Zauberkraft zurückbekommen. Totoschka wollte sich aus Gewohnheit auf die Maus stürzen, doch Elli packte ihn rechtzeitig am Fell. Die Mäusekönigin sagte:

„Guten Tag, liebe Fee. Dieses kleine schwarze. Tier mag uns Mäuse noch immer nicht?" „Oh. Eure Majestät!" rief Elli aus. „Verzeiht, daß ich Euch wieder belästige . . . Ich wollte Euch um Beistand bitten. In der Nähe soll sich ein unterirdischer Gang zum Kerkerturm befinden. Wollt Ihr uns helfen, ihn zu finden?"

„Warum nicht? Das ist sicher leichter, als einen Löwen aus dem Mohnfeld zu schleppen", erwiderte Ramina.

Sie klatschte in die Pfoten, und im Nu standen mehrere Hofdamen vor ihr. „Ruft meine Untertanen, die in dieser Gegend leben", befahl die Königin. „Zu Befehl, Eure Majestät!"

Die Hofdamen verschwanden, und gleich darauf waren

unzählige kleine, mittelgroße und ganz große Mäuse zur Stelle. Drei junge Mäuse trugen ein Fikusblatt, auf dem ihre Urgroßmutter lag.

Auf Befehl der Königin stoben die Mäuse wieder auseinander, und nur die Alte blieb da. „Ihr braucht Ruhe, Großmütterchen", sagte die Königin. „Ihr habt in Eurem Leben ohnehin viel gearbeitet."

„Ja, ich hab in meinem Leben viel und gut gearbeitet", murmelte die Alte mit zahnlosem Mund. „Wieviel feinen Käse, wie viele fette Würste hab ich zernagt! Wie viele Katzen hab ich genarrt, wie viele Mäuschen in meiner schönen Höhle großgezogen!"

Die Alte schloß die Augen und versank in einen wohltuenden Schlaf.

„Liebe Schwester", sagte die Königin zu Elli. „Euer Entschluß, den unterirdischen Gang zu

benutzen, ist richtig. Ihr müßt aber mit einer großen Gefahr rechnen."

„Ihr meint die Ungeheuer, die dort hausen?" fragte das Mädchen.

„Von Ungeheuern ist mir nichts bekannt. Aber unter der Erde befindet sich das Land der

Erzgräber."

„Ein Land von Erzgräbern unter der Erde?" wunderte sich Elli. „Wie ist das möglich?"

„Im Wunderland ist alles möglich", erwiderte Ramina.

„Sind die Erzgräber böse Leute?" fragte das Mädchen ängstlich.

„Wie man's nimmt ... Sie tun niemandem etwas zuleide. Aber sie dulden es nicht, daß ein

Fremder sie beobachtet, geschweige denn, daß er sich in ihre Angelegenheiten einmischt.

Dann können sie sehr gefährlich werden. Falls ihr ihnen begegnet, hütet euch, sie zu

erzürnen!"

„Warum nennt man sie denn Erzgräber?"

„Weil sie allerlei Erze ausgraben und aus ihnen Metall schmelzen. Übrigens ist das Land nicht nur an Metallen reich, sondern auch mit Smaragden gesegnet." „Gibt es dort auch eine Smaragdenstadt?"

„Nein. Sie tauschen ihre Smaragden und ihr Metall gegen Korn, Früchte und andere Nahrungsmittel der oberirdischen Bewohner ein. Sie haben auch Goodwin die Smaragden gegeben, freilich mußte er nicht wenig dafür bezahlen. Er geizte aber auch nicht, als er seine herrliche Stadt aufbaute."

„Dann müssen die Erzgräber wohl ab und zu an die Oberfläche steigen?"

„Ihre Augen vertragen das Sonnenlicht nicht, und das Tauschgeschäft findet nur nachts

statt, vor dem Eingang

zu ihrem Land."' Elli wollte noch mehr über das Leben der Erzgräber erfahren, konnte aber nicht weiterfragen, denn die Mäuse hatten inzwischen die Umgebung abgesucht und kehrten nun zurück. Sie waren sichtlich verlegen, denn keine einzige hatte den unterirdischen Gang entdecken können.

„Ich muß mich euretwegen schämen", sagte die Königin mißmutig. „Soll ich mich vielleicht selber auf die Suche begeben?"

„O nein, nein!" piepsten die Mäuse im Chor. „Wir wollen es noch einmal versuchen, und dann . . ."

„Halt, Kinder!" rief da die alte Maus. „Als ich noch jung war, entdeckte ich einmal in einer mit Gestrüpp bewachsenen Schlucht eine Öffnung. Es sind vielleicht fünfzehntausend Schritt von hier, wenn man nach Osten geht. Sucht ihr etwa diese Öffnung?" „O gewiß, es kann ja keine andere sein", rief Elli händeklatschend. „Habt Dank, Großmütterchen!" Da sprach die Mäusekönigin würdevoll:

„Geht in die genannte Richtung, liebe Schwester. Sollte es nicht die gewünschte Öffnung sein, so ruft mich wieder."

Im Nu verschwanden die Mäuse, worüber Totoschka sehr enttäuscht war, denn er hatte sich schon lebhaft vorgestellt, wie er sich auf sie stürzen und ein heilloses Durcheinander anrichten werde.

Nun lief er voran, um Ausschau zu halten. Als er sich versichert hatte, daß kein Feind in der Nähe war, kamen auch die anderen nach.

Sie hatten genau fünfzehntausend Mäuseschritte gemessen, da sahen sie eine Schlucht vor sich, in der sie auch die Öffnung fanden. Modergeruch schlug ihnen entgegen, als sie näher traten.

„Da ist ja die Öffnung!" rief Elli.

Totoschka schnupperte und sagte dann besorgt:

„Mir gefallen die Gerüche nicht, die aus diesem Loch kommen."

Der Löwe begann mit seinen mächtigen Tatzen die Öffnung zu erweitern. Der einbeinige

Seemann fällte eine harzige junge Kiefer, von der er etwa zwei Dutzend Kienspäne für

Fackeln abspaltete.

Nun betraten sie vorsichtig den unterirdischen Gang. Als erster ging der Löwe, auf dessen Kopf die Krähe saß. Ihm folgte Elli mit Totoschka auf den Armen. Als letzter ging Charlie, eine brennende Fackel in der erhobenen Hand.

In dem feuchten dunklen Gang war allem Anschein nach schon seit Jahrzehnten niemand gewesen. Die dicken Balken, die die Decke und die Wände stützten, hatten sich in den vielen Jahren mit dichtem grünem Moos bedeckt. In den Vertiefungen auf dem Boden hatten sich Lachen gebildet, in denen ekelhafte Schnecken herumkrochen. Vor jeder Lache setzte sich Elli auf den Rücken des Löwen und ließ sich hinübertragen. Die Luft wurde immer dumpfer.

Dann ging es steil abwärts, und weiter waren sogar Stufen in den Boden gehauen, die fast senkrecht hinabführten.

Plötzlich tat sich eine riesige Höhle auf. Sie war so groß, daß ihr Ende nicht zu sehen war. Elli drückte sich ängstlich an den Löwen. „Wie schrecklich", hauchte sie. Die Krähe flog voran.

Charlie Black zündete eine zweite Fackel an und reichte sie Elli. Er ging langsam, den Boden mit einem Stock abtastend, voran.

Die Schar hatte etwa tausend Schritte gemacht und war an vielen Seitenstollen vorbeigekommen, als Kaggi-Karr kreischend umkehrte. „Ein Ungeheuer!" schrie sie.

Im Fackelschein konnte man ein riesiges Tier aus einer Öffnung in der Felswand kriechen sehen. Es hatte einen runden Rumpf, der mit dichtem weißem Haar bedeckt war, und sechs kurze, dicke Füße, mit langen Krallen. Ein fleischiger, runder Kopf saß auf einem kurzen Hals, und der weit aufgesperrte Rachen zeigte zahllose spitze Zähne. „Ein Sechsfüßer!" schrie Elli und sprang zur Seite.

Das Merkwürdigste an diesem Tier waren seine gewaltigen weißen Augen, in denen sich der rote Schein der Fackel widerspiegelte. Allem Anschein nach waren die an die Finsternis gewöhnten Augen vom plötzlichen Fackellicht geblendet, so daß das Tier sich nach seinem Spürsinn orientieren mußte. Es stand auf seinen massigen Füßen und schnupperte mit großen geblähten Nüstern. Vom unbekannten Geruch lebender Wesen gereizt, ließ es ein heiseres Schnauben hören, das der Löwe durch ein Gebrüll erwiderte, dessen Echo vom Gewölbe hundertfach zurückgeworfen wurde. „Laßt mich ran!" schrie der Löwe. „Ich will ihm die überflüssigen Beine ausreißen!"

Er machte einen Satz und prallte mit ungeheurer Wucht gegen die Flanke des Sechsfüßers. Der Löwe hatte den Feind umwerfen und ihm mit den Krallen den Hals zerreißen wollen, doch das Ungeheuer stand unerschütterlich wie ein Fels auf seinen sechs dicken Beinen, und während der Löwe rücklings zu Boden stürzte, biß ihn der Sechsfüßer mit einer Behendigkeit, die man dieser Fleischmasse niemals zugetraut hätte, in die Schulter. Der König der Tiere erkannte, daß er es mit einem gefährlichen Feind zu tun hatte, und änderte seine Taktik. Er bemühte sich, dem Sechsfüßer in den Rücken zu fallen, doch dieser wandte ihm in einem fort den Kopf zu. Sicherlich besaß er einen feinen Spürsinn oder ein ausgezeichnetes Gehör.

Charlie dachte angestrengt nach, wie er dem Freund helfen sollte, da fiel ihm das Lasso ein, das an seinem Rucksack hing.

Schnell reichte er Elli die Fackel und rief: „Leuchte mal, Kindchen!"

Da trat etwas Sonderbares ein. Hatte Elli noch vor einer Sekunde mit den Zähnen

geklappert, so wich jetzt, da sie einen wichtigen Auftrag erhalten hatte, jede Furcht von ihr,

und sie dachte nur noch daran, daß die Fackeln nicht verlöschen dürfen.

Sonst wäre ja der Sechsfüßer, der an die unterirdische Finsternis gewöhnt war, im Vorteil!

Im nächsten Augenblick schwirrte das Lasso durch die Luft und legte sich dem Ungeheuer

um den Hals. Charlie zog das Seil an, ließ es aber mit einer Verwünschung gleich wieder

los. Das Tier stand wie ein Fels da und war nicht von der Stelle zubewegen.

Das alles hatte sich sekundenschnell abgespielt. Der Löwe kreiste noch um den Sechs-

füßer, bemüht, ihm in den Rücken zu fallen, als Kaggi-Karr eingriff. Sie flog auf den Kopf

des Ungeheuers und begann mit ihrem Schnabel auf ihn einzuhacken. Vor Schmerz vergaß

der Sechsfüßer jede Vorsicht und versuchte, den kleinen, aber dreisten Feind

abzuschütteln.

Der Löwe nutzte die Gelegenheit, sprang dem Gegner auf den Rücken und hieb ihm die Krallen in den Nacken. Die Haut des Tieres war aber so dick, daß die Krallen des Löwen an ihr abglitten. Büschel weißer Wolle flogen auf, wirbelten in der Luft herum und verklebten dem Löwen die Augen.

Unvermittelt warf sich das Ungeheuer auf den Rücken und hätte den Löwen fast erdrückt, wäre er nicht rechtzeitig abgesprungen.

Schnaubend richtete sich der Sechsfüßer wieder auf, und der Kampf begann von neuem. Das Ungeheuer schien unverwundbar. Zwar hätten unsere Freunde sich davonmachen können, doch taten sie es nicht, weil das wütende Tier ihnen zweifellos nachgerannt wäre. Elli, die beobachtet hatte, daß der Sechsfüßer seinen Kopf ständig zum Löwen hin drehte, sprang von hinten auf das Ungeheuer zu und stieß ihm ihre brennenden Fackeln in die Flanken. Der dichte Pelz fing sofort Feuer, ein Geruch verbrannten Horns verbreitete sich in der Luft. Mit furchtbarem Gebrüll, das sich wie Donnergrollen anhörte, nahm der Sechsfüßer Reißaus.

Der unerträgliche Schmerz trieb ihn zu größter Eile an, er lief, mit den dicken Beinen um sich schlagend, in das Dunkel des Ganges, während unsere Wanderer schnell in entgegengesetzter Richtung zurückwichen. Trotz aller Eile vergaß der Seemann jedoch das Lasso nicht, das von dem Hals des Sechsfüßers gerutscht war. Es sollte den Freunden, wie wir weitersehen werden, noch gute Dienste leisten.


IM LANDE DER UNTERIRDISCHEN ERZGRÄBER

Die Wanderer verließen eilig den Ort. Bald wurde die Höhle enger und ging in einen aufwärtsstrebenden Stollen über. Hier würden sie mit einem Ungeheuer gewiß nicht so leicht fertig werden, dachte Charlie besorgt. Da die Krähe aber ruhig voranflog und auch Totoschka keinen Feind zu wittern schien, beruhigte er sich. Dann wurde der Stollen wieder breiter und mündete schließlich in einen weiten Platz. „Onkel Charlie, laß uns ein bißchen ausruhen, ich bin so müde", bat Elli den Seemann. Der Löwe legte sich hin, und das Mädchen machte es sich auf seiner breiten Flanke bequem. Als es f ast eingeschlafen war, begann Totoschka, der auf dem Platz geschnüffelt hatte, plötzlich zu knurren.

Seit das Hündchen im Wunderland war, hatte es nur selten solche Laute von sich gegeben. Totoschka zog es hier sichtlich vor, wie ein Mensch zu sprechen, und wenn er jetzt knurrte, so hatte das gewiß seinen guten Grund. Elli sprang auf „Totoschka, was ist los?"

Das Hündchen stand an der Wand, in der etwa drei Fuß über dem Boden ein rundes Loch klaffte, und reckte den Kopf. Das Fell auf seinem Rücken sträubte sich, allem Anschein nach witterte Totoschka Gefahr.

Elli lief auf das Loch zu, schaute hinein und war verblüfft über den Anblick, der sich ihr bot. Ihr war, als stünde sie auf dem Gipfel eines riesigen Berges, zu dessen Füßen sich ein großes Land ausbreitete. In unermeßlicher Tiefe waren Wiesen zu sehen und dahinter, am Ufer eines großen Sees, eine Stadt.

In der Ferne zogen sich bewaldete Hügel hin, die sich in goldenem Dunst verloren. Elli wurde es schwindlig, als ob sie aus gewaltiger Höhe abstürze, und mit einem lauten Schrei sprang sie von der Öffnung zurück. „Onkel Charlie, das Land der unterirdischen Erzgräber!"

„Was?" Der Seemann erhob sich, hinkte zur Öffnung, warf einen Blick hinein und pfiff leise durch die Zähne. „Donnerwetter! Die Mäusekönigin hat die Wahrheit gesagt!" Dieser Anblick ließ ihn alles vergessen - die Müdigkeit, den eben ausgetragenen Kampf, den Scheuch und den Holzfäller, die in ihrem Kerker schmachteten . . . Charlie holte sein Fernrohr hervor.

„Bei allen Eisbergen der Polarmeere!" rief er. „Das ist ja unglaublich!"

Das Rohr, durch das der Seemann und seine Nichte abwechselnd blickten, ließ sie immer

neue Einzelheiten des herrlichen Bildes erkennen.

Eine riesige Höhle, die sich Dutzende Meilen in die Tiefe und in die Breite zog. Unter ihrer Decke rauchten goldene Wolken, von denen wohl das milde Licht herrührte, in das die ganze Höhle getaucht war und das an einen Sonnenuntergang erinnerte. Das Bild war sehr schön, aber eine Wehmut ging davon aus, wie sie Menschen manchmal im Herbst beim Anblick der welkenden Natur überkommt. Haine und Wiesen zeigten keine Spur von Grün; sondern nur goldgelbe, rosa und dunkelrote Farben.

Am Ufer des Sees war eine Stadt zu sehen. Eine hohe Festungsmauer umgab sie, mit Türmen an den Ecken und über den Toren. In der Mitte ragte ein großes rundes Schloß empor, dessen Dach in allen nur erdenklichen Farben schillerte.

„Ein sonderbares Dach!" sagte der Seemann. „Und dort, neben der Mauer, das sieht ja wie

eine Fabrik aus! Auch sehe ich hart am Ufer ein riesige s Rad, es pumpt wahrscheinlich

Wasser in das Fabrikhaus. Das Wasser treibt wohl die Maschinen an. Doch welche Kraft

setzt denn das Rad in Bewegung? Ich kann's mir nicht erklären . . . Schau mal hin, Elli, du

hast ja bessere Augen als ich."

Elli richtete das Fernrohr auf das Rad und wußte lachen.

„Die haben ja den Sechsfüßer eingespannt, ha, ha, ha! Er dreht das Rad wie ein

Eichhörnchen!"

Der Seemann setzte das Rohr ans Auge und fing gleichfalls zu lachen an. „Das haben sich die Erzgräber famos ausgedacht, ha, ha, ha! Sieh nur, wie er auf die Schaufeln tritt, als ob es Stufen wären, die aus dem Wasser herausführten! Was es nicht alles gibt!"

Der Seemann war über die Klugheit, mit der die Höhlenbewohner die Kraft und das Gewicht des gewaltigen Sechsfüßers auszunutzen wußten, begeistert. „Ich möchte gerne wissen, womit sie das Ungeheuer füttern!" „Vielleicht mit Fisch?" meinte Elli.

Beide begannen zu raten, wie es den Erzgräbern gelungen sein mochte, das furchtbare Tier zu zähmen. Dabei richteten sie wieder ihr Fernrohr auf ,die Wiesen mit den roten und gelben Gräsern und auf die fernen braunen Hügel . . .

Der Löwe, Totoschka und Kaggi-Karr waren neugierig, was Charlie und Elli in solche Aufregung versetzt hatte, und die beiden mußten ihnen den Platz an der Öffnung abtreten. Auf den Löwen machte das Bild keinen besonderen Eindruck.

Totoschka jedoch begann vor Erregung zu zittern, als er durch das Loch blickte, er knurrte,

kläffte und konnte sich lange Zeit nicht beruhigen. Kaggi-Karr erbot sich, in das

geheimnisvolle Land auf Kundschaft zu fliegen. Bei der Rückkehr, sagte sie,

werde sie den Freunden ihre Beobachtungen haargenau erzählen. Doch da gewahrte sie

unter den Wolken einen dunklen Punkt, der schnell näher kam, und sie gab ihre Absicht

auf, was sehr vernünftig war, wie sich gleich herausstellen sollte.

Elli, die die Krähe am Fenster abgelöst hatte, schrie auf. Mit bloßem Auge erkannte sie ein

Ungeheuer, das an eine tausendfach vergrößerte Eidechse erinnerte und geradewegs auf sie

zuflog.

Der Drache schwang zwei riesige Flügel, sein gewaltiger Rachen war weit aufgesperrt, zwischen den langen spitzen Zähnen zuckte eine feuerrote Zunge, die gelben tellergroßem Augen waren von den Lidern halb verdeckt, der Rücken war schwarz, und unter dem mit schmutziggelben Schuppen bedeckten Bauch ragten zwei mächtige Tatzen mit scharfen Krallen. Ein furchterregender und abscheulicher Anblick! Das Erstaunlichste aber war, daß auf dem Rücken des Tieres ein Mann saß. „Bei allen Wasserfällen der Welt!" sagte der Seemann leise. „Diese Erzgräber müssen aber tüchtige Kerle sein!

Wie haben sie es nur fertiggebracht, den Sechsfüßer und dieses niedliche Vöglein zu zähmen?"

Der Mann auf dem Drachen war mit einem braunen Wams und einem Spitzhut bekleidet und sah sehr kriegerisch aus. Er hatte ein längliches blasses Gesicht mit einer Adlernase. Seine Zähne waren zusammengepreßt, und die großen, weit auseinanderstehenden schwarzen Augen funkelten böse.

Elli erinnerte sich an Kaminas Warnung. Die Erzgräber, hatte die Mäusekönigin gesagt, dulden es nicht, daß man sie beobachtet.

Der Mann auf dem Drachen zog einen langen Pfeil aus dem Köcher, den er auf dem Rücken trug.

„Vorsicht!" schrie Elli, warf sich zu Boden und riß den Seemann mit sich. Wahrhaftig, keinen Augenblick zu früh: Schon schwirrte der Pfeil über ihre Köpfe hinweg, prallte gegen die Felswand des Ganges und zerbrach. Im nächsten Augenblick kam Totoschka, die Pfeilspitze zwischen den Zähnen, herbeigesprungen. Die scharfe Eisenspitze war so hart, daß sie trotz des Aufpralls unversehrt geblieben war. „Bei allen Klippen und Sandbänken!" rief der Seemann. „Mit diesen unterirdischen Männern ist nicht gut Kirschen essen! Wenn es ihnen einfallen sollte, an die Oberfläche zu steigen, würde ich keinen Pfifferling für das Leben der Käuer oder der Zwinkerer geben! Doch wir wollen keine Zeit verlieren, laßt uns gehen!"

„Aber Onkel, wir haben uns ja noch nicht alles angeschaut, und der Mann ist ja auch schon fortgeflogen . . ."

„Fortgeflogen, sagst du? Hm, laß mal sehen."

Der Seemann setzte die Mütze auf die Spitze seines Stocks und hob sie an die Öffnung.. Im gleichen Augenblick wurde sie von einem gut gezielten Pfeil weggerissen. „Na, hast du gesehen? Und was tun wir, wenn es dem Herrn einfällt, näher an unser Fenster heranzukommen?"

Hastig verließen die Fünf den gefährlichen Ort. Erst als sie sich außer Gefahr wußten,

fingen sie wieder zu sprechen an.

„Tatsächlich, ein Land der Wunder!" sagte Charlie Black.

Dann ging er voraus, und die anderen folgten ihm.

Nach einer Weile kamen sie an eine große Tür, die fest verschlossen war.


WIEDERSEHEN MIT DEM SCHEUCH UND DEM EISERNEN HOLZFÄLLER

Siehst du, nicht umsonst haben wir so viele Gefahren auf uns genommen!" rief Charlie

Black erfreut aus. „Der Gang führt wirklich bis zum Turm!"

„Brech die Tür auf, Onkel Charlie", schlug Elli vor.

„Das geht nicht", erwiderte Charlie, „man könnte uns hören."

Von draußen drangen der tiefe Baß eines hölzernen Unteroffiziers und die schrillen

Stimmen der Polizisten zu ihnen.

Der Durchbruch mußte ohne Lärm geschehen. Charlie holte aus seinen Taschen das notwendige Werkzeug hervor, bohrte nebeneinander mehrere Löcher, erweiterte sie mit dem Messer und begann mit der Handsäge zu arbeiten. In einer halben Stunde hatte er eine viereckige Öffnung ausgesägt, durch die ein Mensch schlüpfen konnte. „Elli", sagte der Seemann, „geh jetzt hinauf und sag dem Scheuch und dem Holzfäller, daß wir da sind und auf sie warten. Aber sei vorsichtig, und auch die beiden sollen aufpassen, daß die Wache nichts merkt."

„Und was geschieht mit Din Gior und Faramant?" fragte das Mädchen. „Wenn der Scheuch und der Eiserne Holzfäller fliehen, wird Urfin seinen Zorn an ihnen auslassen." Der Seemann kratzte sich den Nacken.

„Ja, da hast du recht, daran hab ich nicht gedacht. Aber was sollen wir denn tun?" „Ich glaube, der Scheuch und der Holzfäller müssen hier bleiben, bis wir Din Gior und Faramant aus dem Kerker befreit I haben. Aber wie wir's tun sollen, weiß ich nicht. Vielleicht kann uns der Scheuch mit einer guten Idee helfen?" „Richtig! Das Treppensteigen fällt mir zwar schwer, doch es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen gemeinsam beraten."

Elli stieg langsam die steile Treppe hinauf, hinkend folgte ihr Charlie. Der Löwe blieb unten, denn das Loch in der Tür war für seinen mächtigen Körper zu klein. Oben angekommen, schaute Elli vorsichtig in den Raum, wo sich ihre Freunde befanden. Sie legte den Zeigefinger an den Mund, womit sie den Freunden zu verstehen gab, daß sie sich ruhig verhalten sollten. Sie befürchtete nämlich, die beiden könnten bei ihrem Anblick in ein Jubelgeschrei ausbrechen.

Ihre Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Der Eiserne Holzfäller wußte sich schon seit jeher zu beherrschen, und dem Scheuch war der Karzer eine bittere Lehre gewesen. Von der Feuchtigkeit des unterirdischen Gelasses waren die Farben auf seinem Gesicht zerflossen, jetzt hörte und sah er schlecht und konnte nur im Flüsterton sprechen, was ihm in seiner jetzigen Lage übrigens gut zustatten kam!

Beim Anblick Ellis wollten ihr die beiden um den Hals fallen, doch sie hielten an sich, als sie hinter ihr den Seemann sahen.

Obwohl sie ihn aus den Schilderungen der Krähe kannten, waren sie bei seinem Erscheinen doch etwas verlegen.

Charlie sagte ihnen freundlich guten Tag. Der Scheuch erwiderte seinen Gruß mit einem Kratzfuß, während der Holzfäller seinen Trichter lüftete und sich höflich verbeugte. Kaggi-Karrs schwarze Äuglein leuchteten stolz. Ei, dachte sie, zeigt mir doch eine andere Krähe, die einen solchen Auftrag so glänzend auszuführen gewußt hätte! Nach den herzlichen Begrüßungsworten begann Elli von Din Gior und Faramant zu sprechen.

„Was euch betrifft, so könntet ihr gleich jetzt durch den unterirdischen Gang fliehen. Aber dann wäre es um Din Gior und Faramant geschehen!" Da rief der Holzfäller:

„Wenn sie unsretwegen umkommen, wird mir das Herz in der Brust zerspringen . . ." Dabei fing er bitterlich zu weinen an. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, und seine Kiefer rosteten sogleich ein. Verzweifelt schüttelte der eiserne Mann den Kopf, konnte aber kein Wort hervorbringen. Zum Glück stak die Ölkanne in seinem Gürtel. Der Scheuch zog sie heraus, um ihm die Kiefer zu schmieren, da er aber schlecht sah, troff das Öl in des Holzfällers Ohr. Es dauerte eine geraume Weile, bis die Kiefer geölt waren und der Holzfäller wieder sprechen konnte:

„Hör zu, Bruder Scheuch", sagte er, „jetzt streng mal dein kluges Gehirn an und sag, was

wir weiter tun sollen."

Der Scheuch aber flüsterte kummervoll:

„Mit meinem klugen Gehirn klappt etwas nicht. Die Feuchtigkeit im Karzer . . ." Kaggi-Karr unterbrach ihn:

„Faramant und Din Gior sitzen in einem Keller des Hinterhofs. Ich kann mich erinnern, daß vom Zimmer des Kochs ein Weg zu ihrem Fenster führt." „Das wäre ja großartig!" rief Charlie erfreut, hielt sich aber sogleich erschrocken den Mund zu. „Ich habe etwas, womit sich die beiden befreien könnten. Es fragt sich nur, wie das Ding zu ihnen kommt... "

Er kramte in seinem Rucksack und holte eine kleine Stahlsäge hervor. „Damit kann man jedes Gitter durchsägen."

„Ja, aber wie schaffen wir sie hin?" flüsterte der Scheuch. „Ach, wein mein Gehirn doch nur wieder in Ordnung wäre . . . Mir kommt aber nichts in den Kopf, das ärgert mich zu Tode, es ist schrecklich . . ."

Elli umarmte den Strohmann und streichelte ihm über das verwaschene Gesicht. „Mein Lieber, sei nicht traurig, ich werde für dich denken!"

Qualvolles Schweigen trat ein. Um in das Schloß zu kommen und die Häftlinge wenigstens durch das vergitterte Fenster zu sehen, mußte man den Turm verlassen. Vor der Tür standen aber Holzköpfe Wache, und der zweite Ausgang mündete in der unterirdischen Höhle, in der der Sechsfüßer hauste. Wer würde es wagen, allein hinzugehen?

Die Lage schien ausweglos. Aber durften sie den braven Faramant und Din Gior ihrem Schicksal überlassen?

„Ich will den beiden die Säge bringen", rief Kaggi-Karr, „mich können weder Wände noch Gitter aufhalten!"

Das war ein kluger Vorschlag. Kaggi-Karr konnte aber die Säge nicht im Schnabel halten, weil sie zu schwer war. Sie versuchte es mehrmals, ließ sie aber immer wieder fallen. Erneut begannen alle eifrig nachzudenken. Plötzlich hob Elli den Zeigefinger und sagte:

„Ich hab's!", worauf alle freudig aufblickten. „Onkel Charlie, du brauchst mich nur an einem Seil hinabzulassen."

„Du bist wohl nicht bei Sinnen, Mädel?" brummte der Seemann. „Oder willst du, daß dich die Wache schnappt?"

„Aber nein, Onkel", entgegnete Elli. „Die Holzköpfe bewachen nur die Seite, wo die Tür ist, um die andere kümmern sie sich nicht. Überzeuge dich doch selbst!" „Aber warum mußt ausgerechnet du es wagen?" fragte er. „Kann es denn kein anderer von uns tun?"

„Wer denn? Du vielleicht, oder der Scheuch, oder der Eiserne Holzfäller? Ihr kommt ja nicht durch das Gitter!"

In Ellis Rucksack lag ein Kleid, das die gute Frau des Prem Kokus ihr geschenkt hatte und das ihr wie angegossen paßte, denn sie war ja genau so groß wie die erwachsenen Frauen im Wunderland. Außerdem war es nicht blau, sondern grün, denn Prem Kokus' Frau stammte aus dem Smaragdenland und hatte sich ihre Liebe zu allem Grünen bewahrt. Elli zog sich um, und Charlie entnahm seinem Universalrucksack Pinsel und Tusche und malte ihr ein paar Runzeln auf Stirn, Wangen und Kinn. Jetzt sah sie wie eine waschechte Farmersfrau aus dem Smaragdenland aus.

„Bei den Palmen von Kuru-Kusu!" rief Charlie. „Dich wird kein Spion der Welt erkennen. Aber warte mal, du brauchst ja einen Vorwand, um in die Stadt zu gehen." „Keine Sorge, ich hab mir schon einen ausgedacht."

Der Seemann schnallte Elli einen breiten Gurt um den Leib und knüpfte ein starkes Seil daran. Dann nahm das Mädchen ein Körbchen in die Hand und schob sich zwischen den Gitterstäben, die das Dach stützten, hinaus.

Die Holzköpfe bewachten nur die Tür, und keiner kümmerte sich um die andere Seite des Turmes.

Langsam ließ Charlie seine Nichte an der Mauer hinunter.

Unten angekommen, löste Elli den Gurt, den der Seemann sofort wieder hochzog, schickte dem Onkel noch einen Luftkuß und schritt langsam auf die Straße zu. Charlie, der sie pochenden Herzens beobachtete, beruhigte sich erst, als sie auf dem Gelben Backsteinweg war und ihm zum Abschied mit der Hand winkte. Das Mädchen ging aber nicht geradewegs in die Stadt. Auf einer Wiese füllte sie ihren Korb mit schönen großen Beeren, unter denen sie die Säge verbarg. Dann ging sie weiter, erreichte schließlich das Stadttor und begann daran zu klopfen. Der Wache sagte sie, der Korb voller Beeren sei ein Geschenk für Urfin, und man ließ sie ungehindert hinein. Elli ging durch die Straßen, die einst von Smaragden glänzten und in denen immer viele schön gekleidete Menschen zu sehen waren. Jetzt lagen die Straßen wie ausgestorben da. Im Schloß zeigte man ihr den Weg zur Küche. Der feiste Baluol erkannte Elli zuerst nicht, doch dann freute er sich unsäglich.

Das Mädchen blieb in seinem Zimmer, bis die Nacht hereinbrach. Dann geleitete sie der Koch zum Fenster des Gelasses, in dem Din Gior und Faramant eingesperrt waren. Das Fenster war zum Glück nicht verglast, es war aber gar nicht so leicht, die Schlafenden wachzukriegen, zumal das möglichst leise geschehen mußte. Menschen mit reinem Gewissen haben eben einen festen Schlaf, selbst wenn sie im Kerker sind. Als erster öffnete Faramant die Augen und begann sogleich Din Gior zu rütteln. Wie erfreut die beiden waren, als sie Elli erkannten! Der Wächter befand sich in einem fernen Winkel des Ganges, und so konnten die beiden ungestört an das Werk ihrer Befreiung gehen. Einer stieg immer auf die Schultern des anderen und sägte eifrig am Gitter, und binnen zehn Minuten hatten sie einen dicken Stab ausgehoben. Als erster kroch Din Gior über den Rücken Faramants ins Freie. Aber wie sollte sich Faramant zum hohen Fenster hinaufschwingen, wenn die Zelle weder einen Tisch noch einen Stuhl hatte und die eisernen Bettstellen in den Fußboden eingelassen waren? Laken und Decken hatte man den Gefangenen natürlich nicht gegeben.

„Was fangen wir nun an?" flüsterte Din Gior, sich zum Fenster vorbeugend. „Wir haben ja kein Seil."

„Kein Seil!" wiederholte Faramant spöttisch. „Und deinen Bart hast du vergessen?" „Ach wirklich, den hätte ich fast vergessen", gab Din Gior freudig zur Antwort. Er ließ seinen mächtigen Bart durch das Gitter hinab, Faramant hielt sich daran fest und zog sich, die Füße gegen die Wand gestemmt, hinauf. Din Gior preßte die Zähne vor Anstrengung zusammen, wich aber nicht von der Stelle. Dann fielen beide ihrer kleinen Retterin um den Hals.

Der Koch führte die Gruppe durch eine Hinterpforte auf die Straße. Die Freunde konnten jedoch die Stadt nicht durch das Tor verlassen, weil dieses von Holzköpfen und Polizei bewacht wurde. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als über die Mauer zu klettern. Dann ging Faramant in eine der umliegenden Farmen, wo er sich eine Weile flüsternd mit dem Hausherrn unterhielt, der sogleich seine beiden jungen schnellfüßigen Söhne mit einem Auftrag in nordwestliche Richtung schickte, während er selber sich zu seinem Nachbarn begab.

Die Freunde hatten verabredet, sich in der Schlucht an der Mündung des unterirdischen

Ganges zu treffen. Dorthin führte nun Elli Din Gior und Faramant.

Als sie am Turm vorbeikamen, ahmte Faramant dreimal den Schrei der Eule nach, und Elli

winkte mit ihrem Körbchen hinauf. Dieses Zeichen bedeutete, daß das Unternehmen

gelungen sei und die Freunde den Turm verlassen könnten. Als Antwort erscholl vom

Turm der Ruf eines Kuckucks. Das bedeutete: Signal gehört und verstanden!

Elli. Din Gior und Faramant erreichten als erste die Schlucht. Unterwegs waren sie weder

Holzköpfen noch Polizisten begegnet.

Am nächsten Morgen. erfuhr Ruf Bilan von der Flucht der vier Gefangenen. Auf seinen Befehl nahm eine ganze Meute Polizisten sofort die Verfolgung auf. Die Büttel suchten die umliegenden Farmen ab und verhörten ihre Einwohner. Wider Erwarten erwiesen sich die Leute als sehr redselig. Sie hätten gesehen, erzählten sie den Häschern, daß die Flüchtlinge am frühen Morgen nach Nordwesten gezogen seien, offenbar wollten sie im Gelben Lande Unterschlupf suchen.

Zwei Züge Holzköpfe und etwa drei Dutzend Polizisten brachen in die genannte Richtung auf. Die Soldaten liefen schwerfällig die Straße entlang, stolperten und fielen, und die Polizisten schossen mit ihren Schleudern Steine in die Gebüsche, wenn sich dort etwas regte.

Dann und wann lief der Polizeichef, der die Verfolger anführte, in ein Haus, um Erkundigungen über die Flüchtlinge einzuholen. Die Bewohner aber antworteten auf seine Fragen, wie Faramants Boten sie gelehrt hatten:

„Sie sind hier vorbeigekommen, jawohl, etwa vor drei Stunden..." Dann hieß es „vor zwei Stunden" und schließlich „vor einer Stunde".

Der Eifer der Verfolger nahm zu, je näher sie sich dem Ziele wähnten. Als sie aber Meile um Meile zurücklegten und von den Flüchtlingen noch immer keine Spur zu sehen war, fingen sie zu rasen an.

Die wutschnaubenden Polizisten schickten aus ihren Schleudern einen Hagel von Steinen

über die Straße.

Dann ereignete sich folgendes:

Der Polizeichef war weit vorausgeeilt, und seine Untergebenen, die vollkommen außer Rand und Band geraten waren, glaubten., einen der Flüchtlinge vor sich zu haben. Unzählige Steine trafen den Polizeimeister, zerbrachen ihm Arme und Beine und schlugen ihm den Kopf ab. Mit Geheul stürzten Polizisten und Soldaten auf ihr Opfer zu - und blieben wie vom Donner gerührt stehen. Sie wußten nicht, was sie anfangen sollten, und niemand war da, der ihnen hätte befehlen können.

Dann lasen sie die Reste ihres Kommandanten auf und traten den Rückweg an. Als sie in die Stadt kamen, meldete einer der Polizisten dem Obersten Zeremonienmeister, was sich zugetragen hatte. Ruf Bilan wurde weiß im Gesicht wie die Wand. Bis zu diesem Augenblick hatte er immer noch gehofft, daß man die Flüchtlinge einfangen würde. Dann hätte er den ganzen Vorfall vor dem König verheimlichen können. Jetzt aber mußte er diesem melden, daß die Gefangenen, die Urfin so kostbar waren, geflohen und überdies noch der Polizeichef umgekommen sei, den der Herrscher für seinen Eifer und seine Gewandtheit so sehr geschätzt hatte. Nach Entgegennahme des Berichts sagte Urfin finster:

„Das sind die Streiche des verdammten Mädchens, dieser kleinen Fee namens Elli. Die Flüchtlinge sind verschwunden, sagst du?" „Spurlos, o mächtiger König der Smaragden . . ." ..Faß dich kürzer!" brüllte Urfin.

„Zu Befehl! Das Schlimmste aber ist, daß die Verfolger absichtlich irregeführt wurden, und das ist schon eine richtige Verschwörung!"

Urfin unterließ es, den Polizeichef zu reparieren, und der Koch Baluol warf dessen Überreste in den Herd, wo sie lichterloh brannten.

Nachdem Charlie Black sich vergewissert hatte, daß die Flucht von Din Gior und Faramant geglückt war, führte er seine Schutzbefohlenen die Turmtreppe hinunter. Die drei bemühten sich, kein Geräusch zu machen. Es kostete den Eisernen Holzfäller aber große Anstrengung, durch die kleine Öffnung in der Tür zu schlüpfen. Dann zogen sie den geschwächten Scheuch hindurch, dessen Kleider jetzt fürchterlich aussahen.

Jubelnd empfing der Löwe nach der langen Trennung seine Freunde. Beim Anblick der jämmerlichen Figur des Scheuchs, der sich kaum noch auf den Beinen hielt und fast nichts mehr sehen und hören konnte, fing er jedoch vor Mitleid zu weinen an. Dafür war jetzt aber keine Zeit, man mußte sich sputen. Der Holzfäller brach noch schnell eine Eisenstange aus dem Treppengeländer, die ihm als Waffe dienen konnte, und die Schar setzte sich in Bewegung.

Als sie sich der Öffnung näherten, von der man das Land der unterirdischen Erzgräber sehen konnte, mahnte Charlie seine Gefährten zur Vorsicht. Es konnte ja sein, daß der Krieger mit dem fliegenden Drachen den ungebetenen Gästen auflauerte, um ihnen mit gut gezielten Pfeilen den Garaus zu machen. Als sie den Platz erreichten, von dem aus Elli und der Seemann gestern noch das sonderbare Leben der Erzgräber beobachtet hatten, stieß Charlie einen Ruf des Staunens aus: Die Öffnung war verschwunden. Die Erzgräber hatten einen runden Stein in das Loch hineingetrieben und nicht einmal eine kleine Ritze freigelassen.

Vom Sechsfüßer war nichts zu sehen. Hatte er sich nach dem gestrigen Kampf in einen Winkel des Labyrinths verkrochen, oder waren die unterirdischen Erzgräber inzwischen dagewesen und hatten ihn gefangengenommen?

Aber wer konnte wissen, ob in den finsteren unterirdischen Gängen nicht noch andere Sechsfüßer lauerten?

Der Seemann war indessen unbesorgt, wußte er doch, daß der Eiserne Holzfäller im Handumdrehen mit jedem Ungeheuer fertig werden würde. Freilich befürchtete er eine Falle, die die Erzgräber ihnen bereitet haben konnten. Erst am nächsten Morgen, als er Elli, Din Gior und Faramant erblickte, atmete er erleichtert auf.

Vor allem mußte der Scheuch wieder instand gesetzt werden, denn seine Kleider waren zerrissen und aus allen Löchern kam faules Stroh zum Vorschein. Seine Gesichtszüge waren verwaschen, und auch das Gehirn hatte unter der Feuchtigkeit des Kellers stark gelitten.

Elli machte sich an die Arbeit. Sie trennte dem Scheuch den Kopf ab und hing ihn an einen hohen Ast zum Trocknen, was bei dem lauen Wind und der heißen Sonne sehr schnell geschah. Dann flickte das Mädchen das Kleid des Strohmanns, wusch es im Bach und breitete es auf den Büschen aus.

Als alles trocken war, stopfte Elli den Rock, die Hosen und die Stiefel mit frischem Stroh aus, das Faramant von einem Nachbarfeld geholt hatte, und setzte den Kopf mit dem durchlüfteten Gehirn auf seine alte Stelle. Dann nahm sie Farbe und Pinsel und begann die Augen aufzumalen, die sogleich zu zwinkern anfingen. „Halt still, du machst ja alles futsch'." schrie Elli.

„Kn . . . Sor . . . Sor . . . chn . . . Mund...", lispelte mühsam der Strohmann. Er wollte sagen: ,.Keine Sorge, mach mir nur schnell den Mund." Als dieser fertig war, fing der Scheuch vor Freude zu tanzen und zu singen an. „O-ho-ho-ho! Elli hat mich wieder gerettet! Elli ist wieder da! O-ho-ho-ho . . ." Plötzlich hielt er inne, da es sich für einen Herrscher nicht ziemte, in Anwesenheit seiner Untertanen zu tanzen. Er warf einen besorgten Blick auf Din Gior und Faramant, die sich jedoch taktvoll abgewandt hatten und so taten, als wären sie in ein ernstes Gespräch vertieft. Der Scheuch atmete erleichtert auf.

Die allgemeine Freude steigerte sich, als Charlie dem Scheuch einen Stock aus Mahagoniholz schenkte, den er geschnitzt hatte, während Elli mit der Herrichtung ihres Schützlings beschäftigt war.

Der Strohmann stützte sich auf den Stock, schob die Brust heraus und sagte stolz: „Liebe Freunde! Der Scheuch ist nun wieder klug, und ich will es euch beweisen durch die großen Gedanken, die mir in den Kopf kommen. Hört also: Wir haben keine Waffen, um uns mit Urfin zu schlagen. Waffen können nur die Zwinkerer schmieden. Die Zwinkerer aber leben im Violetten Land. Und wo sind wir? Im Smaragdenland. Daraus folgt: Wenn man sich in einem Land befindet, kann man nicht gleichzeitig in einem anderen sein. Was bedeutet das? Nichts anderes, als daß wir in das Violette Land ziehen müssen!" Die eindrucksvolle Rede des Scheuchs wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen. Der Löwe äußerte ihn durch Brüllen, Totoschka durch lautes Bellen.


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