Kapitel 2


Jodokus war ein sonderbarer Kauz, daran gab es gar keinen Zweifel. Nach seinem merkwürdigen Gerede über den Tod sprach er eine ganze Weile überhaupt nicht mehr, doch als er schließlich erneut das Wort ergriff, da war er wieder ganz der Alte. Bissig spottete er über Kriemhilds vermeintlich hohe Herkunft, machte ihr aber auch ein paar nette Komplimente. Vor allem ihr Haar hatte es ihm angetan, wiederholt bewunderte er dessen Glanz und ungewöhnliche Länge.

Einmal fragte sie sich, ob er vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sei, verwarf den Gedanken aber hastig. Die Vorstellung, mit einem Verrückten durch die Lande zu ziehen, war mehr als nur unbehaglich.

Sie erreichten bald einen Waldweg, zweifach gekerbt von Wagenrädern. Zwar fanden sie keine wilden Pferde, wie Jodokus versprochen hatte, doch bevor die Nacht vollends hereingebrochen war, stießen sie auf einer Lichtung auf ein einsames Gehöft. Die Bewohner hatten das Anwesen mit einem Großteil ihrer Tiere verlassen, nur auf einer kleinen Koppel standen noch vier alte, magere Mähren. Kein Vergleich zu Lavendel, aber besser als nichts, und bald schon kamen Kriemhild und der verwachsene Sänger schneller auf ihrem Weg nach Osten voran.

Die Sättel, die sie im Stall gefunden hatten, waren unbequem und sperrig, und es dauerte nicht lange, da schmerzten beiden die Hinterteile. Während Jodokus ausgiebig die genaue Natur seines Gesäßschmerzes erörterte, zog Kriemhild es vor, ihr eigenes Leid damenhaft zu verschweigen. Es waren vor allem Kleinigkeiten wie diese, in denen der Unterschied ihrer Herkunft besonders deutlich zutage trat, und Kriemhild fragte sich, wie der Junge allen Ernstes annehmen konnte, es sei vorzuziehen, als Hungerleider statt in reichen Verhältnissen aufzuwachsen. Sie jedenfalls fand es wenig erstrebenswert, jedem dahergelaufenen Fremden ihre peinlichsten Beschwerden zu offenbaren.

Längst lag die Nacht kühl und sternenklar über dem Land, als sie beschlossen, sich endlich zur Ruhe zu legen. Sie hatten mittlerweile die alte Heerstraße nach Würzburg wieder aufgespürt und waren ihr schon geraume Zeit gefolgt. Jetzt aber schlugen sie sich nach rechts ins Unterholz und knoteten die klapprigen Pferde an Zweigen fest. Alsdann legten sie sich auf gegenüberliegenden Seiten eines kleinen Feuers nieder, leidlich weich auf Laub und Gras gebettet. Trockene Tannennadeln knisterten in den Flammen und verbreiteten einen angenehm herben Waldduft.

»Wer übernimmt die erste Wache?« fragte Jodokus, während er einen Haufen Blätter unter seinem Kopf zurechtrückte.

Erste Wache. An so etwas hätte Kriemhild nicht im Traum gedacht. Sie hätte sich schlafen gelegt und Gottes nimmermüder Vorsehung vertraut. Aber natürlich hatte der Sänger recht: Es war klüger, wenn einer von ihnen auf den anderen achtgab.

»Du siehst müde aus«, sagte sie. »Ich bleibe wach.«

Gelinde Empörung lag in seiner Stimme, als er sagte: »Du bist mindestens genauso müde.«

»Mag sein. Aber es gibt eine Menge, über das ich nachdenken muß. Schlaf du nur. Ich wecke dich schon, wenn du an der Reihe bist.«

»Nachdenken?« Er legte seinen Kopf zufrieden auf das Blätterkissen und murmelte mit geschlossenen Augen: »Mir scheint, das edle Fräulein hütet ein kleines Geheimnis.«

Er war eingeschlafen, ehe Kriemhild eine Antwort darauf fand. Eine Weile lang beobachtete sie sein Gesicht im gelblichen Feuerschein, die feinen Falten links und rechts seines Mundes, die nicht vom Lachen stammen konnten. Die schmale Narbe im Mundwinkel schimmerte heller als der Rest seiner Wange, fast als leuchte sie aus sich selbst heraus. So, wie Jodokus dalag, fiel der Buckel auf seinem Rücken kaum auf. Kriemhild fragte sich, wie es sein mochte, wenn man von Kind an unter solch einer Mißbildung litt. Er tat ihr plötzlich leid, und eine Woge unverhoffter Zuneigung überkam sie. Er war so ganz anders als die geckenhaften Hofjünglinge, die sie in Worms kannte, ganz anders auch als die Fürstensöhne und Ritter, die Gunther ihr in regelmäßigen Abstände als Gemahle vorschlug.

Ein fahrender Sänger, einer aus dem Heer der Armen - und dennoch wirkte Jodokus auf seine Weise zufrieden, glücklich sogar, wenn man seine Bemerkungen über den Tod außer acht ließ. Möglich, daß sie einiges von ihm lernen konnte.

Seit Kriemhild aus dem Wasser gestiegen war, hatte sie ihr zerzaustes Haar offen getragen. Jetzt band sie es wieder im Nacken zusammen und erneuerte den Knoten am Hinterkopf. Andere, denen ihr Haar genausogut gefiel wie Jodokus, mochten nicht so zurückhaltend auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers schlafen wie er.

Die Geräusche des nächtlichen Waldes waren unheimlich - die Schreie der Eulen und Käuzchen, das gelegentliche Flattern von Schwingen in den Fichtenwipfeln, das Rascheln im Unterholz -, aber Kriemhild hatte keine wirkliche Angst. Im Grunde war sie von sich selbst überrascht. Sie war hinter den sichersten Mauern des Reiches aufgewachsen, hatte nie im Freien schlafen müssen - und nun lag sie hier, inmitten eines Landstrichs, den die Pest regierte, in einem Wald, der dunkler und tiefer war, als jeder andere, den sie bislang gesehen hatte. An der Seite eines vollkommen Fremden zudem, der aus Verhältnissen stammte, vor denen ihre Ammen und Zofen sie stets gewarnt hatten.

Dennoch verspürte sie keine Furcht, nicht vor Jodokus und nicht vor dem Wald. Sie war ziemlich stolz auf sich.

Als sie bemerkte, daß ihre Müdigkeit trotz der späten Stunde nachließ - die Aufregung, sagte sie sich -, stand sie auf und entfernte sich einige Schritte vom Feuer. Sie wollte zurück zur Straße gehen und das moosüberwucherte Pflaster im Mondlicht betrachten, die Verheißung von Ferne und von Reisen spüren, das seltsame Gefühl der Freiheit, das sie immer stärker überkam.

Aber als sie aus dem Unterholz trat und einen Blick auf die Heerstraße warf, erkannte sie, daß sie nicht mehr allein war. Keine zweihundert Schritte östlich entdeckte sie Gestalten, einen Trupp gerüsteter Männer. Vierzig oder fünfzig, schätzte sie. Sie hatten sich am Straßenrand niedergelassen, einige lagen zusammengerollt im Gras und schliefen, andere hielten Wache. Im Mondlicht schimmerten Eisenpanzer und Helme, schartige Waffen und Schilde, von denen die Farben abblätterten. Pferde gab es nur drei oder vier, der Rest des Trupps war zu Fuß unterwegs. Der Marsch mußte lang und anstrengend gewesen sein, denn trotz ihrer großen Zahl machten die Männer kaum ein Geräusch. Die meisten schliefen bereits.

Kriemhilds erste Empfindung war Sorge, daß man sie entdecken und zur Rede stellen würde. Zur Rede stellen - von wegen! In einer Gegend wie dieser, ein Haufen verwegener Soldaten und ein hübsches Mädchen, ganz allein im Wald... Diese Art von Unterhaltung würde eher wortkarg ausfallen.

Dann aber sagte sie sich, daß die Männer von Osten kamen und fraglos Neuigkeiten von dort zu berichten wußten. Neuigkeiten, die für Kriemhild große Bedeutung haben mochten. Entgegen jeder Vernunft überlegte sie, wie es ihr gelingen könnte, die Soldaten auszuhorchen, ohne ihnen selbst zum Opfer zu fallen.

Es war Wahnsinn, gewiß - doch nachdem sie ihren Entschluß einmal gefaßt hatte, brannte sie darauf, ihn in die Tat umzusetzen. Sie hatte oft genug die Gespräche ihrer Brüder belauscht, um zu wissen, daß es unter Kriegern nicht immer nur heldenhaft zuging; sie wußte sehr wohl, was ihr bevorstand, wenn ihr Plan mißlang.

Lautlos schlich sie zurück zur Feuerstelle. Jodokus lag zusammengerollt da wie ein junger Hund, er schlief tief und fest. Die beiden Pferde gaben keinen Laut von sich, als Kriemhild ihnen die Satteldecken abnahm. Dann nahm sie ein verkohltes Holzstück aus der Asche des Feuers und malte sich damit schwarze Flecken auf Gesicht, Hände und Unterarme. Anschließend schlang sie die beiden übelriechenden Decken um ihren Körper wie die Gewänder einer alten Vettel und huschte zurück zur Straße. Unterwegs hob sie einen Stock auf, der leidlich glaubhaft als Krücke herhalten mußte.

Vornübergebeugt, das Gesicht im Schatten der Decke verborgen, humpelte sie über die mondbeschienene Straße auf das Lager der Soldaten zu.

Sie war bis auf zwanzig Schritte heran, als ein schläfriger Wachtposten sie bemerkte. »He da!« rief er sie an, nicht allzu laut, um seine schlafenden Kameraden zu schonen. »Wer ist da?« Er klang müde und nicht besonders glücklich darüber, daß er sich von seinem Platz am Lagerfeuer erheben mußte.

Kriemhild hatte eigentlich vorgehabt, ihre Stimme zu verstellen, aber jetzt überfiel sie mit einemmal Sorge, daß man ihr die armselige Alte nicht abnehmen würde. Deshalb sagte sie in ihrem eigenen, klaren Tonfall: »Eine Wanderin in schlimmen Zeiten.«

Als der Soldat hörte, wie jung sie noch war, wurde er aufmerksamer. Einige der anderen rollten sich herum, setzten sich im Gras auf. Einer flüsterte einem anderen etwas zu; beide sprangen auf und starrten Kriemhild aus schattenverhangenen Augen entgegen.

»Komm heran, damit wir dich sehen können, Mädchen«, rief der Wächter und zog ein loderndes Scheit aus dem Lagerfeuer.

Kriemhilds Herz raste, und plötzlich war sie froh, daß sie die Krücke hatte, um sich aufzustützen; wer wußte schon, ob ihre zitternden Knie sonst nicht einfach unter ihr eingeknickt wären?

Sehr langsam hob sie beim Näherkommen ihr Gesicht. Der Wächter beleuchtete sie mit der Fackel. Einer seiner Kameraden entdeckte als erster die schwarzen Flecken auf ihren Zügen und taumelte zwei Schritte nach hinten, stolperte dabei über einen Schlafenden und stürzte rückwärts zu Boden. Sogleich erwachten noch einige mehr und knurrten Flüche, wütend über die Störung.

»Sie hat die Plage!« rief jetzt der Wächter aus. Sogleich ging ein Raunen durch die Reihen. Ein Soldat griff nach Pfeil und Bogen, doch ein anderer hielt ihn zurück. »Warte!« Er trat vor und nahm dem Wächter das brennende Holzscheit aus der Hand.

»Bleib stehen, Mädchen«, sagte er ruhig. Er mußte der Anführer der Rotte sein. Kriemhild war längst dar, daß sie es hier nicht mit Kriegern ihres Bruders zu tun hatte, und das erhöhte ihre Furcht um ein Vielfaches. Jetzt gab es kein Zurück mehr, kein Seht-doch-her-ich-bin-des-Königs-Schwester. Dies waren Plünderer, herrenlose Söldner wahrscheinlich, die marodierend durch das sterbende Land zogen.

Der Anführer kam vorsichtig näher, und das Raunen der anderen in seinem Rücken verstärkte sich. Ihn schien die Krankheit weniger zu ängstigen als seine Männer. Kriemhild fürchtete schon, sie sei durchschaut. In einer Bewegung, die beiläufig erscheinen sollte, ließ sie ihre nackten Oberarme unter dem Deckenrand hervorschauen. Die schwarzen Flecken sorgten abermals für aufgeregtes Flüstern. Auch der Anführer blieb zögernd stehen.

»Du kommst aus dem Westen, Mädchen, ist es nicht so?«

»Ja, Herr«, gab sie mit schwankender Stimme zurück. Wäre sie doch nur bei Jodokus im Dickicht geblieben!

»Hast du auf deinem Weg eine Ansiedlung gesehen? Ein Dorf, vielleicht?«

»Ich -« Sie stockte. »Warum wollt Ihr das wissen, Herr? Die Pest ist überall.«

»Wir sind nur müde Kämpfer, auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf und ein wenig jungfräulichem Fleisch.« Rohes Lachen aus dem Dunkel unterstrich seine Worte.

Kriemhild schauderte. Zugleich aber dachte sie an die Dorfbewohner, die sie und Jodokus hatten umbringen wollen. Dies mochte eine Gelegenheit sein, ihnen ihr böses Trachten heimzuzahlen.

»Es gibt ein Dorf«, sagte sie schließlich gepreßt. »Etwa einen halben Tag westlich von hier. Es liegt an einer Furt, nördlich der Straße. Ihr könnt es nicht verfehlen.«

»Und lebt dort noch einer?«

Ein anderer gröhlte: »Leben noch Weiber dort? Schnell, sag es uns, dann schonen wir dich.«

Der Anführer fuhr herum und bedachte den Schreihals mit einem finsteren Blick. Sogleich sank der Mann zu Boden und blieb mürrisch und schweigend am Feuer sitzen.

»Es leben noch welche, allerdings.« Kriemhild wunderte sich über sich selbst. Ihr Haß und ihr Zorn auf die Dörfler, die sie ganz ohne Grund hatten töten wollten, war ungebrochen. »Aber sagt, wollt auch Ihr mir eine Auskunft geben?«

»Was willst du mit einer Auskunft, Mädchen? Du wirst bald sterben, das weißt du doch.«

»Sterben werde ich, gewiß«, entgegnete sie, nun ein wenig gefaßter. »Doch verratet mir, wie sieht es im Osten aus?«

Der Anführer murmelte etwas zu sich selbst, dann gab er seinen Männern Zeichen, sich wieder schlafenzulegen. »Schlecht sieht es aus. Die Plage ist überall. Der Schwarze Tod hat reichlich Ernte gehalten. Ich habe viele meiner Männer verloren.«

»Kennt Ihr einen Ort namens Salomes Zopf?«

Der Söldnerführer blickte sie düster an. »Was für ein Ort soll das sein?«

Kriemhild setzte zu einer Erwiderung an, doch im selben Augenblick erhob sich im Hintergrund ein Mann, der eilig auf den Anführer zustolperte; eine Reihe von Flüchen verriet, wo seine Füße im Dunkeln gegen Schlafende stießen. Er trug eine braune Mönchskutte, an seinem Hals baumelte ein Rosenkranz aus Holzperlen. Ohne Kriemhild aus den Augen zu lassen, beugte er die Lippen an das Ohr des Söldnerführers und raunte ihm sichtlich erregt etwas zu. Die Augen das Anführers weiteten sich überrascht, dann streckte er Kriemhild abwehrend seine Fackel entgegen.

»Bist du des Teufels, Weib?«

»Des Teufels, Herr?« fragte sie unschuldig.

»Warum sonst fragst du nach Salomes Zopf?«

Der Mönch trat einen Schritt zurück. »Es heißt, dort...« Der Rest ging unter, als er furchtsam die Stimme senkte. Einige Männer in seiner Nähe keuchten erschrocken auf.

Kriemhild fragte sich, ob sie vom Regen in die Traufe geraten war. Wann wirst du nur lernen, dein loses Mundwerk zu halten?

So sagte sie das erstbeste, das ihr einfiel: »Es heißt, man könne dort Heilung finden.«

Der Anführer lachte höhnisch. »Wie lange hast du die Krankheit schon?«

»Zwei Tage, Herr.«

»Was glaubst du denn, wie lange du noch leben wirst?«

»Ich weiß es nicht, Herr.«

»Einen Tag, höchstens anderthalb. Zu Fuß brauchst du sehr viel länger, um zu Salomes Zopf zu gelangen. Ein Wunder, daß du überhaupt noch laufen kannst.«

Kriemhild schluckte. »Ich hoffte, einem Herrn wie Euch meine Leibesdienste anzutragen, damit er mich auf seinem Roß mitnimmt.«

Der Söldner und seine Kumpane stießen ein gräßliches Gelächter aus. »Leibesdienste, so, so«, meinte der Anführer. »Wer soll Gefallen an einer pestkranken Hure finden, Weib?« Er schüttelte verächtlich den Kopf und hob seine Stimme: »Nun mach schon, daß du fortkommst, bevor ich Befehl gebe, einen Pfeil an dich zu verschwenden!«

»Habt Dank, Herr«, zischte Kriemhild zwischen zusammengepreßten Zähnen.

»Verschwinde von hier und krepiere irgendwo, wo du keine ehrbaren Krieger mit deinem Elend ansteckst.« Beim Wort »ehrbar« erntete er neuerliches Gelächter. Der Anführer drehte sich abrupt zu seinen Kumpanen um. »Und ihr, faules Gesindel, steht schon auf! Noch vor Tagesanbruch will ich unter einem festen Dach sitzen und Bier saufen, in jedem Arm ein Weib, das schöner ist als dieses hier!«

Johlende Zustimmung schlug ihm entgegen, während Kriemhild schwankend an den Lagernden vorüberhumpelte. Ehern bekämpfte sie den Drang, sich nach den Männern umzusehen. Jeden Augenblick erwartete sie eine Klinge oder Bolzenspitze im Rücken.

Doch die gröhlende Horde ließ sie tatsächlich ziehen. Zu groß war die Vorfreude, um auch nur einen weiteren Gedanken an die kranke Wanderin zu verschwenden.

Kriemhild hatte sich noch keine hundert Schritte nach Osten entfernt, als der Trupp bereit zum Abmarsch war. Wenig später schon verschwanden die Männer im Dunkel, nur ihre Stimmen drangen noch gedämpft durch die Nacht.

Aufatmend blieb Kriemhild stehen, schleuderte den Stock beiseite und raffte sich die Decken vom Leib. Mit dem Bündel unterm Arm rannte sie links des Weges zurück zu der Stelle, von der sie gekommen war.

Plötzlich schoß aus dem Gebüsch ein Arm hervor, packte sie schmerzhaft an der Schulter. Kriemhild zuckte herum, duckte sich zugleich in der Befürchtung eines Hiebes mit Faust oder Schwert.

Doch es war nur Jodokus, der das Geschehen vom Dickicht aus beobachtet hatte.

»Was, zum Teufel, ist in dich gefahren?« fuhr er sie wutentbrannt an.

Trotzig versuchte Kriemhild, seine Hand abzuschütteln, doch er ließ nicht locker. »Es ist gutgegangen, oder?«

»Das ist es nicht, was ich meine. Wenn du glaubst, du müßtest dich umbringen, dann ist das deine Sache!« Seinen Augen waren schwarz wie gefärbte Glaskugeln. Er sah mit einemmal älter aus, älter und sehr viel erfahrener. Es war fast, als hätte statt seiner selbst sein Schatten Gestalt angenommen; dies war die dunkle, die unheilvolle Seite des Sängers Jodokus. Dieselbe, die vom Tod durch Götterhand gesprochen hatte. »Wie konntest du das nur tun?«

Sie stellte sich dumm. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Seine zweite Hand zuckte vor und umfaßte ihre andere Schulter. Einen Moment lang fürchtete sie, er würde sie schlagen. »Wie konntest du ihnen nur von dem Dorf erzählen?«

Sie erwiderte seinen finsteren Blick. »Diese Leute haben versucht, uns zu töten. Schon vergessen?«

»Das ist kein Grund, ihnen diese Hunde auf den Hals zu hetzen!«

»Nein? Was wäre denn ein Grund? Wenn wir beide im Fluß ertrunken wären?«

»Niemand hat es verdient, daß eine Horde Plünderer über sie herfällt. Niemand!«

»Ich -«

Er schnitt ihr wutentbrannt das Wort ab. »Du hast diese Menschen gerade zum Tode verurteilt, ist dir das überhaupt klar? Männer, Frauen und Kinder! Alle schon so gut wie tot!«

»Sie suchen nur ein Dach über dem Kopf und -« Kriemhild verstummte, als sie spürte, wie schwach ihre Stimme klang. Sie konnte ihm nicht widersprechen und dabei so tun, als sei sie selbst überzeugt von dem, was sie sagte.

»Zum Tode verurteilt!« wiederholte er und starrte ihr dabei fest in die Augen, bis sie ihren Blick zu Boden wandte. »Und, glaub mir, es wird kein leichter Tod sein! Ich habe gesehen, zu was solche Kerle fähig sind. Sie fallen wie die Tiere über alles her, nach dem es ihnen verlangt. Nicht einer, nicht zwei - ein halbes Dutzend nimmt sich ein Mädchen vor, und sie töten es erst, wenn sie alle fertig sind und auch sonst keiner mehr Verwendung für es hat. Das ist es, was du den Menschen in diesem Dorf angetan hast!«

Kriemhild schwieg. Was hätte sie darauf auch erwidern können?

Aber Jodokus war noch nicht am Ende. »Die Pest hat die Menschen in diesem Dorf dazu gebracht, uns in den Fluß zu werfen. Sie haben gedacht, sie seien im Recht. Sie dachten, sie tun Gutes.«

»Was ist gut daran, uns zu töten?«

Er ließ sie los und atmete tief durch. Als hätte ihn sein Redeschwall gar zu sehr erschöpft, sank er mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. »Sie haben geglaubt, daß ich es sei, der ihnen die Pest gebracht hat.«

»Du?« Sie sah ihn an, als hätte er endgültig den Verstand verloren. »So ein Unsinn.«

»Natürlich ist es Unsinn. Aber sie glaubten ganz fest daran. Dich hielten sie wahrscheinlich für meine Gefährtin oder Weiß-der-Teufel-was... Aber von mir glaubten sie, ich sei König Pest persönlich.«

»König Pest? Wer soll das sein?«

»Es gibt eine Legende«, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel Schweiß von der Stirn. Seine Nasenflügel blähten sich, als er wie unter Schmerzen die Luft einsog. »In Zeiten wie diesen, wenn der Schwarze Tod über die Länder kommt und die Menschen zu Tausenden und Abertausenden auslöscht, dann entstehen solche Geschichten von einem Tag auf den anderen. Märchen oder Legenden, die möglicherweise einen wahren Kern haben. Wie die Geschichte von König Pest. Es heißt, er sei ein Wanderer, ein Reisender auf schwarzem Roß, der kreuz und quer durch das Land zieht und die Plage verbreitet. Ohne Ziel, ohne Herkunft. Plötzlich ist er da, und wo er geht, bleiben Krankheit und Tod zurück.«

Kriemhild schüttelte ungläubig den Kopf. »Und die Dorfbewohner hielten dich für diesen... diesen König Pest? Das ist doch völlig absurd!«

»Sie waren verzweifelt. Sie hätten jeden dafür gehalten, der gerade vorbeikam. Es war Pech, das es ausgerechnet mich getroffen hat. Mein Pferd war schwarz, und offenbar hat ihnen das gereicht. Die Seuche hat sie soweit getrieben, vielleicht auch ihre Beschränktheit. Doch was immer sie getan haben, sie haben es nicht verdient, diesen Söldnern in die Hände zu fallen.«

Kriemhild hockte sich auf den kühlen Waldboden nieder und zog die Knie an den Oberkörper. Allmählich wurde ihr bewußt, was sie getan hatte. Und ebenso deutlich begriff sie, daß es zu spät war, um noch irgend etwas daran zu ändern. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, nicht zu Jodokus, sondern nur zu sich selbst.

»So einfach ist das, nicht wahr?« fuhr er sie verächtlich an und äffte ihren Tonfall nach: »Es tut mir leid... Pah, Fine, oder wie auch immer du wirklich heißen magst, in Wahrheit ist es dir doch vollkommen gleichgültig. Vielleicht nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick. Aber laß einen halben Tag vergehen, und du wirst keinen Gedanken mehr an diese armen Geschöpfe verschwenden. Sie stehen ja so weit unter dir, nicht wahr?«

Ihr Blick raste hoch. »Wie meinst du das?« rief sie.

»Das weißt du ganz genau, edles Fräulein. Es sind nur Bauern, nur Fußvolk, nur Hungerleider. Niemand von deinem Stand. Keiner, der es wert wäre, einen Finger für sie zu rühren.«

»Du glaubst tatsächlich, ich habe das getan, weil es arme Schlucker und keine Edelleute waren?« Sie sprang auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das glaubst du wirklich?« Sie wollte ihn anschreien so laut sie nur konnte: Ist dir klar, daß ich mein Leben für dieses Volk aufs Spiel setze? Daß ich mich für dich und jeden anderen in diesem gottverfluchten Land opfern werde? Aber natürlich sagte sie nichts von alldem; es war unter ihrer Würde.

Würde! Du liebe Güte...

Plötzlich drehte er sich um und machte sich mit schnellen Schritten auf den Rückweg zum Lagerplatz.

»Komm«, sagte er leise, »laß uns aufhören. Wir können ohnehin nichts mehr daran ändern.«

Sie lief hinter ihm her, aufgewühlt wie selten zuvor. »Wir haben doch Pferde. Wir könnten vor den Söldnern im Dorf sein und -«

»Und uns umbringen lassen? Glaubst du wirklich, man würde uns auch nur ein Wort glauben? Die Dorfbewohner würden nur zu Ende bringen, was sie begonnen haben. Und die Söldner würden sie trotzdem töten.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Was jetzt geschieht, liegt nicht mehr in unserer Hand.«

Kriemhild senkte schweigend den Kopf, bis sie ihre Feuerstelle und die Pferde erreichten. Wortlos wischte sie sich die Ascheflecken von der Haut, legte dann die beiden Decken auf die Rücken der Tiere und sattelte sie von neuem.

Jodokus sah ihr eine Weile lang zu, dann nickte er nachdenklich. »Ich schätze, ich kann auch nicht mehr schlafen. Wir können ebensogut weiterreiten.«

Das überraschte sie, nachdem er doch gehört haben mußte, was am Ziel ihrer Reise lag. »Willst du immer noch mitkommen?«

»Zu Salomes Zopf? Warum nicht?«

»Du hast keine Angst?«

»Ich habe dir doch gesagt, daß ich keine Angst vorm Tod -«

»Ja«, unterbrach sie ihn scharf, »das hast du.« Sie machte eine kurze Pause, während sie die Riemen der Pferde festzurrte. Dann drehte sie sich mit einem Ruck zu ihm um. »Wirst du mir verraten, womit du die Götter gegen dich aufgebracht hast?«

Er raffte ihre Sachen am Boden zusammen. »Laß uns erst aufbrechen«, sagte er, ohne sie anzusehen. Einen Moment lang hatte Kriemhild den Eindruck, der Buckel an seiner Schulter habe sich unmerklich nach rechts verschoben.

»Ich erzähle dir alles, wenn wir unterwegs sind«, flüsterte er tonlos.


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