Kapitel 5


»Also?« fragte Kriemhild, und sie war weit mehr als nur ungehalten; tatsächlich war sie wütender denn je. »Wo bleibt denn dein verdammter Gegenzug, Jodokus-größter-Feind-der-Götter?« Und als er nicht gleich eine Erwiderung gab, setzte sie in ätzendem Tonfall hinzu: »Wo bleibt der göttliche Vernichtungsschlag, der dich und alles im Umkreis von drei Tagesreisen in den Boden stampft?«

Jodokus beachtete sie nicht. Er horchte auf etwas, Laute, irgendwo hinter ihnen in den Wäldern. Daß er offenbar nicht bereit war, etwas auf ihren Vorwurf zu erwidern, erzürnte Kriemhild um so mehr.

»Du könntest mir wenigstens antworten«, schimpfte sie aufgebracht.

Ihre Pferde hatten sie nicht wiedergefunden, beide Tiere blieben wie vom Erdboden verschlungen. Zumindest aber waren Kriemhild und der Sänger am Vormittag auf einen befestigten Weg gestoßen, der laut Jodokus nach Nordosten und somit zu Salomes Zopf führte. Aber Kriemhild war nicht sicher, ob sie ihm überhaupt noch ein Wort glauben konnte, und das galt auch für seine angeblich so gute Orientierung.

Insgeheim wunderte sie sich gehörig über sich selbst. Ihre Gefühle für den Sänger befanden sich in einem ständigen Auf und Ab. Manchmal sah sie ihn als guten Freund und treuen Gefährten, und da waren Momente, in denen sie nahe daran gewesen war, ihm ihr Herz auszuschütten. Darauf aber folgten unweigerlich jene Augenblicke, in denen sie glaubte, das ganze Lügengebäude, das er um sich errichtet hatte, diene nur einem einzigen Zweck, eben ihre Freundschaft, zumindest aber ihr Mitleid zu erlangen.

Plötzlich wurde Kriemhild wieder von solch einem Drang erfüllt, mit ihm zu streiten, daß ihr selbst angst und bange wurde. Ihr Verhalten entsprach nicht ihrer Natur, ganz im Gegenteil, doch das machte es nur noch schlimmer. Daß seine Anwesenheit sie in solche Verwirrung stürzte, ließ ihren Zorn noch heftiger auflodern.

Er tat gut daran, sich nicht auf ihre Anschuldigungen einzulassen, und genaugenommen wußten sie das beide. Aber so sehr Kriemhild sich auch vornahm, sich zu beherrschen, so sehr mißglückte ihr doch jeder dieser Versuche. Und wenn es ihr doch einmal gelang, sich zu zügeln, dann war wiederum er es, der zum Streiten aufgelegt war. Denn, und das war das sonderbarste, Jodokus schien unter ähnlichem Wankelmut seiner Stimmungen und Gefühle zu leiden wie sie selbst.

»Ich weiß nicht genau«, fuhr Kriemhild fort, »warum du tust, was du tust, aber -«

»Still!« flüsterte er.

»Bitte?«

»Sei ruhig. Irgendwer ist hinter uns.«

»Wenn du glaubst, daß -«

»Nein«, schnitt er ihr grob das Wort ab. »Ich glaube gar nichts, ich höre etwas.«

Sie winkte ab, wenn auch nicht ganz so selbstsicher, wie sie es sich wünschte. »Ach, komm, das hatten wir schon einmal.«

»Richtig. Und seitdem gehen wir zu Fuß, und es vergehen keine hundert Schritte, auf denen du nicht jammerst, deine Füße täten dir weh.«

»Aber sie tun weh!«

Er schüttelte resigniert den Kopf, und sie sah ihm an, daß er irgend etwas Abfälliges über die Empfindsamkeit von Edeldamen dachte, aber um ihrer Freundschaft willen nicht aussprach.

Freundschaft - da war es schon wieder, dieses Wort.

»Was ist es diesmal?« fragte sie. »Donars Hammer?«

»Reiter«, gab er zurück. »Zwei, glaube ich.« Und damit ergriff er ihren Arm und zog sie zur Rechten des Weges ins Dickicht.

Kriemhild hatte die Wälder, durch die sie seit Tagen zogen, mehr als einmal verflucht und ihnen die übelsten Feuersbrünste an die Wipfel gewünscht, doch in diesem Augenblick war sie froh über die verwobene Dichte des Unterholzes. Spätestens als sie den Vorderen der beiden Reiter erkannte, machte sie sich hinter den Büschen so klein, daß sogar Jodokus ihr einen irritierten Blick zuwarf.

»Kennst du sie?« fragte er, als der schwarze Ritter und der kleine Junge vorübergeritten waren.

»Sie suchen mich.« Kriemhild war blaß geworden. Jede Lust zu streiten, die sie noch vor wenigen Atemzügen empfunden hatte, war auf einen Schlag verschwunden.

»Wer sucht dich?«

»Meine Brüder.«

Jodokus runzelte die Stirn. »Das da waren deine Brüder?«

»Nein.« Sie schluckte und machte noch immer keinen Versuch, sich aufzurichten. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag hier im Dreck hockengeblieben, nur um sicherzugehen, daß niemand sie entdeckte. »Der eine war Hagen von Tronje, einer der engsten Berater des Königs. Den Jungen kannte ich nicht.« Und tatsächlich verwunderte es sie, daß der finstere Hagen sich mit einem Kind abgab. Ganz abgesehen davon, daß der Junge auf ihrem eigenen Pferd geritten war, auf Lavendel!

Jodokus straffte sich und starrte sie düster an. »Ein Berater des Königs macht sich auf, dich zu suchen? Ohne Soldaten, die ihn schützen?« Er schnaubte. »Komm schon, gewiß fällt dir etwas -«

»Hagen ist sich Schutz genug«, unterbrach sie ihn scharf.

»Du mußt ihm verflucht viel bedeuten, wenn er persönlich nach dir sucht.«

»Hagen? Er handelt nur im Auftrag des Königs.«

»König Gunther?«

Sie nickte. »Mein Bruder.«.

Jodokus sah aus, als hätte sie ihm mit dem dicksten Ast, den sie finden konnte, vor die Stirn geschlagen. »Ich hätte es mir denken sollen.«

»Daß ich des Königs Schwester bin?«

Er schüttelte benommen den Kopf. »Daß ich mir mit dir nur noch mehr Ärger einhandle.«

»Einen, den die Götter jagen, sollte das nicht allzu arg belasten.«

Sein Blick verfinsterte sich einen Augenblick lang, doch dann verzogen sich seine Lippen zu einem lausbübischen Grinsen. »So groß kann der Schreck nicht gewesen sein, wenn du schon wieder anfängst zu streiten.«

Eilig rappelte sie sich auf, blickte vorsichtig aus dem Gebüsch und trat erst ins Freie, als sie ganz sicher sein konnte, daß die beiden Reiter verschwunden waren.

Von nun an würden sie Hagen jederzeit über den Weg laufen können, jetzt, da er vor ihnen war. Er verstand genug vom Spurenlesen, um bald zu bemerken, daß es keine Spuren mehr gab. Spätestens dann mußte ihm klarwerden, daß er Kriemhild längst eingeholt hatte. Und es mangelte ihm nicht an der nötigen Geduld, sie unterwegs zu erwarten.

»Gibt es noch einen anderen Weg zu Salomes Zopf?« fragte sie, als Jodokus neben ihr auf den Weg trat und argwöhnisch nach Osten spähte.

»Wenn du zwei Wochen Zeit hast, gewiß.«

Sie fluchte leise, dann versank sie in nachdenklichem Schweigen.

Jodokus ergriff ihre Hand und zog sie herum, bis sie gezwungen war, ihm in die Augen zu sehen. »Weißt du eigentlich, was man mit mir anstellen wird, wenn herauskommt, daß ich der Schwester des Königs geholfen habe, ihre Unschuld zu verlieren?«

»Keine Sorge, deine Beteiligung daran endet vor Berenikes Tür.«

Er grinste. »Das schätze ich so an dir: die feinsinnige Höflichkeit, mit der du gewisse Dinge klarstellst.« So leise, daß sie es gerade noch hören konnte, fügte er hinzu: »Und dabei deine eigenen Hoffnungen fahren läßt.«

»Meine eigenen Hoffnungen?« wiederholte sie atemlos.

Sein Grinsen wurde noch breiter. »Du kannst nicht abstreiten, daß du mich magst.«

»Es gibt einen Unterschied zwischen mögen und mögen«, fuhr sie ihn an, viel zu laut angesichts ihrer ungewissen Lage. »Zum Beispiel würde ich es mögen, dir eine Ohrfeige zu geben, und wenn ich scharf nachdenke, fällt mir bestimmt noch die eine oder andere Scheußlichkeit ein.«

»Was dem einen scheußlich, ist dem anderen der Himmel.« Jetzt sah er aus, als könnte er sich ein lautes Lachen kaum mehr verkneifen. »Wo ziehst du die Grenze, Prinzessin?«

Schlagartig bemerkte sie, daß er immer noch ihre Hand hielt. Viel zu hastig riß sie sich los. »Du -!«

»Psst.« Er legte respektlos seinen bürgerlichen Sängerfinger auf ihren königlichen Schmollmund. »Und, Vorsicht: Beim nächsten Mal könnten es meine Lippen sein.«

Und damit ließ er sie stehen und folgte schnurstracks dem Weg nach Osten.

Kriemhild blieb einen Moment lang stehen und starrte ihm fassungslos nach; noch immer wölbte sich sein Wams über dem Weinschlauch wie ein Buckel. Schließlich wurde ihre Bestürzung von Wut verdrängt, und das war ihr nur recht: Mit ihrem Zorn konnte sie besser umgehen als mit Empfindungen, die sie nicht verstand und gegen die sie nicht ankämpfen konnte.

Als sie aber loslief und ihn einholte, da schrie sie ihn nicht an und machte auch keine bösen Bemerkungen mehr. Sie nahm sich fest vor, ihn mit eherner Mißachtung zu strafen. Das würde ihm zu schaffen machen!

Doch dann sagte er: »Ich glaube, ich weiß, warum es noch keinen Gegenzug gegeben hat«, und all ihre guten Vorsätze waren dahin.

»Weshalb?«

»Sie sammeln ihre Kräfte.«

»Und was bedeutet das?«

»Daß sie das Ende vorbereiten. Das große Finale.« Er wandte den Kopf und sah sie eindringlich von der Seite an. »Verstehst du, Prinzessin? Falls ich recht behalte, stehen wir kurz vor dem Schachmatt.«



Am frühen Abend lichtete sich das Waldland, und die Masse aus dunklem Tann und hohen, mächtigen Laubbäumen löste sich auf in eine Vielzahl kleiner Bauminseln, verstreut über grüne Hügel, die sich nach Norden, Osten und Süden bis in die schiere Unendlichkeit erstreckten. Die Sonne stand golden über dem westlichen Wipfelmeer und strahlte ihnen grell in den Rücken. Im Osten aber wurde das Abendrot von der Dunkelheit verdrängt.

Sie wanderten weiter bis zum Sonnenuntergang, ohne ein Zeichen des Ritters und seines jungen Begleiters zu entdecken. Der Weg war außerhalb der Wälder in eine schmale Straße übergegangen, die irgendwann einmal gepflastert worden war; das mochte hundert oder mehr Jahre zurückliegen, denn der Boden hatte sich unter den Steinen an einigen Stellen gesenkt, an anderen gehoben. Alles war mit Moos und Gräsern überwuchert.

»Sie müssen neben der Straße reiten«, sagte Jodokus nachdenklich, »wenn sie nicht riskieren wollen, daß sich ihre Pferde die Fesseln brechen.«

Kriemhild nickte, obwohl sie kaum zugehört hatte. Tatsächlich war das weite Grasland rechts und links der Straße für Pferde viel besser geeignet als das löchrige Pflaster. Dies mußte einer der Wege sein, der seit Jahren von Händlern und Bauern gemieden wurde, nur so ließ sich die Verwahrlosung erklären. Offenbar waren sie Salomes Zopf bereits näher gekommen, als sie bislang angenommen hatten.

Freude aber empfand Kriemhild keine darüber. Zum einen wuchs von nun an stetig die Gefahr, Hagen in die Arme zu laufen. Zum anderen aber überkam sie allmählich auch die Ungewißheit dessen, was sie bei Berenike erwarten mochte. Noch immer kannte sie keine Zweifel an ihrem Handeln, war völlig überzeugt vom Versprechen der Alten. Doch sosehr sie auch an das glaubte, was ihr zu tun oblag, sosehr ängstigte sie auch die Vorstellung vom Preis, den sie zahlen sollte.

Von den Unschuldigen verlangt der Christengott stets das größte Opfer, hatte Berenike gesagt. Komm zu mir, wenn es soweit ist.

Bald würde es soweit sein. Salomes Zopf lag irgendwo vor ihnen in der anbrechenden Nacht. Spätestens am nächsten Mittag würden sie das Heim der Erzhexe erreichen. Vorausgesetzt, sie wurden nicht aufgehalten.

»Hast du keine Angst?« fragte Jodokus, als hätte er in ihren Gedanken gestöbert wie in einer fremden Kleiderkiste. Wahrscheinlich war es nicht allzu schwer, ihr anzusehen, was in ihrem Kopf vorging.

Sie zögerte mit einer Antwort -

Und tatsächlich sollte sie nie eine geben. Denn im selben Augenblick schien der abendliche Schatten des nächsten Hügels zu gerinnen, als wollte die Dunkelheit Gestalt annehmen.

Doch was sie im ersten Moment für einen Geist, eine Ausgeburt des Jenseits hielten, erwies sich nur Herzschläge später als Mann in Umhang und Rüstzeug.

Hagen von Tronje trat aus der Finsternis auf sie zu. Als er den Schatten des Hügels verließ, spiegelte sich der rote Abendhimmel auf seinem Helm. Es sah aus, als tanzten Flammen um seinen Schädel.

Jodokus fuhr erschrocken zusammen, aber Kriemhild blieb gefaßt. »Wo sind deine Krähen, Ritter Hagen?« rief sie ihm entgegen. Zwischen ihnen lagen nicht einmal fünfzig Schritte. Er mußte sie schon eine ganze Weile lang beobachtet haben.

»Es sind Raben, Prinzessin, und ich bin kein Ritter. Beides weißt du sehr genau.«

»Verzeiht, wenn mich dein Auftritt verwirrt. Ich habe dich hier nicht erwartet.«

»Auch das entspricht schwerlich der Wahrheit.«

»Du bezichtigst mich der Lüge?« Sie rümpfte empört die Nase, aber sie fand selbst, daß es ein armseliges Schauspiel war.

Hagen kam langsam näher. »Vielleicht gefällt es deinem neuen Freund zu hören, daß ich dich früher in solchen Momenten übers Knie gelegt habe, Prinzessin. Du warst schon immer ein ungezogenes Kind.«

»Ist es das, was du vorhast? Mich übers Knie zu legen?«

»Das steht wohl eher dem König zu. Oder deiner Mutter, die vor Sorge weder ißt noch schläft.«

Seine letzten Worte versetzten Kriemhild einen schmerzhaften Stich. Aber sagte er wirklich die Wahrheit? Hagen war ein Meister der Täuschung.

»Was hast du nun vor?« fragte sie.

»Ich bringe dich zurück nach Worms.«

Noch dreißig Schritte. Hagens Roß, der kleine Junge und Lavendel waren nirgends zu sehen. Wahrscheinlich warteten alle drei hinter dem Hügel.

»Du weißt, daß du mich zwingen mußt, mit dir zu gehen.«

»Es ist der Befehl des Königs, nicht meiner. Ich befolge nur seine Anweisungen. So, wie du es tun solltest.«

Verzweiflung kam in ihr auf, und es kostete sie beinahe all ihre Kraft, sie niederzukämpfen. Sie durfte jetzt nicht aufgeben.

»Wann, Hagen?« fragte sie bitter. »Wann war der Moment, in dem du all deine eigenen Gedanken und Gefühle fortgeworfen hast, um Platz zu schaffen für die des Königs?«

Er stutzte, dann schwieg er einige Schritte lang. Schließlich sagte er: »Ich habe deinem Vater viel zu verdanken, Kriemhild. Dankrat war ein weiser Herrscher. Und irgendwann einmal könnte Gunther ein ebensoguter König werden, wie euer Vater einer war.«

»Ein guter König, du liebe Güte!« Ihr Tonfall war verächtlich, obgleich sie keinen Haß auf Hagen empfand. Er war ebenso ein Opfer des Königshofes wie sie selbst. Mit dem Unterschied, daß er Opfer und Vollstrecker in einer Person war. »Wann wird mein Bruder in deinen Augen wohl ein guter König sein, Hagen von Tronje? Wenn du dich endgültig an ihn verkauft hast und genauso denkst wie er? Oder aber wenn er so kalt und gefühllos geworden ist wie du?«

Langsam kam er näher, ein unwirklicher Scherenschnitt vor dem fahlen Abendhimmel. Er sagte kein Wort, nur sein Kragen aus Rabenfedern knisterte leise im Wind. Plötzlich führte er beide Hände zum Helm und hob ihn vom Kopf. Darunter kamen ausgezehrte Züge zum Vorschein, kurzes, dunkles Haar, und eine schwarze Binde, die sein erblindetes linkes Auge bedeckte.

Jodokus beugte sich an Kriemhilds Ohr. »Mußt du nun auch noch mit ihm Streit anfangen?« flüsterte er verzagt.

Kriemhild ließ Hagen nicht aus den Augen. Noch fünfzehn Schritte. »Irgendwelche Vorschläge?« zischte sie Jodokus zu.

»Du hast doch nicht etwa vor -«

»Einverstanden«, unterbrach sie ihn lakonisch. »Dann machen wir es auf meine Art.«

Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da brach sie schon nach links aus, sprang von der Straße und rannte über die Wiese nach Norden.

Jodokus öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da war sie schon fort. Zugleich geriet auch der schwarze Hüne in Bewegung. Wortlos ließ er den Helm fallen und machte sich an die Verfolgung der Prinzessin, ohne Jodokus eines einzigen Blickes zu würdigen.

Der Sänger stand mit hängenden Schultern auf der Straße und fühlte sich elend. »Du hast mir nicht gesagt, was du unter ›meine Art‹ verstehst!« Aber er flüsterte nur und kam sich dabei äußerst hilflos vor.

Kriemhild war bereits jenseits einer Hügelkuppe im Norden verschwunden, und Hagen von Tronje folgte ihr mit riesigen Sätzen. Mit Rüstzeug und Mantel hätte er niemals so flink sein dürfen. Jodokus hegte wenig Hoffnung für die Prinzessin.

Dann machen wir es auf meine Art.

Das machte ihn wirklich wütend. Was dachte sie sich nur dabei? Einen Moment lang erwog er, den beiden zu folgen, doch gegen Hagen konnte er ohnehin nichts ausrichten.

Jodokus fühlte sich nichtsnutzig und verloren, als er plötzlich so ganz allein dastand. Jäger und Gejagte waren auf und davon. Und er? Zornig zupfte er unter seinem Wams die Bänder zurecht, die den Weinschlauch hielten, dann wandte er sich wieder nach Osten. Er passierte Hagens Helm und erwog, ihn aufzuheben, ließ ihn dann aber doch lieber liegen. Er wollte nicht, daß es hieß, er hätte versucht, einen Vertrauten des Königs zu bestehlen; o nein, ganz gewiß nicht! Sollte sich all das edle Königsvolk doch kreuz und quer über die Hügel jagen! Ihn würde das nicht mehr belasten! Ihn nicht!

Aber natürlich konnte er in Wahrheit an nichts anderes denken, und Kriemhilds Schicksal berührte ihn längst viel mehr als sein eigenes.

Von finsteren Gedanken erfüllt stieg er den Hügel hinauf, über den Hagen ihnen entgegengekommen war. Auch von hier oben konnte er die Prinzessin und ihren Gegner nirgends entdecken. Es war tatsächlich, als hätte sich der Boden aufgetan und beide in die Tiefe gerissen. Ein seltsamer Friede lag über dem Land, der Jodokus’ Neid weckte, war ihm selbst doch alles andere als friedlich zumute.

Als er die Ostflanke des Hügels hinabblickte, dem weiteren Verlauf der Straße nach, entdeckte er in einer dunklen Bodensenke ein Lagerfeuer. Die Sonne war jetzt gänzlich untergegangen, und der Einschnitt zwischen den Hügeln lag in völliger Dunkelheit. Nur das Feuer leuchtete Jodokus wie ein gefallener Stern entgegen. Aus der Ferne war nicht zu erkennen, wer dort lagerte, aber das war auch nicht nötig. Jodokus ahnte es auch so.

Eilig lief er die Straße bergab, verließ sie etwa hundert Schritte vor dem Feuer und pirschte vorsichtig näher heran. Seine Ahnung bestätigte sich. Unweit der Flammen hockte der kleine Junge im Gras, einen Dolch in der Hand, und ängstigte sich augenscheinlich fast zu Tode. Seine Augen zuckten aufgeregt hin und her, und er hatte Mühe, die Beine stillzuhalten. Die beiden Pferde standen ganz in seiner Nähe.

Mit Genugtuung, aber auch voller Sorge um Kriemhild, erkannte Jodokus, daß Hagen noch nicht zurückgekehrt war. Mochte der Teufel wissen, wohin es ihn und die Prinzessin verschlagen hatte. Wenn sie weiter mit dieser Geschwindigkeit nach Norden liefen, würden sie irgendwann ins Meer fallen.

Auf meine Art. Pah! Jodokus faßte einen Entschluß und dachte dabei, daß es allein seine eigene Art und Weise war, von der alles weitere abhing.

Obwohl Kriemhild es anzweifeln mochte, wußte er gut mit seiner Stimme umzugehen. Jetzt stellte er es unter Beweis, indem er das Heulen eines hungrigen Wolfes ausstieß, leise, als sei das Tier noch weit entfernt. Sogleich schrak der Kleine am Feuer angstvoll zusammen und spähte mit verkniffenen Augen in Jodokus’ Richtung. In der Dunkelheit aber vermochte er nichts zu erkennen, und so wuchs seine Furcht nur noch weiter.

Das Ganze begann dem Sänger allmählich Spaß zu bereiten, vor allem, da er selbst sich unsichtbar fühlte, der Junge aber weithin zu sehen war. Dennoch, so rief er sich selbst zur Vernunft, war er nicht hier, um Streiche zu spielen. Er war sicher, daß der Junge das Feuer gegen die ausdrückliche Anweisung seines Begleiters entfacht hatte, wahrscheinlich erst, als Hagen nach Anbruch der Nacht nicht zurückgekehrt war. Ein Glück für Jodokus.

Lautlos schlich er heran, achtete aber darauf, nicht in den Lichtkreis der Flammen zu geraten. Kriemhild hatte ihm erzählt, daß der Schimmel ihr gehörte, und der Sänger vertraute darauf, daß das Tier den Geruch der Prinzessin an seiner Kleidung wahrnahm. Freilich, er hätte einfach auf den Jungen zugehen, sich auf ein Handgemenge mit ihm einlassen und ihm eins überziehen können. Lieber aber wollte er versuchen, die Pferde zu stehlen, ohne daß der Kleine es bemerkte. Erst das war eine wahre Herausforderung!

Jodokus umrundete das Lager so weit, bis sich die Tiere genau zwischen ihm und dem Jungen befanden. Dann erst pirschte er näher heran. Im hohen Gras verursachten seine Sohlen nicht mehr als ein sanftes Rascheln, und selbst das ging unter im Säuseln der Nachtwinde, die über die Hügel strichen. Er erreichte den Schimmel und ließ dem Tier ausreichend Zeit, sich an seine Nähe zu gewöhnen. Tatsächlich schien das Pferd Kriemhilds Gerüche wiederzuerkennen und ließ ohne einen Laut geschehen, daß der Sänger das Seil löste, mit dem es an einem niedrigen Strauch gebunden war.

Wieder warf Jodokus einen Blick zu dem Jungen hinüber, diesmal zwischen den Beinen der Tiere hindurch. Der Kleine klammerte sich an den Dolch, als wollte er eine ganze Armee damit zur Strecke bringen. Sein Blick aber war nach Norden gerichtet, weit abgewandt von Jodokus und den beiden Pferden.

Der Sänger lächelte still vor sich hin, richtete sich wieder auf und näherte sich dem zweiten Roß. Hier mochte die Angelegenheit schwieriger werden. Erstens stand Hagens Pferd näher am Feuer, zum zweiten mochte es auf seine Weise genauso gefährlich sein wie sein Reiter. Einen Pferdebiß oder einen Tritt mit dem Huf konnte Jodokus jetzt am allerwenigsten gebrauchen.

Er machte einen Bogen um alle bedrohlichen Teile des Tieres und löste den Knoten seiner Fessel. Das Roß hielt still, doch seine Augen schienen jede Regung des Sängers genau zu beobachten, als wartete es nur darauf, daß er in seine Reichweite kam; spätestens dann würde es zustoßen wie eine Schlange. Die Vorstellung steigerte nicht gerade die des Sängers Zuneigung für das Tier.

Blitzschnell huschte er mit dem Seil zurück zu Kriemhilds Schimmel. Er befestigte das Ende des Stricks am Sattel, bis beide Pferde fest miteinander verbunden waren. Zuletzt schwang er sich auf den Rücken der weißen Stute.

Das Leder des Sattels knirschte vernehmlich, und der Junge fuhr herum. Er sah voller Entsetzen die Gestalt auf dem Rücken des Schimmels und hielt den Dolch wie ein Breitschwert vor sich. Die Spitze wies auf Jodokus, doch zitterte sie kaum weniger als die Knie des Kleinen.

»Wer da?« rief er aus.

»Ein Freund des Königs«, gab Jodokus zurück. Das war vielleicht nicht ganz die Wahrheit: ›Ein Freund der Schwester des Königs‹ wäre wohl richtiger gewesen, doch für solche Haarspaltereien blieb jetzt keine Zeit.

»Ich sehe nur einen Pferdedieb!« rief der Junge mit schwankender Stimme.

»Mag schon sein«, erwiderte Jodokus und spornte den Schimmel an. Sogleich stürmte das Tier nach vorne. Die weiße Mähne wehte im Wind, und Jodokus war überwältigt von der zügellosen Kraft im Leib dieses Pferdes. Ein wunderbares Tier, einer Prinzessin, gar einem König nur zu würdig! In gewisser Weise vielleicht auch einem fahrenden Sänger. In gewisser Weise...

Der Junge schrie auf, als ihn das schwarze Roß im Schlepptau des Schimmels beinahe in den Boden stampfte. Er sprang gerade noch schnell genug zur Seite, um den mächtigen Hufen zu entgehen. Dabei verlor er den Dolch. Die Waffe fiel prompt ins Feuer. Tränen schossen dem Jungen in die Augen, als er seinen Widerwillen bezwang und trotz der Flammen nach der Waffe griff. Sie hatte nicht lange genug in der Glut gelegen, um sich zu erhitzen, dennoch versengte der Junge sich am Feuer die Finger.

Als er wütend aufschaute und wild mit der Waffe um sich hieb, waren Jodokus und die Pferde längst fort. Der Junge hörte nur noch, wie sie gen Osten davongaloppierten.

Jodokus schaute zurück und sah den Umriß des Kleinen vor dem Feuer. Der Junge tat ihm aufrichtig leid. Hagen würde das Kind bestrafen, sobald er von dem Diebstahl erfuhr. Jodokus selbst wollte möglichst weit fort sein, wenn der Zorn dieses Mannes zum Ausbruch kam.

Er war noch nicht lange durch die Dunkelheit geritten, als sich vor ihm etwas regte.

»Heh!« rief jemand, gerade laut genug, um den Lärm der Hufe zu übertönen.

Eine weibliche Stimme.

Jodokus zügelte den Schimmel mit einem kräftigen Ruck. Es war zu dunkel, um ein Gesicht auszumachen.

»Mir scheint, das ist mein Pferd, auf dem Ihr sitzt, fremder Recke!« sagte Kriemhild und plötzlich prustete sie vor Lachen. »Welche Anmaßung!«

Jodokus war überhaupt nicht zum Lachen zumute. »Wo kommst du her?«

»Ich sagte doch, wir machen es auf meine Art.«

»Deine -«, begann er lautstark, ehe ihm einfiel, daß dies nicht der rechte Zeitpunkt für einen neuerlichen Disput war.

»Laß mich auf Lavendel reiten«, sagte Kriemhild. »Du kannst Hagens Pferd nehmen.«

»Aber wo ist -«

»Hagen? Der dürfte mich ein ganzes Stück weiter nördlich suchen. Wenigstens hoffe ich, daß ich ihn abgehängt habe.«

»Du hoffst

»Ein Narr, wer sich im Umgang mit Hagen von Tronje in Sicherheit wiegt.« Sie lachte leise. »Nun komm schon runter.«

Jodokus gehorchte, ohne nachzudenken, so verwirrt war er. Erst als er am Boden stand und Kriemhild sich in den Sattel des Schimmels zog, dämmerte ihm, daß sie tatsächlich von ihm verlangte, auf dem schwarzen Teufelsgaul zu reiten.

Widerwillig näherte er sich dem Roß.

»Tritt nie von hinten an ein Pferd heran«, erklärte Kriemhild schmunzelnd, »besonders nicht an dieses.«

»Vielen Dank«, knurrte er düster. Zaghaft legte er eine Hand auf den Sattel und schob einen Fuß in den Steigbügel. Mit klopfendem Herzen erwartete er, daß das Tier mit ihm durchgehen würde. Doch dann saß er sicher auf dem Rücken des Rosses und schlang sich die Zügel um die rechte Hand.

»Ho!« spornte Kriemhild ihren Schimmel an. Es war ein großartiges Gefühl, Lavendel wieder unter sich zu spüren. Plötzlich fühlte sie sich vollkommen frei und siegessicher. Nichts mehr konnte sich jetzt noch zwischen sie und Berenike stellen.

Auch Jodokus trieb sein Pferd voran, wenn auch weniger nachdrücklich und immer darauf bedacht, das gewaltige Schlachtroß nicht zu verärgern. Ein wenig fühlte er sich, als versuche er, einen Lindwurm aus den alten Legenden zu zähmen, unberechenbar und zu jeder Zeit bereit, sich gegen den eigenen Meister zu wenden. Freilich war dies nicht das erste Pferd, das er in seinem Leben gestohlen hatte, aber es war ganz sicher das allererste, dem er solchen Respekt zollte. Er fragte sich, ob es wirklich eine weise Entscheidung war, das letzte Stück der Reise auf solch einem Ungetüm anzutreten.

Lavendel war in rasenden Galopp verfallen, als ein gellender Pfiff über die nächtlichen Hügel schrillte. Kriemhild blickte sich nach Jodokus um und sah gerade noch, wie das schwarze Roß von einem Herzschlag zum anderen stehenblieb, als sei es mit allen vieren am Boden festgewachsen. Der Sänger schrie auf und flog in hohem Bogen über Hals und Schädel des Pferdes hinweg, strampelte wild mit Armen und Beinen, um dann mit einem dumpfen Laut ins Gras zu fallen.

Kriemhild riß Lavendel herum und ritt in einem engen Bogen zurück. Besorgt schaute sie auf Jodokus herab, der sich mit einer Grimasse das rechte Bein hielt. Wie es aussah, hatte er Glück, daß er sich nicht das Genick gebrochen hatte.

»Kriemhild!« gellte eine Stimme über die nachtdunkle Landschaft. »Du solltest dir anhören, was ich zu sagen habe!«

Aufgebracht blickte sie sich um, erkannte aber nichts als den welligen Horizont vor dem sternenklaren Nachthimmel. Entfernung und Tiefe waren wie aufgehoben; alles zwischen ihr und der Hügellinie versank in formlosem, undurchschaubarem Schwarz.

Sie beugte sich zur Seite und streckte Jodokus die Hand entgegen. »Los, hoch mit dir!«

Der Sänger hatte Mühe, überhaupt auf die Beine zu kommen, doch schließlich packte er Kriemhilds Hand und zog sich mit ihrer Hilfe in den Sattel.

»Prinzessin!« rief Hagen erneut, und diesmal klang es schon sehr viel näher. »Geh nicht zu Berenike! Du weißt nicht, was dich erwartet!«

Sie gab keine Antwort. Statt dessen raunte sie Jodokus zu: »Halt dich an mir fest!« Er hatte kaum seine Arme von hinten um ihre Taille geschlungen, da sprang Lavendel auch schon los, trug sie fort von Hagens tückischem Roß und aus der unmittelbaren Gefahr, abermals aufgehalten zu werden.

Hagen rief wieder ihren Namen und noch etwas anderes hinterher, aber beides ging im Donnern der Hufe unter.

Nach einer Weile sagte Jodokus: »Er wird uns einholen. Sein Pferd muß nur einen Reiter tragen, es ist auf alle Fälle schneller. Es sei denn...«

»Was?«

»Der Junge. Er wird ihn nicht allein zurücklassen, oder?«

»Das weiß nur Hagen selbst.«

Allmählich begannen sie auf dem galoppierenden Roß zu frieren.

Jodokus fragte: »Hast du eine Ahnung, wovor er dich warnen wollte?«

»Vor Berenike, nehme ich an.«

»Woher weiß er, daß du zu ihr willst?«

»Ich habe ihm von ihr erzählt, damals, als sie in Worms war.«

»Du hast was?« Ungläubig starrte er ihren Hinterkopf an. Ihr wehendes Haar kitzelte seine Nase.

»Hagen ist ein sonderbarer Mann. Man kann ihm Dinge anvertrauen, ohne daß er zu jemandem darüber spricht.«

»O ja, gewiß.«

»Hagen ist verschwiegener als jeder andere am Hof. Er schweigt ohnehin die meiste Zeit.«

»Trotzdem wirkt er so...« Jodokus verstummte, als ihm nicht das richtige Wort einfiel.

»Böse?« fragte sie. »Aber nein. Vertraue ihm ein Geheimnis an, und der einzige, der es gegen dich verwenden könnte, ist er selbst. Niemand sonst wird je davon erfahren.« Sie zögerte einen Moment. »Und er ist geradezu besessen von seiner Treue zur königlichen Familie.«

»Du glaubst allen Ernstes, er hat niemandem erzählt, wo du hin willst?«

»Niemandem.«

»Keine Soldaten, die ihm in einigem Abstand folgen? Keine Krieger der königlichen Leibwache?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur er allein. Er hat mir damals versprochen, niemals mit irgendwem über Berenike zu reden. Er würde lieber sterben, als solch einen Eid zu brechen.«

»Was dir auch nicht helfen wird, wenn er uns einholt. Er sieht aus, als könnte er ganz gut allein mit dir fertig werden - und mit Berenike noch dazu«

Kriemhild lachte hell auf. »Aber ich habe doch dich!«

Darauf fiel ihm nichts mehr ein, und so blickte er unsicher über seine Schulter zurück nach Westen. Falls Hagen sie schon verfolgte, so war er ein Teil der Finsternis.

Die Unruhe des jungen Sängers legte sich erst, als ihm bewußt wurde, daß er eine leibhaftige Prinzessin in den Armen hielt. Egal, wie auch die Umstände waren: Er spürte ihren schlanken, warmen Körper an seinem eigenen, und alle Ängste waren auf einen Schlag wie fortgewischt.

Er und Kriemhild allein in der Nacht. Leib an Leib. Ihr Haar an seinen Wangen.

Was für ein Wagnis! Was für ein Abenteuer!



»Hast du dich noch nie gefragt«, fragte Kriemhild, als vor ihnen die Sonne aufging, »wer den Unterschied zwischen einem Berg und einem Hügel festgelegt hat? Ich meine, wer hat gesagt: ›Das dort soll fortan ein Berg sein‹ und ›Das da ist ein Hügel‹?« Jodokus schaute auf. »Wen kümmert das?«

»Mich.«

»Also«, meinte er seufzend, »mir ist das völlig gleichgültig.« Es kam oft vor, daß Kriemhild über Dinge redete, die er nicht verstand. Und er hatte das Gefühl, als geschähe es immer häufiger, seit Salomes Zopf in Sichtweite war.

Die Hügelkette - oder Bergkette, denn sie war weit höher, als Kriemhild erwartet hatte - erhob sich als geschwungene Silhouette vor dem Sonnenaufgang. Das Land lag da wie in Gold getaucht. Die Straße schien geradewegs über Salomes Zopf hinweg ins Zentrum eines Feuerofens zu führen. Der Name dieses Landstrichs hatte eine gewisse Berechtigung, fand Kriemhild, denn die Berge lagen tatsächlich da wie ein geflochtener Zopf, so gleichmäßig und gerundet waren die Kuppen ihrer Erhebungen. An ihrem Fuß wuchs eine schwarze Mauer aus Bäumen empor. Jenseits davon war ein Ende der Wälder nicht abzusehen. Sie bedeckten den Höhenzug wie ein dichtes, dunkles Tuch, und Kriemhild fragte sich unwillkürlich, wie es darunter aussehen mochte, in den Schatten uralter Tannenhaine und den Tiefen zerklüfteter Felsspalten. Ein Schauder lief ihr über den Rücken; sie hätte nicht sagen können, ob sie ihn als wohlig oder warnend empfand.

»Am Waldrand trennen wir uns«, entschied sie, und ihr Tonfall verriet, daß sie keinen Widerspruch dulden würde.

»Und was wird dann aus mir?« Da war etwas in Jodokus’ Stimme, das sie nicht gleich einordnen konnte. Er war beleidigt, gewiß, aber da war auch noch etwas anderes. Sorge, vielleicht. Und nicht um seiner selbst willen.

Lieber Himmel, er machte sich tatsächlich Sorgen um sie!

Kriemhild zügelte das Pferd und warf einen Blick zurück auf die einsame Straße, über die sie gekommen waren. Keine Spur von Hagen. Überhaupt kein Anzeichen von Leben. Auch auf den Wiesen im Norden und Süden zeigten sich weder Mensch noch Tier.

Mit einem Stöhnen glitt sie aus dem Sattel und vertrat sich die Beine. Sie waren die ganze Nacht hindurch geritten, ohne Rast, ohne zu essen und zu trinken.

Jodokus sprang gleichfalls zu Boden, und sofort meldete sich sein verletztes Bein. Er keuchte auf, teils vor Überraschung, teils vor Schmerz; dann knickte das Bein ein, und er lag fluchend am Boden. Kriemhild half ihm auf die Füße.

»Danke«, sagte er und verzog das Gesicht, »es geht schon wieder. Laß uns ein paar Schritte laufen, damit ich mich daran gewöhnen kann.«

Kriemhild führte Lavendel am Zügel, und so wanderten sie weiter nach Osten. Der Waldrand unterhalb der Berge war noch einige Bogenschußweiten entfernt, aber Kriemhild schätzte, daß sie ihn erreichen würden, bevor die Sonne ein Drittel ihrer Bahn bewältigt hatte.

»Wir waren uns doch einig, oder?« sagte sie und beobachtete Jodokus aus dem Augenwinkel. »Ich muß allein zu Berenike gehen. Es geht nicht anders.«

»Hat sie das gesagt?« Trotz lag in seinem Tonfall, fast wie bei einem Kind.

Kriemhild zögerte. »Nein.«

»Woher weißt du es dann?«

»Ich... es ist eben so.«

»Du willst mich nur loswerden.«

»So ein Unsinn.«

»Der dumme Sänger hat seine Aufgabe erfüllt und darf gehen. Ganz wie bei Hofe, nicht wahr? Das letzte Lied ist gesungen, und das Fußvolk darf sich zurückziehen.«

Sie warf ihm einen mahnenden Blick zu. »Ich werde nicht schon wieder mit dir streiten.«

Jodokus schnaubte verbissen. »Dabei hätten wir zum ersten Mal einen echten Grund.«

Ein erschöpftes Seufzen kam über ihre Lippen. »Wieso willst du mitgehen? Was hast du davon?«

»Du brauchst jemanden, der dir beisteht. Das hast du selbst gesagt.«

»Aber wenn ich Salomes Zopf erreicht habe, bin ich in Sicherheit.«

»Das sagst du. Denk’ an Hagens Warnung.«

»Er hätte alles gesagt, nur um mich zurückzuhalten.«

Jodokus runzelte die Stirn. »Das klingt aber gar nicht nach dem ehrlichen Edelmann, als den du ihn beschrieben hast.«

»Es ist nicht so einfach. Man kann Hagen nicht in ein paar Sätzen gerecht werden.«

»Du magst ihn, nicht wahr?«

»Ich respektiere ihn für das, was er sein könnte, wäre er nicht der Handlanger des Königs.«

»Immerhin deines Bruders.«

Sie schüttelte den Kopf. »Hagens Treue gilt allein dem Thron, nicht den Gefühlen des Mannes, der darauf sitzt. Bei mir ist es genau umgekehrt: Ich liebe Gunther als meinen Bruder - jedoch als König...« Sie verstummte mitten im Satz, hob die Schultern und lächelte fahrig. »Ich sagte ja, es ist nicht einfach.«

»Ich glaube, du gefällst mir auch besser als Frau denn als Prinzessin.«

Sie lachte, aber ihr Blick war traurig. »Ich werde nie in meinem Leben etwas anderes sein als eine Prinzessin. Das ist mein Schicksal, fürchte ich.«

Er schwieg eine Weile, dann fragte er: »Hat man je davon gehört, daß eine Prinzessin und ein fahrender Sänger...«

»Zusammen reisen?«

Er schaute zu Boden. »Ja. Das war es wohl, was ich meinte.«

Kriemhild lächelte. »Ich glaube, es kommt nicht oft vor.«

Da kreuzten sich ihre Blicke, und sie hatten plötzlich Mühe, ernst zu bleiben, obgleich doch beiden so schwer ums Herz war. Jodokus’ Schmerzen wurden schlagartig besser, und bald schon stiegen sie wieder auf Lavendels Rücken.

»Ein Rätsel«, sagte Jodokus plötzlich. »Was ist das: Zwei geben es und fünf nehmen es?«

Kriemhild überlegte vergeblich. »Sag’s mir.«

»Nasenrotz.« Und darüber lachte er so herzlich und roh, daß Kriemhild nicht anders konnte, als einzufallen.

Und so ritten sie weiter, lachten viel und redeten Unsinn, während vor ihnen die Sonne höher stieg und die Schatten der Bäume kürzer wurden.



Aus der Nähe besehen wirkte Salomes Zopf nicht mehr ganz so ebenmäßig und kunstvoll in die Landschaft drapiert wie von fern. Die Bergkuppen waren zerklüfteter, als es am Morgen den Anschein gehabt hatte, und selbst dort, wo der Wald noch nicht Fuß gefaßt hatte und die Erde weitgehend eben war, zeigten sich erste Spalten im Boden, so daß sie achtgeben mußten, wohin Lavendel die Hufe setzte.

Sie hatten den Waldrand kaum erreicht, als Jodokus bei einem seiner regelmäßigen Blicke über die Schulter etwas entdeckte.

Er gab Kriemhild einen sanften Stoß. »Sieh dir das an!«

Sie folgte seinem Blick und entdeckte einen dunklen Punkt im Grün der Wiesen, unweit der Straße und noch viele Bogenschußweiten entfernt. Als sie die Augen zusammenkniff, erkannte sie, daß es ein Pferd war. Darauf saßen zwei Gestalten, eine groß und dunkel, die andere klein und verloren.

»Wie lange werden sie brauchen, ehe sie hier sind?« fragte Jodokus.

»Hagen wird sein Pferd nicht schonen«, gab Kriemhild nachdenklich zurück. »Aber ich glaube, im Wald wird er uns kaum wiederfinden.«

Jodokus starrte immer noch aufmerksam ihren Verfolgern entgegen. »Den Jungen hat er also tatsächlich mitgenommen.«

»Vielleicht ist das gar nicht so sonderbar.«

»Wie meinst du das?«

Aber Kriemhild hatte ihre Aufmerksamkeit schon wieder dem Waldrand zugewandt. Die Bäume standen ungemein dicht und waren von verschlungenem Dickicht durchwoben. »Wir müssen einen Weg hinein finden.«

Die Straße führte, von zahlreichen Rissen durchbrochen, bis zu den Wurzeln der vorderen Bäume. Dort aber schien es, als habe der Wald ihren weiteren Verlauf regelrecht verschluckt; zwischen Ranken und Büschen war kein einziger Pflasterstein zu erkennen. Auch war es seltsam, daß die Spalten im Boden offenbar erst entstanden waren, nachdem die Straße angelegt worden war. Etwas mußte die Erde bis in ihre Grundfesten erschüttert haben, um solche Zerstörungen zu bewirken.

Statt sich aber von diesen Beobachtungen beunruhigen zu lassen, fühlte Kriemhild sich durch sie nur in der Überzeugung bestärkt, daß ihr Entschluß der richtige war. Dies war ein mächtiger Ort, und Berenike mußte eine mächtige Frau sein, wenn sie hier lebte. Mächtig genug, das Elend der Pest zu beenden.

»Sieht aus, als müßten wir uns durch die Büsche schlagen«, sagte Jodokus und wirkte dabei nicht allzu glücklich.

»Du kannst immer noch hierbleiben.«

»Und dich allein da reingehen lassen? Kommt gar nicht in Frage.«

»Du wirst mir nur deine Götter auf den Hals hetzen.« Sie hatte scherzhaft klingen wollen, dabei aber vergessen, daß er in diesem Punkt keinen Spaß verstand. Er wurde sofort kreidebleich, als hätte er viel zu lange keinen Gedanken an die Gefahr verschwendet, die er zu Anfang ihrer gemeinsamen Reise gar nicht oft genug hatte heraufbeschwören können.

Um ihn abzulenken, sagte Kriemhild schnell: »Du mußt mir etwas versprechen.«

»Was?« Seine Stimme schwankte noch immer, als sei er im Geiste ganz woanders.

»Sobald wir an Berenikes Schwelle stehen, werden wir uns trennen.«

»Keine Sorge«, entgegnete er gefaßt. »Ich bin nicht wild darauf, diesem Weib gegenüberzutreten. Obwohl ihr die Begegnung mit einem rechten Mann vielleicht ganz guttäte.«

»Du bist ein Scheusal!«

»Sie muß häßlich wie die Nacht sein, wenn sie es nötig hat, sich an solch einem Ort zu verstecken.«

»Jodokus!« Kriemhild tat empört und unterdrückte ein Grinsen. »Nicht jeder ist so aufs Äußere bedacht wie du.«

»Ein Glück für dich! Wer weiß, ob es ein anderer so lange mit dir ausgehalten hätte.«

Kriemhild rümpfte die Nase, dann stieg sie vom Pferd und näherte sich zu Fuß dem Wald. Von seiner Wildheit und Unzugänglichkeit abgesehen, wirkte er nicht gefahrvoller als jeder andere Forst im Burgundenreich. Dennoch überkam sie Beklommenheit.

»Was geschieht mit dem Pferd?« fragte Jodokus, als auch er zu Boden sprang.

»Es gehört dir.«

»Unsinn. Du brauchst es für den Rückweg.«

»Ich bin sicher, Berenike wird mir helfen, nach Hause zu kommen. Auf ihre Weise.«

»Ich an deiner Stelle würde nicht so großes Vertrauen in diese Hexe setzen.«

»Und ich an deiner Stelle würde in Berenikes Wald meine Zunge hüten.«

Er schnitt ihr eine Grimasse, dann meinte er: »Das Pferd kann ich trotzdem nicht annehmen.«

»Dann muß es wohl verhungern.«

Er trat auf sie zu und ergriff ihre Hand. Diesmal ließ sie es zu, genoß die Berührung sogar. »Du weißt«, sagte er sanft, »daß Lavendel und ich hier draußen auf dich warten werden, nicht wahr? Egal, wie lange es dauern wird.«

Da umarmte Kriemhild ihn und kämpfte mit den Tränen.

Bald schon aber mußten sie aufbrechen. Sie hatten fest damit gerechnet, das Pferd zwischen den äußeren Bäumen anbinden zu müssen - ein wenig abseits, damit Hagen nicht darauf stieß -, so daß Jodokus den Schimmel bei seiner Rückkehr befreien konnte. Jetzt aber, als Kriemhild zwischen die vorderen Bäume trat, da war es, als sei dort plötzlich eine Schneise entstanden, sehr schmal und leicht zu übersehen. Und doch war Kriemhild sicher, daß sie vorher nicht dagewesen war. Sie mochte sich täuschen, doch als sie Jodokus danach fragte, meinte auch er, die Schneise früher nicht bemerkt zu haben.

Der Einschnitt war gerade breit genug, daß Lavendel hindurch paßte. Kriemhild nahm es als weiteren Beweis von Berenikes Kräften hin, und ihre Hoffnungen bekamen neuen Auftrieb. Mit frischem Mut machte sie sich auf den Weg, führte den Schimmel am Zügel, während Jodokus hinterherging. Der Sänger blickte mit umwölkter Stirn auf die Wurzeln und Äste, welche die Seiten der Schneise bildeten. Es gab keine Spuren von Axthieben; tatsächlich schien es, als sei der Weg auf natürliche Weise entstanden. Jodokus erwartete sorgenvoll, daß er sich jeden Moment um sie schließen mochte, wie das verholzte Maul eines Waldriesen. Doch nichts rührte sich. In den Baumkronen sangen die Vögel, kleines Getier wieselte zwischen den Stämmen umher, und nichts wies darauf hin, daß dies ein Ort der Verderbtheit oder Schwarzer Magie war. Vielleicht, so meinte er schließlich, hatte Kriemhild doch recht. Dann aber fiel ihm der Preis ihrer Unschuld ein, und er sagte sich, daß niemand, der Gutes im Sinn führte, so etwas von ihr verlangen würde.

Kriemhild dagegen schritt schneller aus, je höher sie in die Berge stiegen. Sie war überzeugt, daß der Pfad sie zum Haus der Erzhexe führen würde. Ihr Zögern beim Anblick des Waldes war gänzlich geschwunden, vielmehr schien er ihr nun in seiner urtümlichen Wildheit schön und wundersam. Der Schimmel zögerte manches Mal, bevor er einen Schritt machte, doch Kriemhild achtete kaum darauf. Einmal ertappte sie sich dabei, daß sie das Pferd und Jodokus einen Moment lang völlig vergessen hatte, aber sie schob es auf ihre Aufregung und die freudige Erwartung.

Sie waren bereits eine ganze Weile bergauf marschiert, als Kriemhild plötzlich stehenblieb. Der Einschnitt führte über eine Erhebung und verschwand auf der anderen Seite aus ihrem Blickfeld. Jenseits des Erdbuckels ragten in weiter Ferne zwei Türme aus grauem Bruchstein empor.

»Wir sind da«, flüsterte sie zu sich selbst, als hätte irgendwer Zweifel daran geäußert.

Jodokus drängte sich ächzend an Lavendels Pferdeleib entlang, wobei ihm das dichte Astwerk die Haut zerkratzte. Leise vor sich hin schimpfend kam er neben Kriemhild zum Stehen. Zögernd folgte er ihrem Blick hinüber zu den Türmen.

Beide waren mindestens ebenso hoch wie die höchsten Bauten der Königsburg zu Worms. Dabei wirkten sie nicht halb so düster, wie Kriemhild es vom Hort einer Hexe erwartet hatte. Die Sonne badete die Türme in ihren Strahlen und verlieh den Mauern einen goldgelben Glanz. Die Dächer waren spitz und aus dunklem Schiefer; von beiden flatterten rote Fahnen. Auf einem stand gar ein bronzener Wetterhahn, der sich langsam im Wind drehte.

»Ich glaube, den Rest des Weges kann ich allein gehen«, sagte Kriemhild, ohne den Blick von den Türmen zu nehmen.

Jodokus blieb argwöhnisch. »Nur noch ein Stück. Ich will sehen, wie das Ganze aus der Nähe aussieht.«

»Wie soll es schon aussehen?«

»Warten wir’s ab.«

So zogen sie weiter, jetzt nebeneinander, während Lavendel widerwillig folgte. Sie überschritten die Kuppe und sahen, daß der Weg dahinter schnurgerade in ein weitläufiges Tal hinabführte. Rund um die Türme zog sich eine Mauer. Zu Kriemhilds Überraschung lag das Anwesen auf einer Klippe, die sich über dem nebelverhangenen Grund der Senke erhob. Darunter war das Waldland gänzlich von grauem Dunst verschleiert, nur hier und da stachen die Wipfel einiger Fichten düster aus den bleichen Schlieren.

Der Weg führte nicht am Talboden durch den Wald, sondern über einen natürlichen Felsendamm, der sich oberhalb des Nebels bis zur Klippe erstreckte. Eine verwunschene Stimmung lag über dem Tal und den beiden Türmen, die es bewachten, doch nicht einmal Jodokus hätte sie als abweisend oder gar feindselig beschreiben können. Der Sänger hatte während seiner Wanderschaft viele Herrschaftssitze gesehen, und dieser hier unterschied sich äußerlich kaum von den übrigen. Und doch schien eine sonderbare Atmosphäre in der Luft zu liegen, beinahe ein Knistern, als wäre das ganze Tal von Magie erfüllt. Am liebsten hätte er Kriemhild ergriffen und sich mit ihr auf dem schnellsten Weg davongemacht. Aber ein Blick in ihr Gesicht genügte, um zu erkennen, daß sie niemals freiwillig umkehren würde. Berenike hatte sie längst in ihren Bann geschlagen, ganz gleich, ob er zauberischer Natur war oder nicht.

»Von jetzt an gehe ich alleine weiter«, sagte Kriemhild, und diesmal verriet ihr Tonfall nur zu deutlich, daß sie Widerspruch nicht dulden würde.

»Wie du meinst«, erwiderte Jodokus betrübt, um dann schnell hinzuzufügen: »Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Du mußt doch fühlen, daß hier -«

»Versuche nicht, mich umzustimmen.« Und plötzlich sah sie ihm in die Augen und lächelte. »Bitte, Jodokus. Ich bin diesen Weg nicht gegangen, um so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Es ist meine Entscheidung, mein Wille, und das solltest du akzeptieren.«

»Du bist eine Prinzessin«, entgegnete er leise, »und du kannst mir befehlen, daß ich -«

»Nein!« widersprach sie, aber es klang sanft, nicht abweisend. »Ich würde dir niemals einen Befehl geben. Du bist mein Freund, oder?«

»Und gerade deshalb meine ich, wir sollten umkehren.«

»Kehre du um. Und warte ein, zwei Tage auf mich, wenn du das wirklich möchtest. Wenn ich dann noch nicht zurück bin...« Sie verstummte und zuckte gelassen mit den Schultern, ohne jede Spur von Traurigkeit. Es war, als verabschiedete sie sich, um in ein Kloster einzutreten; sie löste sich von allem Weltlichen und vertraute sich einer Macht an, die jenseits menschlichen Begreifens lag.

Und vielleicht war es ja genau das, was Jodokus solchen Kummer bereitete. Aber er wußte, es würde keinen Sinn haben, ihr das zu erklären.

Sie verabschiedeten sich sehr förmlich, als sei es ihnen unangenehm, etwas zu überspielen, von dem sie doch beide wußten, daß es da war. Sie küßten sich nicht.

Jodokus nahm Lavendel am Zügel, und der Schimmel hatte einige Mühe, sich in der engen Schneise umzuwenden. Als es ihm endlich gelungen war, verschwand Kriemhild aus Jodokus’ Sicht, und er fragte sich, was sie wohl denken mochte, während sie sich voneinander entfernten.

Wahrscheinlich war sie in Gedanken schon bei der Hexe, und er selbst war längst vergessen.



Jodokus beschäftigte sie, beinahe gegen ihren Willen. Kriemhild wollte sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag, auf Berenike und auf ihr weiteres Schicksal. Und doch schob sich das Antlitz des Sängers immer wieder vor ihre Augen, und seine Worte über Götter, den Dichtermet und die grausamen Spiele der Unsterblichen klangen noch lange in ihren Ohren nach. Sie hätte ihn zum Abschied gerne umarmt, hätte ihm gerne gestanden, wie wichtig es für sie war, daß er sie hierher begleitet hatte, doch etwas hatte sie daran gehindert. Sie wünschte sich, es auf Berenike und ihren Einfluß schieben zu können, doch in Wahrheit war es etwas ganz anderes: ihre Erziehung als stolze, unnahbare Schwester eines Königs. Der Fluch, eine Prinzessin zu sein.

Ihre Empfindungen zerrten sie entzwei zwischen Bedauern um den verlorenen Freund und einer ungewohnten Euphorie über Berenikes Nähe. Zum erstenmal gelang es Kriemhild, sich selbst die Frage zu stellen, ob die Hexe tatsächlich einen Zauber über sie gesprochen hatte.

Wiewohl, dieser Augenblick der Klarheit verflog geschwind und mit ihm alle Gedanken an Jodokus. Die Erinnerung an ihn verflüchtigte sich in einen verborgenen Winkel ihrer selbst, und dort mochte sie weiter gedeihen und sich eines Tages erneut bemerkbar machen - oder aber vollends verkümmern.

Kriemhild wanderte mit weiten Schritten den Pfad hinab. Es war deutlich zu erkennen, daß dies kein Weg war, der häufig benutzt wurde. Tatsächlich war der schmale Einschnitt mit dichtem, unberührtem Gras bewachsen, das keinerlei Spuren von Füßen oder Hufen zeigte.

Endlich erreichte sie jene Stelle im unteren Teil des Abhangs, an der die Bäume zu beiden Seiten zurückblieben und der Weg hinauf auf den schroffen Felsenwall führten, der sich wie ein Band über das dunstige Nebelmeer bis zur Klippe und den beiden Türmen spannte. Aus der Nähe erkannte sie, daß sich hier vor Äonen die Felsen von rechts und links gegeneinander geschoben und dabei einen Aufwurf gebildet hatten. Gewaltige Steinschollen stachen in bizarren Winkeln in die Höhe und bildeten die Flanken des Damms. Manche von ihnen fielen so steil in die Tiefe, daß ein Sturz unweigerlich in den Tod führen mußte; andere Oberflächen hingegen waren derart zerfurcht, daß sich in ihren Spalten und Winkeln Gesträuch und kleine Bäume angesiedelt hatten. Irgendwann einmal mußten hier gewaltige Kräfte die Erde erschüttert haben. Kriemhild erinnerte sich an die verschwundene Straße und fragte sich plötzlich, wie lange diese Erschütterungen tatsächlich zurückliegen mochten; vielleicht nicht gar so lange, wie der Anblick des Felsenkammes einen glauben machte.

Es war ein seltsames Gefühl, dem Hochweg über den Nebel zu folgen, weit über den höchsten Fichtenwipfeln. Der Wind pfiff kühl um Kriemhilds Wangen und erfüllte die Luft mit beständigem Säuseln. Raubvögel schwebten am Himmel, schwarze Sicheln, die auf der Suche nach Beute ihre Kreise zogen. Die Sonne hatte längst ihren höchsten Punkt erklommen, und dennoch wollten sich die Schwaden nicht vom Talboden lösen. Das Licht brach sich in den oberen Schichten des Nebels und erfüllte ihn mit geisterhaftem Leuchten. Der Dunst bildete wundersame Formen, und Kriemhild mußte den Blick abwenden, um nicht Gesichter und Alptraumwesen darin zu erkennen. Aus den Wäldern drang kein Laut herauf, nichts Lebendiges zeigte sich auf dem Weg zum Hexenhort. Allein der Wind blieb unsichtbar an Kriemhilds Seite und schien ihr Botschaften in einer geheimen Sprache zuzuraunen, die niemand außer ihm selbst verstand.

Im Näherkommen entdeckte sie, daß die beiden Türme keineswegs von der Mauer umringt wurden, wie sie von weitem angenommen hatte, sondern vielmehr darin eingelassen waren. Zwischen ihnen gab es ein offenes Tor, halb so hoch wie die Mauer, das ins Innere der Anlage führte. Ein paar Dachfirste, die über die Zinnen hinausragten, ließen auf weitere Gebäude jenseits der Ummauerung schließen. Was aus der Ferne nach einem stattlichen Anwesen ausgesehen hatte, erwies sich nun als regelrechte Festung. Kriemhild fragte sich, ob es teil von Berenikes Schutzzaubern war, daß sich der Anschein des Gemäuers mit jedem Schritt unmerklich zu verändern schien.

Rund fünfzig Schritte trennten sie noch von dem Torbogen, als sich vor ihr, an der rechten Seite des Hochweges, etwas rührte. Kriemhild schrak zurück, wollte sich herumwerfen und fliehen, doch es war bereits zu spät.

Eine Gestalt schob sich zwischen den Rändern der Felsschollen ins Sonnenlicht, gefolgt von einer zweiten. Auch auf der anderen Seite des Weges kletterte flink ein Mann empor, wie die beiden übrigen in Rüstzeug aus Leder und Eisenschuppen gehüllt. Alle drei trugen Stiefel aus glattem Fell, das aussah, als stammte es von Pferden. Einer hatte in sein eigenes pechschwarzes Haar einen langen Roßschwanz eingeflochten, den er vom Hinterkopf über die Schulter bis auf die Brust gelegt hatte. Die Männer trugen fremdartigen Schmuck aus Leder und Tierzähnen und riefen sich Worte zu, die verzerrt und zischelnd klangen.

Am alarmierendsten aber waren ihre Augen; Kriemhild bemerkte sie erst, als zwei der Männer ihre Arme packten. Sie waren geschlitzt und schrägstehend, die Brauen schwarz wie mit Tinte gezogen.

Weitere Gestalten erschienen am Tor und auf den Zinnen. Einige trugen schalenförmige Helme, rundherum mit Fell abgesetzt; obenauf saßen scharfe Eisenspitzen.

Kriemhild konnte schreien und fluchen wie sie wollte, sie trat und drohte mit der Macht des Königs, doch es änderte nichts an ihrer Lage. Als Gefangene wurde sie vor Berenikes Tor geführt, wo ihr ein schlanker Krieger entgegentrat. Er war jünger als die übrigen und trug eine bronzefarbene Rüstung, reichverziert mit sonderbaren Mustern. Um seine Schultern lag ein Mantel von dunklem Violett, schimmernd wie ein Stück Sternenhimmel.

»Verzeiht die grobe Behandlung, Prinzessin Kriemhild«, sagte er mit hartem Akzent und gab seinen Männern einen Wink. Augenblicklich ließen sie ihre Arme los und zogen sich zwei Schritte zurück. »Ich bin der Hauptmann dieser Schar und seit zwei Nächten Herr dieser Festung.«

»Ihr kennt meinen Namen«, entgegnete Kriemhild und bemühte sich verzweifelt, gefaßt zu erscheinen, »aber Ihr nennt mir nicht den Euren. Ist er mit Schande haftet, so daß Ihr Euch dafür schämen müßt?«

Ein bedrohliches Funkeln glomm in seinen schwarzen Augen auf, verschwand jedoch innerhalb eines Atemzuges. »Verzeiht noch einmal«, sagte er förmlich und versuchte sich an einer galanten Verbeugung, eine Geste, die es in seiner Kultur nicht gab. »Mein Vater ist der Herrscher des Ostens, der König aller Hunnen. Ich bin Prinz Etzel, sein erstgeborener Sohn.«



Jodokus hatte eigentlich erwartet, während seines Rückweges zum Waldrand auf neue Hindernisse zu stoßen: Stämme, die sich verschoben hatten und den Pfad blockierten, Wurzeln, die nach seinen Beinen griffen und sich wie Schlaufen zusammenzogen, Äste, die in sein Gesicht peitschten. Doch nichts dergleichen zeigte sich.

Sosehr Jodokus sich darüber freute, es nicht gar so beschwerlich zu haben, so sehr bereitete ihm derselbe Umstand auch Sorgen. Denn wenn der Pfad für ihn da war, dann war er es auch für jeden anderen, und das bedeutete, daß Hagen von Tronje ihm früher oder später entgegenkommen würde.

Der Augenblick kam schneller, als er befürchtet hatte, und weder rechts noch links boten sich mögliche Fluchtwege im Dickicht. Die Konfrontation war unvermeidbar.

Wie er selbst führte auch Hagen sein Pferd am Zügel. Jodokus hätte nicht zu sagen vermocht, wer ihm bedrohlicher erschien: das schreckliche Schlachtroß, hoch und breit wie ein Feuerdrache, oder aber der schwarzgerüstete Krieger mit seinem einen Auge, das so dunkel war, daß es ebenso eine leere Höhle hätte sein können. Sehr plötzlich, sehr unbegründet und in keinster Weise der üblen Lage angemessen, spürte Jodokus den brennenden Wunsch, unter die schwarze Binde zu schauen, die Hagens linkes Auge bedeckte. Wenn ihm sein rechtes, das gesunde, schon so bedrohlich erschien, wie mußte dann erst die Wunde aussehen, an welcher der Recke links erblindet war? Ein unschöner Gedanke und eine passende Strafe für soviel Neugier.

Der kleine Junge saß wortlos in Hagens Sattel und musterte Jodokus mit haßerfülltem Blick, der verriet, wie gut er sich an die Nacht und den Pferdediebstahl erinnerte.

»Erschlagt mich nicht, Herr«, bat Jodokus schon von weitem, hatte sich aber zumindest so weit im Griff, daß er nicht auf die Knie fiel. Doch der Sänger mochte sich aufrecht halten wie er wollte - Hagen überragte ihn um mehr als eine Haupteslänge. Jodokus mußte zu ihm aufblicken, als sie in zwei Schritten Entfernung stehenblieben. Selbst, wenn sie gewollt hätten, hätten sie sich nicht aneinander vorbeizwängen können, die Schneise war viel zu eng.

Hagen griff nicht nach seinem Schwert, wie Jodokus angstvoll erwartet hatte. Doch auch das änderte nichts an der bedrohlichen Aura des Kriegers.

»Ich fürchte, ich habe Euren Zorn erregt«, begann Jodokus und faßte den Plan, Hagen durch ein Geständnis besänftigen. »Natürlich wißt Ihr, daß ich der Prinzessin zur Seite stand, als sie sich Euch widersetzte, und ich muß gestehen, ich bin froh, daß es ihr gelang. Denn, das solltet Ihr nicht vergessen, sie ist die Schwester des Königs und ihr Wille ist -«

»Fahre fort mit deinem Geschwätz, Sänger, und ich nagle deine Zunge an den höchsten Baum dieses Waldes.« Hagens Gesicht blieb todernst, selbst als er hinzufügte: »Ohne sie vorher herauszuschneiden!«

Der kleine Junge zeigte ein breites Grinsen, als sei solch eine Maßnahme ganz nach seinem Geschmack.

Jodokus’ Magen wurde zu einem Felsblock, dessen Gewicht ihn zu Boden zu ziehen drohte. »Nun«, meinte er mit schwankender Stimme, »sicher ist Euch danach, mir übel zuzusetzen, und gewiß habt Ihr von Eurer Warte aus allen Grund dazu. Dennoch muß ich -«

»Wo ist sie?«

»Sie ist... Herr, sie ist bei Berenike.« Jodokus schluckte. »Wenigstens sollte sie jeden Moment bei ihr eintreffen.«

Es war, als fiele von oben der Schatten einer Wolke über Hagens Gesicht. Doch der Himmel war klar und von gleißendem Sonnenlicht erfüllt, und Jodokus erkannte sogleich, daß allein seine Worte die Ursache der Verfinsterung waren.

»Geh aus dem Weg!« verlangte Hagen.

Jodokus sah sich hektisch nach allen Seiten um. »Aber, Herr, wohin soll ich gehen. Ihr seht doch, daß nirgendwo ein Durchkommen ist in diesem furchtbaren Wald.«

»Wenn du im Ganzen nicht durch die Sträucher paßt, werde ich dich wohl oder übel in Stücke schneiden müssen.« Und schon legte der Krieger die Hand auf den Schwertgriff.

»Nein, nein!« rief Jodokus hastig aus. »Gewiß werden wir eine Lösung finden.«

»Wir sollten sie schnell finden, sonst ist die Prinzessin verloren.«

»Verloren, Herr? Ich weiß, daß Berenike einen schlechten Ruf hat, aber gewiß ist sie nicht so -«

»Berenike?« Hagens Auge blitzte zornig. »Es geht nicht um Berenike. Und nun mach endlich Platz!«

Nicht um Berenike? Jodokus legte verwundert den Kopf schräg. »Ich... ich könnte mit dem Pferd rückwärts gehen, Herr. Ich richte mich gerne nach Eurer Richtung.«

»Dann tu es schnell.«

Jodokus trieb den Schimmel dazu, rückwärts zu laufen, was Lavendel augenscheinlich wenig Freude bereitete. Dennoch gehorchte er, und Jodokus kam sich äußerst armselig vor, als er so vor Hagen, seinem Pferd und dem grinsenden Jungen zurückwich.

»Sagt, Herr«, bat Jodokus, während sie in solch wundersamer Reihe bergauf marschierten, »was habt ihr damit gemeint, daß es nicht um -«

»Schweig!« verlangte Hagen und zeigte damit einmal mehr seine schlechte Angewohnheit, anderen das Wort abzuschneiden.

»Aber, Herr«, sagte Jodokus beharrlich, »wie sollen wir die Prinzessin retten, wenn ich nicht weiß, gegen welchen Feind es geht?«

»Mag sein, daß ich dich am Leben lasse, Sänger«, knurrte Hagen, »doch jene anderen werden weniger großmütig sein.«

»Und wer sind diese anderen?«

Hagen schwieg, doch statt seiner gab der Junge eine Antwort.

Es muß dem Kleinen gut gefallen haben, mitanzusehen, wie Jodokus’ Kinnlade bis zur Brust hinabsackte und alle Farbe aus seinen Zügen wich, als wäre er mit den Füßen ins Eis eines Wintersees eingebrochen.


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