Kapitel 4


Der kleine Junge kauerte im Dämmer des anbrechenden Tages hinter einem Baumstumpf und wünschte sich, er wäre daheim in Würzburg geblieben. Er und seine Eltern hätten die Stadt nie verlassen dürfen. Die Familien des Flüchtlingszuges, der auf einer nahen Lichtung lagerte, hatten geglaubt, sie könnten vor der Seuche davonlaufen. Hier draußen in den Wäldern wären sie sicher, hatten sie gehofft. Es war ein Trugschluß, und Jorin Sorgebrecht hatte es als erster erkannt. Aber er war nur ein Junge, ein Kind, und niemand würde ihm glauben schenken.

Doch es war nicht die Überheblichkeit der Erwachsenen, die ihm in diesem Augenblick Sorge bereitete - es war der Schatten des Reiters, der sich von Norden her näherte. Sein Schatten, der jeden Augenblick über den Baumstumpf und über Jorin fallen würde. Sein Schatten, der den sicheren Tod verhieß.

Jorin hätte aufspringen können, aber er wußte, daß der Reiter keine Gnade kannte. Sein schwarzer Mantel fiel weit über mächtige Schultern, über Sattel und Hinterteil des Rosses. Ein langes Schwert hing an seiner Seite, und doch war es nicht die Klinge, die Vernichtung säte. Der Reiter selbst war es, eine finstere Legende, in Fleisch und Stahl gegossen. Gestaltgewordener Aberglaube. Der Herrscher ohne Hofstaat, der Regent aus dem Herzen der Nacht. König Pest.

Jorin preßte sein Gesicht enger an den Stumpf. Der würzige Duft von Rinde und Moos drang in seine Nase. Er kniff die Augen zusammen, wie er es als kleines Kind getan hatte, wenn er gehofft hatte, andere würden ihn nicht finden. Doch dies hier war kein Versteckspiel.

Der Schatten des Reiters kam näher, glitt wabernd über Sträucher und wildes Gras, über Dickicht und zerbrochene Zweige. Jorin wagte kaum mehr zu atmen. Wenn er sich jetzt zu erkennen gab, war es um ihn geschehen. Aber sterben würde er so oder so. Wer wußte schon, ob nicht einige der Flüchtlinge längst die Male der Plage unter der Kleidung trugen, ob sie die Seuche nicht mit sich schleppten wie den Geruch der Totenfeuer, der sie noch lange über die Stadt hinaus verfolgt hatte. Der Schwarze Tod war längst überall, nur verbarg er sich hier draußen hinter Bäumen und Bergen. Alle, selbst die Kinder, fühlten, daß er sie umschlich wie ein Wolfsrudel, hungrig, pirschend, auf lautlosen Pfoten.

Jorin war der erste, der ihn mit eigenen Augen sah, ihn erblickte wie einen anderen Menschen, greifbar, hörbar und doch aus einer fremden Welt. König Pest, von dem erst die Alten und plötzlich jedermann gesprochen hatte. König Pest, der Plagenbringer.

Die Hufe seines dunklen Rosses schlugen hart auf den Boden der Schneise, so daß im Umkreis die Erde erbebte. Jorin hörte das Schnauben der Nüstern, das Rascheln des schlagenden Schweifs. Hinter dem ersten trabte ein zweites Pferd, gesattelt, aber nicht beritten, geführt an einem Strick. Im Gegensatz zum Roß des Königs war es weiß und voller Anmut. Jorin dachte: Das muß die Unschuld sein, vom Bösen in feste Ketten gelegt. Der Gedanke brachte ihn trotz seiner Ängste zum Weinen.

Eine Idee nahm in ihm Gestalt an. Mit jedem Herzschlag verstärkte sich seine Entschlossenheit. Er war fast noch ein Kind, zwölf Sommer jung, aber jetzt würde er versuchen, der Welt die Erlösung zu bringen.

Der Schatten huschte mit jedem Schritt des Pferdes näher heran. Jorin wußte genau, daß er es fühlen würde, wenn ihn der Schatten erreichte. Er fragte sich, ob es weh tun würde.

Das Hämmern der Hufe war jetzt auf einer Höhe mit dem Baumstumpf. Das vordere Pferd mit seinem schrecklichen Reiter trabte vorüber, das zweite folgte. Weder Schmerz noch Kälte stellten sich ein. Dennoch mußte der Schatten ihn gestreift haben. Möglich, daß die Krämpfe in Jorins angespannten Gliedern die Pein verschleiert hatten.

Zögernd schlug er die Augen auf. Das hintere Pferd war bereits eine gute Mannslänge entfernt. Der Reiter schien ihn nicht bemerkt zu haben, denn er saß immer noch starr im Sattel, von hinten nur mehr ein finsterer Umriß, ein Helm über schwarzem Gewand.

Jorins Plan stand fest, und mit dem Mut eines Todgeweihten machte er sich auf, ihn in die Tat umzusetzen.

Bemüht, keinen Laut zu verursachen, schob er sich hinter dem Baumstumpf hervor. Geschickt stiegen seine Füße über zerbrochenes Geäst hinweg, senkten sich dann in weiches Gras. Das schmale Himmelsband über dem Einschnitt färbte sich allmählich blau, im Osten ging die Sonne auf; der halbe Tag würde vergehen, ehe ihre Strahlen den Grund der Schneise berührten.

Früher hatten Jorin und seine Freunde an so manchem Sommertag das Reich vor fremden Mächten gerettet. Mit Holzknüppeln und Steinschleudern hatten sie ihren Ängsten den Krieg erklärt, in Würzburgs Gassen Ratten gejagt und blinden Bettlern die Münzen gestohlen. Doch nichts von alldem hatte ihn auf dies hier vorbereitet, auf die Befreiung der Unschuld aus den Fesseln des Bösen.

Blitzschnell sauste er hinter dem Schimmel her, bewegte sich ganz nah an seinem Schweif. Er hoffte, der Pferderücken würde ihn schützen, falls König Pest nach hinten blickte. Eine Weile lang folgte er dem Reiter und seinen Rössern, bis er sicher sein konnte, daß er nicht bemerkt worden war. Dann machte er sich an den zweiten Teil seines Plans.

Lautlos beschleunigte er seine Schritte und drängte sich an dem Schimmel vorüber, glitt langsam an seiner Flanke entlang und näherte sich Mähne und Kopf. Im stillen betete er, daß das Pferd seine Anwesenheit nicht durch Wiehern oder Scheuen offenbaren würde. Einen Augenblick später fand er die Befürchtung schon lächerlich. Das Gute, Reine, Vollkommene, das König Pest in Gestalt eines Rosses gefangenhielt, würde dankbar über seine Befreiung sein. Fraglos würde es nichts unternehmen, das Jorins Pläne vereiteln konnte.

Jetzt mußte er nur noch die Hand ausstrecken, dann konnte er den Strick berühren, der vom Zaumzeug des Schimmels zum Sattel des Reiters führte. König Pest hatte das Seil um einen Riemen geschlungen, locker genug, um es in Windeseile lösen zu können.

Jorin hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wie es ihm gelingen sollte, den Strick zu kappen. Hatte er ja nicht einmal ernsthaft erwartet, überhaupt so weit vorzudringen! Doch nun, da die Fessel in greifbarer Nähe lag, drohte er zu versagen. Verzweiflung überkam ihn. Er hatte es doch nicht bis hierher geschafft, um jetzt tatenlos aufzugeben!

Wenn es ihm allerdings gelänge, den Knoten am Zaumzeug des Pferdes zu lösen...

Wie aber sollte er das zustandebringen, ohne daß der Reiter es bemerkte? Der Schimmel würde zwangsläufig langsamer traben, vielleicht sogar stehenbleiben. Spätestens dann war Jorins Schicksal besiegelt.

Aber war es das nicht ohnehin? Der Schatten des Schwarzen Königs hatte ihn berührt, und mit ihm der Atem der Plage. Jorin was des Todes, auf die eine oder andere Weise.

Er lief noch ein wenig schneller, bis er genau neben dem Kopf des Schimmels ging. Dunkle runde Augen musterten ihn neugierig. Jorin sah darin sein Spiegelbild, winzig klein. Ob auch das ein Zeichen war? Er bewegte die Lippen, um das Tier zu beruhigen, sprach aber keines der Worte laut aus. Seine Blicke rasten abwechselnd zwischen dem Knoten und dem Helm des Reiters hin und her. Ganz langsam hob er die Hände, seine Finger berührten das Seil.

Der Knoten war sehr fest gezogen, mit Kräften, die jene von Jorin bei weitem überstiegen. Gut möglich, daß der Reiter einen Bann darüber gelegt hatte. Ein magischer Knoten, ja, so mußte es sein!

Aber Jorin hatte schlanke Finger, und er wußte sie flink zu gebrauchen. Bald schon, fünf, sechs Atemzüge später, hatte er die erste Schlaufe ein wenig gelockert, nicht weit genug, um nachzugeben, aber doch schon mit Aussicht auf Erfolg.

Ein kühler Windstoß raste ihnen durch die Schneise entgegen und verfing sich im Umhang des Reiters. Der aufgebauschte Stoff machte harte, flatternde Geräusche, rasselte wie ein Drache im Unterholz. Einen Moment lang schien es Jorin, als würde das schwarze Pferd zögern. Dann aber schüttelte es nur seine Mähne und bewegte sich unverwandt vorwärts. Der weite Umhang sank in sich zusammen, und König Pest blickte starr geradeaus.

Die Schlaufe war jetzt so groß, daß Jorin seinen Zeigefinger hindurchschieben konnte. Trotzdem wollte sich der Knoten nicht lösen. Das Seil war rauh und zerzaust, seine Fasern bissen grob ineinander. Die Magie, die es hielt, mußte schlicht aber machtvoll sein. Jorin schauderte bei dem Gedanken, vielleicht selbst so zu enden wie der Schimmel, gefangen im Schlepptau des Reiters, auf immerdar sein Sklave. Jeder wußte, daß König Pest an jedem Ort der Welt auftauchen konnte, und oft benutzte er dunkle, böse Pfade. Die Vorstellung, ihm auf jeden Schritt folgen zu müssen, war fast zu viel für Jorin. Er war nahe daran, sich ins Dickicht zu schlagen, als ihn plötzlich die Nase des Schimmels anstieß, vertraut, beinahe spielerisch. Ein Blick in diese braven braunen Augen, die so viel Hoffnung in ihn setzten, und Jorin verwarf jeden Gedanken an Flucht. Er mußte das Tier befreien und mit ihm, vielleicht, das ganze Land.

Ein harsches Flattern ließ ihn abermals innehalten. Unter seinem ungläubigen Blick senkte sich ein gewaltiger Rabe vom Himmel herab, verkrallte sich in der rechten Schulter des Reiters. Ein schrilles Krächzen drang aus dem Schnabel des Tiers, und aus den Wäldern ertönte eine Antwort. Nur wenige Herzschläge später schwebte ein zweiter Rabe heran, landete kreischend auf der linken Schulter. Reiter und Roß ritten unberührt weiter.

Zum ersten Mal kamen Jorin Zweifel. War der Schwarzgerüstete wirklich der, für den er ihn hielt? Oder, schlimmer noch, war er gar jener, den die Alten den Rabengott nannten, den Herrn aller Götter - Wodan, der in Gestalt eines Menschen mit seinen Raben durch die Lande streifte?

Plötzlich kam Jorin sich unsagbar dumm vor. Jorin Sorgebrecht, Sohn eines Schneiders und einer Wäscherin, versuchte den obersten der alten Götter zu bestehlen!

Zugleich aber war da das dankbare Leuchten in den Augen des Schimmels, und abermals haderte der Junge mit seinem Gewissen.

Einer der beiden Raben wandte sich um und starrte ihn an. Legte den Kopf schräg, blinzelte... und begann zu schreien!

Jorin stolperte vor Entsetzen über die eigenen Füße, sein Finger rutschte aus dem gelockerten Knoten, er wich den Hufen des Schimmels aus, stürzte zur Seite und landete mit einem Aufschrei inmitten eines Dornendickichts.

Der Reiter zügelte sein Pferd. Nicht übereilt, nicht überrascht.

Jorin rang mit Ranken und Dornen, und doch blieb ihm genug Zeit zu begreifen, daß der Recke nur mit ihm gespielt hatte. Ob König Pest oder Rabengott, es machte keinen Unterschied. Beide würde ihn mit einem Fingerschnippen in Asche oder Schlimmeres verwandeln. Und wenn es nicht bald geschah, dann würde es gewiß die Angst sein, die ihn umbrachte.

Hinter den Sehschlitzen des Helms war nichts als Schatten. Die beiden Raben auf den Schultern des Reiters wiegten sich langsam hin und her, im Banne einer stummen Melodie. Sie selbst waren verstummt, nur ihr Gefieder raschelte im Wind. Auch der Kragen des Reiters war aus schwarzen Federn gewirkt, ein hoher, buschiger Schulterschmuck.

Der Anblick des Mannes hätte Jorin wohl auf der Stelle erstarren lassen, wären da nicht die Dornen gewesen, die sich von allen Seiten in seinen Körper bohrten. Er hatte seine Sinne noch so weit beieinander, daß er keinen Schrei ausstieß, um das Wesen im Sattel nicht noch mehr gegen sich aufzubringen. Statt dessen versuchte er verzweifelt, sich mit Händen und Füßen aus den Büschen zu stemmen. Dabei aber griff er jedesmal in neue Dornen, und die Spitzen rissen ihm Finger und Handflächen auf. Er weinte leise, aber es war nicht nur die Angst, die ihn dazu trieb, sondern auch der Zorn über seine eigene Hilflosigkeit.

Der Reiter betrachtete Jorins erfolglose Versuche eine Weile lang, schaute sich dann nach allen Seiten um und stieg mit einer erhabenen Bewegung aus dem Sattel. Sein Rüstzeug klirrte leise, und der Saum des Mantels streifte rauschend über den Boden, ohne sich in Dornen oder Zweigen zu verfangen; es sah beinahe aus, als wiche der Stoff ganz von selbst jeder Spitze aus. Riesenhaft und dunkel baute sich der Mann vor Jorin auf, aber sein Schatten fiel diesmal in die andere Richtung, und der Junge war dankbar dafür. Die beiden Raben erstarrten, nur um sich einen Moment später wie auf einen geheimen Befehl hin von den Schultern zu erheben und hinauf in die Lüfte zu steigen. Dort verschwanden sie zwischen den Baumwipfeln.

Eine behandschuhte Hand streckte sich Jorin entgegen. Der Junge zuckte zurück und trieb dabei ein halbes Dutzend Dornen in seinen Rücken. Noch immer sagte der Mann kein Wort, nur sein Atem ertönte dumpf aus dem Inneren des Helmes.

Er atmet, durchfuhr es Jorin, also ist er ein lebender Mensch! Doch was, schalt er sich dann, wußte ein Kind wie er schon über die Masken der Götter? Möglich, daß sie die Menschen bis in jede Einzelheit nachahmten.

Die ausgestreckte Hand schwebte über ihm, er mußte sie nur ergreifen. Ihr schwarzer Umriß vor dem blauen Morgenhimmel war ihm Drohung und Hoffnung zugleich. Doch die Dornen nahmen ihm die Entscheidung ab. Jorin ertrug den Schmerz nicht länger, und ehe er sich versah, hatte er die Hand gepackt und ließ sich von dem Riesen aus den Büschen ziehen.

Ganz kurz durchzuckte ihn der Gedanke, dem Mann entkommen zu können. Sich einfach herumzuwerfen und davonzulaufen. Dann aber dachte er sich, daß er längst hätte tot sein können, wenn der Reiter es gewollt hätte.

»Weißt du, welche Strafe der König Pferdedieben auferlegt?« drang eine scharfe Stimme unter dem Helm hervor.

Jorin fuhr zusammen. Angstvoll nahm er an, daß mit »König« der Reiter selbst, König Pest, gemeint war. Er schüttelte den Kopf, unfähig, auch nur einen Ton herauszubringen.

»Er läßt sie hängen«, sagte der Mann. »Und wenn der Dieb mehr als einmal gestohlen hat, wird er von vier starken Gäulen zerrissen.« Der Mann beugte sich mit einem Ruck vor, bis das Stahlgesicht des Helmes nur noch wenige Fingerbreit vor Jorins Nase schwebte. »Hast du mehr als einmal gestohlen?«

Jorin dachte, daß er auf der Stelle tot umfallen müsse. Jetzt und hier.

Hinter den Sehschlitzen brodelte die Dunkelheit. »Sag mir die Wahrheit, Junge!«

»Nein!« preßte Jorin hervor. Es stimmte, er hatte noch nie etwas gestohlen, das größer war als ein Apfel. Und ganz bestimmt keine Pferde.

Der Fremde blickte ihn aus unsichtbaren Augen an, als forschten sie in Jorins Kopf nach Beweisen seiner Aufrichtigkeit.

Endlich richtete der Mann sich wieder auf. »Gut«, sagte er. »Wie ist dein Name?«

»Jorin, Herr. Jorin Sorgebrecht.«

»Bist du krank?«

Jorin dachte daran, daß der Schatten des Reiters ihn berührt hatte. »Nein, Herr«, sagte er und hoffte, daß es die Wahrheit war.

»Zieh dein Wams aus!«

Der Junge befolgte den Befehl, und der Mann unterzog seine Achselhöhlen und seinen Hals einer eingehenden Betrachtung. Dann nickte er langsam. »Mir scheint, es ist wahr, was du sagst. Gut für dich.«

Die knappe Bemerkung jagte Jorin einen eisigen Schauer über den Rücken. Er ahnte, was geschehen wäre, wenn er gelogen hätte.

»Wo kommst du her?« fragte der Mann. »Gibt es ein Dorf hier in der Nähe?«

»Ich glaube nicht, Herr«, sagte Jorin und zog geschwind sein Hemd über. »Wir sind Flüchtlinge. Wir kommen aus der Stadt.«

»Wen meinst du mit ›wir‹? Deine Eltern und dich?«

»Ja, Herr, und noch einige andere.«

»Wie viele seid ihr?«

Jorin hatte nie gelernt, weiter als bis zehn zu zählen. Jetzt überlegte er angestrengt. »Ungefähr dreimal zehn«, sagte er dann, »ein paar mehr, vielleicht.«

»Und wo ist euer Lager?«

Geschwind hob Jorin den Arm und zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. Nur einen Augenblick später fiel ihm ein, daß er damit vielleicht das Todesurteil über die ganze Gruppe gesprochen hatte. Bleich und erschrocken ließ er die Hand wieder sinken.

Der Mann schien seine Gedanken zu lesen. »Keine Angst, Jorin Sorgebrecht. Weder dir noch den deinen will ich Böses.«

Jorin war keineswegs überzeugt, daß er daran glauben konnte, doch zum Schein nickte er hastig.

»Ich verlange nur eine Auskunft, nicht mehr«, fuhr der Mann fort. »Vielleicht kannst du mir helfen.«

»Ich bin Euer Diener, Herr.«

Der Fremde neigte den Helm, als stimmten ihn Jorins Worte milde. »Ich bin auf der Suche nach einem Mädchen mit langem goldenen Haar. Jemand ist bei ihr, aber ich weiß nicht, wie er aussieht. Sie reiten auf schwerfälligen Pferden, Ackergäulen wahrscheinlich. Hast du die beiden gesehen?«

Jorin spielte kurz mit dem Gedanken, ja zu sagen, um den Fremden gnädig zu stimmen; dann aber schüttelte er wahrheitsgetreu den Kopf. »Nein, Herr. Einige von den Mädchen, die mit uns ziehen, haben goldenes Haar, aber sie sind bei uns, seit wir die Stadt verlassen haben.«

Der Ritter schien einen Augenblick nachzudenken. »Führe mich zu deinen Leuten, Junge.«

»Das will ich, Herr.«

»Kannst du reiten?«

»Nicht wirklich, Herr.«

»Was wolltest du dann mit dem Pferd?«

»Ich... nichts, Herr.«

Wieder ruckten Helm und Oberkörper des Fremden vor. »Nichts?« fragte er drohend.

Jorin kam die Tatsache, daß er in dem Schimmel die verlorene Unschuld der Welt vermutet hatte, mittlerweile überaus albern vor. Er würde lieber sterben, als nur ein Wort darüber zu verlieren. »Verkaufen«, beeilte er sich zu sagen. »Ich wollte das Tier verkaufen, Herr.«

»Schon besser.« Der Ritter straffte sich und trat neben den Sattel des Schimmels. »Du wirst es nicht verkaufen können, Jorin Sorgebrecht, aber du darfst eine Weile darauf sitzen.«

»Aber ich kann doch -« Nicht reiten, wollte Jorin sagen, besann sich dann aber eines Besseren. »Ich will es gerne versuchen«, meinte er kleinlaut.

Der Ritter packte ihn mit beiden Händen und hob ihn blitzschnell in den Sattel. »Halte dich gut fest und gib acht auf tiefe Äste. Ich habe wenig Zeit und werde dich nicht aufsammeln, wenn du herunterfällst.«

»Ja, Herr.« Das weiße Pferd unter ihm stand ganz ruhig, und da begriff Jorin, daß es ein überaus edles und kostbares Tier sein mußte.

Der Ritter schwang sich in den Sattel des schwarzen Rosses, dann lenkte er es durchs Unterholz in die Richtung, in die Jorin gedeutet hatte. Der Schimmel folgte ihm, ohne Jorins Aufforderung abzuwarten. Der Junge hatte auch so genug zu tun: Den tiefhängenden Zweigen auszuweichen war viel schwieriger, als er erwartet hatte, doch das weiße Pferd trug ihn so ruhig und sicher durch den Wald, daß Jorin auf nichts anderes achten mußte, als sich festzuhalten und den Kopf einzuziehen.

»Herr«, rief er einmal dem Ritter zu, »sagt mir, wie darf ich Euch nennen?«

Der Fremde ließ eine Weile verstreichen, bis Jorin schon glaubte, er würde keine Antwort mehr bekommen. Dann aber ertönte es plötzlich unter dem Helm: »Ich bin Hagen von Tronje. Aber das ist kein Name, den du im Kopf behalten solltest. Manchem hat er schon Unglück gebracht.« Leiser fügte er hinzu: »Vor allem jenem, der ihn trägt.«

Jorin wußte nicht recht, was er von der letzten Bemerkung des Ritters halten sollte, entschied aber, sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Er war viel zu erleichtert, daß er es mit einem Menschen aus Fleisch und Blut zu tun hatte, nicht mit einem Dämon oder Gott.

Bald darauf erreichten sie die Lichtung. Durch das Gewirr der Stämme und Zweige waren die Karren der Flüchtlinge deutlich zu erkennen.

Jorin spürte bei dem Anblick keine Erleichterung. Er hatte sich mit gutem Grund davongeschlichen. Jetzt, da er zurückkehrte, schien sich eine unsichtbare Faust um sein Herz zu schließen.

Auch der Ritter erkannte sofort, daß etwas nicht stimmte. Er zügelte sein Pferd, bevor es aus dem Dämmer des Waldes ins Tageslicht treten konnte. Obwohl er den Helm nicht abgenommen hatte, spürte Jorin, daß Hagen voller Argwohn und Anspannung auf das Treiben der Flüchtlinge blickte.

Der Schimmel blieb neben dem schwarzen Schlachtroß stehen. Jorin beugte sich über die Mähne, als könnte er sich so vor den Menschen auf der Lichtung verstecken. Noch aber hatte niemand sie entdeckt.

Die Flüchtlinge hatten eine stattliche Herde von Rindern mit sich geführt, doch jetzt war keines der Tiere mehr am Leben. Man hatte sie aufgeschlitzt und ausgeweidet. Am entferntesten Rand der Lichtung lag ein Haufen aus Eingeweiden, der einem erwachsenen Mann bis zur Schulter reichte und am Boden breit auseinanderlief. Sonnenstrahlen glänzten auf den feuchten Schlingen und Blasen, und der Gestank war erbärmlich.

Die ausgeleerten Rinderleiber waren im Halbrund um die Lichtung an den Bäumen aufgehängt worden, mit den Schädeln nach unten. Ihre Bäuche waren feigenförmig aufgeklafft. Dahinter lagen nasse, dunkelrote Höhlen.

In einigen davon kauerten Menschen.

Ein alter Mann mit lichtem Haar und langem Bart ging von Kadaver zu Kadaver und segnete jeden mit einem Stab, an dessen Ende ein Kreuz angebracht war. Der Alte trug eine braune Kutte und sang auf lateinisch ein Kirchenlied; sein Gesicht war eingefallen, beinahe asketisch. Hinter ihm bewegte sich das verschüchterte Knäuel der Flüchtlinge. Alle waren splitternackt, ganz gleich ob Mann oder Weib oder Kind. Einige der Jüngsten weinten, andere hielten sich trostsuchend an den Händen.

Immer, wenn ein Kadaver von dem Alten mit den nötigen Weihen bedacht war, löste sich einer der Flüchtlinge aus der Gruppe und kroch widerstrebend in das ausgehöhlte Tier. Auf diese Weise war die Gruppe bereits auf die Hälfte zusammengeschrumpft; die übrigen hockten in den tropfenden Leibern, schwangen langsam mit ihnen vor und zurück.

»Wer ist dieser Mann?« flüsterte Hagen dumpf.

»Noah, ein Priester aus dem Norden«, antwortete Jorin. »Er hat sich uns angeschlossen, als wir die Stadt verließen.«

»Das da war sein Einfall, nehme ich an.«

»Ja. Deshalb bin ich fortgelaufen. Nicht wegen der Rinder«, fügte der Junge schnell hinzu, »ich habe keine Scheu vor Blut, aber...« Er verstummte, doch Hagen nahm den Satz auf:

»Aber du hattest Angst vor dem, was das Ritual bedeuten könnte, nicht wahr?«

»Ja, Herr«, gab Jorin zu und wunderte sich über das Verständnis des großen, finsteren Mannes.

»Als ich ein Kind war...«, begann Hagen, brach aber schlagartig ab, ohne den Satz zu Ende zu bringen.

Jorin wartete eine Weile, doch was immer der Ritter hatte sagen wollen, er behielt es lieber für sich. Schließlich zuckte der Junge nur mit den Schultern und blickte wieder hinaus auf die Lichtung. Er suchte nach seinen Eltern, fand sie aber nicht unter jenen, die hinter dem Priester standen. Sie mußten sich schon in den Kadavern verkrochen haben.

Plötzlich drehte Hagen sich zu Jorin um. Er hatte eine Entscheidung getroffen. »Geh zu deinen Leuten, Junge. Was immer sie dort tun mögen, bei ihnen bist du sicherer, als allein im Wald.«

»Und Ihr, Herr?«

»Ich reite weiter. Ich will mich nicht in diese Dinge mischen.«

»Aber ich habe Angst.«

»Und du tust gut daran, Jorin Sorgebrecht. In Zeiten wie diesen ist es weise, sich zu fürchten.«

Jorin blickte traurig zu Boden. »Sie werden mich bestrafen, weil ich fortgelaufen bin.«

»Liebst du denn deine Eltern nicht?«

»O doch, gewiß. Aber sie tun, was Noah ihnen sagt. Alle tun das. Und Noah wird mich bestrafen lassen.«

Hagen blickte wieder hinaus auf die Lichtung. »Er versucht, die Pest auszutreiben, nicht wahr?«

Jorin streichelte geistesabwesend über die Mähne des Schimmels. »Er sagt, die Krankheit ist in uns allen, zu jeder Zeit. Nur manchmal, wenn die Sünde der Welt besonders groß ist, dann kommt sie zum Vorschein, und verrät, wie es in unserem Inneren aussieht.«

»Aber dieses Ritual dort ist keine christliche Zeremonie.«

»Noah sagt, es reinigt die Menschen. Er betet oft und singt fromme Lieder.«

»Hat niemand etwas einzuwenden gehabt, als der Priester verlangte, die Tiere zu töten?«

»Jakup, dem die meisten Rinder gehörten, hat geschimpft und geschrien.« Jorin schüttelte sich bei der Erinnerung an das, was geschehen war. »Noah sagte, Jakup sei bereits krank, seine Worte würden das beweisen. Da wurde er ausgestoßen und mußte das Lager verlassen. In der letzten Nacht ist er zurückgekommen, um seine Rinder zu retten, aber es war schon zu spät. Die meisten waren längst geschlachtet. Jakup hat sich auf Noah gestürzt, ich glaube, er wollte ihn umbringen. Aber die anderen Männer haben ihn fortgerissen, und Noah hat befohlen, ihn...« Er verstummte.

»Was für ein sonderbarer Priester ist das, der aufrechte Männer töten läßt?«

»Er sagt, er sei der Erlöser.« Jorins Blick wurde trotzig. »Aber ich glaube ihm kein Wort.«

Hagen versank in Schweigen. Jorin spürte, daß er zwischen zwei Entscheidungen hin- und hergerissen wurde.

Schließlich sagte der Ritter: »Dennoch, ich muß weiter.« Er legte Jorin eine schwere Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid. Du bist ein gescheiter Junge, Jorin, und du wirst einmal ein kluger Mann werden. Geh zu deinen Eltern zurück und -«

Von der Lichtung erklang ein lauter Ruf. Hagen brach mitten im Satz ab und fluchte lautstark. Als Jorin seinem Blick folgte, bemerkte er, daß ihr Versteck keines mehr war. Zwei Mädchen, ein wenig älter als Jorin selbst und unbekleidet wie der Rest der Flüchtlinge, zeigten mit ausgestreckten Armen auf die beiden Reiter im Unterholz. Sogleich brach ein Tumult aus.

Der Gesang des Priesters verklang. Noah wirbelte herum und deutete mit seinem Stab auf Hagen und Jorin. Die Menge schien sich hinter seinem Rücken verkriechen zu wollen, so eng drängten sich die Menschen aneinander. Jene, die in den Kadavern kauerten, streckten neugierig die Köpfe hervor.

»Nun gut«, zischte Hagen leise, dann hieb er seinem Roß die Stiefel in die Flanken und preschte aus dem Dickicht auf die Lichtung. Zweige brachen, und abgerissenes Laub wirbelte rund um ihn zu Boden.

Die Aufregung unter den Flüchtlingen drohte beim Anblick des finsteren Reiters in Panik umzuschlagen, doch Noah befahl lautstark, die Ruhe zu bewahren. Tatsächlich schien es, als habe er die Leute gut im Griff. Doch dann rief plötzlich eine Stimme: »Seht doch! Es ist König Pest! Es ist der Schwarze König!«

Die Menschenmenge schien zu explodieren.

Männer und Frauen stürmten in alle Richtungen davon, einige suchten hinter den Karren Schutz, andere flüchteten zwischen die Bäume. Jene in den Kadavern zogen die Köpfe zurück und verbargen sich in ihren stinkenden Löchern, andere stürmten gar auf die leerstehenden Rinderleiber zu und krochen geschwind hinein. Von überall her erklang Weinen und Geschrei, Gebete und sakraler Singsang.

Noah aber verharrte inmitten des Chaos, reckte den Stab mit dem Kreuz zum Himmel und blickte Hagen starr entgegen. Als hätte er sie herbeigerufen, fuhren plötzlich Windböen in die weite Kutte des Priesters, brachten sie zum Flattern und zerzausten seinen Bart. Seine Lippen bewegten sich lautlos, und Jorin ahnte, daß er eine seiner Beschwörungen murmelte.

Hagen aber ließ sich von all dem nicht beeindrucken. Er ritt auf den Priester zu, zügelte sein Pferd an der Seite des Alten und trat ihm kraftvoll mit dem Stiefel vor die Brust. Noah kreischte auf, ließ den Stab fallen und flog rückwärts ins Gras.

Gebete und Gesänge wurden noch lauter, und einige Männer, die tapfersten, lösten sich aus ihren Verstecken und wollten dem Priester zur Hilfe eilen.

Hagen aber glitt in Windeseile aus dem Sattel, setzte dem am Boden liegenden Alten einen Stiefel auf den Brustkorb, zog sein Schwert und legte die Spitze an Noahs faltigen Hals. Die herbeistürmenden Männer wurden langsamer, blieben dann stehen. Haß, aber auch abgrundtiefe Furcht standen in ihren Augen.

Zugleich setzte sich Jorins Schimmel ohne Aufforderung in Bewegung und trabte gemächlich durch die Schneise, die Hagens stürmischer Auftritt ins Unterholz gerissen hatte. Als Jorin auf dem Pferd ins Freie schaukelte, blickten ihm drei Dutzend Augenpaare entgegen.

»Er hat die Krankheit!« schrie jemand. »Er reitet an der Seite von König Pest!« Geschrei und Gekeife wurden ohrenbetäubend.

Jorin wurde sehr klein in seinem Sattel und wünschte sich ans andere Ende der Welt.

Hagen hob seine freie Hand. Innerhalb weniger Augenblicke wurden die Schreie zu gedämpftem Flüstern, verstummten dann ganz. Gespanntes Schweigen legte sich über die Lichtung.

»Sagt mir«, rief Hagen in die Runde, »was hat euch dieser Mann versprochen?«

Keiner der Flüchtlinge wagte zu antworten, doch Noah brüllte: »Gesundheit. Frieden. Das ewige Leben. Und deinen Untergang, König Pest!«

Jorin hatte Zweifel, daß Noah den Ritter wirklich für den hielt, als den er ihn darstellte. Jorin selbst war diesem Irrtum erlegen, aber er war noch ein Kind; Noah hingegen wußte sehr wohl, was er sagte und tat, und er schien bei aller Verschlagenheit äußerst klug und gewitzt.

»Er lügt!« rief Jorin, und alle Gesichter wandten sich erneut zu ihm um. Sogar Hagen schaute ihn an. »Er ist ein aufrechter Ritter, und er ist gesund wie wir alle.«

Eines der Mädchen, ein junges Ding, mit dem Jorin früher in den Gassen gespielt hatte, lachte auf, ein irrer, verzweifelter Laut. »Gesund wie wir?« rief es höhnisch. Dabei rannte es auf Jorin zu, blieb einige Schritte vor ihm stehen und riß beide Arme in die Höhe. »Sieh her, Jorin Sorgebrecht!« Und sie offenbarte große schwarze Pusteln unter ihren Achseln.

Jorin zuckte voller Entsetzen zurück. Er hatte geglaubt, alle Mitglieder des Flüchtlingszuges seien bisher von der Krankheit verschont geblieben. Doch wenn das Mädchen die Male der Plage trug, dann vielleicht auch einige der anderen.

Das Mädchen sah das Grauen in seinen Augen, warf den Kopf zurück und stieß ein schrilles Lachen aus. Dann brach es schlagartig in sich zusammen, wie von einem Pfeil getroffen, begann zu weinen und rollte sich am Boden zusammen wie ein getretener Hundewelpe.

Einige der Flüchtlinge fanden neuen Mut und stürzten auf Hagen und Jorin zu.

Der Ritter beugte sich vor, packte den Priester am Kragen und riß ihn in die Höhe. Die Schwertspitze wies unvermindert auf den faltigen Hals des Alten.

»Sie sollen stehenbleiben!« sagte er mit fester Stimme, ohne jede Regung.

Noah schenkte ihm einen vernichtenden Blick. Dann rief er mit keifender Stimme: »Tötet ihn! Er ist die Plage selbst! Tötet alle beide!«

Die nackten Männer stürmten wie ein Rudel wilder Tiere über die Lichtung.

Jorins Augen weiteten sich, als er sah, wie gleich fünf oder sechs in seine Richtung liefen. Das Mädchen wälzte sich immer noch im Gras, achtete nicht auf das, was um es herum geschah. Panik überkam Jorin wie ein Fieberanfall; sein Gesicht, sein ganzer Körper schien zu glühen. Er zerrte an den Zügeln des Schimmels, ohne genau zu wissen, was es bewirken würde. Er hoffte nur, das Tier würde wenden und ihn in Sicherheit tragen.

Das kluge Roß aber schien bereits eine eigene Entscheidung getroffen zu haben. Plötzlich machte es einen Satz über das Mädchen hinweg und preschte mit schnaubenden Nüstern und donnerndem Hufgetrampel auf die Angreifer zu. Schreiend teilte sich die Gruppe, um nicht von dem Tier überrannt zu werden. Ehe Jorin sich versah, galoppierte der Schimmel schon quer über die Lichtung. Hakenschlagend wich das Pferd allen Angreifern aus, führte sie mühelos in die Irre, ließ sie übereinander stolpern und sorgte so für beträchtliche Aufregung. Hätte Jorin es nicht besser gewußt, so hätte er wohl meinen können, der Schimmel machte sich einen Spaß aus dieser Verfolgungsjagd. Und natürlich erkannte der Junge, daß sie hier, wo das Pferd genug Auslauf hatte, viel sicherer waren als im Wald, wo Baumstämme und Äste die Beweglichkeit des Tieres eingeschränkt hätten.

Derweil bedrohte Hagen immer noch den zappelnden Priester. Trotz aller Warnungen machte der Alte keinerlei Anstalten, seinen Mordbefehl zurückzunehmen.

»Wie du willst«, fauchte Hagen, ehe die ersten Angreifer ihn erreichen konnten. Er schleuderte Noah von sich und ließ das Schwert in weitem Bogen herumwirbeln. Die Männer blieben zurück, aus Angst, von der blitzenden Klinge niedergemäht zu werden. Einigen schien schlagartig bewußt zu werden, daß sie nicht nur unbekleidet, sondern auch unbewaffnet waren.

Noah lag am Boden und kreischte in höchsten Tönen: »Er muß sterben! Beide müssen sterben!«

Hagen sah ihn einen Augenblick aus den Schatten seiner Sehschlitze an, dann machte er einen Schritt auf ihn zu und führte einen kurzen, scharfen Hieb nach Noahs Kehle. Die aufpeitschenden Schreie des Alten brachen ab. Hagen sah ohne Mitleid zu, wie das Leben als letztes Röcheln aus dem blutenden Schnitt entwich, dann wandte er sich den übrigen Flüchtlingen zu.

»Ich will keinen Streit mit euch«, sagte er ruhig, doch der Helm gab seinen Worten einen düsteren, dumpfen Unterton.

Niemand ging darauf ein. Alle starrten ihn nur weiterhin unverwandt an, einige in irrer Wut, die meisten aber verängstigt.

»Was wollen wir nun tun?« fragte Hagen laut in die Runde. »Seid ihr sicher, daß ihr mich angreifen wollt?« Er deutete auf einen Mann, der größer und kräftiger als die anderen war und ihn haßerfüllt anstarrte. Seine nackte Haut war blutverschmiert. »Du! Willst du den ersten Schritt tun?«

Obwohl Jorin noch immer von dem Schimmel in weiten Kreisen über die Lichtung getragen wurde, erkannte er in dem Mann seinen Vater; er hatte den Kadaver verlassen, um Noah zu verteidigen, nicht seinen Sohn.

»Wer auch immer mich angreift«, rief Hagen und zeigte mit der Schwertspitze auf den nackten Hünen, »du wirst der erste sein, den ich töte. Darauf meinen Eid!«

Jorins Vater zuckte bei diesen Worten kaum merklich zusammen, und sein Blick fuhr herab zum Leichnam des Priesters. Dann sah er wieder Hagen an. Die Schwertklinge wies noch immer in seine Richtung. Es gab keinen Zweifel, daß der Ritter seine Drohung wahrmachen würde.

»Denk nach!« forderte Hagen ihn auf, ohne einen der übrigen Männer zu beachten. »Selbst wenn ihr alle zugleich über mich herfallt, wirst du es sein, der stirbt, noch vor allen anderen.«

Jorin versuchte, den Schimmel innehalten zu lassen, doch das Pferd gehorchte ihm nicht. Jorin wollte brüllen, um Gnade für seinen Vater bitten; er wußte allerdings, daß Hagen sie nicht gewähren würde.

»Vater!« schrie er deshalb über den donnernden Lärm der Hufe hinweg. »Du mußt tun, was er sagt! Er wird dich sonst töten!«

Falls Hagen überrascht war, so zeigte er es mit keiner Regung. Jorins Vater aber verlor noch mehr von seiner Sicherheit.

Schließlich hob er die Hand. »Zurück«, sagte er leise, dann noch einmal lauter: »Zurück!«

Etwa die Hälfte der Flüchtlinge gehorchte. Die übrigen aber waren viel zu aufgebracht über den Tod des Priesters. Einige von ihnen machten ungerührt einen Schritt auf Hagen zu.

Obwohl Jorins Vater sich mit den anderen zurückgezogen hatte, wies der Ritter abermals mit dem Schwert auf die Brust des Mannes. »Ich töte dich«, rief er beharrlich, »wenn auch nur einer die Hand gegen mich oder den Jungen erhebt.«

»Nein!« brüllte Jorin vom Rücken des galoppierenden Schimmels herab. »Das ist ungerecht!«

Hagen beachtete ihn nicht. »Ruf diese Hunde zurück«, gemahnte er Jorins Vater, »oder du stirbst!«

Durch die Reihe jener, die zurückgetreten waren, ging ein unruhiges Raunen. Jorins Vater sah sich aufgebracht unter ihnen um, aber alle senkten die Blicke. Plötzlich schien er ganz allein dazustehen, ohne jede Unterstützung. Mit einem verzweifelten Ruck setzte er sich in Bewegung und trat zwischen die Männer, die Hagen immer noch angriffslustig gegenüberstanden.

»Tut, was er sagt!« verlangte er und mühte sich merklich, das Schwanken seiner Stimme in den Griff zu bekommen. »Laßt ihn ziehen!«

»Er hat Noah getötet!« widersetzte sich einer und ließ seine Augen nicht von Hagen.

»Dafür erwartet ihn die Hölle«, gab Jorins Vater zurück. Er schenkte Hagen einen Blick voller Abscheu, dann wandte er sich wieder an die Männer. »Tretet zurück, oder wollt ihr wirklich noch weiteres Blutvergießen?«

Allmählich drangen seine Worte durch die Masken aus Haß und wütender Entschlossenheit, hinter denen sich die anderen verschanzten. Die ersten gaben auf und zogen sich zurück, weitere folgten ihnen. Schließlich spie auch der letzte verächtlich ins Gras und ging davon.

Der Ritter nickte Jorins Vater einmal kurz zu, so als wollte er sich bei ihm bedanken, dann senkte er das Schwert. Während er in den Sattel seines Rosses stieg, deutete er beiläufig auf den toten Priester. »Gebt ihm ein Begräbnis, das seinem Glauben entspricht - welcher auch immer das sein mag.«

Er hob die Hand, und sogleich hörte der Schimmel auf, im Kreis zu laufen. Gemächlich trabte er in die Mitte der Lichtung, bis er neben dem schwarzen Schlachtroß stehenblieb.

Jorin schaute den Ritter anklagend an, sagte aber kein Wort.

»Was nun, Junge?« fragte Hagen. »Willst du bleiben?«

Jorins Vater hatte Hagen und seinem Sohn den Rücken gekehrt, und obgleich er die Frage des Ritters gehört haben mußte, wandte er sich nicht um. Jorin blickte ihm flehend nach, doch die Entscheidung lag jetzt allein bei ihm. Niemand würde sie ihm abnehmen, gewiß nicht sein Vater. Er ahnte, daß der Haß der übrigen Männer und Frauen nur unterdrückt, aber keineswegs erloschen war. Sobald der Ritter fort war, würden die Flammen von neuem auflodern wie die Glut in einem Scheiterhaufen, und es gab wenig Zweifel, wen sie verzehren würden. Den Rückhalt seiner Eltern hatte er verloren - seine Mutter hatte sich noch immer nicht blicken lassen, und dann war da noch das Mädchen am Boden, die Pusteln unter ihren Achseln. Der sichere Tod, auch dann, wenn er blieb und nicht von der Menge zerrissen wurde.

Als der Junge seine Entscheidung traf, war Hagen schon zwei Pferdlängen entfernt und ritt unter den argwöhnischen Blicken der Flüchtlinge zum Waldrand.

»Wartet, Herr!« rief Jorin aus. »Nehmt mich mit Euch!«

Hagen gab durch nichts zu erkennen, ob er ihn gehört hatte, aber der Schimmel setzte sich sogleich in Bewegung und folgte dem Roß des Ritters. Jorin schaute sich nach seinem Vater um, Tränen verschleierten seinen Blick. Er sah nur einen nackten Umriß zwischen vielen anderen. Dann wurden die beiden Reiter vom Wald umfangen, und Geäst und Laubwerk verdeckten Jorins Sicht.

Sie waren bereits eine Weile geritten, schweigend und ohne sich anzusehen, als hinter ihnen Gesang laut wurde. Es war ein Lied in lateinischer Sprache, und obwohl Jorin kein einziges Wort verstand, spendete die Melodie ihm Trost. Einen ganz kurzen Moment lang wünschte er, jetzt bei den anderen zu sein, um sich vom Glauben und der Gemeinschaft und vielleicht auch von Gott an der Hand nehmen zu lassen. Auf dem Weg in den Tod, vielleicht, ganz gewiß aber auf dem Weg zur vollkommenen Gleichmut.


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