Kapitel 3


Das schwarze Roß schnaubte voller Ungeduld, als sein Reiter die Zügel straffer zog. Der lange dunkle Mantel des Mannes schlug Wellen, während das Tier unter ihm protestierend mit den Hufen scharrte. Es war ebenso unduldsam wie sein Reiter, wenn auch aus eigenen, den Menschen unverständlichen Gründen; der Mann hatte kein Verlangen, sie zu durchschauen. Er zeigte Nachsicht mit jeder Art von Geheimnis. Oft hatte er das Gefühl, er selbst lebe nur für seine eigenen dunklen Mysterien.

Roß und Reiter standen im Dickicht nahe der Furt und blickten aus schwarzglänzenden Augen zum Dorf hinüber. Die riedgedeckten Dächer der Hütten standen in Flammen, finstere Qualmfahnen stiegen zum Himmel empor und verfinsterten Mond und Sterne. Im Osten dämmerte der Tag herauf, doch selbst das ferne Morgenrot verblaßte angesichts des glutgelben Infernos auf beiden Seiten der Dorfstraße. Ganz aus der Nähe ertönte das schrille Kreischen einer Frau, dann folgte ein stumpfer Laut, ein Hieb. Die Schreie verstummten. Zwei Männer taumelten lallend aus einer der letzten unbeschadeten Hütten und zerrten sich im Gehen die Hosen hoch. Einer stolperte über die Leiche eines Bauern und stürzte zu Boden, der andere lachte trunken und half seinem Gefährten auf die Beine.

Die meisten Söldner waren bereits weitergezogen, nur noch ein paar Nachzügler streiften durch die lodernden Ruinen, auf der Suche nach Überlebenden oder ein paar Münzen, die andere übersehen hatten. Sie fanden weder das eine noch das andere. Schätze hatte es hier nie gegeben, nur das, was die Dorfbewohner zum Leben benötigt hatten. Jetzt benötigten sie nichts mehr.

Der einsame Reiter gab seinem Pferd einen sanften Stoß mit der Ferse. Sogleich trug es ihn aus seinem Versteck ins Licht der prasselnden Feuer. Die Straße war übersät mit Toten, die meisten übel zugerichtet.

Der Reiter lenkte sein Pferd in langsamem Trab um ein paar aufgeschlitzte Hunde. Auf einer Weide lag zerstückeltes Vieh, sogar ein paar Hühner waren mit Pfeilschüssen niedergestreckt worden. Der Reiter im schwarzen, wallenden Mantel hatte viele Kriege und Raubzüge miterlebt, und der Anblick des Dorfes und seiner Bewohner vermochte ihn kaum zu berühren. Tod war sein ständiger Begleiter, hier wie anderswo.

Durch den Sehschlitz seines Helmes beobachtete er die betrunkenen Söldner, die ziellos zwischen den Leichen umherstreiften, die eine oder andere mit den Füßen herumrollten und Scherze darüber machten. Ein halbes Dutzend Plünderer hielt sich noch im Dorf auf, die übrigen waren schon weiter nach Westen gezogen, immer dem Weg der Plage nach. Vermutlich hatten die Zurückgebliebenen vor, ihre Kumpane in ein oder zwei Tagen einzuholen.

Die meisten von ihnen waren viel zu betrunken, um zu bemerken, daß ein schwarzer Schatten auf sie fiel.

Das Schwert des Reiters mähte sensengleich durch den Oberkörper des ersten. Der zweite Plünderer wirbelte herum und erkannte voller Entsetzen die finstere Silhouette, die sich ihm von hinten genähert hatte. Mit mehr Glück als Geschick tauchte er unter der Klinge des Angreifers hinweg und wollte sein eigenes Schwert aus der Scheide zerren. Da aber tänzelte das Streitroß des Angreifers schon herum, der Reiter zertrümmerte das Nasenbein des Söldners mit einem heftigen Stiefeltritt. Ein jammervoller Schrei entfuhr der Kehle des Mannes, der letzte Laut, der aus ihr drang - dann wurde sie vom scharfen Stahl des Reiters zerfetzt.

Der Schmerzensschrei hatte die vier übrigen Plünderer alarmiert. Der Vorteil der Überraschung war dahin. Der Gerüstete sprang aus dem Sattel und jagte das Roß mit einem Klaps davon. Breitbeinig, den Schwertgriff mit beiden Händen umfaßt, erwartete er die heranstürmenden Männer.

Der erste beging den Fehler, sich im Suff zu überschätzen. Mit geradewegs vorgestreckter Klinge und einem hohen Kampfschrei auf den Lippen raste er auf den Bezwinger seiner Gefährten zu, hoffte wohl, ihn allein durch seinen lärmenden Auftritt einzuschüchtern. Der Mann im schwarzen Mantel lachte nur voller Hohn, wich flink zur Seite und hieb dem Vorbeitaumelnden die angespitzte Eisenschale seines Ellbogenschutzes ins Kreuz. Kreischend polterte der Verletzte zu Boden, bis sein Gegner ihm den Gnadenstoß gab.

Die drei übrigen verharrten. Zumindest zwei von ihnen hatten sich noch nicht um den Verstand getrunken. Sie wechselten knappe Blicke und Handzeichen. Innerhalb eines Atemzuges kamen sie überein, den Feind von zwei Seiten zugleich anzugreifen. Der dritte Plünderer stand unentschlossen da, wartete ab. Er schwankte leicht, seine Schwertspitze zitterte.

Der Mann in Schwarz erwartete seine Widersacher mit einem Lächeln unter dem schweren Helm. Seine Augen blitzten erwartungsvoll. Sie kommen, dachte er, und sie sterben. Genau wie all die anderen.

Der linke der beiden Angreifer stellte sich einigermaßen geschickt an, und es gelang ihm, mit seinem zweiten Hieb den Arm des Kriegers zu streifen. Die Schwertschneide glitt am Kettenhemd ab, doch einen Augenblick lang brachte der Treffer den Mann aus dem Gleichgewicht. Sofort setzte der zweite Plünderer nach, während der dritte immer noch in einigem Abstand verharrte und sich volltrunken fragte, welchen der Kämpfenden er angreifen sollte.

Die Irritation des schwarzen Kriegers dauerte nur einen Herzschlag lang. Dann duckte er sich unter zwei parallel geführten Schwerthieben, rollte sich über den Rücken ab, sprang zwei Schritte entfernt auf die Beine und warf den flatternden Umhang zurück. Seine beiden Gegner wechselten einen erstaunten Blick, dann zuckte die Klinge ihres Feindes heran und hieb dem einen den Kopf von den Schultern. Der andere taumelte voller Entsetzen zurück, fing sich wieder und warf sich dem Angreifer entgegen. Der Krieger ließ dem Plünderer gerade genug Zeit, seine Niederlage zu begreifen, dann rammte er ihm das Schwert durch die Brust.

Danach blickte er sich gelassen um. Der Betrunkene mit der zitternden Klinge stand unverändert da und starrte den Sieger entgeistert an. Allmählich begriff er, was um ihn herum geschehen war.

»König Pest?« entfuhr es ihm, ein zischender, zweifelnder Laut wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. Dann wirbelte der Söldner herum und ergriff die Flucht.

Der Mann in Schwarz schleuderte sein Schwert in einem geraden, gezielten Wurf. Es sollte nicht töten, nur aufhalten. Tatsächlich geriet es zwischen die Unterschenkel des Fliehenden, zerschnitt ihm die Haut und ließ ihn schreiend zu Boden poltern. Unweit eines toten Mädchens schlitterte er mit Brust und Gesicht über den blutigen Staub, rollte mit fuchtelnden Armen auf den Rücken und starrte dem Krieger voller Todesangst entgegen.

Der schwarze Ritter blieb breitbeinig vor ihm stehen und hob sein Schwert vom Boden. »Verzeih mir eine Frage«, bat er. Der Helm verwandelte seine Stimme in ein dumpfes, beängstigendes Dröhnen.

Die Lippen des Plünderers bebten, als sie stumme Worte formten. Nichts als heiseres Röcheln drang aus seiner Kehle, rauhes, sinnloses Keuchen. Seine Augen waren groß und weiß wie Schneebälle.

Der Krieger stellte seine Frage, aber es dauerte eine Weile, ehe er eine verständliche Antwort erhielt. Dann rammte er seine Klinge senkrecht und mit beiden Händen in den Brustkorb des Söldners, wartete geduldig, bis kein Leben mehr in ihm war.

Zuletzt rief er sein Roß herbei, schwang sich in den Sattel und führte aus dem Dickicht ein zweites Pferd, das er unweit des Dorfes im Wald entdeckt hatte. Beide lenkte er durch die Furt gen Osten. Die Strömung verwischte alle Hufspuren im Schlamm, und bald darauf war es, als habe weder Mensch noch Tier jemals diesen Weg beschritten.



Jodokus hielt sein Versprechen, wenn auch erst, nachdem Kriemhild ihm den Rest der Nacht über wortreich zugesetzt hatte. Sie war neugierig, war es immer gewesen, doch unter den gegebenen Umständen drängte es sie ganz besonders, die Wahrheit über den buckligen Sänger zu erfahren; sie hoffte, daß es sie vom brennenden Gefühl der Schuld ablenken würde, das ihr die Brust zusammenschnürte. Sie hatte Mühe durchzuatmen, und gelegentlich überkamen sie kurze Anfälle von Schüttelfrost. Zuerst hatte sie geglaubt, es seien die Vorboten der Pest, die sich ihrer bemächtigten, doch dann wurde ihr klar, daß etwas in ihr selbst es war, das sie derart empfinden ließ. Etwas in ihrem Kopf. Der Gedanke an das, was sie getan hatte. Die Fessel ihrer Sünde.

Immer wieder fragte sie sich, ob die Söldner das Dorf schon erreicht haben mochten, und jedesmal hoffte sie, daß den Bewohnern vielleicht Gott, und wenn nicht er, dann der Zufall zur Hilfe kommen würde. Aber sie wußte auch, daß sie sich damit nur selbst belog, und als der Morgen heraufdämmerte, da ahnte sie, daß das Schicksal des Dorfes besiegelt war. Spätestens jetzt würde alles vorüber sein.

Endlich, als der erste Sonnenstrahl ihre Nasenspitzen kitzelte, ergriff Jodokus das Wort. Er begann seine Erzählung, ohne Kriemhild anzusehen, blickte nur verbissen geradeaus, als hoffte er allein dadurch, den Verlauf der Heerstraße zu verkürzen.

»Ich bin kein guter Sänger, fürchte ich, aber auch kein allzu schlechter. Ganz gewiß aber bin ich ein viel besserer Dieb als die meisten anderen meiner Zunft.« Welche Zunft er damit meinte, die der Diebe oder Sänger, ließ er offen; er erwähnte beides, als gehörte das eine ganz selbstverständlich zum anderen.

»Ich werde dir keine meiner Methoden verraten, du hast auch so schon genug Unheil angerichtet«, fuhr er fort, und Kriemhild schenkte ihm einen vernichtenden Blick. »Sag, hast du je vom Dichtermet gehört?«

Sie überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf. »Was soll - «

»Der Dichtermet«, unterbrach er sie rasch, »hat einst den Göttern gehört. Wodan selbst zählte ihn zu seinen teuersten Gütern, bis...« Er verstummte, als sei er sich nicht mehr sicher, ob er wirklich fortfahren solle.

»Bis?« fragte Kriemhild beharrlich.

»Nun«, meinte Jodokus gepreßt, »bis ich ihn gestohlen habe.«

Kriemhild lachte leise. »Natürlich.«

Er wirkte weder beleidigt noch sonderlich überrascht. »Mir ist schon klar, daß du mir nicht glaubst.«

»Dann sind wir uns einig.«

»Willst du die Geschichte trotzdem hören?«

»Haben wir etwas Besseres, um uns die Zeit zu vertreiben?« Bis Würzburg war es noch mindestens ein halber Tagesritt, und vorher mußten sie die Straße verlassen, um die Stadt zu umgehen. Von dort aus würden sie weitere zwei Tage brauchen, um Salomes Zopf zu erreichen. Mit ein paar Geschichten, mochten sie auch noch so versponnen sein, würde die Zeit ein wenig schneller vergehen.

Jodokus schien die Tatsache, daß Kriemhild ihm kein Wort glaubte, nicht zu stören. Mit fester Stimme setzte er seine Erzählung fort. »Es tut nichts zur Sache, wie es mir gelang, an den Dichtermet heranzukommen. Es war nicht einfach, ganz bestimmt nicht, aber, um ehrlich zu sein, auch lange nicht so schwer, wie man vermuten möchte. Fest steht, ich brachte ihn an mich, und die Götter zürnen mir dafür.«

»Warum schicken sie nicht einfach einen Blitz herab, der dich in Asche verwandelt?« fragte Kriemhild schmunzelnd. »Warum fahren nicht die Furien vom Himmel und reißen dich in Stücke?« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Komm schon, Jodokus, du mußt überzeugender schwindeln, um mich hereinzulegen.«

»Du bist Christin, nicht wahr?«

»Sicher. Ganz Worms ist christlich.«

»Dann glaubst du nicht an die alten Götter?«

»Ich bin nicht so dumm, sie offen zu verleugnen, wenn du das meinst.« Sie legte den Kopf schräg und überdachte ihre Wortwahl. »Sagen wir, ich kann verstehen, warum die Menschen jahrtausendelang zu ihnen gebetet haben.«

»Viele tun es auch heute noch.«

»Natürlich. Sogar der König zeigt Verständnis dafür, weshalb also sollte ich es nicht tun?«

»Dann weißt du auch, daß die Götter das Spiel lieben. Denn genau das tun sie: Sie spielen mit mir.« Er klang plötzlich gar nicht mehr so gelöst wie noch vor wenigen Augenblicken. »Sie wissen, daß ich es war, der ihnen den Dichtermet stahl, und sie lachen mich aus dafür. Ich, Jodokus der Sänger, bin der niederste ihrer Narren, der traurigste ihrer Scherzbolde und das einsamste unter den Wesen der Welt.«

»Du rührst mich zu Tränen.« Was für ein Unfug, dachte sie bei sich. »Erzähl mir lieber vom Dichtermet.«

»Das ist eine andere Geschichte.«

»Jeder gute Erzähler schätzt die Geschichte in der Geschichte, sagt meine Mutter immer.« Die Erinnerung an die Königinmutter Ute tat weh; seit ihrer Flucht aus Worms hatte Kriemhild viel zu selten an sie gedacht, und jetzt fühlte sie sich mit einemmal schuldig deswegen. »Sie sagt, ein gutes Garn besteht wie ein guter Kuchen aus vielen Zutaten, und jede ist eine Geschichte in sich.«

»Deine Mutter ist eine weise Frau.«

»Das muß sie sein.«

»Dann ist sie fraglos auch eine mächtige Frau.«

Kriemhild lachte heiter. »Versuch nicht, mich zu überlisten, Jodokus-der-Dieb-und-Sänger!«

Er schmunzelte und hob abwehrend beide Hände. Dabei ließ er versehentlich die Zügel los, und der lahme Ackergaul wäre beinahe wie ein Wildpferd mit ihm durchgegangen. Kriemhild lachte noch lauter über sein Ungeschick, und als Jodokus das Tier wieder im Griff hatte, fiel er mit in ihr Gelächter ein.

Schließlich aber, nachdem beide sich beruhigt hatten, räusperte sich der Sänger und begann: »Einst schufen die Götter einen weisen Mann, den sie Kvasir nannten. Sie sandten ihn aus, um unter Menschen, Zwergen und Alben Vertrauen und Freundschaft zu säen. Bald schon liebte und schätzte man ihn überall auf der Welt. Allein zwei tückische Zwerge, Galar und Fjalar, wollten Kvasirs Weisheit für sich allein, und so lockten sie ihn in eine Falle, schlugen ihm den Kopf ab und fingen sein Blut in einem Kessel auf. Sie gaben Honig dazu und brauten daraus einen Met, wie es zuvor noch keinen gegeben hatte, denn wer davon trank, der wurde ein Dichter oder Weiser.

Die beiden Zwerge taten vor den Göttern unschuldig, ja, sie berichteten Wodan, Kvasir sei an seiner eigenen Weisheit ertrunken. Der Göttervater mißtraute ihnen, ließ sie aber laufen. Da frohlockten die beiden üblen Kreaturen ob der gelungenen List und prahlten vor ihren finsteren Freunden mit ihrem Verbrechen.

Es vergingen nur wenige Monde, da fühlten Galar und Fjalar sich sicher genug, eine neuerliche Untat zu begehen. Sie luden einen ihrer ältesten Feinde, den Riesen Gilling, zu sich ein und ertränkten ihn im Ozean. Gillings Frau erschlugen sie mit einem Mühlstein. Darüber empfanden die Zwerge solche Freude, daß sie auch dies all ihren Freunden erzählten. Jene aber neideten ihnen den Besitz des Dichtermets und erzählten Suttung, Gillings Sohn, von den Morden. Suttung stürmte sogleich voller Rachsucht zum Haus der Zwerge und quälte sie so lange, bis sie ihm als Wiedergutmachung den Met anboten. Suttung stimmte zu und brachte den Kessel in seinen Berg. Zur Wächterin des Zaubergesöffs bestimmte er seine Tochter Gunnlöd.

Wodan aber erfuhr durch seine treuen Raben vom Handel der Zwerge mit dem Riesensohn, und er beschloß, den Met zurückzugewinnen. Denn wenn es eines gab, das die Götter verhindern wollten, dann war es, daß alle Riesen zu Dichtern und Weisen wurden.

In Gestalt eines stattlichen Mannes machte Wodan sich auf zu Suttungs Berg. Er bohrte ein Loch in den Fels, verwandelte sich in eine Schlange und glitt in die Höhlengemächer des Riesen. Dort suchte er die Kammer, in der Gunnlöd den Kessel bewachte. Wieder zum Mann geworden, schmeichelte er sich bei der Riesentochter ein, es gelang ihm gar, echte Liebe in ihr zu entfachen. Unter Treueschwüren lag er ihr drei Nächte lang bei, dann endlich gestatte sie ihm für jede Nacht einen Schluck aus dem Kessel. Sie wußte nicht, daß sie es mit dem höchsten der Götter zu tun hatte, und wie hätte sie ahnen können, daß er den ganzen Kessel mit nur drei Zügen leertrinken würde? Sodann nahm er die Gestalt eines Adlers an und floh aus der Höhle.

Der Riese Suttung aber, der Vater der betrogenen Wächterin, schlüpfte in sein eigenes Adlerkleid und folgte dem Dieb hinauf in die Wolken. Die beiden lieferten sich eine halsbrecherische Jagd. Wodan hatte schwer an seiner Diebeslast zu tragen und wurde mit jedem Flügelschlag langsamer. Die übrigen Götter sahen ihren Herrn von den Zinnen aus nahen, stellten eilig Töpfe und Schalen im Hof der Götterburg auf und holten ihre Waffen. Wodan aber blieb keine Wahl, als noch außerhalb der Mauern einen Teil des Mets zu Boden zu spucken, und jener Teil ist es, der noch heute den schlechten Reimeschmieden und Wichtigtuern unter den Menschen zugute kommt. Das meiste aber spie Wodan in die Gefäße im Burghof, während die übrigen Götter den Riesenadler mit ihren Spießen und Pfeilen verjagten. So kam es, daß Wodan den Dichtermet zurückgewann, um ausgewählte Menschen davon trinken zu lassen, denn nur so werden Poeten und Gelehrte geboren.

Die Riesen zürnten Wodans Betrug, hatten sie den Met doch als Wiedergutmachung für Gillings Tod erhalten. So kam es, daß sich die Götter die Riesen zu Feinden machten, und ihr Krieg wütet bis heute auf den höchsten Gebirgsspitzen und in den tiefsten Höhlen der Erde.«

Jodokus beendete seinen Bericht mit einer seltsamen Handbewegung, einem angedeuteten Streich über ein unsichtbares Musikinstrument.

Die ganze Zeit über hatte Kriemhild begeistert zugehört, doch als der Sänger zum Ende seines Vortrags kam, traten ihr wieder Zweifel in den Sinn. »Wenn Götter und Riesen ganze Schlachten um den Besitz des Mets geschlagen haben, wie kommt es dann, daß ausgerechnet du ihn stehlen konntest?«

Jodokus tat, als hätte er die Häme in ihrem Tonfall nicht bemerkt. »In diesem Krieg geht es längst nicht mehr um den Met allein. Beide Seiten kämpfen um des Kämpfens willen. Da die Götter nur mit einem Diebstahl durch Riesen rechneten, achteten sie nicht auf die winzigen Lücken in ihrer Verteidigung - viel zu klein für einen Riesen, für mich aber gerade groß genug.«

Kriemhild seufzte. »Du bleibst dabei, nicht wahr? Ganz egal, was ich dagegen einwende.«

»Weil es die Wahrheit ist«, entgegnete er, doch er klang dabei weniger störrisch als stolz.

»Wie du meinst.« Sie hatte nicht vor, mit ihm zu streiten, es hatte ohnehin keinen Zweck. Was immer ihn dazu gebracht hatte, sich solch einen Unsinn auszudenken, würde wohl auf ewig immer sein Geheimnis bleiben. Gut, dachte sie, damit sind die Seiten ausgeglichen. Schließlich hatte sie selbst ein Geheimnis, das es zu hüten galt.

Nachdem sie aber eine Weile lang schweigend weitergeritten waren, der aufsteigenden Sonne entgegen und träumend in ihrem goldenen Schein, konnte Kriemhild eine Frage nicht länger zurückhalten: »Wenn du den Dichtermet wirklich gestohlen hast, sag, wo hast du ihn dann? Haben ihn dir die Dorfbewohner mitsamt deinen übrigen Sachen abgenommen?«

Ein listiges Grinsen zuckte über seine Züge. »Du hältst mich doch nicht etwa für so einfältig, ihnen einen solchen Schatz zu überlassen, oder?«

Aber Kriemhild dachte triumphierend: Aus dieser Schlinge ziehst du deinen Kopf nicht so geschwind.

Jodokus trieb sein Pferd in den Schatten der Bäume am Straßenrand, schaute sich sichernd nach allen Seiten um und zügelte sein Pferd. »Du glaubst mir noch immer nicht? Na schön, dann sieh her.«

Vor Kriemhilds fassungslosen Augen streifte er sein Wams über den Kopf und präsentierte ihr seinen nackten Oberkörper. Er war nicht allzu kräftig, eher drahtig als muskulös. Mehrere Lederbänder lagen um seine Brust, und als er ihr lächelnd den Rücken zukehrte, erkannte sie, daß der vermeintliche Buckel nichts anderes war als ein lederner Weinschlauch, leicht gebogen und durch die festgezurrten Bänder der Form des Rückens angepaßt.

Kriemhild konnte nicht anders: Sie lehnte sich im Sattel zurück und lachte, schüttelte sich aus vor schallendem Gelächter. »Du bist wirklich verrückt, Jodokus Meträuber!« Er fuhr herum und funkelte sie verwirrt und zornig an. Doch Kriemhild gelang es nicht, ihr Lachen zu bezwingen. Schniefend und mit Tränen in den Augen meinte sie: »Du behauptest, da drin sei der Dichtermet der Götter? Da drin? Du liebe Zeit...«

Wütend beeilte er sich, seinen Schatz wieder unter dem Wams in Sicherheit zu bringen. »Ich glaube nicht, daß ich deinen Hohn verdient habe!«

Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Verzeih mir«, stammelte sie und kämpfte einen neuerlichen Heiterkeitsanfall nieder. »Ich wollte dich nicht verletzen, wirklich nicht. Aber wie soll ich dir glauben, daß du Wodans Met allen Ernstes in einem gewöhnlichen Lederschlauch spazierenträgst? Das ist einfach zu -« Und wieder gingen ihre Worte in unterdrücktem Gelächter unter.

Jodokus lenkte sein Pferd vergrätzt zurück auf die Straße und setzte die Reise fort. »Lach du nur. Mach dich lustig über mich, solange es dir gefällt. Ich weiß sehr gut, was ich getan habe, und ich brauche keine Bestätigung von einer wie dir!«

Sie hieb ihrem Gaul die Hacken in die Flanken, bis sie und der Sänger wieder auf einer Höhe ritten. »Hast du davon getrunken?« fragte sie und blickte ihn von der Seite an.

Jodokus starrte beleidigt geradeaus. »Was geht dich das an?«

»Du müßtest der beste Sänger weit und breit sein, hättest du den Dichtermet gekostet.«

»Und?«

»Beweis es mir!«

Sein Kopf zuckte, als er sich zu ihr umwenden wollte; dann aber fiel ihm ein, daß er noch immer eingeschnappt war, und würdigte sie mit keinem Blick. »Ich habe es nicht nötig, dir irgend etwas zu beweisen.«

»Natürlich nicht«, gab sie zurück. »Aber was für ein Sänger bist denn du, wenn du nicht singst, wenn dich eine Dame darum bittet?«

»Ich werde nicht für jemanden singen, der meine Kunst nicht zu würdigen weiß.« Pikiert fügte er hinzu: »Außerdem, wer beweist mir denn, daß du eine Dame bist?«

»Du selbst hast es gesagt.«

»Auch Sänger täuschen sich.«

So ging es weiter, den ganzen Vormittag über. Sie hänselten und stritten sich, mal verspielt, mal wirklich zornig, und doch gewann keiner die Oberhand. Jodokus sang keine einzige Zeile, und Kriemhild verriet ihm nichts von ihrer Herkunft. Am Ende, als beiden die Argumente ausgingen, kamen sie überein, daß ihr Streit im großen und ganzen ein Zeitvertreib gewesen sei und man ihn als solchen abtun solle; sie bekräftigten diesen Beschluß mit einem Handschlag und lautem Gelächter.

Hätte jemand sie so dahinziehen sehen, kichernd und scherzend auf der Straße durchs Land der Toten, so hätte er sie vielleicht für verrückt gehalten - vielleicht aber auch nur für zwei junge Leute, die das Leid, das sie umgab, nicht wahrhaben wollten und mit ihren eigenen niederen Nöten überspielten.

Wie hätte der Wanderer, der sie aus der Ferne sah, auch ahnen können, daß diese Nöte weder klein noch allein ihre eigenen waren?



»Was ist das?«

Jodokus Stimme riß Kriemhild aus dem eintönigen Trott, der sich von ihrem Pferd auf sie selbst übertragen hatte.

»Hm?« Sie schaute sich verwundert um. »Was meinst du?«

Der Junge zerrte an den Zügeln. »Horch! Hörst du es nicht?«

Sie hatten die Straße eine Weile zuvor verlassen und waren in südliche Richtung eingeschwenkt, um Würzburg in weitem Bogen zu umgehen. Der Pfad, auf dem sie sich bewegten, war kaum mehr als solcher zu bezeichnen: ein natürlicher Hohlweg zwischen dichten, weit vornübergebeugten Buchen und Eichenbäumen, ein dunkelgrüner Tunnel, den ein verworrenes Geflecht aus Wurzelsträngen überwucherte. Die Pferde hatten Mühe, zwischen den steinharten Ranken Raum für ihre Hufe zu finden, und Kriemhild betete in Gedanken zu Gott, daß sich keines der Tiere die Läufe brach. Wenn sie eines vermeiden wollte, dann war es, mit Jodokus im selben Sattel sitzen zu müssen.

»Was sollte ich denn hören?«

Jodokus’ Blick war in die Richtung gewandt, aus der sie gekommen waren - offenbar ertönten die Geräusche, die er zu hören glaubte, von hinten. Als er wieder herumfuhr, waren seine Augen geweitet, sein Gesicht aschfahl. »Komm!« zischte er Kriemhild zu. »Wir müssen runter von diesem Weg.«

Sie hätte gerne gewußt, was ihn so verstört hatte, und die Ungewißheit verstärkte nur das unheilvolle Rumoren in ihrem Bauch. Seine Geheimnistuerei ärgerte sie, aber mehr noch steckte sie seine Furcht an, und sie spürte unwillkürlich, daß dies nicht der richtige Zeitpunkt war, seine fehlende Mitteilsamkeit zu bemängeln.

Kriemhild trieb ihr Pferd zur Eile, wußte aber zugleich, daß sie kaum schneller als bisher vorankommen würden: Das Wurzelgeflecht war gar zu hinderlich, und die Seiten des Hohlwegs zu verfilzt und verwoben, als daß sie nach rechts oder links hätten ausweichen können. Sie hatten keine andere Wahl, als weiter geradeaus zu reiten, ganz gleich, was sich ihnen von hinten nähern mochte.

»Beeil dich!« preßte Jodokus hervor, der auf Armlänge hinter ihr ritt.

Sie verzichtete auf eine Erwiderung und blickte starr nach vorne. Irgendwo in der Ferne schwebte ein grauer Fleck, das Ende des Hohlwegs. Noch mindestens zweihundert Schritte.

Einmal schaute sie kurz über ihre Schulter nach hinten, doch alles, was sie sah, war Jodokus’ gehetztes Gesicht über der strähnigen Mähne seines Pferdes; sein Körper verwehrte jede Sicht auf das, was sich hinter ihm befinden mochte, und insgeheim war Kriemhild froh darüber. Der Junge, der angeblich den Tod nicht fürchtete, sah aus, als säße ihm der Leibhaftige selbst im Nacken.

Holpernd stürmten die Pferde den Weg entlang, drohten im dichten Netzwerk der Wurzelstränge steckenzubleiben, stolperten und scheuten. Immer wieder stieß Jodokus Rufe aus, um die Tiere anzutreiben, doch alles, was sie bewirkten, war, daß Kriemhilds Sorge ins Unermeßliche wuchs. Sie versuchte, über das Chaos der hämmernden Hufe, das Pferdewiehern und Gebrüll des Sängers etwas zu hören, das auf die Natur ihrer Verfolger schließen ließ, doch ihre Mühen waren vergeblich. Ebensogut hätten sie vor leerer Luft davonlaufen können.

Da kam Kriemhild ein Gedanke: Was, wenn es genau das war? Wenn sie vor Luft, vor nichts, vor einem Hirngespinst flohen? Etwas, das nur im Kopf des Sängers existierte? So wie der Dichtermet, so wie die Götter, die ihn angeblich verfolgten?

Kriemhild traf Hals über Kopf eine Entscheidung. Mit einem Ruck riß sie an den Zügeln und brachte ihr Pferd zum Stehen. Mit verkrampften Fingern machte sie sich bereit für den Aufprall, falls Jodokus’ Roß gegen das ihre preschen würde.

Doch der Zusammenstoß blieb aus. Die beiden Pferde hatten zu lange gemeinsam auf einer Weide gestanden, zu oft den selben Karren gezogen. In jenem Augenblick, da das vordere stehenblieb, tat das hintere das gleiche, egal wie laut Jodokus fluchen mochte.

Kriemhild wandte sich atemlos um und blickte hinter sich. Der Sänger starrte sie an, als wollte er ihr mit bloßen Händen die Kehle zerfleischen.

»Was tust du?« kreischte er fassungslos.

Sie nahm all ihre Kraft zusammen und sagte: »Ich bleibe stehen, das siehst du doch.«

Seine Augen ruckten herum, schauten zurück. Kriemhild ließ ihr Pferd einen Schritt zur Seite treten und blickte an Jodokus vorbei zum hinteren Ende des Hohlwegs.

Da war nichts. Nur Dunkelheit, die Schatten der Bäume und das Dämmerlicht, das spärlich durchs Blätterdach fiel. Eine felsenschwere Last wich von Kriemhilds Herzen.

Jodokus aber war keineswegs erleichtert. Im Gegenteil: Seine Panik schraubte sich höher und höher.

»Weiter!« kommandierte er mit überschnappender Stimme. »Wir müssen weiter!« Und schon drängte er sein Pferd an ihr vorbei und hieb ihm die Fersen mit so viel Kraft in die Seiten, daß es sich schmerzerfüllt aufbäumte.

»Jodokus!« schrie sie ihn an. »Jodokus, komm zu dir!«

»Ich...«

»Da ist niemand!« Sie streckte die Hand aus, als wollte sie nach ihm greifen, obwohl er längst einige Schritte entfernt war. »Wir sind allein. Es ist niemand hier. Was immer du gehört hast, es war nicht wirklich.«

»Nicht wirklich?« Er zügelte sein Pferd und wandte sich im Sattel herum. In seinen Augen loderte etwas, das Wahnsinn gefährlich nahekam. »Nicht... wirklich?« stammelte er noch einmal.

»Nein, Jodokus. Es gibt keine Gefahr. Nicht hier.«

Ein irres Lachen flackerte wie der Widerschein eines Scheiterhaufens über seine Züge. »Du weißt ja nicht, wovon du sprichst. Nichts weißt du!«

»Sind es die Götter, Jodokus? Glaubst du wirklich, sie wären hinter dir her? Jetzt, in diesem Augenblick?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bleibe nicht hier. Komm mit mir oder laß es, aber ich bleibe nicht!«

Sie ahnte, daß ihr die Argumente ausgehen würden, wenn er sich auf das eine, das einzige nicht einließ. Dennoch versuchte sie es erneut: »Auf diesem Weg, in diesem ganzen Wald ist niemand! Keiner will uns etwas Böses antun! Herrgott, schau doch hin - es ist niemand zu sehen!«

Zu ihrem Erstaunen verharrte er einen Moment lang wie versteinert, dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem bösen Grinsen. »Niemand zu sehen«, wiederholte er ihre Worte. »Natürlich nicht. Aber ich höre sie, begreifst du? Ich kann sie hören!«

Und als wollte die Natur seine Worte unterstreichen, ging plötzlich ein Beben durch die laue Luft der Abenddämmerung. Tatsächlich war es nichts, das man mit menschlichen Augen hätte wahrnehmen können. Kriemhild spürte es nur, sie fühlte, wie etwas in ihrem Inneren in Regung geriet, zu zittern begann, Alarm schlug wie eine Glocke auf dem höchsten Turm einer Fluchtburg.

Dann hörte sie es. Hörte endlich, war Jodokus meinte.

Zuerst klang es wie ferner Donner, die ersten Vorboten eines Sommergewitters. Dann wurde es lauter, rasend schnell, als triebe etwas die Wolken mit gewaltigen Schwingen über den Himmel, triebe sie genau auf den Hohlweg zu, erst unbestimmt aus allen Richtungen zugleich, dann von hinten, von dort, woher sie gekommen waren.

Jodokus hatte recht.

Der Sänger schrie gequält auf, als hätte ihn ein Schwertstreich getroffen. Sein Gesicht verzerrte sich vollends zur Grimasse, dann trat er erneut auf sein Pferd ein. Diesmal gehorchte es, fast so als spüre es selbst, daß etwas näher kam, das sie alle vernichten würde.

Kriemhild starrte zum hinteren Ende des Hohlwegs, erschüttert und wie versteinert. Noch immer war nichts zu sehen. Aber sie konnte es doch hören! Hörte doch, wie es auf sie zuraste, viel zu schnell, als daß irgendwer ihm hätte entkommen können. Jodokus’ Flucht war so lächerlich wie zwecklos. Es hatte ihn längst in seiner Gewalt, ihn und Kriemhild und jeden anderen, den es fangen, packen, zermalmen wollte. Längst war ihnen jede freie Entscheidung, jede Wahl, jede Hoffnung genommen worden. Es kam näher, und es würde sie einholen. Bald schon, gleich -

Jetzt.

Es war kein Donner - es waren Pferdehufe! Lauter als alles, was Kriemhild je vernommen hatte. Hufe so dröhnend, als würden sie über Holzbohlen trampeln, nur unendlich kraftvoller, als trügen sie ihr eigenes Echo in sich, das wieder und wieder und wieder ertönte. Sie kamen von Norden, sprengten auf sie zu, aber nicht durch den Hohlweg, sondern über ihn hinweg. Kriemhild preßte beide Hände auf die Ohren, kniff die Augen zusammen und schrie vor Pein. Ihr Kopf drohte auseinanderzubrechen, zu platzen wie eine reife Frucht in der Sommerhitze. Unter ihr verschwanden Sattel und Pferd, als das Tier sich aufbäumte, auf die Hinterbeine stieg und sie abwarf. Mit dem Rücken krachte Kriemhild auf die harten Wurzelstränge, doch dieser Schmerz war nichts verglichen mit dem in ihrem Schädel.

Und immer noch waren die Hufe nicht gänzlich herangekommen, immer noch wurden sie lauter, mächtiger, vernichtender. Das Blätterdach über dem Hohlweg vibrierte wie eine Brücke unter dem Aufmarsch einer Armee. Die Bewegung raste auf sie zu, erst fern, dann nah, dann über ihnen. Zweige und armdicke Äste regneten herab, schlugen rechts und links am Boden auf. Eine Astgabel traf Kriemhilds Pferd am Kopf, es stellte sich zum zweiten Mal auf und ging gleich darauf durch. In einem Wirbel aus Grau und Weiß und Dämmerlicht stob es davon, verschwand blitzartig wie Treibholz inmitten eines Wasserstrudels.

Kriemhild wälzte sich am Boden, blind und gefühllos, nur noch Gehör, eine einzige verletzliche Membran, die unter machtvollen Paukenschlägen erbebte.

Aber was immer es auch war, es tötete sie nicht.

Irgendwie gelang es ihr, sich auf die Füße zu stemmen, ungeachtet des ohrenbetäubenden Lärms und der prasselnden Zweige. Wenige Schritte vor ihr wälzte sich Jodokus am Boden. Sein Pferd war ebenso wie ihr eigenes am Ende des Hohlwegs verschwunden. Kriemhild brüllte seinen Namen, zerrte an seinen Armen, und schließlich schlug er die Augen auf und blickte sie an. Der Schmerz darin entsetzte sie. Es war der stumme Aufschrei einer geschundenen Seele, die viel zu lange schon von etwas gequält wurde, das sie nicht wirklich erfassen konnte.

»Wir müssen hier weg!«

Der Sänger schüttelte hastig den Kopf. »Zu spät!« formten seine Lippen, aber kaum ein Laut drang hervor.

Kriemhild packte ihn, riß ihn mit aller Kraft auf die Beine. Stolperte mit ihm vorwärts, durch einen Regen aus Holz und Laub. Immer wieder verhakten sich ihre Füße in den Wurzelsträngen, immer wieder brach Jodokus in die Knie, um von Kriemhild weitergezerrt zu werden. Das Ende des Hohlwegs kam näher, doch mittlerweile war es auch dort kaum noch heller.

Einmal schaute Kriemhild sich um und sah, daß sich das Getöse in ihrem Rücken legte, daß sich das Blätterdach hinter ihnen beruhigte und keine weiteren Zweige zu Boden fielen. Doch als sie stehenblieb, um das monströse Hufgetrampel über ihren Köpfen vorbeiziehen zu lassen, verharrten Lärm und Erschütterung mit ihnen. Noch immer konnte sie nicht erkennen, was es war, daß dort oben über den Baumkronen tobte. Es war schier unmöglich, den Blick hinauf zu wenden, ohne das ihr Splitter und Rinde in die Augen drangen.

Weiter rannten sie, schneller noch und dennoch ohne Hoffnung. Das Ende des Weges tat sich vor ihnen auf wie der Ausgang einer Höhle. Sie stolperten auf eine Lichtung, keine fünfzig Schritte im Durchmesser, an deren Südseite mehrere Hütten standen. Dahinter, tiefer im Wald, erkannte Kriemhild weitere Bauten, von denen einige die Baumstämme als Eckpfosten nutzten.

Jodokus stürzte zu Boden, mitten in kniehohes Gras, immer noch erwärmt vom vergangenen Sonnenschein des Tages. Über ihnen, am dunkelblauen Abendhimmel, stand eine feine, aber ungewöhnlich grelle Mondsichel. Kriemhild wollte den Sänger auf die Füße ziehen, doch er lag schwer wie ein Fels am Boden, völlig erschöpft.

Sie wirbelte herum und blickte zu den Wipfeln der Bäume empor, die sich zum Laubdach des Hohlwegs vereinten. Was immer sie erwartet hatte - sie wurde enttäuscht. Das Chaos hatte schlagartig aufgehört, nur ein sanfter Abendwind strich durch die Äste und Blätter, erfüllte die Lichtung mit gespenstischem Flüstern. Dort oben war nichts mehr, keine dämonischen Pferde mit brennenden Hufen, keine riesenhaften Walküren in göttlichem Rüstzeug. Nichts, das irgendwie ungewöhnlich war. Nur der Himmel, der Mond und ein paar schimmernde Sterne.

Kriemhild fiel auf die Knie, stützte sich mit beiden Händen auf und atmete keuchend ein und aus. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, doch ihr Magen war leer. Nur ihr Mund wurde von einem sauren, widerwärtigen Geschmack ausgefüllt. Voller Abscheu spuckte sie ins Gras, aber der Geschmack blieb. Es wurde Zeit, daß sie etwas zu Essen bekam, keine Beeren, wie seit ihrer Flucht aus Worms, sondern etwas Vernünftiges, Fleisch vielleicht, zumindest ein wenig Gemüse.

Irgendwann, sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, hob sie den Kopf und sah Jodokus ins Gesicht. Er starrte unverwandt in die Höhe, mit großen, dunklen Augen, als stünden die Antworten auf alle seine Fragen am rabenschwarzen Himmel geschrieben.

Kriemhild kroch auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Stirn. Sie erwartete, daß er fieberte, doch seine Haut war so kalt, daß sie erschrocken die Finger zurückzog. Seine Augen bewegten sich von rechts nach links und wieder zurück, doch als Kriemhild zögernd seinen Blicken folgte, sah sie über sich nichts als Leere.

»Was war das?« fragte sie leise. »Du weißt es doch, nicht wahr?«

Seine Lippen bebten. Es sah aus, als versuchte er zu sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Doch dann erklang seine Stimme, und sie war klar und hell und ohne jede Spur von Erschöpfung.

»Warum soll ich dir eine Antwort darauf geben«, sagte er, ohne sie anzuschauen, »wenn du mir doch nicht glauben wirst.«

Ihre Haare hatten sich wieder gelöst und hingen wie goldene Vorhänge zu beiden Seiten ihres Gesichts herab, berührten sanft seine Wangen. Mit bebenden Fingern strich Kriemhild sie zurück.

Ihre Blicke kreuzten sich, und plötzlich lächelte er. »Angst?«

Entgeistert starrte sie ihn an. »Angst? Lieber Himmel, ich habe gedacht -«

»Das meine ich nicht. Hast du Angst vor mir?«

Eine Weile länger blickte sie auf ihn herab, schweigend, staunend, dann mit einem Kopfschütteln. Sie gab sich einen Ruck und stand auf. »Nein«, sagte sie dann und blickte über ihn hinweg zu den Hütten am Rand der Lichtung. »Sollte ich denn?«

Er zog die Knie an und stemmte sich nach oben. Er schwankte leicht, als er auf den Füßen stand, aber wenn er gedacht hatte, Kriemhild würde sogleich herbeispringen und ihn stützen, so hatte er sich getäuscht.

»Ich habe Angst vor mir selbst«, sagte er so leise, daß die Worte kaum zu hören waren.

Kriemhild lächelte fahrig. »Und ich dachte schon, du kennst wirklich keine Angst.«

Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts darauf.

»Also«, meinte sie, »was ist vorhin geschehen?«

»Ich habe nicht mehr gesehen als du.«

»Eher weniger, würde ich sagen. Du hast am Boden gelegen und dir die Augen zugehalten.« Die Bemerkung tat ihr gleich darauf leid. Es war gemein, sich über seine Furcht lustig zu machen. Aber was tat er auch so geheimnisvoll?

»Vielleicht sollten wir uns trennen«, sagte er bedrückt. »Es ist gefährlich, an meiner Seite zu reisen.«

»Es ist gefährlich, mir zu Salomes Zopf zu folgen«, entgegnete sie.

»Was willst du dort überhaupt?«

»Später«, sagte sie. »Erst sagst du mir, was du weißt.«

Er seufzte, trat neben sie und betrachtete die Hütten. »Ich habe dir gesagt, was es ist, das mir folgt.«

»Ja«, bemerkte sie spitz, »die Götter.« Sie machte einen halben Schritt um ihn herum und baute sich mit den Händen an den Hüften vor ihm auf. Ihre Brauen waren zwei steile, dunkle Striche. »Ich will die Wahrheit wissen.«

»Es ist die Wahrheit.« Damit ließ er sie stehen und ging langsam auf die Ansiedlung am Waldrand zu. Niemand zeigte sich. Mittlerweile war es zu dunkel, um jenseits der vorderen Hüttenreihe noch etwas zu erkennen. Nirgendwo brannte ein Feuer, nicht einmal Kerzen.

Kriemhild blickte ihm fassungslos nach, dann setzte sie sich in Bewegung, um aufzuholen. Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Wir müssen die Pferde suchen!«

»Vergiß die Pferde.«

»Aber -«

»Sie sind fort«, unterbrach er sie barsch. »Wir werden sie nicht finden. Das gehört zum Spiel.«

»Zum Spiel, zum Spiel«, ahmte sie ihn verärgert nach. »Sag mir endlich -«

Er fuhr ruckartig herum, noch bevor er die äußeren Hütten erreichte. »Sie spielen mit mir. Oder um mich. Weiß der Teufel nach welchen Regeln. Sie jagen mich, sie zerbrechen mich, aber sie tun mir nichts zuleide. Noch nicht.«

Da war etwas in seinen Augen, das sie zum ersten Mal zaudern ließ. Und wenn das, was er sagte, doch die Wahrheit war? Oder wenigstens ein Teil der Wahrheit? Wenn er wirklich verfolgt wurde, von wem auch immer?

»Gut«, sagte sie fest, und hoffte, daß es das Richtige war, »ich glaube dir. Ein wenig, zumindest.«

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die deutlich machte, daß er ihren Worten nicht traute. »Tu, was du willst. Aber du solltest nicht dort im Freien herumstehen. Es wird gleich von neuem losgehen.«

Kriemhilds Körper versteifte sich. Ein Stein schien von ihrer Brust hinab in den Magen zu sacken. »Sie kommen wieder?« preßte sie tonlos hervor.

Er nickte ungerührt. »So ist es jedesmal. Auf jeden Zug folgt ein Gegenzug.«

Jetzt beeilte sie sich, mit weiten Schritten an seine Seite zu gelangen. »Gegenzug?« Sie packte seine Schulter und zog ihn herum. »Sie hätten uns doch vorhin schon töten können, wenn sie es gewollt hätten.« Wer immer sie waren, fügte sie im stillen hinzu.

»Sie sind vertrieben worden.«

»Von wem?«

»Von einem der Gegenspieler.«

Ganz allmählich begann sie zu begreifen. »Du willst damit sagen, daß es -«

»Mehrere Spieler gibt, ganz genau. Stell es dir vor wie eine Reihe von Leuten, die rund um eine Arena sitzen. Am Boden der Arena läuft eine kleine Maus umher, kreuz und quer, in Panik. Und jeder, der auf den Rängen sitzt, gebietet über eine Katze. Alle Katzen werden zugleich in die Arena gelassen. Keine gönnt der anderen die Maus. Immer, wenn eine Katze der Maus zu nahe kommt, vielleicht schon mit den Krallen nach ihr ausholt, kommt eine zweite Katze heran und verjagt die erste. Dann setzt die zweite Katze zum Schlag an, und vielleicht wird sie die Maus erwischen, vielleicht aber wird auch sie selbst in die Flucht geschlagen, und eine dritte Katze nimmt ihren Platz ein. Der, dessen Katze die Maus am Ende frißt, ist der Sieger.«

»Die Maus bist du«, flüsterte Kriemhild und schauderte, nicht sicher, ob das, was er sagte, ihr solche Furcht einjagte, oder vielmehr das wirre Flackern in seinen Augen. »Und die Wesen auf den Rängen sind... Götter?« Sie lachte auf, nahe an einer Hysterie; sie fand, daß sie schon genauso wahnsinnig klang wie Jodokus. »Das ist das Verrückteste, das ich in meinem ganzen Leben gehört habe.«

Er rümpfte verächtlich die Nase. »Wie verrückt sind denn die Dinge, die einem wohlbehüteten Fräulein wie dir hinter seinen Turmmauern und Seidenschleiern zu Ohren kommen?«

Sie ließ sich auf keinen weiteren Streit mit ihm ein. Der Schrecken über das, was ihnen bevorstehen mochte, saß viel zu tief, als daß sie seine kindischen Sticheleien noch hätte ernstnehmen können.

»Was können wir tun?« fragte sie mit schwankender Stimme.

»Erst einmal müssen wir von dieser Lichtung verschwinden.«

»Aber wenn es tatsächlich Götter sind, die es auf dich abgesehen haben, wird sie ein Hüttendach oder ein Baum kaum aufhalten.«

»Nein«, gab er kühl zurück. »Aber ein Dach oder Baum gibt mir zumindest das Gefühl, ein wenig sicherer zu sein.«

Damit trat er an die erste Hütte und blickte durch ein offenes Fenster hinein.

Kriemhild ging derweil zu einem anderen Gebäude, klopfte an die Tür und erhielt keine Antwort.

»Niemand da!« rief Jodokus ihr zu. »Ich wette, die Hütten sind alle leer.«

Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf etwas, das sich am Rande der Ansiedlung befand und bislang von Bauten verdeckt worden war. In der Finsternis vermochte Kriemhild dort nicht mehr als eine große dunkle Form auszumachen, vielleicht ein weiteres Gebäude oder...

»Ein Totenfeuer«, sagte Jodokus. »Dort haben sie ihre Kranken verbrannt. Der Rest ist wahrscheinlich nach Westen geflohen.«

Kriemhild ging langsam auf den unförmigen Umriß zu und bemerkte im Näherkommen einen durchdringenden, widerlichen Geruch, stärker noch als der Verwesungsgestank, der ihr seit dem Gasthaus zu folgen schien. Zugleich entdeckte sie zwischen verkohltem Holz und Asche die Überreste menschlicher Körper. Ausgeglühte Rippenkäfige, Arm- und Beinknochen, dazwischen einige Schädel. Der Totenberg überragte sie um Haupteslänge.

Angeekelt wandte sie sich ab. »Wir werden uns die Pest holen, wenn wir länger hier bleiben«.

Jodokus hob im Dunkeln die Schultern. »Ich werde nicht krank.«

Ihr Tonfall klang viel bitterer, als sie beabsichtigt hatte: »Ihr Spielzeug ist den Göttern zu wichtig, um es an der Seuche verrecken zu lassen, nicht wahr?«

»Nicht zu wichtig. Zu amüsant.«

Kriemhild beeilte sich, zur anderen Seite der Ansiedlung zu laufen, dort, wo die Hütten zwischen die Stämme des Waldes gebaut waren. Bevor sie unter das raschelnde Blätterdach trat, schaute sie noch einmal zum Himmel empor. Keine Spur von göttlichen Todesengeln. Vielleicht war das, was ihnen im Hohlweg begegnet war, doch nichts weiter als eine kräftige Windhose gewesen. Der Ausläufer eines Sturms, vielleicht.

»Ohne Pferde werden wir Salomes Zopf niemals erreichen«, murmelte sie.

Jodokus war nahe genug, um die Worte zu hören. »Warum hast du es so eilig, dorthin zu kommen? Salomes Zopf ist ein schlechter Ort. Nichts für ein Edelfräulein wie dich.«

»Hör schon auf damit!« fuhr sie ihn zornig an. »Ich weiß, daß du nichts von mir hältst, nur weil ich ein Eßbesteck benutzen kann und mir von Zeit zu Zeit die Haare bürste. Mir soll’s recht sein. Aber es ist wirklich nicht nötig, mir deine Meinung ständig um die Ohren zu hauen.«

Einen Augenblick wirkte er betroffen. »Ich wollte dir nicht weh tun.«

»Dann halt endlich den Mund.«

Er sah sie in der Finsternis an, aber sie konnte kaum mehr als seine Silhouette vor dem blassen Schein der Lichtung erkennen. »Wirst du mir trotzdem von Salomes Zopf erzählen?«

Während sie tiefer in den Wald hineingingen und kaum mehr die Hand vor Augen sehen konnten, sagte Kriemhild: »Salomes Zopf ist eine Bergkette östlich von hier.«

»Ich weiß. Man erzählt sich üble Geschichten darüber. Was aber hast du dort zu suchen?«

»Die alte Berenike lebt dort. Ich muß mit ihr sprechen.«

Sogar im Nachtdunkel bemerkte sie, wie er zusammenfuhr. »Die Erzhexe? Du willst freiwillig mit der Erzhexe sprechen?«

»Ja.«

»Niemand weiß, ob sie wirklich existiert.«

»Ich schon.«

»Woher solltest du das wohl wissen?«

»Fang nicht schon wieder damit an.«

»Nein, im Ernst: Woher weißt du, daß sie mehr ist als ein Schreckgespenst, mit dem Mütter ihren Kindern drohen?«

»Ich hab sie gesehen.«

Das verschlug ihm die Sprache, und so setzte sie möglichst gelassen hinzu: »Und ich habe schon einmal mit ihr gesprochen.«

Tatsächlich war die ehrwürdige Berenike vor wenigen Jahren zu Gast im Wormser Königsschloß gewesen - entgegen erheblicher Einwände der Priesterschaft und aller Würdenträger. Berenike selbst hatte Kriemhild erklärt, daß ihr das Bild, das die Menschen von ihr hatten, äußerst genehm sei; denn, so hatte sie kichernd verkündet, auf diese Weise falle niemandem ein, ihren Frieden zu stören.

In der Tat war es so, daß alle Welt es vermied, in die Nähe von Salomes Zopf zu geraten. Selbst die fahrenden Händler, immer auf den schnellsten Weg bedacht, machten einen weiten Bogen um die Berge. Allein der Name der Hexe löste bei den meisten haltloses Grauen aus.

Nach Worms war sie auf Einladung der Königinmutter Ute gekommen, gegen den ausdrücklichen Wunsch Gunthers und seiner Berater. Die meisten hatten Utes Ansinnen nicht allzu ernst genommen, da sie die Hexe ohnehin für eine Legende hielten. Doch den wenigen, die es besser wußten, sträubten sich die Haare bei dem Gedanken, sie in der Nähe der Krone zu wissen.

Aber Ute war eine eigenwillige Frau und ihr Einfluß auf Gunther nicht zu unterschätzen. Auch war sie manch Übersinnlichem sehr zugetan, vor allem aber der Macht der Träume, und Berenike galt als eine, die jeden Traum zu deuten wußte. Utes Wunsch war es, von ihr zu lernen, und sie vertraute darauf, daß nicht einmal die sagenumwobene Erzhexe eine Einladung an den königlichen Hof ausschlagen würde.

Tatsächlich sollte Ute recht behalten. An einem eisigen Wintermorgen, als der Schnee so hoch lag, daß kein Reiter sich ins Freie wagte, stand die Hexe plötzlich vor dem Tor, ganz allein, nur auf einen Stab gebeugt, wie aus dem Nichts erschienen. (Ein Wachmann verfolgte ihre Fußabdrücke im Schnee bis zurück zum Rheinufer, was ein Erscheinen auf magischem Wege widerlegte. Offen blieb allerdings, wie sie ohne Boot die eiskalten Fluten überquert hatte.)

Manche munkelten, Berenike unterhielte in einem unwegsamen Tal von Salomes Zopf eine Hexenschule, wo sie junge Mädchen zu Gespielinnen Beelzebubs heranzog. Das war wohl einer der Hauptgründe, weshalb König Gunther seiner Schwester Kriemhild jedes Gespräch mit der Hexe verboten hatte. Nicht einmal Ute vermochte dagegen Einwände zu erheben.

Natürlich gelang es Kriemhild dennoch, Berenike zu begegnen. Die zahllosen Gerüchte, die durch die Flure des Schlosses geisterten, hatten sie neugierig gemacht. Und so schlich sie in einer Nacht aus ihrer Kammer, um Berenikes Gastgemach aufzusuchen. Als sie eintrat, schien es, als hätte die Erzhexe sie bereits erwartet.

Kriemhild erzählte ihr von einem Traum, den sie gehabt hatte. Darin regnete es Feuer vom Himmel über dem Schloß, und alle Welt lag krank und darbend darnieder.

»Hast du oft solche Träume?« fragte die Alte. Sie trug ein weites Gewand aus schillernden Stoffen, gänzlich formlos, so daß ihr Körper darunter verborgen blieb. Fremdartige Muster waren sichelförmig über ihrer Brust eingestickt. Magische Runen, vermutete Kriemhild und war beeindruckt.

»Ich träume jede Nacht«, gestand Kriemhild. »Oft träumt mir von einem prachtvollen Falken, den ich voller Liebe heranziehe wie mein eigen Fleisch und Blut. Er steigt hoch in den Himmel hinauf und zieht dort seine Kreise. Aber nach einer Weile ist er plötzlich verschwunden, und statt seiner sitzen zwei weiße Adler auf den Spitzen des Münsters und blicken zu mir herab.«

»Haben sie den Falken getötet?«

»Ich weiß es nicht. Es ist, als ob ein Stück des Traumes fehlt. Etwas Wichtiges.«

Berenike lächelte gütig. »Es wird sich finden, glaube mir. Wenn die rechte Zeit gekommen ist, wirst du die Wahrheit über den Falken und die Adler erfahren.«

Kriemhild, die nicht oft über derlei Dinge nachgedacht hatte, zuckte mit den Schultern. »Was aber ist mit meinem anderen Traum?«

Berenike ließ sich mit einem leisen Ächzen auf dem Rand ihrer Bettstatt nieder, doch der Laut wirkte falsch, als wolle sie ihre Erschöpfung nur vortäuschen. »Beschreib mir genau das Feuer, das vom Himmel regnet.«

»Es ist bunt. Anders als bei einem Brand.« Das Dach eines Burgturms hatte einmal in Flammen gestanden, und Kriemhild hatte angstvoll, aber auch fasziniert von ihrem Fenster aus zugesehen, wie der Brand gelöscht worden war. Auch damals waren Funken in den Himmel gestiegen und mit dünnen schwarzen Rauchfahnen wieder zu Boden gesunken. Doch das Feuer in ihrem Traum war anders gewesen. »Es sprüht wie eine Quelle und strahlt wie tausend große Sterne. Manchmal prasselt es wie ein Wasserfall darnieder, und manchmal verhält es beinahe reglos zwischen den Wolken, um sich im nächsten Moment in Luft aufzulösen.«

»Ein Zeichen«, sagte die Hexe nickend, »ganz gewiß.« Sie dachte einen Augenblick lang nach oder tat zumindest so. Bei ihr konnte man nie sicher sein, was wirklich und was schnöder Schein war, heraufbeschworen um ihrer eigenen, rätselhaften Ziele willen. »Und du sagst, du siehst Krankheit und Tod in deinem Traum?«

Kriemhild schüttelte den Kopf. »Ich sehe sie nicht, aber ich kann sie fühlen.« Sie hatte Mühe, ihre Empfindungen in Worte zu kleiden, doch Berenike schien sie auch so zu verstehen.

»Ich habe den Eindruck«, sagte die Alte gewichtig, »das Feuer am Himmel bedeutet, daß dein Gott ein Opfer von dir verlangt. Er offenbart dir seine Herrlichkeit, um dir zu zeigen, daß du seine Erwählte bist.«

Kriemhild wurde bei diesen Worten blaß, und ein Zittern durchlief ihren Körper. »Ein Opfer? Wofür?«

»Um die Plage, die dein Land dereinst heimsuchen wird, zu bezwingen.«

Eine sonderbare Aura schien die Hexe zu umgeben, eine Überzeugungskraft, die beinahe greifbar war. Kriemhild sah plötzlich keinen Grund mehr, ihren Worten zu mißtrauen. Nicht, daß die Alte ihr den eigenen Willen nahm, mitnichten - vielmehr war es, als verstärke die Macht der Erzhexe Kriemhilds Einsicht in Dinge, die den Menschen gemeinhin verborgen blieben. Die Hexe öffnete in ihrem Geist ein Fenster, und jenseits davon lag eine neue, fremdartige Welt voller Wunder. Kriemhild fragte sich unwillkürlich, ob ihre Mutter dasselbe empfunden hatte, als sie Berenike zum erstenmal gegenübergestanden hatte. Plötzlich verstand sie, weshalb Ute so erpicht auf den Besuch der Hexe gewesen war. Es gab so vieles zu lernen, so vieles zu begreifen.

»Wie erkenne ich, wann es soweit ist?« fragte Kriemhild. »Und was werde ich dann tun müssen?«

»Von den Unschuldigen verlangt der Christengott stets das größte Opfer: ihre Unschuld. Komm zu mir, wenn es soweit ist.« Der Blick der Hexe sengte heiß in Kriemhilds Hirn, prägte die Worte in ihren Geist wie Brandzeichen. »Komm zu mir, und ich werde dir den Weg zur Wahrheit weisen.«



»Sie hat dich behext«, sagte Jodokus, als Kriemhild ihren Bericht beendet hatte. »Da gibt es gar keinen Zweifel. Sie hat dir ihren Willen aufgezwungen.«

Kriemhild war empört. »Aber ich weiß, daß sie recht hat.«

»Weil sie es dir eingeredet hat. Sie hat irgend etwas mit dir angestellt.«

»So ein Blödsinn. Das hätte ich wohl bemerken müssen.«

»Dann nenn’ mir einen guten Grund, mit dem sie dich überzeugt hat.«

»Ich...« Und plötzlich gingen ihr die Worte aus. Es war, als weigere sich etwas in ihrem Kopf, derartige Gedanken zuzulassen, eine Art Sperre, die jeden Argwohn, jede ernsthafte Überlegung in dieser Richtung blockierte.

»Siehst du«, meinte Jodokus überzeugt.

»Aber es ist wahr«, sagte sie. »Ich weiß es ganz genau.«

Sie saßen inmitten einer Bodensenke, über der sich wie ein Dach die Arme einer mächtigen Wurzel spannten. Der Wald um sie herum war hinter einer Mauer aus Schwärze verborgen. Nicht einmal das kleine Feuer, das sie entzündet hatten, vermochte der Nacht die Umrisse der nahen Bäume zu entreißen. Geisterhaftes Rascheln und Wispern erfüllte die Wälder, und einige Male waren sie durch glühende Augenpaare in der Dunkelheit aufgeschreckt worden. Kriemhild hatte längst die Orientierung verloren, doch der Sänger schien sich in dieser Gegend auszukennen. Am übernächsten Morgen, so hatte er gesagt, würden sie Salomes Zopf erreichen - falls Kriemhild immer noch dorthin gehen wolle.

Der befürchtete »Gegenzug«, wie Jodokus es genannt hatte, war bislang ausgeblieben, und Kriemhild war mittlerweile überzeugt, daß der Vorfall im Hohlweg nur ein Streich wilder Winde gewesen war. Sie hatte es aufgegeben, mit Jodokus darüber zu streiten; er würde niemals von seiner Überzeugung lassen.

»Sie hat dich mit ihrer Hexerei umgarnt«, behauptete Jodokus beharrlich, »genau wie deine Mutter.«

Kriemhild hatte ihm verschwiegen, wer ihre Mutter war, aber allmählich schien er etwas zu ahnen. Zwangsläufig mußte er sich fragen, weshalb die legendäre Berenike ihren Hexenhort verlassen hatte, um einem jungen Mädchen die Träume zu deuten. Für ein einfaches Edelfräulein, eine angehende Hofdame, hätte sie kaum den beschwerlichen Weg nach Worms auf sich genommen.

Kriemhild versuchte erneut, ihre Gefühle zu erforschen, doch jedesmal, wenn sie die Worte der Hexe durchschauen wollte, traf sie auf eine Barriere. Alles, was mit Berenike zu tun hatte, war über jeden Zweifel erhaben. Genausogut hätte Jodokus beanstanden können, daß sie die Nacht für dunkel, das Laub für grün und das Wasser eines Baches für flüssig hielt.

Natürlich bin ich im Recht, dachte sie, und die Gewißheit dieses Gedankens erfüllte sie mit wonniger Genugtuung.


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