ISBN: 3426015706

Droemer/Knaur

Erscheinungsdatum: 1988

In memoriam Lulu Simmel

Dies ist ein Roman.

Die Handlung und alle Personen – mit Ausnahme der zeitgeschichtlichen – sind erfunden. Ebenso erfunden sind das von einigen Personen der Zeitgeschichte entworfene und unterzeichnete Beidseitige Geheimabkommen sowie die Gespräche und Aktivitäten ihrer politischen und militärischen Feinde in diesem Zusammenhang.

Ich versichere, daß der Fernsehsender Frankfurt, den es nicht gibt, keinesfalls stellvertretend für einen anderen Sender der Bundesrepublik, beispielsweise den Hessischen Rundfunk, steht. Der Dokumentarfilm, um den alles Geschehen kreist, ist desgleichen ein Produkt der Phantasie und darum natürlich niemals in achtundfünfzig Ländern der Erde ausgestrahlt worden. Sollte jener Dokumentarfilm – eine Hypothese – tatsächlich existieren, dann wird er nie zu unserer Kenntnis gelangen.

J. M. S .

Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht Und man sieht die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht. BERTOLT BRECHT, Schlußstrophe des Films »Die Dreigroschenoper«

Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Handlung, wenn sich auch ein niedriges finden läßt.

EDWARD GIBBON (1737 – 1794)

ERSTES BUCH

Am 11. Februar 1984 gegen 18 Uhr ging ein gewisser Daniel Ross daran, sich in seiner Wohnung zu ebener Erde eines Hauses an der stillen Sandhöfer Allee in Frankfurt am Main das Leben zu nehmen. Der 11. Februar 1984 war ein Samstag. Ross hatte den Zeitpunkt für seinen Selbstmord umsichtig gewählt. Es besteht bei derartigen Unternehmungen, auch wenn die Methoden, die zum Freitod führen sollen, noch so sicher sind, stets die Gefahr, daß man gestört, vorzeitig entdeckt und ins Leben zurückgeholt wird, wobei nicht reparable Schäden des Gehirns und der Funktionen zahlreicher anderer Organe auftreten können. Darum gehen Selbstmörder häufig in den Wald, auf einen Berg, in eine Bootshütte an einem See, oder sie suchen einen Zeitpunkt aus, zu dem sie ihrer Überzeugung nach lange genug ungestört sind und erst aufgefunden werden, wenn es zu spät ist. Daniel Ross hatte einen Samstagnachmittag gewählt. Diesem folgten die Nacht zum Sonntag, der ganze Sonntag und die Nacht zum Montag. Dann erst kam wieder die Reinemachefrau. Die Erlebnisse des Ross in den vergangenen vier Monaten waren solcher Art, daß er guten Grund hatte, keinen Anruf, keinen Besuch, ja keinerlei Interesse irgendeines Menschen für sich und seinen Zustand zu erwarten. So sehr er darüber verzweifelt war, so sehr erfüllte ihn diese Lage indessen an jenem späten Nachmittag mit Frieden. In Frankfurt schneite es, aber nur ein wenig.

Also warf er sich, nun schon zum zweitenmal, eine hohle Hand voll weißer Kapseln in den Mund und spülte diese mit einem großen Schluck Whisky hinunter. Den Scotch trank er pur, im Glas waren nur Eiswürfel. Nun aß er ein halbes Schinkenbrot, sehr sorgsam kauend. muß etwas essen dazu, dachte er, sonst kotze ich das ganze Zeug wieder aus. Er saß an seinem Schreibtisch, auf dem eine grünbeschirmte Lampe brannte. Es gab kein anderes Licht in dem großen Arbeitszimmer voller Bücher. Das Fenster neben dem Schreibtisch ging auf einen verwilderten Garten hinaus, in dem sich kreischend zwei Katzen jagten. Ross wandte den Kopf. Die Scheibe spiegelte sein Gesicht, denn draußen war es dunkel geworden. Schnell sah er wieder weg. Dabei glitt sein Blick über den mit Manuskripten bedeckten Schreibtisch und blieb auf einer kleinen, schrägstehenden Silberplatte haften, die von einer Stütze gehalten wurde. Worte waren darauf eingraviert. Lies das noch einmal, dachte er. Es war deine glücklichste Zeit.

DIE WELT, IN DER WIR LEBEN, LÄSST SICH ALS DAS ERGEBNIS VON WIRRWARR UND ZUFALL VERSTEHEN; WENN SIE JEDOCH DAS ERGEBNIS EINER ABSICHT IST, muß ES DIE ABSICHT EINES TEUFELS GEWESEN SEIN. ICH HALTE DEN ZUFALL FÜR EINE WENIGER PEINLICHE UND ZUGLEICH PLAUSIBLERE ERKLÄRUNG.

BERTRAND RUSSELL

Darunter las er die handschriftliche Gravur:

FÜR DANIEL ZUM ERSTEN JAHRESTAG IN GROSSER LIEBE SIBYLLE

WIEN, 17. NOVEMBER 1971

So, sagte er zu sich selber, nun hast du noch einmal an sie gedacht. Nun mach weiter! Aus einem kleinen Schraubdeckelglas ließ er aufs neue weiße Kapseln in die hohle rechte Hand fallen. Er war Linkshänder. Alles, was er brauchte, hatte er zum Schreibtisch getragen: ein Glas, eine Flasche Whisky, Eiswürfel in einem kleinen silbernen Kübel, mehrere belegte Brote auf einem Teller und vier Packungen Nembutal – nun geöffnet, die Schraubdeckelgläser herausgenommen.

Es war ganz einfach gewesen, sich das Schlafmittel zu verschaffen. Er hatte wegen einer schweren Erkältung im Dezember des vergangenen Jahres einen Arzt in dem weit entfernten Stadtteil Eschersheim aufgesucht, ein kleines Ablenkungsmanöver inszeniert und im günstigsten Augenblick einen Block mit Rezepten gestohlen. Sie waren vorgestempelt gewesen. Er hatte sie nur ausfüllen müssen. Danach war er in vier verschiedene Apotheken gegangen. Eine Packung enthielt fünfundzwanzig Kapseln, und er brauchte hundert. Er hatte sich im Sender genau erkundigt – bei einem Arzt, der wissenschaftlicher Berater des Gesundheitsmagazins SPRECHSTUNDE war. Eine Kapsel Nembutal enthielt hundert Milligramm Phenobarbitat. Die höchste noch vertretbare Tagesdosis waren achthundert Milligramm, also acht Kapseln. Zehn Gramm Phenobarbitat brachten einen Menschen garantiert um. Das waren hundert Kapseln. Ross spülte eine vierte Handvoll mit Whisky hinunter und aß danach die zweite Hälfte des Schinkenbrots. Draußen schrieen die Katzen.

Er war schon im Dezember so verzweifelt gewesen, daß für ihn feststand. Er mußte sich umbringen. Er mußte es einfach tun. Ein Mann kann nicht weiterleben, sagte er sich, wenn alles mit ihm zu Ende geht. Er hatte es schon im Dezember tun wollen, doch dann war sein ältester Freund gestorben. Im Berliner Martin-Luther-Krankenhaus. Er war sofort hingeflogen. Eine Nachtschwester hatte ihm die letzten Worte seines Freundes Fritz mitgeteilt. »Er hat gesagt: ›Zeit, daß ich abhau’.‹ Dann hat er die Augen zugemacht und war tot...«

Zeit, daß ich abhau’.

Die Worte hatten sich bis zur Besessenheit bei Daniel Ross festgesetzt. Zeit, daß er abhaute. Es war Zeit für ihn, höchste Zeit. Er mußte an den Satz denken, viele Male jeden Tag. Nachts träumte er von Fritz und hörte ihn die Worte sprechen. Er hörte ihn auch ein paar Mal am Tag sprechen, im Wachen. Ganz laut. So weit hatte ihn das verfluchte Nobilam schon gebracht. Wie weit ihn das verfluchte Nobilam sonst noch gebracht hatte, daran durfte er gar nicht denken.

Dann wollte er es gleich nach dem Begräbnis seines Freundes tun, noch in Berlin, aber da bekam er das Angebot einer unabhängigen Fernsehproduktionsgesellschaft. Es dauerte drei Wochen, und die Sache zerschlug sich. Anschließend sah es so aus, als würde es ihm mit verzweifelter Anstrengung gelingen, von dem Höllenzeug loszukommen, und er war drei Tage lang außer sich vor Seligkeit, bis ihn dann der Rückschlag traf. Was für ein Rückschlag! Mit scheußlichsten Entzugserscheinungen. Es gab keinen Weg mehr für ihn, keinen mehr, nein. Vergangenen Donnerstag hatte er schließlich einen neuen Rekord aufgestellt. Dreizehn Tabletten Nobilam waren nötig gewesen, um ihm halbwegs die Angst zu nehmen, um ihn einigermaßen ruhig werden zu lassen. Da war der Ekel vor sich selbst dann übergroß geworden, und er beschloß, am Samstag Schluß zu machen. Er hatte nie Selbstmitleid empfunden, wie das üblicherweise der Fall ist. Nein, kein Selbstmitleid. Nur Ekel, Wut und Abscheu. Das half ihm nun, half ihm enorm.

Wieder schluckte er eine Handvoll Kapseln, wieder trank er Whisky, wieder aß er. Ross fluchte, während er kaute. Scheißspiel mit diesen Milligrammkapseln. Es waren immer noch eine Menge da. Er mußte sie sich alle in den Rachen schmeißen. Natürlich erhöhte der Whisky die Wirkung. Na ja, verdammt, dachte er, darum trinkst du ihn ja, Kapselschmeißer. Du darfst kein Risiko eingehen. Schräg gegenüber sind die Universitätskliniken. Und fünfhundert Meter entfernt, in der Heinrich-Hoffmann-Straße, ist die Psychiatrie. Kein Risiko also. Und kein Fluchen, kein Theater, ja? Marilyn hat es auch geschafft mit Schmeißen. Oder, wie glaubst du, ist die abgehauen? Also weiter. Hurtig, hurtig. Er schluckte eben den letzten Bissen des zweiten Brotes, als das Telefon läutete. Bereits benommen, nahm er mechanisch ab, bereits so benommen, daß er nicht über die Störung verärgert war.

»Ja?«

»Wer spricht dort?«

Eine Frauenstimme. Mit Akzent. Was für einem Akzent? Scheißegal, mit was für einem Akzent, dachte er. »Wen wollen Sie denn sprechen?«

»Herrn Daniel Ross.« Er gab keine Antwort. »Hallo!« »Ja.«

»Sind Sie Herr Daniel Ross?«

»Ja. Was wünschen Sie?« Er bemerkte, daß er leicht lallend sprach, und das erfüllte ihn mit Genugtuung. Es geht los, dachte er. Er trank einen großen Schluck.

»Mein Name ist Mercedes Olivera. Ich muß Sie dringend sprechen.«

Ross stellte das Glas hart auf den Schreibtisch. Jetzt war er wütend. »Haha.«

»Bitte?«

»Großer Spaß. Wer sind Sie? Jemand vom Sender? Mit wem sind Sie zusammen? Wer sind die anderen Spaßmacher? Wer sind die Arschlöcher?« schrie er unbeherrscht und erschrak. Nicht. Nicht schreien. Die Person hat dann das Gefühl, hier ist etwas nicht in Ordnung. Kommt her. Schickt wen her. Die Polizei. Plötzlich wurde ihm widerlich heiß, Schweiß brach aus. Das kannte er. Kam vom Nobilam. Er hatte seit langem Schweißausbrüche, sehr oft nachts, im Schlaf, auch im Sender, bei der Arbeit. Ganz plötzlich. Der Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Das brannte. Über den Rücken rann auch Schweiß, er spürte es unter der Pyjamajacke. Ross trug einen Pyjama, er hatte sich für das Bett fertig gemacht, bevor er mit dem Kapselschlucken anfing. Er sagte: »Entschuldigen Sie. Tut mir leid. Nerven verloren. Sie suchen einen anderen Ross. Ross ist ein häufiger Name.«

»Sie wohnen in der Sandhöfer Allee?« Die Stimme klang sehr bestimmt.

»Ja.«

»Dann sind Sie es!«

Das wird ein Idiotengespräch, dachte er. Und wenn da noch ein paar im Sender hocken und mich auf den Arm nehmen? Nein, dachte er. Nein. Die sind alle froh, daß sie nichts mehr zu tun haben mit mir. Nicht anstreifen an mich. Ich habe die Pest. Die Pest habe ich. Aber wer ist dann die Frau? Wo ist die Frau? »Wo sind Sie?«

»In Kloten.«

»Wo?«

»Flughafen von Zürich. Heißt doch Kloten – oder?« Plötzlich war da leise Musik. Langsame, altmodische,

wehmütige Musik. Eine dunkle Frauenstimme sang: »... wenn ich mir was wünschen dürfte ...« Sibylle. Unser Lied, dachte er. Wie kommt dieses Lied in die Leitung?

Jetzt zitterte er vor Schreck am ganzen Körper. Was soll das, dachte er entsetzt. Höre ich wieder eine Stimme, so wie ich die Stimme von Fritz gehört habe? Und Musik dazu? Unser Lied? Und eine zweite Stimme? Ist es das verfluchte Nobilam? Gehen

die Erscheinungen wieder los? Fängt ein Medikamentendelirium an? Jetzt? Am Samstagabend? Mit all dem Nembutal im Bauch? Er geriet in Panik, sprang auf, schrie: »Sind Sie wirklich ...?«

»Ich verstehe nicht.«

»... käm’ ich in Verlegenheit ...« sang die Frauenstimme, rauschend setzte ein Orchester ein.

Oh, bitte, nein. Nein, nein, nein, dachte er verzweifelt. Er biß sich auf die Unterlippe. Er setzte sich. Auf einmal wurde ihm übel. So etwas kam häufig vor, ganz plötzlich. Das verdankte er auch dem verfluchten Nobilam. Aber ohne das verfluchte Nobilam kann ich nicht leben, dachte er. Immer schlimmer. Das wird immer schlimmer. Verrückt! Ich will ja gar nicht leben! Sterben will ich! Er trank, schenkte Whisky nach und trank wieder. Die Flasche stieß gegen das Glas, so sehr bebte seine Hand. »Hallo!« Jetzt war die Frauenstimme unruhig. »Hallo! Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank? Fehlt Ihnen etwas, Herr Ross?«

»Mir ... geht ... es ... ausgezeichnet ... Sind Sie wirklich ...« Er schluckte. Die Übelkeit schwand.

»Was soll das heißen: Sind Sie wirklich.«

»Sind Sie wirklich ... in ... Kloten?« Nimm dich zusammen, Mensch. Scheißkerl. Neurotiker. Hysteriker, verfluchter. Zusammennehmen sollst du dich.

»Das sage ich doch! Ich spreche aus einer Bar. Der Mixer war so freundlich ...«

»... was ich mir denn wünschen sollte ...«

Das halte ich nicht aus. Das halte ich nicht aus. Er rief: »Ist da Musik?«

»Ja. Der Mixer hat eine Kassette in das Stereogerät gelegt. Sie können die Musik hören, wie?«

»Ah ...« Große Erleichterung erfüllte ihn. Seine Stimmung wechselte von einer Sekunde zur anderen. Es gab diese Frau. Es gab ja auch »Wenn ich mir was wünschen dürfte«. Alles war wirklich. Kein Delirium würde ihm den Tod versauen. Aber weshalb wollte diese Frau ihn sprechen?

»... eine schlimme oder gute Zeit ...« Die dunkle Frauenstimme. Das Orchester. Ein Klavier. Sibylle. Damals in Wien, als wir so jung und glücklich waren. Aber jetzt? Ausgerechnet jetzt? Ach, Sibylle ...

»Ich bin gerade gelandet, Herr Ross.«

»Von wo kommen Sie?«

»Aus Buenos Aires.«

»... wenn ich mir was wünschen dürfte ...« Die Dietrich war das, die sang! Die Dietrich. Marlene Dietrich.

»Woher?«

»Aus Buenos Aires.«

»... möchte’ ich etwas glücklich sein ...«

»Es ist von größter Wichtigkeit. Ich muß Sie gleich sprechen.«

»... denn wenn ich gar zu glücklich wär’ ...« »Ich kenne Sie nicht!«

»... hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein«, sang Marlene Dietrich. Das Orchester wurde lauter und brachte das Lied zu Ende. Andere Musik erklang, »Aber ich kenne Sie!«

Das hielt kein Mensch aus. Das war unerträglich. Er ließ den Hörer fallen. Der Hörer fiel in seinen Schoß. Er legte ihn auf den Apparat und trank wieder, lange. Er keuchte ein wenig. Plötzlich ekelte er sich vor dem feuchten Pyjama. Unsicher stand er auf und ging durch das große, dunkle Arbeitszimmer mit den Bücherregalen ins Schlafzimmer, wo er eine der beiden Lampen links und rechts vom Bett anknipste. Aus dem Wandschrank holte er einen Schlafanzug, streifte den anderen ab, trat ins Badezimmer, rieb den Körper trocken und mit Eau de Cologne ein und zog den neuen Pyjama an. Wie eine mächtige Woge schlug Müdigkeit über ihm zusammen. Ins Bett. Jetzt ins Bett. Er hatte schon die Decke zurückgezogen, da fiel ihm etwas ein. Die Kapseln! Er mußte alle nehmen, auch die letzten. Und die Tür absperren! Er taumelte nun bereits auf dem Weg zurück zum Schreibtisch. Als er die letzten Kapseln mit Whisky geschluckt hatte, begann wieder das Telefon zu läuten. Jetzt schwer benommen, hob er ab und hörte sofort wieder ihre Stimme: »Hier ist ...«

»Ja, ich weiß. Gehen Sie zum Teufel!« Er hatte genug. Ins Bett. Er wollte ins Bett. Schlafen. Tod. Frieden.

»Herr Ross, ich flehe Sie an!«

»Ja, ja«, sagte er und dachte: Die Dietrich singt nicht mehr. Diese andere Musik kenne ich nicht.

»Wir müssen eine Reise zusammen machen.« »Nix«, sagte er.

»Was?«

»Nix. Ich reise gerade ab.«

»Aber ... aber ... Das dürfen Sie nicht!« schrie sie. Jetzt schrie sie.

Er lachte böse.

»Lachen Sie nicht! Sie wissen ja nicht, worum es geht!« »Okay, okay«, sagte er und legte den Hörer auf. Danach bückte er sich und stöpselte den Apparat aus. So. Nun

konnte die Verrückte nicht mehr anrufen. Nun konnte niemand mehr anrufen. Er ging in die Diele, drehte das Sicherheitsschloß der Eingangstür zu, sperrte ab und legte die Kette vor. Aus dem Schlafzimmer fiel eine Lichtbahn in den Arbeitsraum. Ross knipste die Schreibtischlampe aus und taumelte zurück in das Schlafzimmer. Auch hier gingen die Fenster auf den Garten hinaus. Der Kater und die brünstige Katze schrien noch immer. Ross mußte ins Badezimmer. Den mysteriösen Anruf jener Frau hatte er längst vergessen. Er war jetzt sehr betrunken und sehr schläfrig. Plötzlich fielen ihm die Sätze Bertrand Russells auf der kleinen Silberplatte ein, und er dachte an den Teufel, der diese Welt aus Wirrwarr und Zufall mit Absicht geschaffen hatte. Er lächelte. Jetzt wirst du sterben, sagte er zu sich, und eine große Glückseligkeit überkam ihn. Er wurde mit jeder Minute ruhiger. Schlafen, dachte er. Schlafen und nie mehr aufwachen müssen. Er lächelte stärker. Es gibt kein Leben nach dem Tod, und es gibt keinen Gott. Das Argument, dachte er, das die, die an ihn glauben, anführen, nämlich das der ersten Ursache, ist Unfug. Sie behaupten, daß alles, was auf dieser Welt geschieht, eine Ursache hat und daß man zu einer ersten Ursache kommen muß, sofern man die Ketten aller Wirkungen und Ursachen immer weiter zurückverfolgt. Und diese erste Ursache nennen sie Gott. Wenn aber alles eine Ursache haben muß, dann muß auch Gott eine Ursache haben. Und wenn es etwas gibt, das keine Ursache hat, dann kann das ebensogut Gott wie die Welt sein. Wer, verflucht, dachte er, vermag mir einen Grund zu nennen, warum die Welt nicht auch ohne Ursache begonnen haben könnte oder warum sie nicht schon immer bestanden hat? Wer sagt, daß die Welt einen Anfang gehabt haben muß? Warum? Diese fixe Idee, daß alles einen Anfang gehabt haben muß, ist nur eine Folge unserer lächerlich beschränkten Vorstellungskraft.

Er verließ das Badezimmer, legte sich ins Bett und knipste das Licht aus. So hat also doch noch alles ein gutes Ende gefunden, dachte er. Im Garten kreischten die Katzen nun sehr laut, und aus einem von den Lichtern der großen Stadt milchig erhellten Himmel sanken Schneeflocken herab auf die schmutzige Erde. Wenige Minuten später war er eingeschlafen. Er träumte von dem Teufel, der die Welt erschaffen hatte.

»Wir werden unser Recht natürlich niemals mit Gewalt durchsetzen, aber wir bestehen auf ihm, und wir halten es für selbstverständlich, daß dieses Recht auf Heimat und die Wiedervereinigung unseres Vaterlands in Frieden und Freiheit für alle wirklich deutsch denkenden Politiker eine Conditio sine qua non ist – und für alle anständigen ausländischen Politiker auch. Deshalb reagieren wir auf die seinerzeitige sogenannte Ostpolitik des Herrn Brandt und die skandalöse Anerkennung der Oder-Neisse-Linie immer weiter mit leidenschaftlicher Empörung. Wir haben diese Linie nicht anerkannt, und wir werden es niemals tun!«

Diese Worte sagte am Dienstag, dem 8. November 1983, im Studio III des Senders Frankfurt ein Mann namens Siegfried Woitech, von Beruf Stellvertretender Vorsitzender der Vereinigten Vertriebenenverbände Deutschlands e.V.

Daniel Ross, ein schlanker, fast hagerer Mann von sechsundvierzig Jahren mit dichtem, bereits völlig weißem Haar, schwermütigen grauen Augen und einem großen Mund in dem schmalen Gesicht, saß dem Funktionär an einem Tisch gegenüber. Die alle vierzehn Tage ausgestrahlte Sendung Focus, deren Redakteur und Moderator Ross seit sechs Jahren war, lief bereits fünf Minuten. Dieses bei den Zuschauern wegen seiner absoluten Natürlichkeit außerordentlich beliebte Magazin – es gab nur Interviews zu aktuellen Themen, und alle Diskussionen wurden live, ohne vorherige Probe gesendet – beschäftigte sich ähnlich wie das Magazin KENNZEICHEN D des ZDF mit Meldungen und Ereignissen, welche beide deutsche Staaten betrafen. In der dreiviertel Stunde, die Focus zwischen 21 Uhr und 21 Uhr 45 lief, gab es stets mehr Beiträge, und Ross sprach stets mit mehreren Menschen. Siegfried Woitech war eingeladen worden, weil sein Verband in der Dortmunder Westfalenhalle am 4. November eine Großkundgebung veranstaltet hatte, bei welcher es zu Tumulten und schweren Schlägereien zwischen sehr unterschiedlich orientierten Zuhörern gekommen war. Zwei Hundertschaften der Polizei hatten eingreifen müssen, es hatte elf Schwerverletzte und eine große Zahl Leichtverletzter gegeben. Eine Reihe von Personen war vorübergehend festgenommen worden. Zeitungen, Funk und Fernsehen berichteten daraufhin je nach Einstellung von »kommunistischen Terrortrupps« beziehungsweise von »rechtsradikalen Exzessen gefährlichster Art«. Siegfried Woitech war Daniel Ross’ erster Gast in der Focus-Sendung vom 8. November 1983. Drei elektronische Kameras nahmen das Gespräch auf. Ross hatte Woitech vor Beginn der Sendung in den Regieraum geführt, der einen Stock höher lag und durch dessen sehr großes Fenster man in das Studio hinabblicken konnte. Er hatte ihn mit dem Regisseur, der Bildmischerin und dem Produktions-Ingenieur bekannt gemacht, und der Funktionär wußte nun, daß Bildmischerinnen nach Weisung des Regisseurs ihre Auswahl unter den Aufnahmen trafen, welche die Kameraleute ihnen mit ihren schweren Apparaten auf die Monitorschirme im Regieraum lieferten. Alle Monitoren befanden sich über dem großen Regiepult. Die Tonqualität wurde in einem anderen Raum kontrolliert.

»Wenn bei der Kamera, die auf Sie gerichtet ist, ein Rotlicht zu blinken beginnt, dann ist Ihr Bild ausgewählt und geht direkt in den Äther hinaus. Sie sind dann auf allen Fernsehschirmen, auf denen Focus läuft, zu sehen«, hatte Ross dem Funktionär Woitech erklärt. Nun, da dieser seine Grundsatzerklärung und seine leidenschaftliche Empörung über die Ostpolitik Willy Brandts kundtat, blinkte das Rotlicht der Kamera, welche ihm gegenüber auf einer massigen Säule angebracht war. Die Vorstellung, daß viele Hunderttausende von Menschen im Land ihn sozusagen bei sich in der Stube hatten, brachte Woitech in einen leicht rauschartigen Zustand.

Da das Lämpchen der Kamera vor ihm noch immer zuckte, fügte er hinzu: »Herr Brandt war während des Krieges nicht hier. Wir wissen nicht, was er draußen gemacht hat. Wir waren hier. Wir wissen, was wir hier drinnen gemacht haben. Für meine Freunde und mich jedenfalls sind dies« – hier hob er die Stimme und den runden Kopf – »noch immer heilige Worte ...« Er räusperte sich, blickte ernst direkt in das Objektiv der auf ihn gerichteten Kamera, und man sah, wie seine Augen feucht wurden. »Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand dir, Land voll Lieb und Leben, mein teures Vaterland!«

Während dieser längeren Ausführung, bei der nur Woitech im Bild war, hatte eine Maskenbildnerin Daniel Ross’ Gesicht mit der aufweichenden Schminke frisch abgetupft und besorgt festgestellt, daß der Moderator einen heftigen Schweißausbruch hatte. Tropfen perlten ihm vom Kopf in den Nacken und in den Hemdkragen. Ross’ Lippen bebten. Seine Finger zitterten, er verschränkte die Hände über dem Knie.

»Was ist los?« flüsterte die Maskenbildnerin erschrocken. Der Moderator war bei allen beliebt und geschätzt.

Auf die Frage der jungen Frau schüttelte er nur den Kopf. »Alles in Ordnung?«

Er nickte und machte ein Zeichen, ihn allein zu lassen. Die Maskenbildnerin verschwand hinter der Studiokulisse. Zu den dort stehenden Studioarbeitern und zwei weiteren Gesprächspartnern von Ross, die hier warteten, sagte sie besorgt: »Der hat was. Sollen wir nicht einen Arzt ...«

»Quatsch«, sagte ein Arbeiter. »Das ist dem doch schon ein paar Mal passiert, Olga. Schluckt dauernd Pillen, weißt doch, vor jedem Focus. Die Pillen sind’s. Der braucht keinen Arzt.«

In der Tat hatte Ross schon solche Schweißausbrüche während einer Sendung gehabt, und sie waren, das sah der Arbeiter ganz richtig, auf eine größere Menge des Psychopharmakons Nobilam zurückzuführen, das Ross seit zwölf Jahren regelmäßig jeden Morgen in zu hoher Dosierung einnahm. Vor jeder Focus-Sendung und auch sonst bei allen Gelegenheiten, die große Konzentration und Anspannung erforderten, schluckte er eine zusätzliche Ration. Heute Abend indessen, und er bemerkte es mit größter Nervosität, wirkte das Mittel, das ihn stets beruhigte und sicher machte, verkehrt. Es regte ihn auf. Er fühlte den Schweiß am ganzen Körper, sein Herz klopfte rasend, und blinder Zorn über das, was Woitech da von sich gegeben hatte, erfüllte ihn. Zuletzt hatte der seinem Poem noch die Worte »Armes, geteiltes Vaterland!« hinzugefügt.

Ross neigte sich vor. Auf der Stirn standen schon wieder einzelne Schweißtropfen. In seinem Gesicht zuckte es.

»Ajajajaj«, sagte der Regisseur oben in der Kabine. Er bog das Mikrofon, das vor ihm im Pult steckte, zu sich und sagte: »Zwo, Charley, geh ganz groß an Daniel ran!«

Der Mann hinter der Kamera 2 trug – wie seine Kollegen – Kopfhörer. Gleich darauf erschien Ross’ Gesicht bildfüllend auf einem Monitorschirm.

»Zwei«, sagte der Regisseur zu der Bildmischerin. Sie nickte, neigte sich über das Pult mit den vielen Reglern, Lämpchen und Schaltern, und sofort darauf begann das Rotlicht auf Kamera 2 zu blinken.

Ross sagte sehr erregt: »Unser armes Vaterland, lieber Herr Woitech, ist deshalb geteilt, weil wir Deutsche unter einem Verbrecherregime, unter den größten Verbrechern der mir bekannten Geschichte, einen verbrecherischen Krieg, den größten der mir bekannten Geschichte, begonnen haben ...«

»Hohoho!« sagte der Regisseur am Pult in der einen Stock höher gelegenen Kabine. Er hieß Kramsky und war einigermaßen betrunken. Das war er häufig. Sehr viele Mitarbeiter des Senders Frankfurt – und anderer Sender – waren sehr häufig einigermaßen betrunken.

»... einen Krieg«, fuhr Ross immer lauter, immer leidenschaftlicher fort, während er das Blut in seinem Körper pochen fühlte und das verfluchte Nobilam verkehrt wirkte, verkehrt, verkehrt, »in dem sechzig Millionen Menschen krepiert sind, darunter allein vier Komma acht Millionen Deutsche und zwanzig Millionen Russen ... einen Krieg ...«

»Einen Moment, bitte«, sagte der Funktionär sehr ruhig. »Jetzt rede ich, Herr Woitech. Ich habe Sie auch reden lassen

... einen Krieg, in dem große, alte und schöne Städte, darunter die unsere, in Schutt und Asche sanken ...«

»Immer gib ihm!« sagte Kramsky erfreut, und in das Mikrofon: »Noch näher ran an Daniel, wenn’s geht, Charley!«

Charley unten im Studio hinter der Kamera 2 nickte. Ross’ Bild wurde übergroß auf dem Monitor. Das Rotlicht der Kamera 2 blinkte, blinkte, blinkte ...

Ross geriet außer sich. »... einen Krieg, in dem blühende Länder, darunter unser armes Vaterland, total verwüstet wurden und wir den unglücklichen Bewohnern all dieser Länder nichts gelassen haben als ihre Augen zum Weinen, einen Krieg, in dem in Konzentrationslagern deutsche Menschen ihre deutschen Menschenbrüder und sechs Millionen Juden ermordeten ... einen Krieg, in dem ...«

Woitech schüttelte den Kopf. »Fangen auch Sie wieder mit diesem empörenden Unsinn an, Herr Ross! Ein deutscher Moderator im deutschen Fernsehen will unbedingt die deutsche Schuld beweisen, tck, tck, tck.«

»Schorsch«, sagte der betrunkene Regisseur Kramsky entzückt, »jetzt du, schnell! Und geh auch ganz groß ran an den Kerl!« Die Bildmischerin, eine hübsche junge Frau in einem blauen Kittel, begann zu zittern. »Aufhören!« rief sie. »Schluß!«

»Scheiße, aufhören«, sagte Kramsky. »Wann passiert schon mal so was?« Er schlug der Bildmischerin, die einen Schalter umdrehen wollte, auf die Hand. »Wirst du das sein lassen, du Luder? Scher dich weg! Weg, habe ich gesagt!« Er stieß sie fort. Sie glitt von ihrem Sitz, kam ins Taumeln, fing sich und landete mit dem Rücken an der Kabinenwand, wo sie stehen blieb, beide Fäuste an den Mund gepreßt.

Unterdessen hatte Woitech – man hörte es in der Kabine über Lautsprecher – leise, fast mahnend, weitergesprochen: »Was reden Sie doch für unverantwortliches Zeug, Herr Ross! Weltbekannte und geachtete amerikanische und englische Historiker wie Toland und Irving haben in ihren Werken festgestellt, daß dieser Krieg uns aufgezwungen worden ist. Und hören Sie bloß auf mit Ihren Juden! Gewiß, es wurden welche getötet. Aber niemals sechs Millionen. Höchstens zwei. Die alte Lüge, damit sich auch noch unsere Urenkel Israel gegenüber schuldig fühlen und zahlen, zahlen, zahlen ...« Er warf eine Hand auf. »Wie viele Deutsche sind von Russen, Polen und Tschechen von Haus und Hof vertrieben worden? Wie vielen hat man die Heimat genommen? Ich will es Ihnen sagen, Herr Ross: Zwölf Millionen! Jawohl, zwölf Millionen Vertriebene! Wie viele Deutsche sind umgekommen auf der Flucht, durch Vertreibung und Verschleppung? Fast drei Millionen! Und wie viele sind nach fünfundvierzig viehisch ermordet worden? Hunderttausende, viele Hunderttausende! Man soll doch endlich aufhören, unser Volk in den Dreck zu ziehen!«

Während Woitech sprach, versuchte die Maskenbildnerin wieder, Daniel Ross’ Gesicht zu restaurieren. Er war nicht im Bild. Sie verteilte mit einer Quaste Pancake und flehte flüsternd:››Bitte, bitte, lieber Herr Ross, lassen Sie das! Hören Sie auf! Sie machen sich unglücklich ...«

Er schüttelte stumm und erbittert den Kopf.

»Der hat doch was!« rief die Bildmischerin oben in der Kabine. »Seht ihr denn nicht, wie elend es dem Daniel geht? Abschalten, abschalten!«

»Finde ich ja auch«, sagte der Produktions-Ingenieur, der in einer Ecke saß. »Kramsky, du kriegst Ärger, sage ich dir.«

»Und die Zeitungen morgen? Und der Skandal, Mensch? Glaubst du, das lass’ ich mir nehmen?«

»Du bist verrückt! Du fliegst! Die feuern dich!« »Ich bin besoffen. Kennst du einen einzigen Schwanz, den sie

schon gefeuert haben, weil er besoffen war? Noch näher ran an den Woitech, eins!«

Woitech hatte weitergesprochen. »Wer waren die wahren Verbrecher? Wer hat die polnischen Offiziere in Katyn ermordet? Wer hat Dresden zerstört, als es von Flüchtlingen verstopft war? Wer hat unsere Frauen und Töchter vergewaltigt? Wer hat Menschen an Scheunentore genagelt? Sie aus dem Fenster gestürzt? In die Flüsse geschmissen, aneinandergebunden? Sie totgeprügelt, totgetreten, totgequält? Diese asiatischen Horden ...«

In der Regiekabine läutete das Telefon. Der Produktions-Ingenieur nahm ab und meldete sich. Eine laute Stimme schlug ihm aus dem Hörer entgegen. Erschrocken richtete er sich auf. »Hier ist Colledo!« rief die Männerstimme. »Wer sind Sie?«

»Zeltler. Produktions-Ingenieur, Herr Colledo.« Aus dem Lautsprecher drang die Stimme von Ross unten im

Studio. »Asiatische Horden ... Da haben wir ja endlich wieder auch den schönen alten Ton! Und Sie wollen eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, ein Mann wie Sie?«

»Wer ist Regisseur?«

»Kramsky.«

»Geben Sie ihn mir! Na, los, los, los!«

Der Produktions-Ingenieur reichte dem Regisseur den Hörer »Da hast du jetzt die Scheiße«, sagte er. »Colledo.«

Der Regisseur meldete sich.

»Kramsky!« brüllte Conrad Colledo, Hauptabteilungsleiter für Politik und Zeitgeschehen des Senders. »Was ist los mit Ihnen? Wieder besoffen, was?«

»Ja, Herr Colledo ...«

Währenddessen hatte Ross weitergeschrien. Schminke rann ihm nun mit dem Schweiß vom Gesicht über den Hals auf das Hemd. Von Zeit zu Zeit rang er nach Luft. »Wiedervereinigung! Hören Sie, wir haben drei Kriege in siebzig Jahren angefangen! Ein vereintes Deutschland ist viel zu gefährlich. Es muß geteilt bleiben. Das ist die Meinung der ganzen Welt.«

»Wieso läuft das immer noch?« ertönte Colledos Stimme aus dem Hörer.

»Ich habe ... Wir sind ... völlig außer uns ... Wir ... Entschuldigen Sie, Herr Colledo, entschuldigen Sie, bitte!«

»Abschalten, sage ich!« schrie Colledo.

»Nicht mal Sie, Herr Woitech, nicht mal Sie wollen die Wiedervereinigung, seien Sie doch ehrlich! Wie hoch ist denn Ihr Gehalt als ...«

Ross’ Stimme brach ab. Die Monitoren in der Regiekabine flimmerten schwarz. Kramsky hatte endlich die Sendung unterbrochen. Durch die große Glasscheibe sah er, wie die drei Kameraleute, die Maskenbildnerin und die Studioarbeiter zu den beiden Männern am Tisch in der Dekoration eilten und sie zu beruhigen suchten. Auf den Monitoren erschien eine Schrift: STÖRUNG. Musik setzte ein.

»Gott sei Dank, ein normaler Mensch im Haus«, erklang Colledos Stimme aus dem Hörer. »Wer ist Abendsprecherin?«

»Die Ilse.«

»Ich rufe sie sofort an und sage ihr, was sie sagen soll. Sie kümmern sich um Ross und diesen Woitech. Der darf auf keinen Fall das Haus verlassen. Verstecken Sie ihn in einer Garderobe. Der Mann muß bewacht werden. Geben Sie ihm Sekt, Kaviar,

was weiß ich ... Auf keinen Fall dürfen Journalisten an ihn ran, bevor ich mit ihm gesprochen habe.«

»Alle Tore sind abgeschlossen, Herr Colledo.« »Übers Telefon, meine ich, Sie besoffener Lump! Das haben

Sie absichtlich gemacht, geben Sie es zu!«

»Herr Colledo, ich schwöre ...«

»Jajaja. Keiner von Ihnen geht fort! Ich fahre sofort los. In dreißig Minuten bin ich im Sender.«

»Herrje ...« Kramksy hatte durch die Scheibe ins Studio gesehen.

»Was heißt herrje?«

»Herrn Ross geht’s nicht gut. Zwei Studioarbeiter stützen ihn. Dem geht’s ganz mies, Herr Colledo.«

»Sie sollen ihn zum Studioarzt bringen!«

Kramsky stellte die Lautsprecherverbindung zum Atelier her und rief in das Mikrofon: »Bringt ihn zum Arzt!«

»Auf deine Eitzes hamwa jewartet!« schrie ein Arbeiter zurück. »Sie«, tobte Colledo, »gehen sofort auch zum Arzt und blasen ins Röhrchen, Kramsky! Sofort, habe ich gesagt. Der Zettler auch! Haben Sie verstanden?« Die Verbindung war unterbrochen.

Die Bildmischerin schluchzte laut auf.

»Hör auf, blöde Kuh«, sagte Kramsky, und zu dem Produktions-Ingenieur: »Also, was ist, gehen wir?«

»Ich komme gleich nach.«

Kramsky verschwand. Die Tür fiel hinter ihm zu. Der Produktions-Ingenieur bückte sich tief und zog eine

Cognacflasche aus einer Bodenlade. Er entkorkte sie und trank in mächtigen Schlucken.

»Was machen Sie da?« rief die Bildmischerin entsetzt. »Siehste doch. Ich besaufe mich. muß auch besoffen sein.

Wenn ich nicht besoffen bin, gibt’s keine Entschuldigung für mich dafür, daß ich nicht früher abgeschaltet habe.« Er hob die Flasche wieder. Dann sagte er: »Idioten, die wir sind.«

»Kramsky und Zettler haben beide mehr als eineinhalb Promille«, sagte Conrad Colledo und ging in seinem großen Dienstzimmer schnell auf und ab. »Du überhaupt nichts. Es ist zum Heulen, Mensch. Warum hast du dich nicht auch besaufen können?« Daniel Ross antwortete nicht.

Er saß in einem Stahlrohrsessel und starrte die Picasso-Lithographie an der Wand an. Sie zeigte einen Frauenkopf im Profil und zugleich von vorne. Die Frau hatte nur ein Auge.

Das große Verwaltungsgebäude war durch einen Gangtrakt mit den Aufnahmestudios verbunden. Der Sender Frankfurt befand sich nahe der Stadt Königstein im Taunus am Fuß des Großen Feldbergs, fünfundzwanzig Autominuten von Frankfurt entfernt.

»Wenn du betrunken gewesen wärst, würde gar nichts passieren. Du weißt doch, in den Anstalten wird derart ungeheuerlich gesoffen, daß man ein extrastarkes soziales Netz für Alkoholiker installiert hat. Niemand wird gefeuert, weil er blau ist, auch wenn er etwas ganz Übles anstellt. Schau dir den Juhnke an. Was der schon für Sendungen geschmissen hat! Und? Alle lieben ihn. Du mit deinen Scheißpillen. Jetzt haben wir die Katastrophe.« Ross antwortete noch immer nicht.

Er war sehr blaß, und sein Gesicht glänzte von der Creme, mit welcher die Maskenbildnerin die Schminke abgerieben hatte. Es war ihr zuviel Creme auf die Haut geraten, und als sie den Überschuß mit einem Kleenextuch entfernen wollte, hatte Ross sie, bebend vor Unruhe, weggestoßen und war fortgelaufen. Schminke befleckte den weißen Kragen des Hemdes, den Ross geöffnet trug, die Krawatte herabgezerrt, die Jacke ausgezogen, weil ihm wieder heiß war. Unter den grauen Augen lagen dunkle Ringe, das weiße Haar glänzte im Licht der starken Deckenbeleuchtung.

Es war nach Mitternacht. Colledo hatte Stunden mit dem erbitterten Siegfried Woitech zugebracht und all seine Überredungskunst aufgeboten. Zwischendurch waren ihm die Blutalkoholwerte Kramskys und Zettlers mitgeteilt worden, und er hatte lautlos geflucht, als er auf dem Formular des Arztes den Namen seines alten Freundes Daniel Ross las und daneben eine durchgestrichene Null sah.

Dann hatte er sich wieder dem Funktionär zugewandt, dem in seiner Ehre zutiefst getroffenen aufrechten Demokraten – mit diesen Worten charakterisierte Woitech sich selber. Colledo war klar, daß er alles tun mußte, um ihn zu beruhigen. Kein vernünftiger Mensch legte sich mit den Vertriebenenverbänden an. Colledo hatte noch von zu Hause mit dem Intendanten, Herrn von Karrelis, telefoniert und über Daniel Ross’ Zukunft gesprochen. Dem übererregten Siegfried Woitech erklärte Colledo dann, der Intendant des Senders sichere zu, daß Ross morgen, Mittwoch, zur besten Sendezeit, im Anschluß an die 20-Uhr-Nachrichten, vor der Kamera darum bitten würde, ihm seine schwere Entgleisung zu verzeihen.

»Das wird er tatsächlich tun?« fragte der Funktionär ungläubig. »Sie haben das Wort des Intendanten, Herr Woitech. Daniel Ross wird sich in aller Form entschuldigen und eine Ehrenerklärung für Sie und die Vertriebenenverbände abgeben. Damit ist Ihre Ehre dann aber doch wahrhaftig wiederhergestellt – oder?«

»Na ja, schon«, sagte Woitech. Er lachte plötzlich. »Was gibt es?« fragte Colledo.

»Sie haben mir die ganze Zeit Sekt angeboten, Herr Colledo, und ich habe natürlich abgelehnt. Tja, wenn das so ist – wirklich, ich glaube, ich trinke doch ein Glas nach der ganzen Aufregung. Aber Sie müssen mit mir trinken!«

»Gerne.« Colledo nahm eine Flasche aus einem Kübel, den ein Mädchen vor Stunden zusammen mit zwei Gläsern aus der Kantine gebracht hatte. Colledo öffnete die Flasche, goß die Gläser halb voll und reichte eines davon dem Mann mit dem Rundkopf.

»Anstoßen!« rief Woitech.

Also stießen sie die Gläser aneinander und tranken, nachdem Woitech sein Glas zuvor noch hochgehoben und Colledo ernst in die Augen gesehen hatte, während er laut »Ihr Wohl!« wünschte.

Nach dem dritten Glas war er gerührt und feierlich. »Sie sind ein unerhört anständiger Mensch, Herr Colledo. Und Ihr Herr Intendant auch. Ich werde selbstverständlich meinen Kameraden sagen, wie Sie sich benommen, wie Sie durchgegriffen haben. Hut ab, Herr Colledo! Das ist schon sehr korrekt! Auch allen Journalisten werde ich das sagen. Es tut mir ja leid um den Herrn Ross, aber ein Mann, der kein Interview leiten kann, ist für so eine Sendung wirklich unmöglich. Wirklich, nicht?«

»Herr Ross ist ein sehr tüchtiger Mann, nur leider krank.« »Was fehlt ihm denn?«

»Die Nerven, Herr Woitech«

»Ja, dann. Ja, dann aber erst recht! Sie können doch nicht einen Nervenkranken hier rumtoben lassen!«

Diese letzten Sätze berichtete Conrad Colledo dann später in seinem Dienstzimmer Daniel Ross nicht. Alles andere schon. Ross saß reglos und hörte ohne Widerspruch zu. Colledo rannte noch immer hin und her.

»Würde es dir sehr viel ausmachen, dich hinzusetzen, Conny?« fragte Ross heiser.

»Entschuldige.«

»Entschuldige du. Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen.« Colledo ließ sich in den Stahlrohrsessel hinter seinem Stahlrohrschreibtisch mit dicker Glasplatte fallen. Der sehr große Raum war modern eingerichtet und hatte vier Fenster, die man des Airconditionings wegen nicht öffnen konnte. Die vier Fenster waren ein Statussymbol. Sie zeigten an, daß Colledo eine sehr hohe Position innerhalb der Hierarchie des Senders bekleidete. Es gab Drei-, Zwei- und eine Menge Ein-Fenster-Angestellte. Das Büro des Intendanten hatte sechs Fenster und war riesenhaft. »Du wirst dich also heute Abend entschuldigen, Danny«, sagte Colledo leise. Es klang wie eine Bitte.

»Natürlich«, sagte Ross, ohne den Kopf zu heben. »Ich tue alles. Es tut mir auch wirklich leid. «

»Und daß du danach nicht mehr vor eine Kamera darfst, verstehst du auch.«

»Verstehe ich auch. Ich habe sehr an Focus gehangen. Es war meine Sendung. Ich habe sie aufgebaut. Sechs Jahre lang hat mir dank dir niemand auch nur ein einziges Mal reingeredet.«

»Ja, aber jetzt ...«

»... ist Schluß. Klar. Völlig klar.« Ross fragte: »Und was geschieht mit mir?«

»Kinderstunde«, sagte Colledo erschöpft. Auch er zerrte seine Krawatte herunter und öffnete den Kragen.

»Was?«

»Natürlich nicht Kinderstunde!« Colledo schlug mit der Hand auf die Glasplatte. »Ich wollte damit sagen: etwas ähnlich Attraktives. Irgendeine absolut unwichtige Position in einer absolut unwichtigen Abteilung.«

»Es ist dir doch klar«, sagte Ross, während er den Freund endlich ansah, »daß ich mir das nicht leisten kann. Wegen der Kollegen in den anderen Sendern. Und aus Gründen der – verzeih das harte Wort – Selbstachtung. Ist dir das auch klar?«

»Natürlich.«

»Was geschieht also, wenn ich mich weigere, eine solche Position anzunehmen?«

»Dann mußt du kündigen. Schau mich nicht so an, Mensch!« schrie Colledo. »Verflucht, schau nicht so! Ich bin dein Freund! Einundzwanzig Jahre lang haben wir zusammen gearbeitet. Dir verdanke ich, daß ich auf diesem Sessel sitze. Du hast mich von der SÜDDEUTSCHEN weggeholt, als hier die Stelle frei wurde. Glaubst du, das kann ich je vergessen? Deine gottverdammten Tabletten! mußt du die unbedingt nehmen? Kannst du denn ohne den Dreck nicht leben?«

»Nein«, sagte Ross. »Das kann ich nicht.«

»Verzeih!« sagte Colledo.

Danach schwiegen beide. Sie hörten die an- und wieder abschwellende Sirene einer Ambulanz.

»Wenn ich kündige, bekomme ich dann eine Abfindung?« fragte Ross endlich.

»Nein.«

»Und wenn ich mich nicht versetzen lasse und nicht kündige?«

»Ich habe das schon alles mit dem Intendanten besprochen. Du hast so lange prima gearbeitet, Danny. Der Sender wird dir kündigen. Dann kriegst du eine Abfindung. Aber raus mußt du. In deinem Zustand passiert das nächste Mal wieder so was. Herrgott, was für eine gemeine, dreckige Geschichte! Deine Tabletten! Deine Tablettenfresserei ist schuld an allem! Deine Karriere ruinierst du dir mit dem Zeug, deine Gesundheit, deine Arbeitskraft!«

»Das stimmt nicht«, sagte Ross. Es klang hochmütig. »Ich nehme das Zeug seit zwölf Jahren. Hast du je bemerkt, daß ich deshalb nicht anständig arbeiten konnte? Nie hast du es bemerkt! Ohne das Zeug könnte ich nicht arbeiten.«

»Weil du süchtig bist.«

»Ich bin nicht süchtig. Ich brauche nur mein Quantum. Es wird nicht mehr. Bleibt immer gleich. Was glaubst du, wie viele Menschen Tranquilizer nehmen? Woraus besteht denn unser Leben? Aus Nervosität, Angespanntheit, Angst, es nicht zu schaffen, unbestimmter Angst, Angst vor der nächsten Katastrophe. Angst! Angst! Angst! muß man sich eben helfen, wenn man so veranlagt ist. Du, du bist nicht so veranlagt, sei froh! Viele saufen, du siehst es ja, das ganze Fernsehen geht unter in Schnaps. Andere nehmen Tranquilizer. Ich zum Beispiel.«

»Die Zustände, die du nennst, sind Teile unseres Lebens. Angst ist oft eine wichtige Sicherheitsvorkehrung. Angespanntheit kann die Leistungsfähigkeit erhöhen.«

»Und wenn du den Streß nicht mehr aushältst? Die Hetze? Die Angst? Ach was, das verstehst du ja doch nicht. Ich würde auch lieber saufen, das kannst du mir glauben. Jedermann wäre lieb zu mir. Und so besorgt. Saufen ist erlaubt, Pillen sind verboten.«

»Du kannst die Menschen nicht befreien, aber du kannst ihnen helfen, sich weniger schlecht zu fühlen«, sagte Colledo.

»Was heißt das?«

»Amerikanischer Werbetext für Ärzte. Habe ich gelesen, als ich das letzte Mal in New York war. Soll die Ärzte motivieren, Beruhigungsmittel zu verschreiben – das größte pharmazeutische Geschäft der Welt.«

Ross winkte fahrig ab. »Keine Diskussion, bitte. Ich entschuldige mich heute Abend. Kündigen tue ich jetzt schon.« Er hatte in seiner Hosentasche gewühlt, nun zog er eine Packung Nobilam heraus und ein Blatt bedrucktes Papier. »Nur eines noch: Ich weiß jetzt, warum mir das gestern Abend passiert ist. Kommt unter zehntausend Fällen einmal vor. Ausgerechnet mich. mußte es erwischen.«

»Wovon redest du, verflucht nochmal?«

»Hier!« Ross hielt das Papier hoch. »Das ist ein Waschzettel. Liegt jedem Medikament bei. Auch dem da. Ja, schau es an! Nobilam heißt das Zeug, ohne das ich nicht arbeiten kann – und nicht leben. Schau es dir gut an!«

»Rede nicht so mit mir, Mensch!«

»Entschuldige. Tut mir leid. Wirklich. Paß auf, Conny. Nachdem ... nachdem ich die Sendung geschmissen hatte, fiel mir ein, auf dem Waschzettel einmal etwas gelesen zu haben. Und da steht es! Da steht ...« Ross fuhr mit einem Finger die Zeilen entlang. »Hier!« Er las vor: »›Auf die Möglichkeit einer paradoxen Reaktion, Erregung statt Sedierung‹ – verstehst du? Erregung statt Sedierung! – ›die auch bei vergleichbar sedativ wirkenden Medikamenten einsetzen kann, wird hingewiesen!‹« Ross schlug mit einer Hand auf den Zettel. »Erregung statt Sedierung! Das Zeug hat verkehrt gewirkt heute Abend. Zwölf Jahre nehme ich es, und alles geht gut. Und dann passiert so was. Und natürlich prompt in der Sendung!«

»Danny! Ich bitte dich! Ich bin dein Freund. Ich kann nicht mitansehen, wie du verreckst an dem Zeug. Doch, sei ruhig, verreckst, habe ich gesagt, und das tust du. Jetzt, ohne Job, wird die Angst immer größer werden. Die Unruhe. Die Nervosität. Sei ruhig, unterbrich mich nicht! Denkst du, in unserer Branche hält einer die Schnauze? Was glaubst du, wie viele Kollegen schon wissen von deiner Tablettenfresserei? Die meisten, Danny, die meisten. Und die, die es noch nicht wissen, werden es jetzt erfahren. Laß mal erst die Jungs von der Revolverpresse anfangen! Warte, bis Duweißtschonwer auftaucht! Es wird dir nach dem, was passiert ist, nicht möglich sein, einen anderen Job zu finden in deinem Zustand. Du mußt, hörst du, du muß t ganz einfach eine Entziehungskur machen! Das ist das erste, was du machen mußt. Darum bitte ich dich. Ich flehe dich an, geh in eine Klinik, mach eine Entziehungskur, mir zuliebe, ja, Danny?«

»Nein«, sagte Ross und sah wieder zu Boden. »Aber warum nicht? Warum nicht, Mensch?« »Weil ich schon eine gemacht habe.«

»Du hast schon ...«

»Ja.«

»Wann?«

»Vor zwölf Jahren.«

»Vor zwölf Jahren? Neunzehnhunderteinundsiebzig? Da hast du doch noch das Südosteuropa-Studio in Wien geleitet!«

»Ich habe die Kur in Wien gemacht. Deshalb weißt du nichts davon. Niemand im Haus weiß etwas davon. In Wien, ja. Psychiatrie der Universitätskliniken. Allgemeines Krankenhaus.«

»Aber ... aber ... Du sagst doch, du nimmst dieses Zeug seit zwölf Jahren. Ich versteh’ das nicht. Was haben sie dir denn davor zwölf Jahren entzogen in Wien?«

»Oxazepam«, sagte Ross. »Oxa...«

»Oxazepam. Ein anderes Mittel. Ein sehr gutes. Ich habe es nur ein einziges Jahr lang genommen. Viel zu viel. Von dem Oxazepam mußte ich wirklich runter. Das ging nicht mehr weiter. So was wie heute Abend hätte damals jeden Tag passieren können.«

»Und da haben sie dir vor zwölf Jahren dann Nobilam gegeben anstelle von Oxazepam?«

»Ja«, sagte Ross. »Und vor dem Oxazepam habe ich sieben Jahre lang Valium genommen.«

Colledo flüsterte: »Und nach sieben Jahren Valium hast du schon eine Entziehungskur gemacht?«

»Ja. Auch in Wien. Auch Allgemeines Krankenhaus. Großartige Leute. Sie haben erkannt, daß ich mein verrücktes Leben ohne irgendein Mittel einfach nicht ertragen kann. Nicht ertragen kann! Deshalb haben sie versucht, mich stufenweise zu entziehen. Deshalb bekam ich also Nobilam. Was hast du, Conny? Conny, was ist los mit dir?«

Colledo war aufgestanden und an eines der nachtdunklen Fenster getreten. Sein Büro lag im achten Stock des Gebäudes. Er sah hinüber auf den grandiosen Lichterteppich von Frankfurt. Regen schlug gegen die Scheibe.

»Mein Gott«, sagte er erstickt, »was bist du für ein armer Hund.«

Wieder folgte Schweigen.

Dann sagte Colledo, auf die Millionen bunten Lichter der Stadt in der Ferne blickend: »Geh wieder nach Wien, Danny! Bitte! Geh wieder zu diesen Spezialisten! Mach wieder eine Kur!«

»Nein«, sagte Ross, und seine Stimme klang plötzlich hart. »Nein, ich gehe nicht nach Wien. Niemals.«

»Aber warum nicht? Warum nicht, Danny?« »Weil dort die einzigen arbeiten, zu denen ich Vertrauen

habe, die mich kennen, die wissen, was mit mir los ist.« »Du meinst: Deshalb gehst du zu niemand anderem?« »Ja.«

»Ich verstehe nicht. Aber warum dann nicht nach Wien? Zu deinen Freunden, zu dem Arzt, der dein Vertrauen hat, der dich so gut kennt. Warum nicht, Danny? Warum nicht?«

»Es ist kein Arzt«, sagte Ross, sehr leise. »Es ist eine Ärztin. Und ich ... ich schäme mich zu sehr vor ihr.«

Da waren Wärme, goldenes Licht und Stille. Da waren Wolken, silbern, gewaltig, phantastisch geformt.

Und da war keine Sorge mehr, keine Mühsal, keine Eile, keine Traurigkeit. Da war keine Angst mehr, nein, keine Angst.

Da war die rote Rose.

Er betrachtete sie glücklich und dachte: Die Rose bin ich. Mein Körper, in Erde gebettet, ist zerfallen. Ein Teil von ihm, seine organischen Bestandteile, haben sich verwandelt in Kohlensäure und Ammoniak und ausgebreitet über die ganze Welt. Die anorganischen Bestandteile, die verschiedenen Salze, sind eingedrungen in den Boden, in dem ich liege, und sie haben diese Rose zum Wachsen gebracht, diese wunderbare Rose. Ich bin eine Rose geworden. Eine Rose und auch eine Wolke, denn die Gase in meinem Körper sind zum Himmel aufgestiegen. Ich bin eine Wolke.

Es begann zu regnen, sanft und leicht. Ich bin der Regen, dachte er, ja, auch der Regen. Es gibt eine Weltenergie, deren Größe genau festgelegt ist. Nicht das kleinste Partikel dieser Energie darf jemals verlorengehen. Nur verwandeln darf sie sich. In andere Energie. In unendlich viele andere Energien. Wärme zum Beispiel. Die Energie, die meinen Körper verließ, als ich starb, ist Wärme geworden, Wärme, die ich spüre, goldenes Licht, das die Rose bescheint. Ich bin das Licht, dachte er. Ich bin die Wärme. Jeder Baum, jedes Blatt, jeder Stein enthält einen Teil von mir. Denn die Bestandteile meines Körpers sind nun überall, am Himmel und auf Erden. Ich bin die Erde. Ich bin der Fluß. Ich bin das Meer. Ich bin etwas von allem geworden, das es in dem unendlichen Weltall gibt. Ich bin das Weltall. Das Weltall, das immer da war, das niemals begonnen hat, das es nicht nötig hatte, jemals zu beginnen. Nichts bin ich mehr, nun bin ich alles. Und habe endlich Frieden.

Wie schön ist das, dachte er. Wie schön ist der Tod, wie schön die Ewigkeit. Ja, auch die Ewigkeit bin ich nun. Warum habe ich das nicht früher gewußt? Warum habe ich mir das früher nicht vorstellen können? Ich wollte, ich wäre sofort nach meiner

Geburt gestorben. Nein, überlegte er, das ist ein falscher Gedanke. Ich durfte nicht gleich sterben. Ich mußte heranwachsen, damit mein Körper alle jene Bestandteile erhielt, die sich nun verwandelt haben. Ich habe leben müssen, um auf diese Weise universell sein zu dürfen: ein Teil von allem, was blüht und lebt und gedeiht, ja, was geschieht auf dieser Welt, in diesem Weltall, denn gewiß habe ich auch mit meinen Erlebnissen, den guten und den bösen, mit meinen Gedanken, mit meiner Arbeit Energie geschaffen und eingebracht in den Tod, auf daß diese Energie ein Teil der Weltenergie wird.

Und er sah wieder die Rose, und da waren Wärme, goldenes Licht und Stille.

Etwas Furchtbares geschah. Er wußte nicht, was. Aber die Stille wurde plötzlich gestört durch ein lautes, grauenvolles Durcheinander von abscheulichen Tönen, einen infernalischen Lärm, und da war kein goldenes Licht mehr, sondern Finsternis, oh, grauenvolle Finsternis, und da war keine Wärme mehr, sondern Kälte, schreckliche Kälte, die ihn erschauern ließ.

Schwerelos war er gewesen im Glück. Nun fühlte er plötzlich wieder seinen Körper. Sein Körper wurde hin und her gezerrt, hochgezogen, fallen gelassen. Immer mehr physische Empfindungen machten sich bemerkbar – Kopfschmerz, Gliederschmerz und Kälte, die Kälte, die große Kälte. Voll Entsetzen dachte er: Das ist nicht der Tod.

Im nächsten Moment schlug jemand ihm zweimal sehr heftig ins Gesicht, und eine Frauenstimme schrie: »Schlucken Sie!« Gleich darauf glaubte er, ersticken zu müssen. Seine Nase war verschlossen, schmerzhaft wurden ihre Flügel zusammengedrückt. Luft! Er brauchte Luft. Er hatte keine Luft gebraucht eben noch, nun brauchte er sie. Er empfand wieder Angst, elende Angst. Sein Körper, das fühlte er, wand sich, dann riß er den Mund auf, weit auf, um durch den Mund atmen zu können. Bevor er es konnte, floß heiße, höchst grauenvoll schmeckende Flüssigkeit in seine Kehle. Er wollte sie ausspeien, so entsetzlich schmeckte sie, aber statt dessen schluckte er. Es kam immer mehr von dieser bestialischen Jauche, und er schluckte, schluckte, denn er mußte doch atmen, atmen durch den offenen Mund. Er stöhnte. Das hielt er nicht aus. Das hielt niemand aus. Das war zu arg. Zu arg. Die Flüssigkeit hatte seinen Magen erreicht. Der revoltierte sofort. Die Flüssigkeit schoß wieder hoch. Er fühlte, wie er sich erbrach, erbrach mit größter Heftigkeit. Ekel schüttelte ihn. Er öffnete mühsam, so mühsam die Augen. Alles sah er durch Schleier und Schlieren. Sein Kopf schmerzte zum Zerspringen. Wo war er? In der Badewanne. Wie war er in die Badewanne gekommen? Über sich erblickte er eine Frau, die sich zu ihm herabbeugte. Sie schien nackt zu sein wie er. Warmes Wasser traf ihn. Diese Frau ... diese Frau ... Sie spülte ihn mit der Brause sauber.

Er saß, bemerkte er jetzt, mit dem Rücken gegen die Wannenwand gelehnt. Er holte Luft, tief Luft, jetzt war die Nase frei. Gleich darauf war sie wieder verschlossen. Die Frau preßte die Flügel zusammen. Er riß den Mund auf. Im nächsten Augenblick schoß die heiße Jauche in seinen Hals, diese widerliche Jauche. Die Frau sagte etwas. Er verstand sie nicht. Er begann von neuem, sich zu übergeben. Das halte ich nicht aus, dachte er. Das ist zuviel. Das ertrage ich nicht. Tot! Tot! Ich will tot sein.

Ein furchtbarer Verdacht regte sich in ihm: Er sollte ins Leben zurückgeholt werden! In das elende, schmutzige Leben. Aus dem Weltall des Todes. Von jener nackten Frau mit den großen Brüsten, die sich jetzt wieder über ihn geneigt hatte, während die Brause alles fortspülte.

Rasselnd holte er Luft durch den Mund. Er weinte jetzt vor Wut und Hilflosigkeit. Wieder sagte die Frau etwas. Wieder verstand er sie nicht. Ohne Mitleid war sie. Ohne Mitleid drückte sie seine Nasenflügel zusammen, wieder mußte er den Mund aufreißen, wieder schoß die Jauche in seinen Hals, ließ ihn erbrechen, erbrechen.

Er fühlte sich entsetzlich schwach. Sein Herz klopfte rasend. Dann war die Qual wieder vorbei. Er konnte atmen. Warm floß das Wasser der Brause über seine Brust. Eine Hand berührte seine Hand. Es dauerte lange, bis er begriff: Die fremde Frau fühlte seinen Puls. Plötzlich war er allein. Sie hatte das Badezimmer verlassen. Sein Kopf glitt seitlich auf die kalten Kacheln des Wannenrandes. Er war so schwach, daß er die Augen nicht länger offen halten konnte. Sein Schädel schmerzte zum Zerspringen. Die Rose, dachte er.

Dann war sie wieder da.

Sie packte ihn bei den Haaren und zog seinen Kopf zurück. Sie kniff seine Nasenflügel zusammen. Er riß den Mund auf. Die Tortur ging weiter. Sie goß ihm neue Jauche in den Hals. Er übergab sich. Sie brauste ihn sauber und sagte wieder etwas. Diesmal schrie sie. Sein ganzer Körper bebte nun. Vor seinen Augen drehten sich schwarze Schlieren und Ringe. Er hörte die junge Frau keuchen. Es mußte für sie eine große Anstrengung bedeuten, was sie tat. Sie hielt seinen Kopf, sie verhinderte, daß er in die Wanne hineinglitt. In der anderen Hand hielt sie ein Gefäß mit der widerwärtigen Flüssigkeit. Ja, sie keuchte vor Anstrengung. Aber sie gab erst auf, als er das Bewußtsein verlor.

Er kam zu sich, und sofort drückte sie ihm wieder die Nase zu. Es ging weiter. Er wurde immer schwächer. Sie goß ihm die Jauche in den Mund. Er übergab sich. Er verlor das Bewußtsein. Er kam wieder zu sich. Alles begann von neuem. Nach der ersten Sekunde der Ewigkeit war es dann so weit, daß er nur noch bittere Galle ausspie. Nun war eine Weile Ruhe. Dann goß die Frau warmes Wasser in seine Kehle. Auch das behielt er nicht.

Dreimal warmes Wasser. Darauf fühlte er, wie sein Herz stehenblieb. Sie hat dich getötet, dachte er. Danke. Alles wurde schwarz um ihn. Die Stille kehrte wieder. Willkommen, Tod. dachte er.

Er schlug die Augen auf.

Jetzt sah er klar. Sie saß auf dem Bettrand. Er lag bis zum Hals zugedeckt. Sie war nun nicht mehr nackt. Sie trug einen fleischfarbenen Büstenhalter und einen fleischfarbenen Slip. Sie hatte glänzend schwarzes Haar und leuchtende blaue Augen. Ihre Haut war von der Sonne tief gebräunt.

»Wer sind Sie?« Er brachte die Worte kaum verständlich heraus. »Nicht reden!«

»Wie sind Sie hier hereingekommen?«

Sie schüttelte nur den Kopf und legte einen Zeigefinger auf die vollen, schön geschwungenen Lippen.

»Muß ich jetzt leben?«

»Nicht reden!« sagte sie. Alles wurde wieder schwarz. Er erwachte. Sie saß an seinem Bett. Nun trug sie einen

blauen Morgenmantel. Ihr Gesicht war bleich. Sie sah erschöpft aus. Die Lampe neben dem Bett brannte noch, aber es war Tag. Vor den Fenstern schneite es heftig. Sturm tobte und trieb Schneewehen vor sich her. Er hörte einen Fensterladen klappern.

»Hallo«, sagte sie. Er antwortete nicht. »Sie haben lange geschlafen. Dreizehn Stunden. Vierzehn. Es ist fast elf.« Sie hatte auf das Tischchen neben dem Bett gesehen. Dort stand ein elektrischer Musikwecker.

»Fast vierzehn Stunden?« Sein Kopf schmerzte noch immer. »Ja, Herr Ross.«

»Sie kennen meinen ...« Er brach ab. »Ich bin Mercedes Olivera.«

Er zuckte mit den Schultern. Sein Kopf schmerzte immer heftiger.

»Sie erinnern sich nicht?«

»Woran?«

»Ich habe angerufen. Gestern.« Er sah sie stumm an. »Aus Zürich. Vom Flughafen.«

»Oh ...« Er stöhnte. Alles fiel ihm wieder ein. »Jetzt erinnern Sie sich, ja?«

»Ja.«

»Sie wollten sich das Leben nehmen, Herr Ross. Warum?« »Das geht Sie nichts an. Sie haben mich zurückgeholt.

Warum?«

»Ich konnte Sie doch nicht sterben lassen, mein Gott!« »Weshalb nicht?«

»Herr Ross, bitte!« Sie legte eine Hand an seine Wange. »Nicht« sagte er.

»Was nicht?«

»Nehmen Sie die Hand fort! Ich mag das nicht.« Sie zog die Hand zurück.

»Was geht es Sie an, wenn ich sterben will? Sie haben alles kaputtgemacht.«

»Sie sind noch sehr schwach, Herr Ross. Jeder Mensch geht mich etwas an, der im Sterben liegt.«

»Florence Nightingale«, sagte er. »Edle Schwester. Guter Mensch. Alles kaputtgemacht haben Sie.«

»Lassen Sie mich Ihren Puls fühlen!«

»Rühren Sie mich nicht an!« Zornig sagte er: »Ohne Sie hätte ich jetzt meinen Frieden. Gemein. Es ist gemein, was Sie getan haben.«

»Sie stehen vor dem wichtigsten Moment Ihres Lebens. Sie müssen leben!«

»Ich hasse Sie«, sagte er. Dann war er wieder eingeschlafen. Als er erwachte, war es vor den Fenstern dunkel. Der Sturm

heulte noch immer. Er peitschte Schnee gegen die Scheiben. Wieder saß die junge Frau an seinem Bett. Sie sah nun unendlich müde aus, aber sie lächelte.

»Na, Murmeltier?«

»Wie lange habe ich diesmal geschlafen?«

»Über sieben Stunden. Es ist sechs Uhr abends.« Er versuchte sich aufzurichten, ächzte und fiel in das Kissen

zurück.

»Was ist?«

»Ich muß ins Bad.«

Sie neigte sich vor. »Warten Sie, ich stütze Sie.« »Ich kann allein gehen.«

»Nein, das können Sie nicht.« Ihr Gesicht war nun sehr nahe vor seinem. Der Morgenrock klaffte, er sah die großen, schönen Brüste in dem weit ausgeschnittenen Büstenhalter, aber er fühlte keine Begierde, er war viel zu schwach. Sie zog ihn an den Schultern hoch, zu sich empor. Einen Moment lang ruhte sein Kopf an ihrer Schulter. Er spürte den Duft von Parfum. »So«, sagte sie, »jetzt die Beine aus dem Bett! Langsam! Ihr Kreislauf!« Folgsam ließ er langsam die Beine aus dem Bett gleiten.

Sie legte eine Hand um seine Schultern. »Ich führe Sie.« »Nicht nötig ...« Er stand auf. Wild drehte sich alles um ihn.

»Doch, bitte«, sagte er. Dann bemerkte er, daß er nackt war. Schritt um Schritt führte sie ihn ins Badezimmer. Er ließ sich auf die Klosettbrille sinken. Immer noch stützte sie ihn.

»Kann ich Sie allein lassen?«

»Bleiben Sie lieber da! Mir ist sehr flau. Eine Zumutung, ich weiß. Verzeihen Sie!«

»Ich habe schon mal einen nackten Mann gesehen, Herr Ross. Auch in einer solchen Situation.«

Das Badezimmer war sauber. Er sagte: »In der Wanne haben Sie mir dieses Dreckszeug in den Mund geschüttet, um meinen Magen leer zukriegen, ja?«

»Ja, Herr Ross. Es war eine höllisch schwere Arbeit. Zuerst mußte ich Sie vom Bett hierher schleifen. Sie waren so schwer, daß ich Sie zweimal fallen ließ. Dann mußte ich mich ausziehen, weil mir zu heiß wurde. Und um meine Sachen zu schützen. Das Ärgste war, Sie über den Wannenrand zu kriegen. Und wieder

heraus. Aber ich mußte es in der Wanne tun, weil ich doch Wasser brauchte. Während Sie schliefen, habe ich hier saubergemacht und gebadet.«

»Was für eine Konversation«, sagte er.

»Glauben Sie, Sie können jetzt etwas essen? Fleischbrühe?« »Ich weiß nicht.«

»Sie müssen. Sie haben ein paar Flaschen Mineralwasser getrunken.«

»Wann?«

»Immer, wenn Sie kurz wach waren, gab ich es Ihnen.« »Keine Ahnung.«

»Sie haben enorm viel Flüssigkeit verloren. Wir mußten sie ersetzen.«

»Ich habe enorm viel getrunken?«

»Merken Sie das nicht?« Sie sah ihn lächelnd an. Er erwiderte das Lächeln mit zitternden Lippen. »Wie alt sind

Sie?«

»Dreiunddreißig. Warum?«

»Ganz schön schamlos für dreiunddreißig.« »Absolut schamlos. Gott, bin ich froh!«

»Worüber?«

»Daß es Ihnen schon wieder so viel besser geht.« »Was haben Sie mit meinem Pyjama gemacht?« »Ihnen ausgezogen. Ich konnte Sie doch nicht mit dem

Pyjama in die Wanne ...«

»Natürlich nicht.« Er stand auf. Seine Knie zitterten heftig. »Wenn Sie noch einmal so freundlich sein wollen?«

Sie stützte ihn auf dem Weg zurück zum Bett, und wieder roch er den Duft des Parfums und den Duft ihrer Haut.

»Was haben Sie da in mich hineingeschüttet?« fragte er, als er wieder lag.

»Alles mögliche. Als ich Sie sah ...«

»Wie sind Sie hereingekommen?«

»Ich habe ein Küchenfenster eingeschlagen, vom Garten aus, und den Riegel geöffnet. Gott sei Dank wohnen Sie parterre! Natürlich habe ich zuerst geläutet – lange. Als Sie nicht aufmachten, bekam ich es mit der Angst. Sie hatten am Telefon eine so seltsame Stimme. Es wohnen Leute über Ihnen, nicht wahr?«

»Ein altes Ehepaar und ein Mann allein.«

»Ich hatte ein schlimmes Gefühl. Ich wollte keinesfalls Aufsehen erregen. Sonst wären die anderen Mieter mißtrauisch geworden. Sie hätten gewiß die Polizei gerufen – jedenfalls bestand die große Gefahr –, und die hätte Ihre Wohnungstür aufgebrochen. Und dann wären Sie auf der Psychiatrie gelandet. Dorthin werden Selbstmörder doch gebracht, nicht wahr?«

»Sie ist ganz in der Nähe.«

»Wer?«

»Die Psychiatrie. Keinen halben Kilometer entfernt.« »Sehen Sie! Natürlich hätte man Sie dortbehalten.

Wochenlang. Und das ist einfach unmöglich.« »Warum?«

»Ihr Vater erwartet Sie.«

Er schluckte schwer. Er starrte sie an. Er versuchte zu sprechen. Der Versuch mißlang. Zu groß war der Schock.

»Was haben Sie?«

»Mein Vater ...«

»Ja?«

»Mein Vater ist im März neunzehnhundertfünfundvierzig gefallen.«

»Nein.«

»Was nein?«

»Nein, er ist nicht gefallen. Er lebt. In Buenos Aires. Er heißt jetzt Olivera und erwartet Sie. Deshalb bin ich nach Deutschland gekommen.«

»Warum?«

»Um Sie zu ihm zu bringen.«

»Sie können mich nicht zu ihm bringen. Was soll der Unsinn?« Er regte sich auf. »Mein Vater ist seit neununddreißig Jahren tot!«

»Er ist nicht tot. Er lebt. Er lebt. So glauben Sie mir doch! Bitte, bitte, bitte! Er lebt und will Ihnen etwas geben. Schnellstens.« Das alles war zu viel für ihn. Er schwieg und starrte sie an. »Was ist? Warum sprechen Sie nicht?«

»Wer ... wer sind Sie eigentlich?«

»Ich bin seine Tochter«, antwortete sie sehr langsam und sehr ruhig. »Seine Stieftochter, meine ich. Er hat meine Mutter geheiratet. Also bin ich Ihre Stiefschwester, Herr Ross.«

Er schloß die Augen. »Und was will er mir geben?« »Ein internationales Geheimabkommen. Ich mußte das

Küchenfenster einschlagen. Dann mußte ich mich mächtig beeilen. Zum Glück fand ich alles in der Küche. Kernseife, ein paar Riegel, Salz, Essig, Senf.«

»Versteh’ kein Wort.«

»Ich mußte doch Ihren Magen entleeren, das ganze Nembutal wieder herauskriegen!«

Er öffnete die Augen wieder. »Woher wissen Sie, daß ich ...« »Die Packungen liegen auf dem Schreibtisch. Ich habe einen

großen Topf mit Wasser gefüllt und auf die stärkste Platte gestellt. Dann alles rein, viel Salz, viel Essig, Senf, was da war. Die Kernseife habe ich in ganz dünne Scheiben aufgeschnitten. Flocken fast, dann mußte ich das Ganze aufkochen und wieder abkühlen lassen. Immer von einem Topf in den anderen schütten. Bis Sie es vertragen konnten.«

»Geschabte Kernseife habe ich ...«

»Und alles andere, ja.«

»Woher ist der Trick?«

»Kursus für Erste Hilfe.«

»Und wenn ich nun abgenibbelt wäre? Trotz allem?« »Dann wäre ich drangewesen. Fahrlässige Tötung. Aber ich

mußte es riskieren. Ich mußte einfach. Ich hatte Glück. Sie auch.«

»Ich nicht.« Eben hatte er sich noch gut gefühlt. Plötzlich war ihm wieder elend.

»Sie werden mir alles erzählen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ja doch. Später, Daniel. Wenn es Ihnen wieder ganz gut

geht. Ich darf doch Daniel zu Ihnen sagen?« »Natürlich, Mercedes – wenn Sie gestatten.« »Selbstverständlich.« Sie sagte: »Wissen Sie, Daniel, wir

haben schon ein Riesenglück, alle beide. Zwanzig Minuten nachdem ich mit Ihnen telefoniert habe, ging eine Maschine hierher. Ich kriegte noch einen Platz. Um halb neun war ich schon da.« Sie stand auf. »Und jetzt bekommen Sie eine feine, starke Fleischbrühe.« Sie ging zur Tür. Ihm war, als erwache er plötzlich erst aus einem tiefen Traum.

»Mercedes!«

»Ja?« Sie drehte sich um und lächelte. »Was haben Sie gesagt?«

»Jetzt bekommen Sie eine feine, starke Fleischbrühe.« »Nein«, sagte er. »Vorher. Was muß mein Vater, der vor

neununddreißig Jahren gestorben ist, mir in Buenos Aires geben, schnellstens?«

»Das internationale Geheimabkommen. Ich habe in der Küche alles vorbereitet. Ich bin gleich wieder da.«

Er starrte die Decke an. Der Sturm heulte und orgelte, tobte und wimmerte. Wenn ich verrückt geworden bin, soll’s mir auch recht sein, dachte Ross.

Mit schwarzer Farbe war auf dem Deckblatt der Adler eingepreßt, der das Hakenkreuz in den Krallen hielt. SOLDBUCH stand darunter.

Ross öffnete das alte, dünne Heft.

Da war die Fotografie seines Vaters. Ein schmales Gesicht mit großen Augen und dünnen Lippen. Das graue Haar kurz geschnitten. Ross bemerkte, daß seine Hand zitterte. Er las auf der Seite mit dem Foto die Angaben zur Person. Name: Ross, Georg. Geboren: 11. Januar 1907. Ort: Wien/Ostmark. Rang: Major. Er blätterte. Die Seiten waren vergilbt und stockig.

»Ist das Ihr Vater?«

»Ja«, seine Stimme bebte.

»Sie haben nicht den geringsten Zweifel?«

»Nicht den geringsten.« Er sah sie an. »Wie kommt das in Ihren Besitz?«

»Er hat es mir mitgegeben, mein Gott! Wie sollte es sonst in meinen Besitz kommen? Aus dem Reich der Toten? Ihr Vater lebt, so glauben Sie mir endlich!«

Er antwortete nicht. Er starrte das Foto in dem Soldbuch an. Mercedes saß wieder vor ihm. Ein Kissen im Rücken stützte ihn. Er hatte einen neuen Pyjama angezogen, drei Tassen Fleischbrühe getrunken, und er fühlte sich noch immer sehr schwach, aber viel besser und ganz klar. Mercedes trug nun ein graues Kostüm mit einem hellblauen Seidenschal im Ausschnitt. Sie hatte sich geschminkt.

»Hier«, sagte sie und reichte ihm eine gelblich gewordene, verblichene Fotografie. Er sah sie entgeistert an. Da war er! Ein kleiner Junge mit Spielhosen und darüberhängendem Hemdchen, das Haar zur Pagenfrisur geschnitten. Glücklich lachend zeigte ihn das Foto auf der Schulter seines Vaters, der die Uniform eines Majors der Deutschen Wehrmacht trug. Der Vater hatte eine Pfeife im Mund. Er stand vor einer weinbewachsenen Villa in einem großen Garten.

»Erinnern Sie sich an das Foto?« fragte Mercedes. »Ja. Meine Mutter hat es aufgenommen. In diesem Haus

haben wir gewohnt. Zur Miete. Sternwartestraße. Achtzehnter Bezirk. Im Cottage. Ich erinnere mich an Vaters Pfeife. Gegen Ende des Krieges gab es nur noch wenige Zigaretten. Da fing er an, Pfeife zu rauchen. Das Foto muß gemacht worden sein, als er das letzte Mal auf Urlaub kam vor seinem Tod.«

Sie sagte geduldig: »Er hat mir dieses Foto vor drei Tagen gegeben. Er ist nicht tot. Mit diesem Foto soll ich Sie davon überzeugen.«

»Aber wir bekamen doch die offizielle Todesnachricht!« Er zitierte skandierend: »›Gefallen in treuer Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland bei schweren Abwehrkämpfen am zweiten März neunzehnhundertfünfundvierzig im Großraum Küstrin.‹ Wie kann er da noch leben? Und wieso haben wir niemals etwas von ihm gehört – niemals, all die Jahre?«

››Das wird er Ihnen selber erzählen. Hier, wer ist das?« Sie reichte ihm ein zweites Foto.

Er sah sich als kleinen Jungen und eine zarte Frau, die um ein Lächeln rang. Sie saßen nebeneinander auf einem Sofa neben einem Radioapparat.

»Meine Mutter – und das war ein sogenannter Volksempfänger«, sagte Ross. »Es gab sie zu Millionen. Wir hatten noch ein großes Gerät, mit dem hörte Mutter nachts immer London. Natürlich hörte sie nur London, wenn Vater nicht da war. Er hätte sie glatt angezeigt. Er war ein fanatischer Nazi. Ich bin sicher, er hat viele Menschen angezeigt. Das Schwein, das verfluchte. Ah, wie ich ihn gehaßt habe!«

»Weil er ein fanatischer Nazi war?«

»Damals war ich viel zu klein, kaum sieben Jahre alt. Ich verstand noch nichts. Damals war ich immer selig, wenn er auf Urlaub kam. Damals liebte ich ihn noch. Sie sehen ja, wie glücklich ich lache auf dem Foto. Nein, später, Jahre später, als ich erwachsen wurde und begreifen konnte, hat meine arme Mutter mir alles über ihn erzählt. Was für ein grauenvoller Nazi er war. Und daß ihr Leben die Hölle war, daß sie heimlich weinte vor Angst, tagelang, bevor er kam. Weil er ihr Szenen machte, die schlimmsten Szenen. Nachts, wenn ich schlief, tobte er herum. Das hörte ich natürlich nicht ... ein kleiner Junge. Später erst habe ich alles begriffen. Die Ehe war zerbrochen. Er wollte sich scheiden lassen, sobald der Krieg aus war. Meine arme Mutter. Da begann ich ihn zu hassen.« Er sagte: »Sie wissen alles über mich und ihn und meine Mutter, wie?«

»Ja.«

»Dann sagen Sie mir auch, wo er gearbeitet hat, bevor er zur Wehrmacht mußte!«

Die Antwort kam prompt: »Er war Leiter einer Filiale der Österreichischen Sparkasse.«

Ross starrte sie lange an. »Also gut, er lebt. Das verfluchte Schwein lebt. Ich begreife es immer noch nicht. Wieso heißt er nicht mehr Ross? Wieso heißt er Olivera? Wie ist er nach Argentinien gekommen? Der Drecksack. Oh, jetzt hasse ich ihn erst! Dabei konnte er so charmant sein, so lieb, so freundlich – wenn er wollte. Auch zu meiner armen Mutter.« Er wies auf das vergilbte Foto. »Sehen Sie! Die Riemenschuhe mit den hohen, dicken Absätzen! Korkschuhe nannte man sie. Komisch, woran man sich erinnert. Ich erinnere mich an die ganze Geschichte ... Vater brachte diese Korkschuhe einmal mit, als er auf Urlaub kam. Die Schuhe – das alles hat mir Mutter später erzählt, und nun fällt es mir wieder ein nach so langer Zeit –, die Schuhe waren aus Italien. Vater muß sie von einem Kameraden bekommen haben, denn er war ja dauernd an der Ostfront. Große Sensation damals: italienische Korkschuhe! Sie sehen, der Kork ist mit Leder verkleidet. Mutter hat sich so gefreut, als Vater sie ihr schenkte. Zwei Stunden später weinte sie. Seinetwegen. Ein Sadist. Machte ihm Spaß, wenn meine Mutter weinte. Schauen Sie sie an! Mitte Dreißig, kaum älter als Sie, Mercedes. Eine alte Frau ohne Hoffnung.«

»Was warf er ihr denn vor?«

»Nichts! Er hatte sie einfach satt. Mutter war sicher, daß es eine andere Frau in seinem Leben gab. Ich auch.«

»Was heißt: Sie auch?«

»Ich war auch sicher – später, als ich Verstand hatte und Mutter mit mir über alles sprach.«

»Warum kam Ihr Vater überhaupt nach Wien auf Urlaub, wenn es doch nur Tränen und Szenen gab?«

»Er war verrückt mit mir. Ich war sein Schatz.« »Sie wären doch der Mutter zugesprochen worden bei der

Scheidung.«

»Ja«, sagte er verblüfft. »Natürlich.«

»Das muß er gewußt haben.«

»Das muß er ... Vielleicht war ich ihm auch völlig egal, und er spielte bloß Theater. Vielleicht hatte er einen ganz anderen Grund, nach Wien zu kommen.«

»Das könnte sein«, sagte sie. »Kennen Sie den Grund?« »Ja.«

»Nämlich?«

»Ihr Vater«, sagte Mercedes, »Ihr Vater wird Ihnen alles erzählen. Ihr Vater, nicht ich. Ich darf das nicht. Er hat es mir verboten.«

»Warum tun Sie das alles?«

»Weil ich ihn liebe«, sagte sie fest. »Er ist der wunderbarste Mensch, den ich kenne.«

»Dann muß es ein anderer Mann sein. Ein Doppelgänger. Verrückt! Ein Lump, ein gottverfluchter Lump ist mein Vater.«

»Der großartigste Mann der Welt«, sagte sie leidenschaftlich. Sie sahen einander stumm an.

Der Sturm heulte noch immer.

Mercedes reichte Ross eine Reihe vergilbter Blätter. »Briefe«, sagte er. »Briefe von mir an ihn.«

»Ja, Briefe von Ihnen. Er hat sie aufgehoben. Vierzig Jahre lang. Vor drei Tagen gab er sie mir. Sie konnten schon sehr früh gut lesen und schreiben, sagte er.«

Ross starrte ein altes Blatt Papier an, das mit der ungelenken Schrift eines Kindes bedeckt war.

Lieber Vati! Mutti hat gesagt, daß es dort, wo Du bist, eine große Schlacht gegeben hat. Hoffentlich ist Dir nichts zugestoßen. Bitte, schreib ganz schnell ... Ross drehte das Blatt um. Er las: 14. September 1943. Er nahm einen anderen Brief und überflog ein paar Zeilen. 21. Feber 1945 ... Es ist etwas ganz Schreckliches passiert. Am 18. Feber war wieder ein Angriff am Vormittag und diesmal auch auf unser Viertel. Unser Haus ist getroffen worden. Es ist alles ganz kaputt, und alle unsere schönen Sachen sind auch kaputt. Mutti weint immerzu, und ich muß auch weinen, denn das Laufradl ist hin, auch der Teddy. Wir waren in dem Bunker beim Apollo-Kino, Du weißt schon, sonst wären wir jetzt tot. Sie haben uns zu fremden Leuten eingewiesen. Mutti schreibt Dir genau, wo. Die fremden Leute sind ekelhaft zu uns ...

»Ja, wir wurden ausgebombt«, sagte er, »und verloren alles. Knapp vor Ende des Krieges. Jahrelang wohnten wir dann bei fremden Leuten in einem Zimmer ...« Er starrte die junge Frau an. »Das ist aber doch unmöglich.«

»Was?«

»Daß Sie mir jetzt diese Briefe bringen.« Er sagte laut: »Wo haben Sie sie her? Sagen Sie die Wahrheit! Für wen arbeiten Sie?« Sie erwiderte seinen Blick stumm.

Er murmelte: »Entschuldigen Sie ... Aber wenn Sie neununddreißig Jahre lang glauben würden, daß Ihr Vater tot ist, und plötzlich kommt jemand, der sagt ... Es tut mir leid ... Bitte, verzeihen Sie!«

Sie nickte.

Er griff nach einem anderen Brief: 6. Jänner 1943 ... Lieber Vati! Zu Deinem Geburtstag wünsche ich Dir viel Glück und Gesundheit und daß Du gut zu uns zurückkommst. Mutti schreibt Dir auch einen Brief. Sie hat einen sehr schönen neuen Hut. Er ist aus Panama, hat sie gesagt, das ist so ein Stoff, der schaut aus wie Eierschalen. Er geht vorn in die Stirn und hinten ein bisserl runter und ist sehr klein und sehr lustig, und Mutti hat gesagt, er macht jung und er heißt Koletschhut ...

»Collegehut«, sagte Ross und starrte das alte Blatt Papier an. »Ich erinnere mich genau an ihn. ja, er macht jung, hat Mutter gesagt. Noch Jahre später sprachen wir über diesen Hut ...« Seine Stimme verlor sich. Er las: Zum Geburtstag habe ich Dir viele Blumen gemalt ...

Er sah den Brief umrandet von bunten Zeichnungen. ... Die roten sind Tulpen und die blauen sind Glockenblumen

und die braunen Margeriten. Statt Gelb habe ich Braun genommen, denn ich habe keinen gelben Buntstift mehr, und es gibt auch keine. Und die beiden Herzen sind das von der Mutti und das von mir ... Dein lieber Daniel.

Er sah sie hilflos an. Seine Stimme klang flehend. »Was soll ich glauben? Wem soll ich glauben?«

»Mir«, sagte sie. »Ihr Vater lebt und muß Sie sofort sehen. Das ist die Wahrheit.«

»Warum erzählen Sie mir nicht, was das für eine Geschichte ist mit dem internationalen Geheimvertrag?«

»Weil er es Ihnen erzählen muß. Mir würden Sie nicht glauben. Es ist ein zu ungeheuerliches Abkommen. Sie müssen es lesen. Es geht um den Frieden. Und gibt es denn, um Gottes willen, etwas Wichtigeres? Wir alle müssen unser Äußerstes tun, damit es nicht zu einem Atomkrieg kommt.«

Er sah sie erstaunt an, denn ihre Stimme war plötzlich sehr laut geworden. In ihrem Gesicht zuckte es.

»Sie sind doch auch für den Frieden!«

»Nein«, sagte er. »Ich bin für den Krieg. Ich will, daß mir eine SS-Zwanzig direkt auf den Kopf fällt.«

Ihr Gesichtsausdruck wurde kalt.

»Was soll man auf eine solche Frage antworten?« fragte er Mercedes.

»Schon gut«, sagte sie. Aber sie war verletzt. »Hier.« Sie reichte ihm ein großes Farbfoto. »Habe ich vor einer Woche aufgenommen.«

Ross sah zwischen zwei alten, sehr großen Palmen einen Mann in hellem Anzug und weißen Schuhen. Er stand auf dem kurzgeschnittenen Rasen vor einem weißen, zweistöckigen Haus mit Flachdach. Das Haus lag in einem Park voll exotischer Bäume und hatte hohe französische Fenster. Man konnte kiesbestreute Wege, präzise geschnittene Hecken und große Blumenbeete er kennen, die in allen Farben leuchteten. Der Mann sah direkt in die Kamera. Er lachte. Er hatte gute, kräftige Zähne. Er war schlank und besaß ein schmales Gesicht mit grauen Augen und einem dünnlippigen Mund. Sein Haar war wie das von Ross schlohweiß und noch sehr dicht. An der rechten Schläfe verlief senkrecht, was von einer tiefen Narbe übriggeblieben war: ein heller Strich in der sonnengebräunten Haut.

»Erkennen Sie Ihren Vater?«

»Vielleicht«, sagte er, und er fühlte, wie jene unbestimmte Angst, die Angst, die man nicht beschreiben konnte und die er seit so vielen Jahren so gut kannte, in ihm aufstieg, langsam noch, ganz langsam. »Ja, das ist er. Die Narbe an der Schläfe ... Er hatte einen schweren Motorradunfall als junger Mann. Beinahe wäre er dabei ums Leben gekommen. Die Narbe ... Das ist das Haus, in dem er lebt?«

»Ja.«

»Scheint ihm sehr gut zu gehen. Woher hat Herr Olivera soviel Geld?«

»Bitte, Daniel ... Er hat sehr schwer gearbeitet ... sein Leben lang.«

»Ja? Als was?«

»Er war Bankier.«

» War?«

»Er ist siebenundsiebzig!« Sie gab Ross ein weiteres Foto. »Das habe ich sehr nah aufgenommen. Beachten Sie das Datum der Zeitung in seiner Hand!«

Der Mann hielt auf diesem Foto eine Zeitung so, daß man genau den Titel und die Zeilen darunter lesen konnte. Die Zeitung hieß LA PRENSA. »Das Datum«, sagte Mercedes noch einmal. Er las: 3. Febrero 1984.

»Glauben Sie jetzt, daß er lebt?«

»Er lebt ...« Seine Stimme war nur ein Flüstern. »Der Schuft lebt ...« Und da war die Angst, die namenlose Angst in ihm, noch fern, doch sie kam näher, näher, näher. »Verflucht«, sagte er und sah Mercedes an, »warum haben Sie mich nicht sterben lassen!«

Anstatt zu antworten reichte sie ihm ein verschlossenes Kuvert.

Er riß es auf und entfaltete den mit winziger, aber klarer, exakter Handschrift bedeckten Bogen, der links oben, erhaben gedruckt, die Adresse des Absenders aufwies.

EDUARDO OLIVERA CESPEDES 1006 BUENOS AIRES

8. Februar 1984

Mein lieber Sohn Daniel, diesen Brief überbringt Dir Deine Stiefschwester Mercedes. Gewiß ist es ein Schock für Dich zu erfahren, daß ich noch am Leben bin, aber für mich gab es 1945 keine andere Möglichkeit als die, offiziell tot zu sein. Es ist eine lange und abenteuerliche Geschichte, die ich Dir nur erzählen kann, wenn Du mir gegenübersitzt. Dann vermag ich Dir auch zu erklären, warum ich mich erst jetzt, nach so vielen Jahren, melde, und warum ich es früher nicht getan habe.

Ich bitte Dich inständig, sofort mit Mercedes zu mir zu kommen, denn ich bin im Besitz eines geheimen Dokuments, dessen Bekanntwerden in der Öffentlichkeit den Machthabern der beiden Supermächte einen tödlichen Schlag versetzen und die schreckliche Gefahr eines atomaren Krieges bannen wird.

Ich weiß, daß Du in Frankfurt beim Fernsehen arbeitest. Was ich Dir zu geben habe, würde Dir und Deinem Sender zu einer Riesensensation verhelfen, welche die Welt verändert. Du wirst verstehen, daß ich auch hierüber mit Dir persönlich sprechen muß. Wenn ich Dir alles erzählt habe, wirst Du auch alles verstehen, was geschehen ist- und Du wirst mir vergeben, ich weiß es. Ich bin siebenundsiebzig Jahre alt. Ich will meinen Frieden mit Dir machen, Daniel, – und ich will noch erleben, wie das, was ich Dir zu geben habe, die Menschen aller Nationen erkennen läßt, welch teuflisches Spiel mit ihnen getrieben wird. Bitte, halte mich nicht für einen Phantasten. Und. Ich bin zu alt, um zu lügen. Ich flehe Dich an, mein Sohn, komm zu mir!

Dein Vater

Er ließ den Brief sinken.

»Was ist?« Mercedes sah ihn erschrocken an. »Sie sind ganz blaß. Sie zittern, Daniel.«

»Würden Sie ...« Er schluckte mühsam. »Würden Sie bitte ins Badezimmer gehen... Da hängt eine Hausapotheke ...«

»Ja, ja, und?«

»In der Apotheke finden Sie ein Medikament, das Nobilam heißt ...«

»Nobilam.«

»Ja ... bitte ... bringen ... Sie ... mir ... eine ... Packung ... Schnell!«

Jetzt schoß die Angst in ihm hoch gleich einem Springbrunnen. Er fühlte, wie er schwindlig wurde. Er ließ sich im Bett zurückfallen. In seiner Brust pochte etwas, das er nicht lokalisieren, nicht benennen konnte – wie schon so oft, so oft.

Zu lange nichts genommen ... zu viel gesprochen ... mich zu sehr aufgeregt, dachte er.

Mercedes kam mit der Packung und einem Glas voll Wasser zurück. Sie riß die Packung auf, sie zog den Plastikverschluß aus dem Glasröhrchen. Er hielt ihr die bebende hohle Hand entgegen. »Wieviel?«

»Fünf ... sechs ... acht ...«

Die Tabletten fielen aus dem Röhrchen. Er warf sie in den Mund. Mit Wasser spülte er sie hinunter.

Mercedes sah ihn entsetzt an. »Was ist?«

»Deswegen ... wollte ich mich ... umbringen.« Das Sprechen strengte ihn maßlos an. »Warten Sie ... eine halbe Stunde ... Dann wirkt das Zeug ... Dann will ich Ihnen alles erzählen ... alles ... Die ganze verfluchte Geschichte ...«

Niemand sprach.

Draußen tobte der Sturm. Ross lag still auf dem Rücken und hielt die Augen geschlossen. Wie eine starke Luftblase pochte die Angst an sein Brustbein, auf der Höhe des Herzens. Er kannte das. Es war immer aufs neue unheimlich. Plop. Plop. Plop. Danach wieder Minuten lang Ruhe. Und dann im Hals. Plop. Plop. Plop. Er schluckte dauernd. Das Pochen konnte er nicht hinunterschlucken. Muskeln in seinen Armen und Beinen zuckten. Das war auch so ein Zeichen. Komisch, dachte er, wenn es ganz schlimm ist, schwitze ich nicht. Da war der Schwindel wieder. Er sah Mercedes an. Er brauchte einen Punkt, den er fixieren konnte.

»Sehr schlimm?« Er nickte.

Er hob seine Hände und spreizte die Finger. Sie bebten heftig. Hübscher, grobschlägiger Tremor, dachte er. Aber er konnte es nicht sagen. Er hätte jetzt keine Silbe herausgebracht. In seinem Mund sammelte sich Speichel. Er schluckte ihn mit größter Mühe hinunter. Es war, als hätte er überhaupt keine Muskeln mehr. »Sind Sie süchtig?«

Nicken.

Da war die Luftblase. Plop, plop, plop.

Er ließ die Hände auf die Bettdecke fallen. Mercedes strich mit kühlen, glatten Fingern darüber, sehr behutsam, sehr vorsichtig. Sie lächelte. Das Klopfen der Luftblase, die es nicht gab, da war es wieder, in seiner Kehle. Er wollte etwas sagen.

»Nicht sprechen«, sagte sie.

Er wand sich im Bett. Seine Zehen verkrampften sich. Er rutschte hin und her. Er ließ ihr Gesicht nicht aus den Augen.

»Es wird vorübergehen«, sagte sie. »Ich werde beten, daß es vorübergeht.«

In seine Augen trat ein Ausdruck des Staunens, als er sah, daß sie den Kopf senkte.

Nach einer langen Weile blickte sie wieder auf. »Besser?« Er wollte den Kopf schütteln, doch dann nickte er und grinste

wie ein armer Idiot. Es ging ihm tatsächlich besser. Die imaginäre Luftblase klopfte nicht mehr. Die Angst, die imaginäre Angst, zog sich zurück. Zehn Minuten später war alles vorbei.

»Sie haben wieder Farbe im Gesicht.«

»Ich danke Ihnen fürs Beten.«

»Beten Sie nie?«

»Ich?« Auf einmal war alles wieder in Ordnung, auf einmal konnte er wieder fließend sprechen. »Ich bin ein armes Heidenkind, das nicht zu seinem Heiland find’t.«

»Trotzdem. Betet nicht auch das arme Heidenkind in einem solchen Zustand?«

Er starrte sie an. »Was ist?«

»Sie sind großartig.«

»Weil ich es erraten habe?«

»Ja.«

»Das war nicht schwer. Sie hatten große Angst, nicht wahr?« Er nickte.

»Wer betet da nicht?«

»Sicherlich«, sagte er. »Aber bei mir hat es noch nie funktioniert.« Ross dachte: Wie kann etwas funktionieren, das es nicht gibt? Er sagte: »Also, hören Sie, Mercedes ...«

Sie unterbrach ihn. »Wollen Sie mir nicht alles morgen erzählen? Ihr Gesicht ist ganz spitz. Sie brauchen Schlaf.«

»Nein ... Ich ... ich will jetzt erzählen. Ich bin nicht müde. Das Nobilam hat geholfen ... Ich meine: Ihr Gebet.«

»Es war schon das Nobilam.«

Er sagte: »Wenn ich mir was wünschen dürfte ...« »Bitte?«

»Als Sie mich anriefen, aus der Bar am Flughafen, da hörte ich die Dietrich dieses Lied singen. Sie sagten mir, der Mixer habe eine Kassette in das Stereogerät gelegt. Ich war schon benommen von Nembutal und Whisky. Aber als ich die Melodie hörte, erschrak ich richtig ... ›Wenn ich mir was wünschen dürfte...‹ Marlene Dietrich hat dieses Lied weltberühmt gemacht ... Eine wunderbare Frau ... Ich verehre sie ... Wissen Sie, was Hemingway über sie geschrieben hat?«

»Hemingway?«

»›Selbst wenn sie nichts anderes hätte als ihre Stimme, könnte sie dir damit das Herz brechen ...‹« zitierte er.

»Ja«, sagte Mercedes. »Ja, das stimmt.«

»›... aber sie hat dazu noch diesen schönen Körper und die zeitlose Schönheit ihres Gesichts‹«, fuhr er fort. »›Einerlei, womit sie dir das Herz bricht, wenn sie nur da ist, um es wieder zusammenzustücken ...‹ Das ist großartig, wie?«

»Großartig, ja«, sagte Mercedes.

»Und wahr«, sagte er. »Jeder muß so empfinden. Ich wünschte, ich hätte die Dietrich einmal kennengelernt. Oder nur gesprochen – am Telefon.« Wieder benützte er Hemingways Worte: »›Ich weiß, daß ich Marlene niemals sehen konnte, ohne daß sie etwas mit meinem Herzen tat und ohne daß sie mich glücklich machte. Falls sie dadurch geheimnisvoll wird, so ist es ein schönes Geheimnis ...‹ Ein schönes Geheimnis«, wiederholte er. »Ja, das ist Marlene Dietrich!«

»Sie reden zuviel«, sagte Mercedes.

»›Wenn ich mir was wünschen dürfte!‹ Sehen Sie, neunzehnhunderteinunddreißig, in einem UFA-Film – ›Der Mann, der seinen Mörder sucht‹ hieß er, Regie Robert Siodmak –, da hat eine andere zum erstenmal dieses Lied gesungen ... eine andere ... Wir sammelten alte Platten, achtundsiebziger, verstehen Sie. Und gerade von dieser Schellackplatte waren die beiden Aufkleber ganz abgekratzt. Trotzdem bekamen diese Frau und ich das damals alles heraus – nur nicht, wer das Lied gesungen hat. Wir haben in Wien die Besitzerin des Bellaria-Kinos gefragt. Das spielt regelmäßig Reprisen ganz alter Filme. Gesungen hat ein Mädchen, sagte die Dame. An den Namen erinnerte sie sich nicht mehr ... Ganz seltsam war das. Wir haben den Namen niemals erfahren ... So lange ist das nun schon her ... So viele Jahre ... Und dann hörte ich dieses Lied wieder ... Das muß eine Bedeutung haben – oder?

»Sind Sie abergläubisch, Daniel?«

»Wenn einer nicht glauben kann, ist er abergläubisch.« Er wiederholte: »›Wenn ich mir was wünschen dürfte ...‹« Er lächelte. »Sie haben einander sehr geliebt«, sagte sie leise.

»Ja, sehr. Sie war die Frau, die mich ... gerettet hat.« Seine Stimme wurde immer langsamer. Er schloß die Augen. »Immer wieder gerettet ... Ich würde längst nicht mehr leben ohne sie ... Leben und Liebe ... hat sie mir gegeben ... so viel Liebe ... ›Wenn ich mir was wünschen ...‹ unser Lied ... in Wien. Und jetzt hörte ich es wieder ... bei Ihrem Anruf ... seltsam ... nicht wahr? Sibylle kennt mich wie niemand anderer. Aber ich kann nicht zu Sibylle. Ich kann nicht ... Zuletzt ... zuletzt haben wir einander getötet ...« Er war jetzt kaum noch zu verstehen. »Man tötet immer das, was man liebt ...«

Mercedes neigte sich über ihn. Er atmete tief. Er war eingeschlafen. Die junge Frau zog die Decke zurecht. Dann saß sie wieder aufrecht und sah Ross an. Ihr Gesicht war sehr ernst.

Sibylle hatte sich erhoben und stand nun, mit dem Rücken zu ihm, an ihrem Schreibtisch. Sibylle war sechsunddreißig Jahre alt, mittelgroß und schlank. Sie hatte kastanienbraunes Haar und besonders große Augen derselben Farbe. Ihr Mund war breit, die Lippen waren sanft geschwungen und zum Lachen geschaffen. Daniel war dreiunddreißig Jahre alt, und sein Haar war noch blond. Er sah erholt und gesund aus. Es war still in Sibylles großem Behandlungszimmer im ersten Stock der Klinik für Psychiatrie und Neurologie im riesigen Areal des Allgemeinen Krankenhauses zu Wien.

»Wir sind also dahintergekommen, daß Ihre Valiumsucht – Ihr Suchtverhalten überhaupt – kaum mit Streß oder Ihrem verrückten Beruf zu tun hat, sondern vielmehr mit Faktoren der Kindheitsentwicklung und einer überstarken Mutterbindung.« Ross erhob sich gleichfalls. »Frau Doktor ...«

»Ja?« Sie drehte sich um.

Er stand dicht vor ihr. Er sagte: »Da wäre noch eine Komplikation, über die ich zu berichten habe.«

»Welche?«

»Ich liebe Sie, Sibylle. Seit ich Sie kenne. Ich bete Sie an.« Ihre Augen waren plötzlich riesengroß. Er schlang die Arme

um sie und preßte seinen Körper an den ihren. Sie wehrte sich vergeblich. Die Lippen trafen aufeinander. Er küßte sie hart, und hart blieb ihr Mund. Dann öffneten sich ihre Lippen und wurden weich und wunderbar. Der Kuß dauerte lange. Zuletzt legte sie

den Kopf an seine Schulter, ihre Wange an die seine. Sie flüsterte: »Ich verstehe dich, Daniel ...« Ihre Arme

umklammerten ihn. Sie küßten sich wieder. Danach sahen sie einander in die Augen.

»Für alle Zeit«, sagte er. »Für alle Zeit«, erwiderte sie. Sibylle lächelte plötzlich. »Was ist?«

»Nichts, Liebster.«

»Doch! Warum hast du gelächelt?«

»Bitte nicht.«

»Bitte ja! Woran hast du gedacht?«

»Ich habe gedacht: Mutterbindung! Natürlich bin ich älter«, sagte Sibylle und lächelte wieder.

Er fror plötzlich und erwachte abrupt.

Mercedes saß an seinem Bettrand. Sie trug einen schwarzen, glänzenden Pyjama.

»Was ist ... Wieso ...« Er war noch sehr benommen. Die Sonne schien ins Schlafzimmer. »Ich bin wieder eingeschlafen, ja?« Sie nickte.

»Ich wollte Ihnen doch erzählen, in was für einer Lage ich bin. Warum ich nicht nach Wien kann ... aber müßte ... Habe ich das erzählt?«

»Sie waren einfach noch zu schwach.«

Er sah zu dem Musikwecker auf dem Tischchen neben dem Bett. »Halb zehn. Wieder zehn Stunden geschlafen.«

»Dreizehn. Wie fühlen Sie sich heute, an diesem wunderschönen Montag?«

»Gut«, sagte er. »Aber Sie ... Wo haben Sie geschlafen?« »Neben Ihnen.«

»Was?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn es eine Couch in Ihrer Wohnung geben würde ... Aber es gibt nur dieses Bett. Dieses sehr breite Bett. Mit zweiter Decke und zusätzlichen Kissen. Also habe ich mir auch einen Pyjama angezogen und mich neben Sie gelegt. Sind Sie schockiert?«

»Nein.« Er sah sie an. Eine Sonnenbahn traf ihr schwarzes Haar und ließ es mit rötlichem Schimmer leuchten.

»Die Dame war es auch nicht.«

»Was für eine Dame?«

»Ich kenne sie nicht. Kam Punkt neun. Ältere Dame. Lodenmantel und Jägerhut. Und eine sehr große Einkaufstasche voll Lebensmittel.«

»Das war Frau Glanzer. Meine Haushälterin.« »Ja, das dachte ich mir gleich. Sehr energisch. Trägt

Gesundheitsschuhe.«

»Woher wissen ... Ach so, die machen viel Krach, wenn sie geht.«

»Ich wachte jedenfalls davon auf.«

»Was hat sie gesagt?«

»›Schon wieder eine Neue.‹«

»Sehr ungehörig.«

»Wieso? Ich lag mit Ihnen im Bett. Sie scheinen ein bewegtes Privatleben zu haben.«

»Mercedes, wirklich ...« Sehr verlegen sagte er: »Manchmal halte ich das Alleinsein nicht aus. Die Angst. Ich habe doch vor allem Angst. Vor Menschen. Wetterumschwüngen. Dem Leben. Angst vor der Angst. Seit einer Ewigkeit wache ich nachts auf und fühle mich grauenhaft ... Und wenn dann jemand neben mir liegt ... ein Mädchen ... junges, festes, warmes Fleisch, an das ich mich schmiegen kann, ohne das Mädchen zu wecken ... Nur zu wissen: Da ist Leben, Sorglosigkeit, Gesundheit ... dann ...«

»Dann?«

»... dann glaube ich zuletzt doch immer wieder, daß ich nicht sterben muß.«

»Wenn Sie nachts aufwachen, glauben Sie, sterben zu müssen?«

»Sehr oft. Ja.«

»Woran sterben zu müssen?«

»Das weiß ich nicht. Die Nächte sind schlimmer als die Tage ... Darum die Mädchen ... Sie lächeln ...«

»Aber nein!«

»Aber ja!« Er setzte sich auf. »Bitte lächeln Sie nicht. Ich bin erledigt, Mercedes. Der Sender hat mir gekündigt, da ist etwas passiert. Kein anderer Sender nimmt mich. Die Produktionsgesellschaft, bei der ich mich beworben habe, gibt es nicht mehr ...« Er neigte sich vor. »Ich habe noch etwas Geld auf der Bank. Dieser Dreckskerl von einem Vater! Aber was er schreibt ... und was Sie sagen über dieses Abkommen ... Wenn Sie behaupten, daß da eine Sensation liegt ... Das könnte doch meine Chance sein ... Also muß ich zu meinem Vater fliegen ...« Er unterbrach sich. »Fein haben Sie das hingekriegt. Meinen Glückwunsch!«

Sie strahlte ihn an.

»Aber ich bin so down ... Was ist, wenn ich den Flug nicht mehr aushalte ... wenn ich drüben umkippe ...«

»Rufen Sie doch Ihre Sibylle an. Anrufen ist nicht zu ihr kommen. Anrufen – das werden Sie doch noch fertigbringen! Wenn sie der einzige Arzt ist, zu dem Sie Vertrauen haben. Ihr können Sie alles erzählen – über Ihren Zustand natürlich nur. Sonst bloß das absolut Notwendige. Ein Wort zuviel wäre Selbstmord. Sagen Sie ihr, Sie werden abgehört.«

Er unterbrach nervös: »Ich bin kein Idiot.«

»Entschuldigen Sie! Aber es geht um so viel. Unter anderem um unser Leben. Sie machen das schon richtig, ich weiß. Sibylle wird Sie beraten, wird einen Ausweg finden. Los, kommen Sie!«

»Wohin?«

»Zum Telefon. Sibylle anrufen.« Sie sah, daß sein Gesicht sich verzerrte. »Daniel! Sie dürfen auch nicht zu verrückt spielen, wissen Sie?«

»Will ich ja nicht. Ich rufe an. Bestimmt. Mir ist nur so ... Ich brauche Kaffee. Nach dem Frühstück rufe ich an.«

»Ehrenwort, Heidenkind!«

»Ehrenwort.«

Sie hielt Ross die rechte Hand hin, er schüttelte sie. Etwas fiel ihm ein.

»Wie ist Frau Glanzer in die Wohnung gekommen? Ich habe doch abgesperrt und die Kette vorgelegt.«

»Und ich habe alles wieder geöffnet, nachdem ich durch das Küchenfenster eingestiegen war. Meine Koffer standen doch auf der Straße. So, ich mache Frühstück. Sie müssen etwas in den Magen bekommen. Können Sie sich allein waschen und rasieren?«

Er stand auf. Seine Knie zitterten nur noch ganz leicht. »Ja«, sagte er. »Aber Frau Glanzer ...«

»Ich habe gesagt, Sie hätten etwas Schlechtes gegessen und eine kleine Vergiftung hinter sich. Ich würde mich um Sie kümmern. Der Arzt sei auch schon dagewesen. Ruhe. Absolute Ruhe.«

»Und das hat sie Ihnen geglaubt?«

»Jedes Wort. Sie kommt erst am Mittwoch wieder. Ich bin sehr überzeugend, wissen Sie. So, los ins Bad!«

Die Sonne schien blendend ins Zimmer, ein Flugzeug flog tief über das Haus, und alles erschien ihm unwirklich, absolut unwirklich.

Sie frühstückten in der Küche.

Beide trugen Morgenmäntel. Vor die eingeschlagene Fensterscheibe hatte Mercedes einen großen Karton geklemmt. Es gab Kaffee, Orangensaft, frische Brötchen, Butter, Schinken, weiche Eier, Käse und Marmelade. Ross hatte plötzlich enormen Appetit. Darüber freute sich Mercedes.

Zwischen ihnen lag die FRANKFURTER ALLGEMEINE vom Tage. Frau Glanzer hatte sie mitgebracht. Sein Blick fiel auf die Schlagzeile.

»Andropow ist tot!«

»Er starb am Donnerstag. Haben Sie das nicht gewußt?« Ross schüttelte den Kopf.

»Ach so«, sagte sie. »Die Russen haben es erst am Freitag abend bekanntgegeben. Am Samstag stand es in den Zeitungen. Ich sah die Schlagzeilen, als ich in Zürich gelandet war.«

»Am Samstag habe ich keine Zeitungen mehr ...« Er brach ab, nahm die Zeitung und begann zu lesen.

Jurij Andropow war in der Tat am vergangenen Donnerstag im Alter von neunundsechzig Jahren um 16 Uhr 50 Ortszeit nach langer Krankheit und kurzer Dienstzeit in Moskau gestorben: Vierhundertvierundfünfzig Tage zuvor, am 12. November 1982, hatte das Zentralkomitee ihn zum Generalsekretär gewählt, et was später zum Partei- und Staatschef. Die letzten einhundertvierundsiebzig Tage war Andropow, Nachfolger von Leonid Breschnew, dem Blick der Öffentlichkeit entzogen gewesen – seit dem 18. August 1983.

»Morgen wird er begraben«, sagte Ross, die Zeitung in den Händen. »Seinen Nachfolger bestimmen sie heute. Man rechnet damit, daß es Konstantin Tschernenko sein wird, ein Bauernsohn aus Sibirien, zweiundsiebzig. Nie von ihm gehört.«

»Wir schon«, sagte Mercedes. »Wer wir?«

»Vater und ich. Tschernenko ist der älteste Funktionär, der je Parteichef wurde, er ist nur ein Jahr jünger, als Stalin nach fast dreißigjähriger Herrschaft bei seinem Tode war.«

»Das wissen Sie?«

»Ich habe Politologie studiert, Daniel. Ich arbeite und denke politisch, seit ich richtig denken gelernt habe.«

»Was heißt das: Sie arbeiten?« Er sah sie über die Zeitung hinweg an.

»In der internationalen Friedensbewegung.« Sie sprach jetzt lauter, ihre Augen glänzten.

»Ach, du herzliebstes Herr Jesulein«, sagte er. »Internationale Friedensbewegung! Frieden schaffen ohne Waffen! Vier Komma sechs Milliarden Menschen wollen sich nicht von zweihundert alten Männern in den Atomtod jagen lassen! Schwerter zu Pflugscharen ...« Er brach verblüfft ab, denn Mercedes hatte etwas ausgerufen. Ihr Gesicht war vollkommen verändert. Die Muskeln zuckten, die Brauen hatten sich zusammengezogen, ein Ausdruck von verrückter Leidenschaft stand in ihren Augen. »Schweigen Sie!« hatte Mercedes gerufen. Und sie fuhr fort: »Sie machen sich lustig über die Friedensbewegung? Sie finden uns naiv und versponnen und moskauhörig, wie? Träumer und Sektierer, ja?«

»Aber nein ...«

»Doch! Aber Sie täuschen sich, Herr Ross! Jetzt, gerade jetzt, wenn Sie das Dokument sehen, werden Sie erkennen, daß die Friedensbewegung und noch dazu mit dem Material, das mein Vater hat – die wichtigste Bewegung der Welt überhaupt ist. In Argentinien haben wir uns bis vor kurzem schwer getan. Sehr schwer. Acht Jahre Militärdiktatur! Aber dann kam die Wahl am

dreißigsten Oktober. Seitdem ist Argentinien eine Demokratie. Schon am dreizehnten Dezember, drei Tage nach seiner Vereidigung, erließ Präsident Alfonsin neue Gesetze. Am fünfzehnten schickte er achtundvierzig hohe Offiziere in den vorzeitigen Ruhestand. Am neunundzwanzigsten begann schon der Monster-Prozeß gegen Mitglieder der drei Militärjuntas. Nun ist alles leichter. Nun können wir endlich richtig arbeiten.« Sie sah sein erschrockenes Gesicht. »Entschuldigen Sie diesen Ausbruch, aber ...«

»Sie sind eine Fanatikerin, Mercedes.«

»Für den Frieden, ja. Für den Frieden alles. Mein Leben – sofort! –, wenn das den Frieden erhalten hilft.«

»Es tut mir leid«, sagte er, während er dachte: Nicht nur ihr Leben vermutlich. Auch jedes andere. Großer Gott, in was für eine Sache gleite ich da hinein?

Sie sagte, wieder ruhig: »Tschernenko ist ein Bilderbuch-Apparatschik. Er hat allerdings niemals ein Staatsunternehmen geleitet oder ein Staatsamt verwaltet. Kein Mensch weiß, was er nun, nachdem er an der Macht ist, tun wird. Ist er wirklich an der Macht? Sind es die Männer hinter ihm? Ist er nur eine Übergangslösung! Andropow war neunundsechzig, Tschernenko ist schon jetzt zweiundsiebzig. Das böse Wort, die Partei sei ein Begräbnisinstitut, macht in Moskau die Runde.«

»Und Reagan?« sagte er. »Der ist dreiundsiebzig!« »Und Amerika wählt heuer.« Mercedes hatte nun wieder den

wildentschlossenen Ausdruck im Gesicht. »Sie können mich nicht verstehen, weil Sie nicht wissen, was Sie in Buenos Aires erwartet. Aber Sie werden mich verstehen. Deshalb bin ich doch herübergekommen – um Sie zu holen, so schnell wie möglich. Mein Gott, unsere Uhr läuft ab! Unsere Uhr läuft ab!«

»Sie sind mir unheimlich«, sagte er.

»Nicht ich bin unheimlich.« Mercedes schüttelte den Kopf. »Die Regierungen der Supermächte sind es! Und werden es mehr und mehr. Immer unheimlicher. Immer unberechenbarer – durch dieses Abkommen. Sie müssen es lesen! Das kann man nicht erklären. Alte Männer! Alte Männer, die ihr Leben gelebt haben. Wissen Sie, daß in zweiundzwanzig von den sechsundsechzig Jahren seines Bestehens Kranke an der Spitze des Sowjetstaates standen?«

Ross sagte: »George Orwell hat in ›Neunzehnhundertvierundachtzig‹ geschrieben: ›Ob der Große Bruder lebt, ist unwichtig.‹«

»Orwell! Wenn Orwell Vater begegnet wäre, hätte er das nicht geschrieben.«

Er beobachtete sie gebannt. Diese Frau ist wirklich besessen, dachte er. Besessen von ihrer Überzeugung, daß sie und mein Lump von Vater den Frieden der Welt in Händen halten, die Welt bewahren können vor einem furchtbaren Krieg, der das Ende dieser Welt brächte. In rasender Eile ist sie. Angst hat sie,

daß unsere Uhr abläuft.

Mercedes rief: »Das ganze Buch hätte Orwell nicht geschrieben, diesen harmlosen, freundlichen Unterhaltungsroman – verglichen mit der Wahrheit von neunzehnhundertvierundachtzig.« Ihre Lippen zitterten. »Sie werden sie kennenlernen, diese Wahrheit«, sagte Mercedes Olivera. »Jetzt werden Sie sie kennenlernen.«

»Allgemeines Krankenhaus.«

»Puh! Endlich.«

»Bitte?«

»Nichts, nichts. Ich spreche aus Frankfurt. Bitte Frau Doktor Mannholz von der Psychiatrie.«

»Nicht bei uns.«

»Unsinn. Natürlich ist sie bei Ihnen. Sie hat mich behandelt.« »Und ich sage Ihnen, wir haben keine Frau Doktor

Mannholz.«

»Liebes Fräulein, ich bin ganz sicher, daß Sie eine Frau Doktor Mannholz haben. An der Psychiatrischen Universitätsklinik.« Er hörte das Stimmendurcheinander der Mädchen in der Telefonzentrale. »Sie sind überlastet. Natürlich. Es ist sehr wichtig. Vielleicht arbeiten Sie noch nicht lange auf diesem Posten. Dürfte ich Sie bitten, eine Kollegin zu fragen?«

»Ich arbeite seit elf Jahren in der Zentrale. Aber schön ... Moment ...« Er hörte, wie die Telefonistin undeutlich mit einer Kollegin sprach.

»Etwas nicht in Ordnung?« fragte Mercedes. Sie stand dicht neben Ross an seinem Schreibtisch, auf dem noch die aufgebrochenen Nembutal-Packungen lagen. Zwischen einem Glas voll schalem Whisky und der Chivas-Flasche blinkte die glänzende Silbertafel mit den Worten Bertrand Russells, die Sibylle ihm geschenkt hatte – 1974 vor dreizehn Jahren. Mercedes las den eingravierten Text, während seine Finger nervös auf die Schreibtischplatte trommelten.

»Das ist großartig.«

»Was? Hallo! Hallo, Fräulein ... Was ist großartig?« Mercedes wies mit dem Kinn auf die Tafel. »Auch wenn man

nicht der gleichen Meinung ist«, sagte sie. »War es Sibylle?« »Was?«

»War sie der gleichen Meinung wie Russell?« »Nein. Sie glaubte an ... Hallo! Ja, Fräulein?« »Wir haben sie jetzt gefunden«, kam die Stimme aus Wien.

»Na, fein.«

»Frau Doktor Mannholz ist seit acht Jahren nicht mehr hier.« »Nicht mehr im Allgemeinen Krankenhaus?« »Nein. Sie arbeitet woanders. Ich kann Ihnen Adresse und

Telefonnummer geben.«

»O ja, bitte!« Er griff nach einem Bleistift.

»Also: Privatsanatorium Kingston bei Heiligenkreuz, Telefon. neundreivier. Vorwahl. nullzwo, zwofünf, acht. Haben Sie?«

»Ja. Ich danke Ihnen sehr, liebes Fräulein.«

»Nichts zu danken. Grüß Gott!« Er legte den Hörer auf. Mercedes setzte sich in einen Fauteuil neben dem

Schreibtisch. »Sonderbar.« Er starrte die Silberplatte an. »Daß sie anderswo arbeitet? Was ist daran sonderbar?« »Sie war so gern an dieser Klinik. Sie konnte sich nicht

vorstellen, jemals von dort wegzugehen.« Er hob die Schultern und drückte die Vorwahl für Österreich – 0043 –, danach jene für Heiligenkreuz und zuletzt die Nummer des Sanatoriums.

Es wurde sofort abgehoben.

Eine Männerstimme: »Sanatorium Kingston, guten Tag.« »Guten Tag. Ich möchte Frau Doktor Mannholz sprechen.

Dies ist ein Ferngespräch aus Frankfurt.«

»Ich verbinde mit dem Sekretariat.«

»Danke.«

Eine Frauenstimme: »Sekretariat Frau Primaria Mannholz.« Er wiederholte seine Bitte.

»Wie ist der Name?«

»Ross. Daniel Ross aus Frankfurt.«

»Einen Moment, bittschön. Ich muß die Frau Primaria auspiepsen lassen. Sie ist nicht in ihrem Zimmer. Müssen S’ ein bisserl warten, ja?«

»Ja.«

»Was ist?« fragte Mercedes.

»Ich muß ein bisserl warten. Die Frau Primaria wird ausgepiepst. Sie ist nicht in ihrem Zimmer. Libanon im Todeskampf.«

»Wie?«

Er wies auf ein TIME-Heft. »Steht da.«

»Hören Sie, Daniel, man kann auch übertreiben. Ihre Freundin hat Ihren Anruf schließlich nicht erwartet.«

»Schon gut. Schon gut.« Er fuhr sich mit der Hand durch das weiße Haar.

»Hallo, Herr Ross?«

»Ist sie jetzt da?«

»Wir haben die Frau Primaria ausgepiepst. Sie kommt. Noch einen Moment, bittschön.«

»Aber gewiß.« Er begann zu pfeifen. »Danny!« Er zuckte wie in einem Schock zusammen, als sie seinen

Namen rief ... Sibylle! »Endlich. Was bin ich froh, deine Stimme zu hören.«

»Und ich, Danny! Und ich! Mein Gott, du hast nie mehr etwas von dir hören lassen seit damals.« Die Stimme stockte. »Fast dreizehn Jahre, Danny.«

»Du hast dich doch auch nicht gemeldet«, sagte er mühsam. »Das haben wir so besprochen. Du hast gesagt, es muß sein. Wir dürfen keinen Kontakt haben, nie mehr. Erinnere dich!«

»Ich erinnere mich genau. Wir haben uns beide an die Übereinkunft gehalten.«

»Ja, das haben wir.« Seine Augen brannten plötzlich. »Ich habe auf einmal ganz brennende Augen«, kam die

Stimme, die er so sehr geliebt hatte, aus Österreich an sein Ohr. »Was ist los, Danny? Ist was passiert? Geht’s dir schlecht?«

»Ja«, sagte er.

»Das Nobilam. Wieder zu viel davon?«

»Viel zu viel.«

»Du nimmst das nächste Flugzeug und kommst nach Wien! Heiligenkreuz liegt neunundzwanzig Kilometer südlich. Setz dich in ein Taxi! Warum hast du nicht längst angerufen?«

»Ich habe mich so geschämt vor dir, Sibylle. Wegen meiner Schwäche, meiner Sucht. Sie hat uns auseinandergebracht ...«

»Das ist nicht wahr!«

»Doch ist es wahr!« Ross sprach jetzt lauter. Er schien vergessen zu haben, daß Mercedes zuhörte. »Wir hatten unsere Zeit. Eine so wunderbare Zeit. Aber es konnte nicht gutgehen mit uns ... Mit einem Kerl wie mir ... der feige ist und unsicher und voller Angst ... der jammert und nicht leben kann ohne die elenden Tabletten ... Immer andere ... Immer neue ...«

»Danny! Danny! Sprich nicht so! Du bist jetzt down, du bist jetzt out. Deshalb kommst du sofort her! Du bist der großartigste Mann der Welt, wenn du dich nicht gerade wieder mal so kaputtgemacht hast ...«

»Ein Dreck bin ich. Überstarke Mutterbindung nebbich! Doch auch nur eine Ausrede fürs Tablettenfressen. Gute Ausrede. Gute Entschuldigung, Sibylle ... Du hast mir auch Oxazepam gegeben, und sofort habe ich zuviel von dem Zeug genommen – wie vorher vom Valium –, und wieder bin ich auf die Schnauze gefallen, und die liebe Frau Doktor mußte mir helfen ... einmal, zweimal ... Das hat doch die größte Liebe geschafft! Das ist doch sogar der guten Sibylle, die alles versteht, schließlich zum Kotzen gewesen.«

Mercedes sah ihn erschrocken an. Er weiß nicht mehr, daß ich hier bin, dachte sie. Er liebt diese Frau natürlich noch immer. Und sie?

IN GROSSER LIEBE, SIBYLLE.

»Danny!« hatte Sibylle mittlerweile gesagt. »Bitte! Du weißt, daß es nicht so war.«

»Genauso war es. Hör zu! Witz. Kleiner Junge kommt aus der Schule und heult: ›Mami, Mami, der Herr Lehrer hat einem anderen Herrn Lehrer gesagt, ich hab’ einen Ödipuskomplex!‹ Sagt die Mami: ›Das ist doch Unsinn! Da mußt du überhaupt nicht hinhören, Schatz. Solange du nur deine Mami lieb hast!‹« Er lachte schallend, und Tränen liefen über seine Wangen. Mercedes sah ihn besorgt an. »Du lachst ja nicht, Sibylle! Nicht komisch?«

»Nein. Und nun ist Schluß. Wann bist du hier?« »Das ist es ja. Darum rufe ich an. Ich kann nicht kommen.« »Warum kannst du nicht kommen?«

»Das darf ich dir nicht sagen.«

»Danny, was soll der Unsinn?«

»Das ist kein Unsinn, Sibylle. Ich muß davon ausgehen, daß unsere Anschlüsse abgehört werden. Deiner vielleicht nicht. Meiner sehr wahrscheinlich. Sie haben Zeit genug gehabt, seit ...« Er brach ab.

»Seit was? Danny, mach kein Theater!«

»Bitte, bitte, glaub mir! Bei dir hört niemand mit, nein?« »Nein.«

»Bestimmt nicht?«

»Ganz bestimmt nicht, Danny. Du beleidigst mich.« »Verzeih! Das wollte ich nicht. Also bestimmt niemand?« » Nein!« schrie sie unbeherrscht.

Etwa sechshundert Kilometer Luftlinie entfernt von Daniel stand die Dozentin Dr. Sibylle Mannholz in ihrem großen, ganz in Weiß gehaltenen Besprechungszimmer vor dem Schreibtisch. Sie hielt den Telefonhörer ans Ohr. Die braunen Augen waren vor Aufregung geweitet. Sie strich mit der Hand über das kurzgeschnittene kastanienbraune Haar. Neben ihr stand ein großer Mann. Der große Mann trug wie sie einen weißen Ärztekittel, sein ebenmäßiges, sehr blasses Gesicht war unbewegt, und er hielt eine zweite Hörmuschel des Telefonapparates ans Ohr. Auf diese Weise vernahm er jedes Wort, das Daniel sprach, ebenso deutlich wie die Ärztin. Der große, blasse Mann hatte dichtes schwarzes Haar, das straff nach hinten gekämmt war, und Augen, die dem Betrachter eine seltsame Kombination von Eigenschaften verrieten: Eiseskälte und Traurigkeit.

»Gut, gut, ich glaube dir ja! Ich muß jetzt nur so achtgeben. So sehr achtgeben ... Ich erzähle dir alles, was ich erzählen darf.«.

Er berichtete, daß er seine Stellung im Sender verloren hatte und warum, daß er wochenlang vergebens neue Arbeit gesucht hatte. Er schilderte die Nebenwirkungen des Nobilams, seine Verzweiflung, seinen vereitelten Selbstmordversuch. Er erzählte von der Frau, die ihm das Leben gerettet hatte. Sibylle und der große blasse Mann lauschten. Der Arzt sah in einen tiefverschneiten Park hinaus, der von hohen Mauern umgeben war. Ein Pfleger und ein Patient stapften durch den Schnee.

»... ja, und das wär’s«, erklang Ross’ Stimme aus beiden Hörmuscheln.

»Was heißt ›das wär’s‹? Wieso kannst du dann nicht sofort zu mir kommen?«

Der große schwarzhaarige und bleiche Mann schrieb auf einen Block:

WER IST DIE FRAU? WAS WILL SIE?

»Weil ich vorher noch etwas erledigen muß, Sibylle. muß! Unbedingt!«

»Hängt das mit dieser Frau zusammen?« Pause, dann: »Ja.« »Wer ist diese Frau, Danny? Wie konnte sie dir das Leben

retten?«

»Es tut mir leid, das darf ich nicht sagen.«

»Und was sie von dir will, auch nicht?«

»Sie hat mir eine Nachricht überbracht.«

»Nachricht? Von wem?«

»Nicht am Telefon.«

Sibylle sah den Arzt an. Ein Ausdruck von verrücktem Triumph stand in ihrem Gesicht. Auch er sah sie an – traurig und eiskalt. Er schrieb auf den Block:

WOHER?

»Warum?«

»Dort ist ein Mann, der hat Arbeit für mich.« »Was für Arbeit?«

»Meine. Nachrichten. Eine Story. Ich bin doch rausgeflogen, Sibylle. Mir gibt doch kein Hund mehr ein Stück Brot. Das ist die letzte Chance. Der Mann verschafft mir wieder einen Job. Einen großartigen Job, Sibylle.«

»Kann er das nicht tun, nachdem du bei mir warst?« »Nein, eben nicht. Ich muß zu ihm, so schnell wie möglich.

So viel hängt davon ab für mich, Sibylle.«

Der blasse, schwarzhaarige Mann, dessen Augenbrauen zusammengewachsen waren, schrieb auf den Block:

ER muß NACH B. A. UNBEDINGT!

»Und woher auch nicht?«

»Doch, das schon. Das muß ich sagen. Das ist mein Problem. Ich soll dorthin. Die Nachricht kam aus Buenos Aires ...«

»Woher?«

»Aus Buenos Aires.«

Sibylle sagte: »Ich verstehe, was das für dich bedeutet, Danny in deiner Lage. Du mußt selbstverständlich hinüber.« Das Beben ihrer Stimme vernahm Ross nicht.

»Nicht wahr, Sibylle, nicht wahr?«

Sie hörte ihn kurz und befreit lachen. Der Arzt hörte das Lachen auch. Er schrieb auf den Block:

BUENOS AIRES

ABER DANN SOFORT HIERHER! SOFORT! schrieb der bleiche Arzt auf den Block. Dann blickte er wieder in den verschneiten Park hinaus. Die beiden Männer trugen dicke Mäntel und Pelzkappen. Es war bitterkalt draußen, obwohl heller Sonnenschein in den weißen Raum fiel.«

»Und«, erklang Ross’ Stimme, »ich weiß nicht, ob ich den weiten Flug aushalte. Ich habe dir meine Symptome geschildert was das Nobilam bei mir angerichtet hat. Ich meine: Was ich mit dem Nobilam angerichtet habe. Und nun noch der Selbstmordversuch.«

»Bist du sehr geschwächt?«

»Ganz hübsch. Drüben in Buenos Aires ist jetzt die heißeste Jahreszeit, Sibylle.«

»Ich weiß.«

Auf dem Schreibtisch, zwischen Aktenbergen, Büchern und Medikamentenpackungen, stand ein großes Farbfoto in einem breiten Rahmen. Es zeigte einen etwa vierzigjährigen Mann mit braunen Augen und braunem Haar. Der Mann lachte. Er hatte große Ähnlichkeit mit Sibylle.

»Aber ich muß hinüber!« fuhr Ross fort.

Das letzte Wort unterstrich er. Anschließend klopfte er mit dem Bleistift auf den Block.

Sibylle sah ihn an. Maßloser Haß mischte sich in ihrem Blick mit maßloser Ohnmacht. Sie sagte: »Dann kommst du aber sofort zu mir, Danny! Das mußt du mir versprechen! Ich habe dich zweimal hingekriegt. Ich kriege dich ein drittes Mal hin. Unter keinen Umständen darfst du jetzt zu einem Arzt, der dich nicht so gut kennt wie ich!«

»Natürlich komme ich dann sofort zu dir. Aber ich sage dir doch, ich weiß nicht, ob ich es überhaupt schaffe hinüberzufliegen. Kannst du mir da helfen – ich hab’ keine Ahnung, wie?« Der schwarzhaarige Mann schrieb:

REINSTEIN! ABER REINSTEIN muß IHN GENAU UNTERSUCHEN! WIR BRAUCHEN DEN MANN LEBEND – UND DIE FRAU!

Sibylle zögerte. Sie sah den Arzt flehend an. Seine seltsamen Augen erwiderten den Blick – jetzt nur eiskalt, nicht auch traurig, nur eiskalt.

»Sibylle! Bist du noch da?«

Mit einer brutalen Bewegung stellte der blasse Mann das große Farbfoto des jungen lachenden Mannes direkt vor Sibylle. Sie zuckte zusammen.

»Ja«, sagte sie. »Ja, Danny ...«

»Was war denn?«

»War denn was?«

»Warum hast du nicht geantwortet? Hört da doch jemand mit?«

»Ob da jemand ... Danny! Ich habe dir gesagt, ich bin allein!« Der Mann an ihrer Seite lächelte zum erstenmal. Er war amüsiert. Und ungeheuer erregt. Aber er beherrschte sich vollkommen. Sie hatten ihn in fünf Jahren Spezialausbildung dazu erzogen, sich in jeder Situation vollkommen zu beherrschen.

»Du bist wirklich allein?«

»Danny!« sagte Sibylle, und Verzweiflung klang mit in ihrer Stimme, Verzweiflung, die er nicht wahrnahm. »Glaubst du, ich lüge dich an? Glaubst du das, ja?«

Seine Worte kamen überstürzt: »Nicht ... nicht ... bitte! Ich habe das nicht so gemeint. Da siehst du, wie es um mich steht. Kannst du ... kannst du mir irgendwie helfen?«

Der Arzt klopfte mit dem Bleistift auf ein Wort, das er geschrieben hatte, das Wort REINSTEIN.

Mit aller Kraft um Beherrschung kämpfend, sagte Sibylle: »Schon gut, Danny. Du mußt beruhigt sein, wenn du fliegst. Ja, ich glaube, ich kann dir helfen.«

»Ach, Sibylle!«

»Jetzt, wo du einen neuen Job in Aussicht hast, wirst du doch nicht etwa noch einmal versuchen, dich umzubringen?«

»Bestimmt nicht. Warum?«

»Ich dachte gerade daran, dich an die Psychiatrie in Frankfurt zu schicken und dort einen Arzt anzurufen, der mit mir in Wien an der Klinik gearbeitet hat.«

»Nein, keine Psychiatrie! Die behalten mich wochenlang, monatelang. Das muß jetzt schnell gehen, Sibylle, so schnell wie möglich.«

»Eben. Auch daran dachte ich gerade. Es genügt im Grunde, wenn man dich internistisch untersucht. Herz, Kreislauf, Blutwerte, Lungenröntgen – nach dem Suizidversuch. Nieren und so weiter. Ein kompletter Checkup. Ich habe einen alten Freund. Großartiger Arzt. An der Ersten Medizinischen Uni Klinik.«

»Ich wohne gleich daneben.«

Der Arzt, der neben Sibylle stand, nickte zufrieden. »Reinstein heißt der Mann. Doktor Ernst Reinstein. Ich rufe ihn sofort an. Bis morgen müßtest du wieder laufen können. Diesem Reinstein darfst du dich vollkommen anvertrauen. Du kannst dir vorstellen, was Ärzte manchmal zu vertreten haben, in was für Lagen sie kommen, nicht wahr? Ich habe Reinstein oft geholfen und Reinstein mir. Er wird uns genau sagen, was mit dir los ist. Alle Werte telefoniert er mir durch. Wenn wir beide sagen, du darfst nach Buenos Aires fliegen, bevor du zu mir kommst, kannst du ohne Sorgen fliegen.«

»Ich danke dir, Sibylle!«

»Danke für gar nichts«, sagte sie klanglos.

NAME UND ADRESSE DES MANNES IN B. A. schrieb der große, blasse Mann mit den absonderlichen Augen auf den Block.

»Wie lange werden die Untersuchungen dauern?« kam Ross’ Stimme.

»Einen ganzen Tag. Von morgens bis abends. Da wirst du aber durch die Mühle gedreht! Das tut Reinstein nur für mich. Sonst dauert es viel länger. Blutabnahme ganz früh. mußt du absolut nüchtern sein. Ohne Nobilam! Unter keinen Umständen Nobilam vor der Blutabnahme! Du hast genug im Körper – leider. Dann kannst du es wieder nehmen. Die kurze Zeit spielt nun auch keine Rolle mehr. Sobald du dich schlecht fühlst, los, alter Tablettenschmeißer, du! Ich werde das mit Reinstein besprechen. Wo wohnt dieser Mann?«

»In Buenos Aires. Habe ich doch gesagt, Sibylle.« Der Arzt hob das Foto mit dem breiten Rahmen hoch und

hielt es dann direkt vor Sibylles Gesicht. Ihr ganzer Körper bebte jetzt.

»Buenos Aires – wo?«

»Tut mir leid.«

»Du willst mir die Adresse nicht geben?«

»Ich darf nicht. Auch nicht den Namen. Das ist auch gar nicht wichtig.«

»Natürlich nicht. Es wäre bloß eine Vorsichtsmaßnahme gewesen. Falls doch etwas passiert.« Sibylle sah den schwarzhaarigen Mann an, wieder stand ein Ausdruck des Triumphes in seinem Gesicht. Armseliger, elender Triumph. Der Arzt hob gelassen die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Jetzt gib mir deine Nummer! Ich rufe sofort Reinstein an und dann wieder dich.« Er nannte seinen Anschluß.

»Bis gleich, Danny!«

»Ich warte.«

Sie legte auf und sank in einen weißen Sessel. Ihr Atem kam stoßweise.

Sie preßte beide Hände gegen die Wangen.

»Na los, Frau Primaria!« sagte der große, blasse Arzt. Er nahm den Telefonhörer vom Apparat und hielt ihn ihr hin. »Vorwärts! Rufen Sie Reinstein an!«

»Ich ... kann ... nicht.«

»Natürlich können Sie!« Mit der anderen Hand hielt er ihr wieder die Fotografie des lachenden jungen Mannes vor das Gesicht. »Denken Sie an ihn!«

»Ich denke ja an ihn ...«

»Dann los jetzt! Ich wähle die Nummer.« Er tat es schon. »Reden müssen Sie!«

Sibylle nahm den Hörer. Sie hörte die Zahlen einrasten. Dann ertönte das Signal. Danach eine Frauenstimme: »Universitätskliniken.«

»Bitte ... Herrn ... Doktor ... Reinstein!« Sibylle hatte Mühe, genug Atemluft zu bekommen.

In Frankfurt sagte Ross zu Mercedes: »Sie ist großartig, was?«

»Ja«, sagte Mercedes, und ihre leuchtendblauen Augen waren ganz flach. »Wirklich großartig.«

Er ging in die Küche und holte ein Glas Wasser. Dann nahm er ein Röhrchen Nobilam und spülte fünf Tabletten mit Wasser hinunter.

»Jetzt ist es egal, hat Sibylle gesagt. Jetzt kann ich das Zeug nehmen, sobald mir schwummrig wird. Mir ist ein bißchen schwummrig. Kunststück!«

Mercedes sagte. »Wenn Sie einen Termin für morgen bekommen, geht alles noch perfekt.«

»Was meinen Sie?«

»Morgen ist Dienstag. Am Mittwoch hat ihre Freundin die Resultate. Die nächste Direktmaschine von Frankfurt nach Buenos Aires fliegt erst am Donnerstag. LUFTHANSA. Freitags und sonntags fliegen Maschinen der AEROLINEAS ARGENTINAS. Samstags LUFTHANSA.«

»Sie haben sich schon informiert?«

»Wie Sie sehen.«

»Wann?«

»Bevor ich in Buenos Aires abgeflogen bin.« Er sah sie stumm an.

»Ich bin auch großartig«, sagte sie. »Passen Sie nur auf, wie großartig ich noch sein werde!« Er setzte sich. »Daniel?«

»Ja?«

»Ihre Mutter, Thea Ross, ist doch schon neunzehnhundertneunundsechzig gestorben.«

»Das stimmt. Warum?«

»Und trotzdem ...« Sie verstummte. »Was ›und trotzdem‹?« Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich will es wissen!« rief er. Das Telefon läutete. »Heben Sie ab!« sagte Mercedes. Er ergriff den Hörer und

vernahm die Männerstimme von zuvor: »Grüß Gott! Sanatorium Kingston. Herr Ross in Frankfurt?«

»Ja.«

»Einen Moment, ich verbinde mit der Frau Primaria.« Es klickte in der Leitung. Dann hörte er Sibylles Stimme:

»Danny?«

»Ja.«

»Also, ich habe mit Reinstein gesprochen. Alles okay. Morgen um halb acht Uhr früh, nüchtern. Ich gebe dir seine Durchwahlnummer in der Klinik.« Sie tat es. Er notierte. »Wenn ich aufgelegt habe, rufe ihn sofort an! Er wird dir alles Nötige sagen – wo du hinkommen sollst, was untersucht wird.«

»Prima!«

»Allerdings wird es Mittwoch nachmittag werden, bis er alle Werte hat.«

»Das macht nichts, Sibylle. Die Direktmaschine geht erst am Donnerstag.«

Der große, blasse Arzt lächelte wieder. Auf den Block schrieb er: DONNERSTAG Und darunter: DAS GENÜGT

Dann riß er das oberste Blatt ab und steckte es ein. »Wenn du morgen abend fertig bist, rufe mich bitte unbedingt

an!«

»Warum unbedingt?«

»Ich muß wissen, wie du dich fühlst, damit ich mit Reinstein besprechen kann, was wir dir auf die Reise mitgeben. Und am Mittwoch nachmittag bleib’ ich zu Hause. Sobald ich alle Befunde kenne und Bescheid weiß, rufe ich dich an.«

»Ich danke dir, ich danke dir, Sibylle. Ach ...« »Ja?«

»Fast vergessen. Sag mal: Was um alles in der Welt machst du da bei Heiligenblut?«

»Heiligenkreuz.«

»Kreuz. Egal. Was machst du da? Wieso bist du nicht mehr am Allgemeinen Krankenhaus?«

»Weißt du, ich habe ein großartiges Angebot bekommen. Das mußte ich einfach akzeptieren.«

»Aber du wolltest doch nie vom Allgemeinen Krankenhaus weg!«

»Das war etwas anderes. Ich erzähle es dir, wenn du kommst. Und diese Frau muß mitkommen! Sie muß jetzt immer bei dir sein. Falls dir übel wird. Und du kommst so schnell wie möglich! Du hast es versprochen. Denk an die Liebe, die wir hatten. Bei dieser Liebe, Danny! Du schwörst, daß du sofort danach herkommst?«

»Ich schwöre es, Sibylle.«

»Also, bis später! Leb wohl, Danny!«

»Leb wohl, Sibylle! Ich umarme dich.« Er legte auf und blickte Mercedes an. »Bitte, beten Sie, daß die Befunde gut sind! Dann wird es klappen.«

»Es muß klappen«, sagte Mercedes. »Ich bete schon die ganze Zeit.«

»Jetzt dieser Reinstein ...«

Ross sah nach der Nummer, die er notiert hatte, dann begann er zu wählen.

Zur gleichen Zeit eilte der große, schwarzhaarige und sehr bleiche Arzt über einen Gang im ersten Stock des Sanatoriums. Er erreichte sein Dienstzimmer und sperrte auf. Die Tür fiel hinter ihm zu. Ein Schild war an ihr angebracht. Mit Druckbuchstaben stand darauf: DR. GERD HERDEGEN. Der Mann, der Herdegen hieß, trat an seinen Schreibtisch. Auch hier war alles in Weiß gehalten. Der Mann, der Herdegen hieß, setzte sich und zog das Telefon heran, nachdem er ein kleines, mit dem Apparat verbundenes Gerät, einen sogenannten Zerhacker, eingeschaltet hatte. Was er nun sagte, war für jeden, der mitzuhören versuchte, unverständliches Gestammel. Nur ein Mensch, dessen Apparat mit einem Gegenstück des Zerhackers verbunden war, verstand Herdegen.

Umgekehrt verstand außer Herdegen auch niemand, was der Mensch am Telefon sagte, dessen Nummer er nun in größter Eile wählte. Die Nummer begann mit 00441. 00441 war die Vorwahl für London.

In ihrem Zimmer saß Sibylle vor der Fotografie des lachenden jungen Mannes und weinte. Mit einem Taschentuch wischte sie die Tränen fort. Es kamen immer neue. Die Dozentin Sibylle Mannholz weinte, als würde sie niemals wieder aufhören können zu weinen.

»Achtung, bitte!« ertönte eine Mädchenstimme aus vielen Lautsprechern. Sie redete spanisch. »LUFTHANSA gibt Ankunft ihres Fluges neunhundertsiebzehn aus Frankfurt über Rio de Janeiro und Sao Paulo bekannt.« Die Stimme wiederholte die Ansage in Englisch und Portugiesisch.

Ein riesenhafter Jumbo des Typs Boeing 747 E schoß weit draußen über eine der Landebahnen, wurde langsamer, rollte aus und bog in einen Taxiway ein. Es war Freitag, der 17. Februar 1984, 11 Uhr 45, und es war wahnwitzig heiß in Ezeiza, dem größten Flughafen Südamerikas, dreiunddreißig Kilometer von Buenos Aires entfernt. Das Thermometer zeigte zweiundvierzig Grad Celsius im Schatten. Die Luft kochte. Der Asphalt weichte auf. Zubringerbusse rollten an den gelandeten Jumbo heran. Er war fast bis auf den letzten Platz ausgebucht gewesen und brachte zweihunderteinundsiebzig Passagiere.

Als Daniel Ross aus der Kühle des Flugzeugs auf die oberste Treppe der Gangway trat, traf ihn die Glut der Sonne wie ein Hammer auf den Schädel. Er stöhnte und schwankte leicht. »Sehr schlimm?« Mercedes, dicht hinter ihm, legte besorgt eine Hand auf seine Schulter.

»Es geht«, sagte er.

Beide trugen ganz leichte Kleidung und weiße Leinenhüte. Mercedes hatte einen solchen Hut für Daniel nach Frankfurt

mitgebracht. Er müsse ihn haben, sagte sie. Alle Menschen trügen eine Kopfbedeckung bei dieser Hitze. Es sei lebensgefährlich, auch nur kurze Zeit barhäuptig zu gehen.

Das Geländer der Gangway glühte. Sie war nun voller Passagiere. Vier Stufen hinter Ross ging ein junger Mann in einem beigefarbenen Tropenanzug. Er trug eine beige Stoffkappe mit Schirm und sah aus wie der Schauspieler Alain Delon.

In den Zubringerbussen herrschte eine Temperatur von gewiß weit über fünfzig Grad. Die eben angekommenen Passagiere hatten ausnahmslos bleiche, erschöpfte Gesichter. Ross fühlte sich schwindlig. Der Bus, in dem er stand, schlingerte. Ross fluchte leise.

»Es ist bald vorüber«, sagte Mercedes. »Ich habe meinen Wagen hier.«

Aber es dauerte natürlich noch eine ganze Weile, bis sie die Paß- und Zollkontrollen hinter sich hatten. Ross trug seinen Wintermantel über dem Arm, Mercedes einen Nerz. Dort, wo die Mäntel auflagen, waren ihre Ärmel durchtränkt von Schweiß. Die riesige Halle des Flughafens hatte man klimatisiert, alle Kühlmaschinen arbeiteten auf Hochtouren, aber sie kamen nicht gegen die Hitze an. Die Luft war feucht und schwül.

Am Vorabend, am Donnerstag um 22 Uhr, war die Maschine im winterlichen Frankfurt auf einer eben wieder frisch geräumten Bahn zwischen Schneebergen gestartet. Der Zeitunterschied zwischen Frankfurt und Buenos Aires betrug vier Stunden, die Flugdauer also siebzehn Stunden und fünfundvierzig Minuten, einschließlich der Zwischenlandungen.

Viele Beamte fertigten die Fluggäste an zahlreichen Schaltern ab. Der junge Mann in dem beigefarbenen Tropenanzug mit der beigen Kappe, der aussah wie Alain Delon, brachte die Paßkontrolle geschickt vor Mercedes und Ross hinter sich. Er ging zu dem großen rundumlaufenden Metallband der Gepäckausgabe. Auf halbem Weg kam er an zwei anderen jungen Männern vorbei, die weiße Leinenhosen und darüberhängende bunte Baumwollhemden trugen, die Ärmel aufgekrempelt; einer ein grünes Hemd, einer ein rotes. Der Mann, der aussah wie Alain Delon, blieb stehen und drehte sich einen Moment um. »Schalter acht«, sagte er. »Die beiden, mit denen der Beamte gerade spricht. Sie trägt ein fliederfarbenes Kleid, er ein weißes Hemd und eine blaue Hose. Beide weiße Leinenhüte. Sie haben ihre Mäntel über dem Arm. Seht ihr sie?«

Die zwei Männer nickten. Sie trugen Basthüte. »Ihr wißt, was ihr zu tun habt?«

»Natürlich«, sagte der mit dem roten Hemd. »Der Teufel holt euch, wenn ihr sie verliert. Ich habe sie bis

hierher begleitet. Jetzt gehören sie euch.«

Der Mann im Tropenanzug setzte seinen Weg zum laufenden Band der Gepäckausgabe fort, hinter der zahlreiche Zöllner warteten.

Gegen 13 Uhr 15 – eineinhalb Stunden später – fuhr ein maronenfarbener Cadillac Seville im Metalliclook von Ezeiza über eine hypermoderne Autobahn in Richtung Buenos Aires. Sie hieß Autopista Tte. General Riccheri, Ross hatte es auf

mehreren großen Tafeln gelesen.

Die Autopista war belebt. In großem Abstand folgte dem Cadillac ein roter Ferrari. Am Steuer saß der junge Mann im roten Hemd, der mit seinem Kollegen in der Halle gestanden hatte. In gebührendem Abstand dahinter fuhr ein weißer Chevrolet. An seinem Steuer saß der junge Mann mit dem grünen Hemd.

Zu beiden Seiten der breiten Autobahn erstreckten sich dichte Wälder. Ross sah Haine von Zedern, Zypressen, Palmen, Pinien, Eukalyptus und Kakteen, hoch wie Eichen. Mercedes fuhr schnell und sicher. Sie trug jetzt eine dunkelgetönte Brille. Im Wagen war es kühl. Das Airconditioning rauschte leise.

»Daniel?«

»Ja?«

»Daniel, ich möchte Sie um etwas bitten. Aber werden Sie nicht gleich böse!«

»Bestimmt nicht. Was ist es?«

Sie sah auf das blendende Band der Autobahn hinaus, das ihnen entgegenflog, und von Zeit zu Zeit in den Rückspiegel.

»Ich weiß, Sie hassen Ihren Vater. Ich weiß, wie sehr und warum. Ich bitte Sie von Herzen – im Interesse der Sache –, attackieren Sie ihn nicht sofort, fallen Sie nicht gleich über ihn her mit Anklagen und Beschimpfungen! Ich verstehe Sie sehr gut, wirklich. Sie müssen Ihren Vater hassen. Aber wollen Sie sich beherrschen, so gut Sie können? Betrachten Sie ihn als Partner bei einem großen Geschäft! Sie sollen ihn ja nicht lieben. Sie sollen mit ihm arbeiten. Dazu ist ein Minimum an Entgegenkommen und Verständnis von beiden Seiten nötig. Glauben Sie, dieses Minimum aufbringen zu können?«

Er legte eine Hand auf ihre Rechte, die das Lenkrad hielt. »Ich verspreche, mich normal zu betragen, Mercedes.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie.

»Ach, und ... Mercedes?«

»Ja?«

»Ich habe auch eine Bitte. Wir erzählen nichts von meiner Sucht und meinem Selbstmordversuch, nein?«

»Kein Wort. Das bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden.« »Auch ich danke Ihnen«, sagte Ross.

Der Cadillac erreichte die Vororte von Buenos Aires. Je länger sie fuhren, um so überwältigter fühlte sich Ross. Er hatte oft Nordamerika besucht, Südamerika noch nie. Buenos Aires war eine riesenhafte, alle Vorstellungen sprengende, unvorstellbar große Stadt. Die Autopista fiel nun leicht ab. Ross sah über ein unendliches Häusermeer. Er wußte aus einem Informationsheft im Flugzeug, daß hier zehn Millionen Menschen wohnten. Die Stadt hatte sich explosionsartig vergrößert, man mußte sie zu Beginn dieses Jahrhunderts buchstäblich neu bauen, vollkommen neu. Nur die Altstadt war einigermaßen unberührt geblieben. Beinahe alle Straßen verliefen in endlos langen, parallelen Geraden, die von anderen parallelen Geraden geschnitten wurden. Trotz dieser fast mathematischen Anordnung der Avenidas und Häuserblocks war Buenos Aires eine der schönsten Städte der Welt. Sie erstickte nicht in Beton, Hochhäusern und verstopften Hauptverkehrsadern. Überall, so hatte Ross gelesen, lockerten Parks das Stadtbild auf, und jetzt, da sie von Südwesten her im Buenos Aires einfuhren, sah er den ersten davon, sah er wieder Palmen, das tiefe Grün von Zypressen, Korkeichen, Banyanbäume, rote, weiße, blaue, gelbe, ja goldene Blumen in größten Mengen – und einen See, auf dem Schwäne schwammen. »Der See!« sagte er verblüfft.

»Davon gibt es Hunderte, große und kleine.« Mercedes fuhr mit der Sicherheit eines Taxichauffeurs.

Die Autopista Tte. General Riccheri zog sich ein weites Stück nach Osten in die Metropole hinein, rechts und links umgeben von Bäumen, Sträuchern, Blumen und Rasen. Sie kamen an eine riesige Kleeblattkreuzung mit Über- und Unterführungen. Direkt nach Norden hinauf und nach Süden hinunter lief die Stadtautobahn Avenida General Paz, auch sie eingebettet in leuchten des Grün. Mercedes fuhr weiter ostwärts. Die Autopista wechselte nun ihren Namen in Avenida Tte. General Dellepiane und diente als weitere Stadtautobahn. Ihre Seiten säumten Palmen, Zypressen und blühende Blumenbeete.

»Bißchen viel Generäle«, sagte Ross.

»Wir hatten acht Jahre auch jede Menge davon«, antwortete Mercedes. »Aber die, nach denen die Straßen und Autobahnen benannt sind, das waren die Gründerväter des Staates Argentinien.« Sie sah wieder in den Rückspiegel.

»Ist was?«

»Hoffentlich nicht. Ein roter Ferrari folgt uns seit dem Flughafen. Ich habe ihn die ganze Zeit beobachtet. Warten Sie einmal ...« Mercedes trat auf die Bremse und fuhr langsamer. Der rote Ferrari kam schnell näher. Der junge Mann mit dem roten Hemd hob eine Hand und lachte Mercedes freundlich zu, als die Wagen sich auf gleicher Höhe befanden. Sie winkte zurück. Der rote Ferrari schoß vorbei und war gleich darauf im Verkehr verschwunden. »Netter Kerl«, sagte Mercedes.

»Wunderschöne Dame«, sagte Ross. »Ich hätte an seiner Stelle auch gewinkt.«

Sie sah ihn lächelnd an und strich mit der rechten Hand über sein weißes Haar. »Danke, Daniel«, sagte sie.

»Aber bitte, gnädige Frau«, sagte er.

»Ich habe mich geirrt, Gott sei Dank«, sagte Mercedes. »Wir sind beide nervös«, sagte Ross.

Keiner von ihnen bemerkte den weißen Chevrolet, der jetzt anstelle des Ferraris folgte.

Die Avenida Tte. General Dellepiane endete in einem Verkehrskreisel. Nun fuhr Mercedes ein weites Stück die Avenida San Pedrito in nördlicher Richtung empor, um dann wieder nach Osten, in die schier endlos lange Avenida J. B. Justo einzubiegen. Der weiße Chevrolet folgte.

Weit im Osten, das wußte Ross, wurde die Stadt vom breiten Rio de la Plata begrenzt. Er sah wieder Palmen einer Größe und eines Alters, die ihn phantastisch anmuteten. Alles ist phantastisch, dachte er. Diese Gigantenstadt. Die vielen Blumen. Die Parks und die Seen. Der wahnwitzige Verkehr. Die ruhige, besonnene Frau an meiner Seite. Es ist noch keine Woche her, da schluckte ich Nembutal, um zu sterben. Jetzt bin ich hier, auf der anderen Seite der Erde und erwarte die größte Sensation meines Lebens. Alle Untersuchungsergebnisse waren halbwegs gut. Sibylle sagte, ich könne den Flug ohne Risiko wagen. Ich werde einen Mann wiedersehen, den ich neununddreißig Jahre lang für tot gehalten habe. Einen Mann mit einem Geheimnis, das die Welt erschüttern soll. Leise rauschte die kühle Luft des Airconditionings. Phantastisch, dachte er. Total phantastisch.

Der Cadillac fuhr noch immer die Avenida J. B. Justo entlang. Der weiße Chevrolet folgte.

»Daniel?«

»Ja?«

Sie sah nach vorne, während sie sprach: »Wir werden nun zusammen arbeiten. Zusammen werden wir nach Europa zurückkehren. Wir werden zusammen leben – wer weiß, wie lange. Ich wollte Ihnen nur sagen: Ich bin sehr glücklich, mit Ihnen arbeiten zu dürfen. Sie sind so klug. So sympathisch.«

Er antwortete: »Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mercedes. Mir geht es genauso. Ich habe Sie vom ersten Augenblick an bewundert. Ich bin froh, Sie kennengelernt zu haben – ohne Sie wäre ich tot.«

»Nicht mehr daran denken! Zusammen werden wir es schaffen. Es gibt nichts, was wir nicht zusammen schaffen werden, ich weiß es.« Sie sah ihn durch ihre dunklen Gläser an und lächelte. Gleich darauf bog sie nach links, wieder in nördliche Richtung, in die Avenida Cabildo ein. Er sah pompöse Villen, große Gärten, die in allen Farben glühten, kleine Wäldchen, dann wieder zwei Parks mit Seen darin, deren Wasseroberfläche in der Sonne blendete. Der Verkehrslärm blieb zurück. Summend glitt der Wagen durch schmälere Straßen.

»Palermo heißt dieses Viertel«, sagte Mercedes. »Hinter uns liegen der Botanische und der Zoologische Garten, rechts befindet sich der Polo-Club, dahinter der Parque Tres de Febrero mit seinen Seen, dem Velodrom und dem Planetarium. Ich glaube, es ist der größte und schönste Park der Stadt. Vom Planetarium aus können Sie schon hinunter auf die Hafenbecken und den Rio de la Plata sehen.« Sie bog nach links in eine lange Straße ein. Zu beiden Seiten standen Palmen.

Endlich hielt Mercedes vor einem schmiedeeisernen Tor mit Blattgoldeinlagen, das sich in einer hohen, ein großes Grundstück umschließenden Steinmauer befand. Seitwärts an der Mauer waren schmiedeeiserne Buchstaben und eine Nummer angebracht. Ross las: CESPEDES 1006.

Mercedes griff nach einem kleinen elektronischen Sendegerät von der Größe einer Zigarettenpackung und drückte auf einen Knopf. Die Torhälften des Eingangs schwangen zur Seite. Mercedes fuhr auf einem breiten Kiesweg in einen Park hinein. Palmen standen auch hier.

Ross drehte sich um. Durch die Rückscheibe sah er, wie sich die Torhälften wieder schlossen. Was er nicht mehr sah, war der weiße Chevrolet, der ihnen bis hierher gefolgt war. Der junge Mann mit dem grünen Baumwollhemd, der am Steuer saß, betrachtete den Eingang einen Augenblick, dann fuhr er rasch weiter.

Der Cadillac rollte gewiß fünf Minuten durch den Park. Dann kam das zweistöckige, weiße Haus mit dem Flachdach und den französischen Fenstern in Sicht, das Ross von der Fotografie her kannte. Ein sehr großer Balkon im ersten Stock, auf den mehrere Fenster hinausgingen, deren Läden geschlossen waren, ruhte auf schweren Marmorsäulen.

Mercedes lenkte den Wagen bis vor den Eingang und hielt. Sie stiegen aus. Ein Mann und zwei Frauen, alle in heller, leichter Kleidung, kamen aus dem Inneren des Hauses. Sie grüßten freundlich. Mercedes sagte ihnen, sie sollten das Gepäck aus dem Kofferraum nehmen.

Ross trat auf den kurzgeschnittenen Rasen neben dem Kiesweg. Er stand nun im Park. Wieder fielen ihm die zahlreichen Arten von Bäumen auf, und in den Blumenbeeten leuchteten weiße, gelbe, rote und dunkelviolette Gladiolen, rote, weiße und lila Geranien und winzige Rosen in den verschiedensten Farben. Viele der mächtigen Baumstämme waren von Efeu umschlungen, von üppigem, weiß blühendem Jasmin, von Bougainvilleen, diesen dornigen, kletternden Pflanzen mit ihren kleinen quirligovalen Blättern und ihren Blüten in allen Schattierungen zwischen Rot, Violett und Orange. Und – es war wie in einem psychedelischen Traum – aus den Bäumen herab hingen große Büschel von Orchideen in solchen Formen und von solcher Schönheit, wie Ross sie noch nie gesehen hatte.

Rechts neben dem Haus befand sich ein Tennisplatz, davor ein großer Swimmingpool, dessen Kacheln das Wasser leuchtendblau erscheinen ließen. Weiße Korbmöbel standen unter Sonnenschirmen an seinem Rand. Ein Mann entstieg gerade dem Bassin. Sein Körper war schlank, muskulös und braungebrannt, das kurzgeschnittene Haar schlohweiß und sehr dicht. Er hatte ein schmales Gesicht und durchdringende, etwas hochmütige Augen. Der Mund war dünnlippig. Die Zähne leuchteten weiß, als er nun lachend, mit erhobenem Arm, auf Ross zukam. Der stand reglos. Er fühlte, wie sein Herz klopfte, schnell und stark. Nach vier Jahrzehnten sah er seinen Vater wieder. Er wollte ihm entgegengehen, aber er konnte sich, wie gelähmt, nicht vom Fleck bewegen. Näher und näher kam sein Vater mit weitausholenden, sicheren Schritten. Sehr aufrecht, sehr souverän war sein Gang. Er hatte den Arm sinken lassen, aber er lächelte noch immer. So eilte er mit fast jugendlichem Elan herbei, den Kopf zurückgeworfen. Und plötzlich fiel Ross das Wort für diese Art von Mann ein, das er gesucht hatte, seit er seinen Vater sah. Plötzlich wußte er es wieder, dieses Wort. Der da auf ihn zukam, lächelnd und scheinbar so stark, so unbesiegbar, das war ein »Herrenmensch«.

»Daniel!«

Ross stand immer noch reglos, unfähig, ein Glied zu rühren. Der Mann, auf dessen weißbehaarter, braungebrannter Brust Wassertropfen glitzerten, ergriff Ross’ Rechte mit beiden weißbehaarten, braungebrannten, sehnigen Händen und schüttelte sie so fest, daß Ross Schmerz empfand.

»Guten Tag«, sagte er und dachte an das, was er Mercedes versprochen hatte. Sie stand neben ihm und sah die beiden Männer lächelnd, aber mit ernsten Augen an. Ich werde mein Wort halten, ich muß mein Wort halten, sagte sich Daniel Ross. Der Mann, der einmal, vor sehr langer Zeit, Georg Ross geheißen hatte und nun seit sehr langer Zeit Eduardo Olivera hieß, packte Ross an den Armen und hielt ihn fest an sich gepreßt. Mit den Fäusten schlug er ihm dann auf den schmalen Rücken. Ross ließ es mit sich geschehen. Das Gesicht unmittelbar vor dem des Sohnes, sagte der Vater im Rhythmus der Schläge: »Junge ... mein Junge ...« Er sah ihm aus nächster Nähe in die Augen, voller Bewegtheit und Liebe, ohne Falsch. »Daß du gekommen bist! Ich danke dir.« Er ließ Ross los und umarmte Mercedes. »Ich danke dir, geliebtes Herz. Du hast ihn mir gebracht.« Er ließ die Arme sinken und sagte (nein, dachte Ross, nein!), die Augen zum Himmel gerichtet: »Und ich danke Ihm. So viele Jahre ... Mein Leben ist fast zu Ende ... Und nun wird es doch noch Wirklichkeit ... Ein Wunder ... ein großes Wunder ...« Er trat einen Schritt zurück. »Verzeiht«, sagte er, »ich bin bewegt.« Er schwieg, und auch Mercedes und Ross schwiegen. Die Angestellten holten die Koffer aus dem Cadillac. Ein Papagei, der auf einer Palme saß, ein großes, zirkusbuntes Tier, schrie lange und aufgeregt. Andere Papageien im Park antworteten.

Eduardo Olivera ergriff die Hände seines Sohnes und seiner Halbtochter. »Meine Kinder!« sagte er.

Das halte ich nicht aus, dachte Ross.

Olivera mußte einen sechsten Sinn haben. Er ließ sofort die Hände los, und seine Stimme war plötzlich fröhlich und normal, als er sich erkundigte, ob der Flug gut gewesen, was sie bejahten, und ob einer von ihnen müde sei, was sie verneinten.

»Habt ihr Hunger?«

»Wir haben noch in der Maschine gegessen, Vater«, sagte Mercedes.

»Also keinen Hunger?«

»Nein.«

»Ich auch nicht«, sagte Olivera. »Ich habe heute sehr spät gefrühstückt. Schön, kein Mittagessen. Aber sicherlich wollt ihr euch erfrischen. Kommt zum Pool! Das Wasser ist herrlich. Ihr müßt schwimmen! Es wird euch gut tun. Danach Siesta. Alles schläft. Und nach dem Tee werden wir reden. Was trinkt ihr?« Er sagte zu Ross: »Keinen Whisky bei dieser Hitze, der bringt dich um. Ich empfehle Gin-Tonic mit viel Eis. Okay?«

»Okay«, sagte Mercedes. Ross nickte stumm. »Miguel!« Olivera wandte sich an den jungen, dunkelhäutigen

Mann beim Wagen. Er bestellte die Drinks. Miguel antwortete kurz und sehr höflich und verneigte sich.

»Kommt«, sagte Olivera und schritt über den Rasen voran zum Pool. Er wies auf eine Reihe von weißgestrichenen Holzkabinen. »Geh in die rechte, Daniel. Es ist alles da, was du brauchst. Mercedes hat ihre Sachen immer hier unten. Die Brausen sind hinter den Kabinen.«

Ross sah, daß im Park menschengroße Marmorfiguren auf hohen Sockeln standen. Sie leuchteten grell in dem unbarmherzigen Sonnenlicht. Auf dem Kopf einer Göttin saß ein Kolibri.

»Daniel!« Ross drehte sich um. Der Vater war schon beim Pool, Mercedes verschwand eben in ihrer Kabine. Der Vater winkte, trat auf das Sprungbrett, streckte die Arme vor, wippte ein paar Mal auf und nieder und sprang dann elegant, sehr elegant, in das aufspritzende Wasser. Er kam wieder an die Oberfläche und schwamm mit kräftigen Stößen entlang der Längsseite des großen Beckens. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen erfüllte plötzlich die Stille und ließ die Luft, ließ den Boden, auf dem Ross stand, erbeben. Schatten glitten rasend schnell über ihn hinweg. Eine Formation Düsenjäger der argentinischen Luftwaffe raste im Tiefflug vorbei. Der »Herrenmensch«, dachte Daniel, und die Reiter der Apokalypse. Die Welt soll zittern bei der Germanen Untergang. Untergang? dachte er. Wann geht dieser Typ jemals unter.

Zur gleichen Zeit hielt der weiße Chevrolet, der Mercedes und Ross vom Flughafen bis zu Oliveras Besitz in Cespedes 1006 gefolgt war, ein großes Stück weiter westlich vor dem Haupteingang des riesenhaften Friedhofs Federico Lacroze im Stadtteil Chacarta. Der junge Mann mit dem grünen Baumwollhemd stieg aus und trat in eine Telefonzelle. Er warf Münzen in den Automaten und wählte. Nach dem ersten Läuten wurde abgehoben.

»Ja?« fragte eine Männerstimme.

»Roberto hier, Die Adresse ist Cespedes tausendsechs.« »Cespedes tausendsechs«, wiederholte der Mann am anderen

Ende der Leitung.

»Stand kein Name am Tor.«

»Macht nichts. Ende.«

Klick. Die Verbindung war unterbrochen.

Der Mann, der sich Roberto nannte, verließ schnell die glühendheiße Zelle und ging zu dem geparkten Chevrolet zurück. Er setzte sich hinter das Steuer und fuhr los.

Noch weiter entfernt, im Nordwesten der Stadt, saß ein Mann, der wegen der irrsinnig hohen Temperatur nur ein Tuch um die Lenden trug, in einem Zimmer seiner kleinen Wohnung an einer Straße mit Namen Husares. Vor dem Fenster lagen die trostlosen Kasernen und Exerzierplätze des »Regimento 3 de Infanteria General Belgrano«. In der sengenden, mörderischen Hitze des frühen Nachmittags war kein Mensch zu sehen. Die Luft kochte über den leeren Plätzen. Der einsame Mann – er war etwa sechzig Jahre alt und völlig kahl – hatte die Füße auf den Tisch gelegt und hielt einen Telefonhörer ans Ohr. Er besaß einen guten Freund im Einwohnermeldeamt. Das Einwohnermeldeamt besaß einen guten Computer.

Es dauerte keine fünf Minuten, dann meldete sich der Freund: »Cristobal?«

»Ja.«

»Cespedes tausendsechs gehört einem gewissen Eduardo Olivera.«

»Ich danke dir, Ruiz«, sagte Cristobal. Er legte auf, drehte einen elektrischen Ventilator so, daß die heiße, bewegte, aber wenigstens bewegte Luft direkt sein Gesicht traf, und nahm die Füße vom Tisch. Dann schaltete er einen Zerhacker neben dem Telefon ein, der seine Stimme für Dritte unverständlich machen würde, hob den Hörer wieder ab und wählte eine lange Nummer. Die Nummer begann mit 00441.

00441 ist auf der ganzen Welt die Vorwahl für London.

Nun schwammen sie alle drei.

Mercedes trug einen sehr kleinen zweiteiligen Badeanzug, der fast ihren ganzen schönen, etwas üppigen Körper sehen ließ. Ross hatte eine der schwarzen Schwimmshorts gewählt, von denen in seiner Kabine mehrere lagen. Er schämte sich ein wenig. Die Haut seines Körpers war weiß, die der beiden anderen tief goldbraun. Ross schwamm mit Mercedes zwei Längen, bekam dann aber Herzschmerzen. Er dachte daran, was

ein Notarzt gesagt hatte vor einem Jahr in einem Hotel in Istanbul. Er hatte ihn rufen lassen, weil er, zur ersten Morgenstunde erwacht, wieder einmal wie so oft geglaubt hatte, sterben zu müssen.

»Ihnen fehlt überhaupt nichts«, hatte jener Arzt gesagt, »nur körperliche Anstrengung. Sie treiben keinen Sport, wie? Nie, was? Nur immer hinter dem Schreibtisch und im Flugzeug und im Auto. Um Himmels willen keinen Schritt gehen! Schön, sehr schön. Wissen Sie, warum Ihnen so mies ist? Weil Sie einen völlig verrotteten Kreislauf haben. Ja, ja, ja, schauen Sie mich nur an! Ich gebe Ihnen eine Spritze. Dann schlafen Sie. Aber damit ist nichts getan, mein Freund, gar nichts. Sechsundvierzig sind Sie? Sechzig viel eher. Sie müssen sofort Ihr Leben ändern!« Das weiß ich selber, Klugscheißer, hatte Ross damals gedacht. Was ahnst du von Nobilam? Könntest du trinken aus dem Kelch, aus dem ich trinke? Wärest du noch am Leben?

Das fiel ihm ein, als er sein Herz spürte. Es stach. Die Blutzufuhr stockte. Ich bin wirklich ein Wrack, dachte er. Dagegen Mercedes. Dagegen mein Vater. Ich bin älter und verbrauchter als er, der verfluchte Hund. Nein! Nicht! Ich habe es Mercedes versprochen.

»Schwimmen wir um die Wette!« rief Olivera. Zum Teufel mit dem Herzstechen, dachte Ross. Klar, wir

zwei, um die Wette, du beschissener Lump. Immer noch wir zwei! Der Vater befand sich seitlich von ihm auf halber Länge des Pools. Plötzlich bekam Ross einen schmerzhaften Schlag vor die Brust und wurde im Wasser zurückgedrängt. Olivera lachte laut. Mercedes kletterte aus dem Bassin und blieb mit unbewegtem Gesicht am Rand stehen. Ihre großen festen Brüste traten oben und unten aus der schmalen Stoffbahn hervor.

Ross begriff: Der Vater hatte einen seitlich angebrachten Hahn des Jet-Stream ganz aufgedreht. Von der Frontseite des Beckens schossen ihnen jetzt unter hohem Druck Wassermassen entgegen.

»Los, Sohn! Wer zuerst da ist!« Der Vater stieß sich von der Seitenwand des Beckens ab und begann mit dem Jet-Stream zu kämpfen. Ross holte tief Atem, dann warf er sich den sprühenden Wogen entgegen. Er ging unter, kam wieder hoch, schluckte Wasser, spie es aus und schwamm, schwamm wie um sein Leben. Der Körper tat ihm weh, jeder einzelne Muskel. Das Herz klopfte im Hals. Vor seinen Augen drehten sich feurige Räder. Aber er gab nicht auf. Nicht immer wieder, »Herrenmensch«, dachte er. Nicht immer wieder und für alle Zeit. Und wenn ich jetzt verrecke mit meinem von der Sucht geschädigten Körper, meinem verrotteten Kreislauf, und wenn du mich tot aus deinem protzigen Pool fischen mußt, Scheißkerl, du darfst nicht gewinnen, du darfst nicht gewinnen!

Er begann zu kraulen. Der Vater auch. Sie waren nun Seite an Seite. Ross dachte: Wenigstens lacht er nicht mehr. Wild schlug Ross die Arme im Kreis. Der Gegendruck des Stream wurde immer größer, je näher er den Düsen kam. Er hatte das Gefühl, daß ihm das plötzlich eiskalte Wasser das Fleisch von den Knochen fetzte. Sein Kopf schmerzte rasend, er hatte einen leichten Krampf im rechten Bein, aber er gab nicht auf. Voller Triumph sah er, wie sein Vater zurückblieb, einen halben Meter, einen Meter. Ross strengte sich noch mehr an. Die reißenden Wellen des Stream peitschten seinen krebsrot gewordenen Körper. Hoch sprühte die Gischt. Ich habe nie etwas Besonderes übrig gehabt für Kämpfer, dachte er, aber manchmal mußt du einfach einer sein. Er tauchte. Er schwamm unter der tosenden Jet-Stream-Flut. Er kam wieder an die Oberfläche, erhielt einen Schlag, tauchte wieder unter, wieder auf, wieder unter. In seinem Kopf dröhnten nun Glocken. Er sah fast nichts mehr, als er plötzlich gegen die Frontwand stieß. Er packte einen Griff und drehte sich um. Während Wassermassen über ihn hereinbrachen, sah er, mindestens sechs Meter abgeschlagen, seinen Vater. Na also, dachte Ross. Er fühlte sich auf einmal großartig.

Sie ruhten in den weißen Korbsesseln. Miguel hatte die Drinks serviert. Die Gläser beschlugen in der Hitze. Nun trugen sie alle drei weiße Frotteemäntel. Mercedes hatte ein rotes Tuch um ihre nassen schwarzen Haare gebunden.

»Auf den Sieger!« sagte Eduardo Olivera. Sie tranken. Der Drink war so kalt, daß Ross die Zähne schmerzten. In

dem großen Glas waren vier Eiswürfel. Oben schwamm die Hälfte einer sehr kleinen und grünen Zitrone. Der Gin-Tonic schmeckte bitter und herrlich nach der Anstrengung. Ross fühlte, wie unter dem Stoff des Bademantels seine Schenkel zitterten.

»Alle Welt liebt den Sieger«, sagte Olivera. Ross sah die Narbe an seiner rechten Schläfe, die helle Spur der alten Narbe. »Kein Mensch mag den Verlierer. Wir fühlen uns schlecht in seiner Gesellschaft. Man erwartet, daß er uns leid tut, daß er unsere Sympathie hat. Mitleid und Trost erwartet man von uns für den Verlierer. Wo ist der Schoß, in den er seinen Kopf legen und weinen kann? Ich habe gehofft, daß du es schaffst, Daniel. Gefühlt habe ich deine Stärke. Sonst hätte ich Mercedes nicht losgeschickt, dich zu holen. Du bist stark, obwohl du wahrhaft elend aussiehst. Du hast es in dir, wenn es darauf ankommt. Ja, das habe ich gefühlt. Schließlich bist du mein Sohn. Ich muß dich jetzt die Arbeit tun lassen. Das Wettschwimmen soeben war ein Test, keine Herausforderung. Du hast es als Herausforderung betrachtet, weil du mich haßt. Du haßt mich doch, nicht wahr?«

Mercedes sah Ross flehend an. Er sagte laut: »Ja.« Olivera lachte dröhnend. Er fragte: »Sehr?«

»Sehr, ja«, sagte Ross. »Tut mir leid, Mercedes.« »Du mußt dich nicht entschuldigen, Sohn«, sagte der Vater.

»Ich weiß es doch. Wie könnte es anders sein? Du haßt mich über alle Maßen. Richtig?«

»Richtig«, sagte Ross. »Über alle Maßen.«

»Darum hast du im Pool auch gedacht: Er darf nicht siegen! Und wenn ich verrecke dabei. Das hast du doch gedacht, Sohn?«

»Ja.«

»Und darum hast du mich besiegt. Haß macht stark. Wer haßt, ist zu allem fähig, auch zum Schwersten. Trinken wir auf den Haß, Sohn?«

»Gerne«, sagte Ross.

»Bitte ...«, begann Mercedes unglücklich.

»Du nicht! Das ist eine Sache zwischen Männern. Eine Sache zwischen Vater und Sohn. Verlorenem Vater und Sohn, sollte ich sagen. Wiedergefundenem Vater und Sohn. A tu salud, Sohn, auf den Haß!«

»Auf den Haß!« sagte Ross und trank sein Glas aus. Olivera nahm ein Sprechfunkgerät, das auf dem Tisch stand,

und rief Miguels Namen. Der meldete sich. Olivera bestellte neue Drinks, das verstand Ross.

»Si, Senor«, kam die Stimme des Dieners. »Was hast du zuletzt gesagt?« fragte Ross. »Mit etwas mehr Gin, bitte. Ausgezeichnet, die Drinks, aber sie können noch ein wenig mehr Gin vertragen, finde ich. Mercedes, du bist die schönste Frau Argentiniens. Sei ruhig! Man widerspricht dem Vater nicht. Ist sie nicht wunderschön, Daniel?«

»Ganz wunderschön«, sagte dieser. »Wieso lebst du?« »Sie haben mir doch versprochen ...«, begann Mercedes. »Ich

halte mein Versprechen«, sagte Ross. »Ich bin ganz freundlich und gar nicht aggressiv. Er weiß, daß ich ihn hasse.

Meine Antwort war keine Überraschung für ihn. Im Gegenteil. Sie hat ihn erfreut. Er sieht, daß ich nicht lüge. Seien Sie ganz beruhigt, Mercedes. Es gibt keinen Streit, nicht wahr?«

»Streit?« sagte Olivera. »Was ist das?«

In den Bäumen sangen viele Vögel. Ross blickte hoch. Die Vögel saßen auf den Wedeln der uralten Palmen, in den Zypressen und Pinien, in den Eukalyptusbäumen und in den Kakteen, die so hoch waren wie Eichen. Die Vögel hatten Federn in allen Farben. »Also«, sagte Ross. »Wieso lebst du? Du hast einmal Georg Ross geheißen und warst Leiter einer Filiale der Österreichischen Sparkasse in Wien. Im Krieg warst du Major. Der Major Georg Ross ist gefallen in treuer Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland bei schweren Abwehrkämpfen am zweiten März neunzehnhundertfünfundvierzig im Großraum Küstrin. Das hat man Mutter geschrieben, und sie hat sehr geweint.«

»Tatsächlich?« Olivera hob die Brauen. »Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, daß sie um ihn soll weinen? Hamlet, ein wenig verändert. Sie hat geweint? Und sogar sehr?«

»Als ich älter wurde und verstand, was Mutter mir über dich erzählte, konnte ich ihre Tränen auch nicht verstehen.« Ross sah Mercedes an. »Das ist eine freundliche Konversation zwischen uns beiden.«

Miguel kam über den Rasen. Er brachte die neuen Drinks auf einem Silbertablett, stellte sie geschickt ab und nahm die leeren Gläser mit.

»Ich danke dir, Miguel«, sagte Olivera.

»Stets zu Ihren Diensten, Senor«, sagte Miguel und eilte zum Haus zurück.

Olivera sah im nach. »Ein guter Mann«, sagte er. »Chauffeur, Gärtner, kann perfekt servieren. Versteht etwas von Technik. Erstklassiger Masseur. Würde sich für mich in Stücke reißen lassen. Noch gar nicht lange bei mir. Ich habe ihn von Carlo Alvarez übernommen.«

»Wer ist das?«

»General Alvarez war einer der Chefs der Militärjunta. Alter Freund von mir. Er steht jetzt vor Gericht. Du weißt doch, dies ist seit neuestem eine Demokratie.«

»Und du hältst nichts von Demokratie.«

Olivera sah Ross erstaunt an. »Was soll das heißen, Daniel? Ich halte die Demokratie für die beste aller möglichen Staatsformen.«

»Ausgerechnet du?« Ross lachte.

»Ja, ich«, sagte Olivera sehr ernst.

»Aber du warst doch ein skrupelloser Nazi!« »Wann? Vor fast vierzig Jahren! Ich bin seit vielen Jahren

kein Nazi mehr. Was ich erlebt, was ich gehört, was ich gesehen und gelesen habe, das hat mir die Augen geöffnet für die unsagbaren Verbrechen der Nazis. Ich bin ein anderer geworden. Das war ein sehr dummes Lachen, Daniel. Nur ein Idiot behält sein Leben lang die gleiche Überzeugung.«

Ross starrte Olivera lange an. »Also, du bist ein Demokrat«, sagte er schließlich überwältigt.

»Gewiß«, sagte Olivera.

»Meinst du, wir würden uns sonst so wunderbar verstehen?« fragte Mercedes.

»Ach, Mercedes«, sagte Ross.

»Was soll das bedeuten? Wenn jemand Vater kennt, dann bin das ich. Als ich drei Jahre alt war, lernte ich ihn kennen. Seither hat er sich um mich gekümmert. Als ich größer wurde, um meine Erziehung, um meine Ansichten. Er hat mich nie bevormundet. Er gab mir Bücher. Er führte mich zu Vorträgen, ins Theater, ins Kino. Er wollte, daß ich mir eine eigene Meinung bilde. Er hat mich in demokratischer Weise erzogen. Er hat bereut, er hat gebüßt. Er ist ein anderer geworden! Sehen Sie mich an! Ich bin doch eine überzeugte Anhängerin der Demokratie. Glauben Sie das?«

»Ich glaube es, Mercedes.«

»Dann muß Vater das aber auch sein!« rief sie. Ross schwieg. »Ich bin es wirklich. Übrigens. Präsident Alfonsin hat äußerst

fähige Leute. Ich bin oft eingeladen bei den wichtigsten von ihnen, und noch häufiger kommen sie hierher, um mir von ihren Schwierigkeiten und Plänen zu erzählen und mich um Rat zu bitten.«

»Dich?« fragte Ross. »Mit deinem Freund, dem General?« »Sie wissen genau, daß er mein Freund ist, obwohl er General

war. Ich bin als wirklicher Demokrat bekannt, Daniel. Natürlich versuche ich nun, Alfonsins Leuten zu helfen, wo ich kann. In Argentinien halte ich eine Demokratie allerdings für ungeeignet«, sagte Olivera.

»Warum?«

»Das sind wilde Leute hier. Sie brauchen eine starke Hand.« »Eine Diktatur meinst du.«

Olivera zuckte mit den Achseln. »Wir werden ja sehen, wie lang diese Demokratie hält.«

Plop, machte die imaginäre Luftblase in Ross’ Brust. Plop, plop. »Was ist los mit dir? Du siehst blaß aus. Erregt dich meine Ehrlichkeit so sehr?«

»Das wird’s wohl sein. Ehrlichkeit bei dir!« sagte Ross. »Daniel!« rief Mercedes.

Olivera lachte. »Mein Sohn«, sagte er. »Wir trinken auf deinen Verstand – und auf deine Schönheit, Tochter.«

Sie tranken.

»A tu salud«, sagte Olivera wieder. »Nun aber zurück zu dir!« sagte Ross. »Hast du schon einmal so winzig kleine Zitronen gesehen? Wachsen nur hier. Zurück zu mir. Bitte. Am zweiten März neunzehnhundertfünfundvierzig ist Georg Ross, Major und Filialleiter der Österreichischen Sparkasse, bei schweren Abwehrkämpfen im Großraum Küstrin gefallen – in treuer Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland. Nun, er ist auferstanden. Auch Lazarus ist auferstanden.«

»Du bist auferstanden als Eduardo Olivera«, sagte Ross. »Und als Bankier«, sagte sein Vater.

»Neunzehnhundertfünfundvierzig gab es viele Lazarusse.« »O ja«, sagte Ross.

»Du verstehst jetzt, wie?«

»Ich verstehe jetzt«, sagte Ross.

»Zuerst war ich ein kleiner Bankier. Da wohnte ich noch nicht hier. Dann wurde ich ein großer Bankier. Und übersiedelte.« Wieder erfüllte jäh donnerndes Toben die Luft. Wieder bebte die Erde. Eine neue Staffel von Düsenjägern raste im Tiefflug über den Park. Die Gläser klirrten.

»Diese Jäger«, sagte Olivera, »sind auch manchmal über das Haus geflogen, als General Alvarez, mein Freund, Miguel noch brauchte. Sie fliegen auch jetzt, da er ihn nicht mehr braucht und Miguel bei mir und dieses Land eine Demokratie ist. Dieselben Maschinen. Mit denselben Piloten. Sie müssen bereit sein, unser Land zu schützen. Das Land ist immer dasselbe geblieben.« Olivera breitete weit die Arme aus. »Meine Kinder! Bin ich glücklich, euch bei mir zu haben, beide! Kommt, gehen wir noch einmal in den Pool!«

»Ich möchte dich fragen ...«

»Nein«, sagte Eduardo Olivera, erhob sich und streifte den weißen Frotteemantel ab. »Keine Fragen mehr jetzt, Daniel. Nach der Siesta werde ich dir dieses Dokument zeigen. Dann beantworte ich jede Frage. Hast du die Orchideen in den Bäumen gesehen? Die braungelben mit den violetten Lippen? Sind sie nicht wunderbar? Vanda tricolor heißen sie. Ich liebe Orchideen ...«

Plop, plop, plop.

Ross preßte die Lippen zusammen. Die Angst, die Angst, die unwirklich war, aber viel schlimmer als erklärliche Angst, da kam sie, aus der Ferne noch, aber sie war auf dem Weg. Ross stand schnell auf. Mercedes sah ihn besorgt an. Er schüttelte lächelnd den Kopf und ging zu den Umkleidekabinen.

»Was ist los?« fragte Olivera.

»Nichts. Bin sofort da. Ich muß nur ...«

»Ach so.«

Ross erreichte die Kabinen. Er trat in die seine und schloß die Tür. Aus der Jackentasche nahm er ein Glasröhrchen und schüttete fünf Tabletten Nobilam auf die Hand. Er öffnete den Mund und warf die Tabletten hinein. Er konnte seit Jahren Pillen jeder Art ohne Wasser schlucken. Sibylle hat gesagt, ich darf Nobilam nehmen, sobald ich glaube, es zu brauchen, beruhigte er sich. Dann steckte er das Röhrchen wieder in die Tasche und trat ins Freie. Eine Viertelstunde, und alles ist in Ordnung, dachte er auf dem Weg zum Pool. Olivera und Mercedes waren schon im Wasser. Sie bespritzten einander und lachten. Ross sah lange den Vater an, der mit den Händen ruderte und Mercedes etwas zurief. Ross merkte, daß er sich schon besser fühlte. Der Haß war eine feine Sache.

Der Mann, der einmal Georg Ross geheißen hatte und sich nun seit langer Zeit Eduardo Olivera nannte, ging in der großen Bibliothek seines Hauses von einem hohen französischen Fenster zum anderen und ließ durch Knopfdruck elektrisch betriebene, schwere, eiserne Rolläden herab. In der Bibliothek brannte Licht. Mercedes und Daniel saßen in tiefen Fauteuils. Sie trug einen Hausanzug aus dünnem, goldfarbenem Stoff – lange Hosen, weite Bluse – und goldene Slipper. Das ganze Haus war klimatisiert, in der Bibliothek mit ihren vielen tausend Bänden herrschte angenehm kühle Temperatur. Eine antike Standuhr auf dem Kaminsims zeigte die Zeit: vier Minuten nach sechs. Ross fühlte sich ausgeruht. Er hatte traumlos und sehr tief geschlafen. Dann hatten sie in der Bibliothek Tee getrunken. Miguel – er trug weiße Hosen und eine am Hals geschlossene weiße Jacke – räumte gerade Tassen, Kanne und alles übrige von einem niedrigen Marmortisch vor dem großen offenen Kamin auf einen Servierwagen. Ein Löffel fiel zu Boden. Miguel kniete nieder. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er den Löffel gefunden hatte.

»Ich bitte um Vergebung, Senorita«, sagte er zu Mercedes und stand auf.

»Aber, Miguel!«

»Nein, es war sehr ungeschickt von mir.« Er sah gut aus, dieser junge, schlanke, dunkelhäutige Mann mit den großen, mandelförmigen Augen und den vollen Lippen. Seine Stimme hatte einen warmen, angenehmen Klang.

»Schon gut«, sagte Mercedes, »schon gut.«

»Wünschen Sie noch etwas, Senorita?«

»Nichts. Danke, Miguel.«

»Meine Herren?«

»Du kannst gehen«, sagte Olivera von einem der Fenster aus. »Die Bar haben wir hier. Abendessen in zwei Stunden, bitte. Sagst du Maria Bescheid?«

»Ja, Senor. In zwei Stunden. Stets zu Ihren Diensten.« Miguel verschwand, den Servierwagen mit dem Teegeschirr langsam vor sich herschiebend. Die große Tür der Bibliothek schloß sich lautlos hinter ihm. Mercedes nahm eine Zigarette aus der silbernen Dose, die auf dem niederen Marmortisch stand. Ross erhob sich und gab ihr Feuer.

»Danke, Daniel.« Sie sah ihn lächelnd an. Er setzte sich wieder.

»Du wirst jetzt, Daniel, einen Film sehen«, sagte Olivera und beschäftigte sich immer noch mit den eisernen Rollos. »Dieser Film spielt in Teheran, der Hauptstadt des heutigen Iran. Bevor ich ihn dir zeige, muß ich noch einige Worte zum besseren Verständnis sagen.« Olivera trug eine weiße Leinenhose und ein lose hängendes, blaues Hemd. Die dritte Eisenjalousie sank herab, über Knopfdruck angetrieben von kleinen, unsichtbaren Elektromotoren. »Bis neunzehnhundertfünfunddreißig hieß der Iran ›Kaiserreich Persien‹. Dieses Kaiserreich wurde neunzehnhundertsieben in eine britische und in eine russische Interessensphäre geteilt, seit neunzehnhunderteinundzwanzig existierte ein Schutzvertrag mit der Sowjetunion.« Olivera ging zum vierten Fenster und ließ den schweren Rolladen herunter. »Vom achtundzwanzigsten November bis zum ersten Dezember neunzehnhundertdreiundvierzig fand in Teheran eine Konferenz der sogenannten Großen Drei statt: Stalin, Roosevelt und Churchill. Es war das erste Mal, daß Roosevelt und Churchill mit Stalin zusammentrafen.« Olivera trat vor das fünfte und letzte Fenster. »Stalin hatte auf Teheran bestanden, und keiner alliierten Kriegskonferenz ist ein so langes und zähes Ringen um Ort und Zeit der Begegnung vorausgegangen wie dieser, für die Churchill den Decknamen ›Eureka‹ angeregt hatte.« Die fünfte eiserne Jalousie rastete ein. »So«, sagte Olivera, »nun ist der Raum absolut schalldicht.«

Er trat vor ein Bücherbord neben dem Kamin und drückte auf eine verborgene Feder. Ein Regalteil schwang seitwärts, und ein großer, in die Mauer eingelassener Tresor mit Nummernschloß wurde sichtbar. Olivera stellte, wobei er die Anlage mit seinem breiten Rücken verdeckte, die richtige Zahlenkombination ein. Er sagte dabei: »Das Beharren Stalins auf Teheran hatte dann allerdings auch Nachteile. Hier war das Wetter zu dieser Jahreszeit äußerst unbeständig. Prompt nötigte die Witterung den damals schon schwerkranken Präsidenten Roosevelt, den Konferenzort früher als vorgesehen zu verlassen. Auf Anraten seines Leibarztes wollte er es vermeiden, beim Herannahen einer Schlechtwetterfront in größerer Höhe fliegen zu müssen. Die Besprechungen am ersten Dezember wurden darum allzu sehr komprimiert, nur um sicherzustellen, daß Roosevelt am nächsten Tag über Ägypten die Rückreise antreten konnte.« Die schwere, gut dreißig Zentimeter dicke Panzerstahltür des Tresors schwang auf. Aus dem geräumigen Inneren nahm Olivera einen Gegenstand ähnlich einem schmalen Buch, das in einem Schuber steckte. »Heute wissen wir«, fuhr er fort, »daß auf der Konferenz von Teheran über die definitive Errichtung einer zweiten Front in Frankreich gesprochen wurde. Das führte dann zur alliierten Landung in der Normandie am sechsten Juni vierundvierzig. In Teheran einigte man sich lediglich darüber, diese zweite Front zu eröffnen, die mit einer russischen Gegenoffensive im Frühjahr desselben Jahres koordiniert werden sollte. Aus gearbeitete Pläne gab es noch nicht. Ferner, nach der offiziellen Geschichtsschreibung allerdings vergebens, bemühten sich die Großen Drei um die Grundzüge ihrer Nachkriegspolitik.« Olivera hatte den Tresor wieder geschlossen. Ross sah, daß das, was er in der Hand hielt, eine Videokassette war. Olivera ging mit ihr zu einer großen Wandbar auf der anderen Seite des Kamins und öffnete die beiden Hälften einer Tür aus Mahagoniholz. Ein Fernsehapparat wurde sichtbar. Olivera zog ihn ein wenig heraus. Neben dem Fernseher stand ein modernes Videogerät, auf ihm eine kleine, zierliche Schirmlampe. Olivera knipste sie an und schaltete gleichzeitig die Deckenbeleuchtung aus. Licht kam jetzt nur noch von einer einzigen Stelle. Die riesige Bibliothek lag im Dunkeln und im Halbschatten.

»Damals«, sagte Olivera und beschäftigte sich mit der Videoapparatur, »wurden natürlich zahlreiche Filmteams eingeflogen, die Aufnahmen für die westlichen und sowjetischen Kinowochenschauen machten. Daneben aber entstand ein vierunddreißig Minuten langer Film, von dessen Herstellung mit Ausnahme der an seiner Produktion Beteiligten niemand etwas wußte außer Roosevelt und Stalin und ihren beiden politischen Beratern. Bis zu dieser Stunde wissen auf der Welt nur jene Männer etwas von der Existenz dieses Films, die zu den engsten Mitarbeitern Stalins und Roosevelts gehörten – falls sie noch leben –, dazu die Nachfolger Roosevelts und Stalins als Führer der beiden größten Mächte dieser Erde sowie deren engste Mitarbeiter. Und Mercedes und ich. Ich muß mich korrigieren: Der Außenminister Joachim von Ribbentrop, der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels und der Reichsführer SS Heinrich Himmler wußten natürlich auch von der Existenz dieses Films, der, wie Stalin und Roosevelt glaubten, durch speziell ausgesuchte, absolut zuverlässige und integre amerikanische Spezialisten in nur zwei Exemplaren hergestellt worden war: einer Fassung mit russischem Text und russischer Sprecherstimme, einer mit englischem Text und englischer Sprecherstimme. Was ich hier habe, ist eine Kopie des amerikanischen Exemplars.«

»Was heißt Kopie? Neunzehnhundertdreiundvierzig gab es doch noch keine Videoaufzeichnungen! Filme wurden damals auf Fünfunddreißig-Millimeter-Film gedreht.«

»Das ist richtig, Daniel. Ich habe zuerst auch die Kopie auf Fünfunddreißig-Millimeter-Kodak-Film besessen. Erst später ließ ich diesen Film auf Videokassette überspielen.«

»Warum?«

»Aus zwei Gründen: Das Kodak-Material hielt natürlich nicht ewig. Neunzehnhundertdreiundvierzig – das ist einundvierzig Jahre her! So lange bleibt das beste Material nicht intakt. Ich mußte den Film auf Video umkopieren. Ich bin sicher, daß man das im Kreml und im Weißen Haus auch getan hat. Der Urfilm war etwa sechshundert Meter lang, wog an die sechs Kilo und befand sich in einer großen Aluminiumtrommel. Damit wäre kein Mensch jemals auch nur durch eine einzige Zollkontrolle gekommen. Ich habe übrigens drei Videokopien anfertigen lassen bei einem Deutschen hier in einem Werk. Der Mann starb vor fünf Jahren. Klein hieß er. Paulo Klein. Ein vertrauenswürdiger Freund.«

»Warum wolltest du Kopien deiner Kopie?« »Zu meinem Schutz. Die zweite Kassette liegt in einem

Banksafe. Wenn mir etwas zustößt, wenn ich eines plötzlichen oder unnatürlichen Todes sterbe, hat mein Anwalt Vollmacht, diese Kopie aus dem Safe zu holen und auf einer internationalen Pressekonferenz vorzuführen. Dasselbe gilt«, fuhr Olivera fort, »wenn ich länger als zwei Wochen verschollen bin oder mich nicht melde. Ich habe die Kassette seinerzeit sehr auffällig deponiert. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Du wirst es ebenfalls sein müssen, Daniel, wenn du den Film jetzt bekommst.«

»Wie soll ich das anstellen?« fragte Ross.

»Genau wie ich«, sagte Olivera. »Die dritte Kopie liegt hier im Tresor. Du bekommst also zwei Kopien und deponierst auch sofort eine mit entsprechenden Anweisungen, die du publik machst.«

»Wie ist der Film überhaupt in deinen Besitz gelangt?« Olivera lehnte sich gegen die Bücherwand und steckte die Hände in die Taschen der Leinenhose. »Der Außenminister Joachim von Ribbentrop«, sagte er, »war ein Idiot. Er verfügte über ein einziges Talent: hervorragende Mitarbeiter zu verpflichten. So besaß er den bei weitem am besten funktionierenden hausinternen Geheimdienst – er war sogar besser als der von Canaris. Ribbentrops Dienst hatte erstklassige Leute an allen wichtigen Punkten der Erde. Ende fünfundvierzig war dieser Apparat noch vollkommen intakt. In der Bundesrepublik gibt es doch mehrere miteinander konkurrierende Dienste, nicht wahr? Nun, im Dritten Reich lief das genauso. Auch im Kaiserreich Iran hatte man seit langem ein Spionagenetz aufgebaut als Teil eines viel größeren Systems, das den ganzen Mittleren Osten überzog. Und ein Mann hatte dieses gewaltige Netzwerk geschaffen.«

»Du?« fragte Ross.

»Ja, ich«, sagte Eduardo Olivera, der vor langer Zeit einmal Georg Ross geheißen hatte.

»Du warst also nie Soldat?«

»Nie.« Olivera schüttelte den Kopf. »In allen wichtigen Städten des Mittleren Ostens und in allen Stützpunkten hatte ich absolut zuverlässige Residenten eingesetzt. Das waren stets Einheimische. In Teheran residierte ein Mann namens Chan Ragai, jung, sehr dynamisch, sehr erfolgreich. Seine Agenten kannte ich nicht – einem alten Gesetz aller Dienste der Welt zufolge. Man kennt immer nur einen anderen Mann des jeweiligen Netzes.«

»Wie hast du mit diesem Chan Ragai verkehrt?« »Über Funk oder durch Kuriere. Ribbentrops

Außenministerium befand sich in der Berliner Wilhelmstraße. Dort hatte auch ich mein Büro. Dort waren große Sende- und Empfangsstationen installiert. Chan Ragai erhielt von mir den Auftrag, alles, was bei dieser Konferenz der Großen Drei geschah, auf das genaueste zu verfolgen. Seine Männer leisteten hervorragende Arbeit. Besonders ein Agent, der mir bis heute nur unter dem Kürzel CX einundzwanzig bekannt ist. CX einundzwanzig brachte es fertig, in den Besitz einer Kopie des Films zu gelangen, den ich dir jetzt zeigen will, Daniel.«

Olivera ließ sich auf eine Couch vor dem Kamin fallen und drückte auf die Taste eines kleinen Fernbedienungsgeräts, das er nun in der Hand hielt. Über den Fernsehschirm lief leicht schlissiger Schwarzfilm.

Zu kurzen Pfeiftönen erscheinen die Ziffern 3, 2 und 1. Danach – es handelt sich um einen Schwarzweißfilm – sieht man das Signet der Vereinigten Staaten: einen stilisierten Adler mit einem stilisierten Friedenszweig in der rechten und einem ebenso stilisierten Liktorenbündel in der linken Kralle, vor der Brust, viereckig und stilisiert, die amerikanische Flagge, über dem Kopf des Adlers ein auf beiden Seiten hochflatterndes Band mit den Worten E PLURIBUS UNUM. Um den Adler läuft ein geschlossener Kreis. Man liest: SEAL OF THE PRESIDENT OF THE UNITED STATES. Das Signet bleibt eine Weile stehen. Es folgen, in großen Buchstaben, die Worte Top SECRET und danach in englischer Sprache die Worte:

VON DIESEM FILM EXISTIERT NUR EINE EINZIGE WEITERE ANFERTIGUNG MIT RUSSISCHEM TEXT UND KOMMENTAR IN RUSSISCHER SPRACHE. DIE ENGLISCHE VERSION IST BESTIMMT FÜR DAS GEHEIMARCHIV DES PRÄSIDENTEN DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA IM WEISSEN HAUS, WASHINGTON, D. C. DIE RUSSISCHE VERSION IST BESTIMMT FÜR DAS GEHEIMARCHIV DES GENERALSEKRETÄRS DES ZENTRALKOMITEES DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI DER SOWJETUNION BEZIEHUNGSWEISE DES STAATSCHEFS DER UNION DER SOZIALISTISCHEN SOWJETREPUBLIKEN IM KREML ZU MOSKAU. NACH BESCHWORENER SCHWEIGEPFLICHT DÜRFEN DIE ENGSTEN MITARBEITER DER BEIDEN GEGENWÄRTIGEN STAATENLENKER SOWIE DIE ENGSTEN MITARBEITER DER DEN GEGENWÄRTIGEN FOLGENDEN BEIDEN STAATENLENKER KENNTNIS VON DIESEM FILM UND SEINEM INHALT ERLANGEN. KEIN ANDERER MENSCH DARF DIESES FILMDOKUMENT JEMALS SEHEN ODER VON SEINER EXISTENZ KENNTNIS ERHALTEN. DIE BEIDEN EXEMPLARE DES FILMS SIND AUFZUBEWAHREN FÜR ALLE ZEIT.

ABBLENDEN

AUFBLENDEN

Eine Totale der Stadt Teheran. Es ertönt das amerikanische Englisch eines SPRECHERS:

Dies ist die Stadt Teheran, Hauptstadt des Kaiserreichs Iran, aufgenommen am Vormittag der 27. November 1943. Morgen, am 28. November 1943, beginnt hier die Konferenz der Großen Drei: des Premierministers der Vereinigten Königreiche Großbritannien und Nordirland, Winston Churchill, des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Franklin Delano Roosevelt, und des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Marschall Josef Wissarionowitsch Stalin.

Militärflughafen vor der Stadt. Im Hintergrund, mächtig und unheimlich, die hohe Bergkette des schneebedeckten Elbrus-Gebirges. Eine große viermotorige Maschine vom Typ »Liberator« landet soeben und rollt aus. Die Gangway wird herangefahren. Es scheint sehr kalt zu sein, die wenigen Männer, die zum Empfang erschienen sind, Zivilisten und Militärs, tragen dicke Mäntel und Kopfbedeckungen, die meisten Pelzmützen. Man sieht eine sehr große Zahl von sowjetischen Armeefahrzeugen und Soldaten mit Maschinenpistolen rund um das Flughafengelände. Schwerste Sicherheitsvorkehrungen wurden getroffen. Die Luke der Maschine öffnet sich. Es erscheint auf der obersten Treppe der Gangway in Uniformmantel und mit Schirmmütze Winston Churchill. Er hält eine dicke Zigarre im Mund, lächelt breit und hebt den Zeigefinger und den Mittelfinger der rechten Hand zu dem berühmt gewordenen V-Zeichen, das für »Victory« (Sieg) steht. Die sowjetischen Sicherheitskräfte in höchster Alarmbereitschaft. Hektische und nervöse Atmosphäre. Die kleine Gruppe von Männern begrüßt Churchill, der die Gangway herabgeschritten ist. Etwa ein Dutzend anderer Personen verläßt die gelandete Maschine.

SPRECHER

14 Uhr 35 Ortszeit. Zu diesem geheimgehaltenen Zeitpunkt landet die Maschine mit Premierminister Churchill – aus Sicherheitsgründen – nicht auf dem zivilen Flughafen Mehrabad, sondern auf dem sowjetischen Militärflughafen. Der Premier ist mit einem kleinen Stab von Mitarbeitern gekommen. Hier begrüßt ihn der britische Gesandte in Teheran. Premierminister Churchill wird in seinem Wagen zur britischen Gesandtschaft gebracht.

Churchill steigt in einen auf dem Flugfeld vorgefahrenen Wagen, der britische Gesandte folgt. Churchills Begleitung benützt drei weitere auf das Rollfeld gekommene Wagen. Die kleine Kolonne setzt sich in Bewegung. Vorneweg ein großes Polizeiauto mit blinkenden Blaulichtern. Auf den ausgefahrenen Trittbrettern stehen schwerbewaffnete persische Polizisten.

»Wer hat diese Aufnahmen gemacht?« fragte Ross, der gebannt auf den Fernsehschirm sah.

»Ausgesuchte amerikanische und sowjetische Armeekameraleute«, antwortete Olivera. »Die Reporter, Wochenschauoperateure und Fotografen landeten erst später auf dem zivilen Flughafen Mehrabad.« Olivera hatte eine Stehlampe angeknipst, und Ross sah, daß ein Buch neben dem Vater lag. Ein zweites hielt er geöffnet auf den Knien.

»Churchill lachte zwar für die Kameras, aber er war wütend«, sagte Mercedes. Sie hatte die goldenen Slipper abgestreift und die Beine hochgezogen. So kauerte sie in ihrem Fauteuil. »Warum wütend?« fragte Ross. Das Bild hatte gewechselt ... Der kleine Konvoi fährt über eine Landstraße vom Militärflughafen zur Stadt. In kurzen Abständen bewachen persische Kavalleristen die Straße. Zunächst sind nur wenige winkende Menschen zu sehen.

»Er war unzufrieden mit den Sicherheitsmaßnahmen«, sagte Olivera und setzte eine Brille mit schwerer Hornfassung auf. »Ich habe hier einen Band seiner Memoiren. Churchill schreibt: ›... Als wir uns der Stadt näherten, säumten mindestens fünf Kilometer weit alle fünfzig Meter persische Kavallerieposten die Straße. Böswillige Leute vermochten daraus unschwer zu entnehmen, daß eine hohe Persönlichkeit erwartet und welchen Weg sie nehmen würde ... Das Tempo war langsam, und bald füllte eine große Menge die Zwischenräume zwischen den Reitern aus. Polizisten zu Fuß gab es, wenn überhaupt, nur wenige ...‹ Der Film bestätigt, was Churchill später schrieb.«

Vororte von Teheran. Plötzlich viele Menschen zwischen den Reitern. Die meisten überrascht und ernst. KAMERA zeigt ein kleines Mädchen, das auf den Schultern seines Vaters sitzt und winkt. In mehreren Einstellungen die Fahrt durch das Stadtzentrum. Hier drängen sich die Menschen auf beängstigende Weise, sie kommen, ohne daran gehindert zu werden, dicht an die Wagen heran.

Olivera sagte, das Buch auf den Knien: »Churchill weiter: ›Im Stadtzentrum stand die Menge zu viert und fünft hintereinander. Man kam freundlich, aber zurückhaltend, bis auf wenige Schritte an den Wagen heran. Gegen zwei oder drei entschlossene Individuen mit Revolvern oder Bomben hätte es keinen Schutz gegeben ...‹«

Die Menge wird immer dichter. Der Konvoi fährt im Schrittempo. An einer Kreuzung muß er sogar halten. Die Straße ist von Menschen verstopft. Persische Soldaten werden der Lage nur mühsam Herr. Die Menschen weichen unwillig und zögernd zurück.

Die Stimme Oliveras erklang: »Churchill schreibt, und ich zitiere: ›An der zur Gesandtschaft führenden Kreuzung entstand eine Stockung; wir standen drei bis vier Minuten unbeweglich inmitten der Menge der gaffenden Perser. Wenn man sich vorgenommen hätte, das größte Risiko zu laufen und sowohl auf den Schutz einer geheimen Ankunft wie auf die Bedeckung durch eine starke Eskorte zu verzichten, hätte man das Problem nicht besser lösen können. Doch ereignete sich nichts. Ich lächelte der Menge zu, und die meisten lächelten zurück ...‹«

Das Bild auf dem Fernsehschirm zeigt einen unerschütterlichen ruhigen Churchill mit der Zigarre im Mund. Er winkt den Menschen zu, die seinen Wagen umdrängen, und lacht. Viele winken zurück und lachen gleichfalls. Ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, sagt Churchill etwas zu dem neben ihm sitzenden britischen Gesandten. Dieser nickt und macht ein wütendes Gesicht.

Die Kreuzung ist endlich geräumt, die Wagen können weiterfahren. Enge Straßen, die zuletzt einer breiteren weichen. Der Konvoi erreicht eine große Villa, welche in einem Garten liegt. Das Gartentor steht offen. Das ganze Gelände, die

Einfahrt, der Weg durch den Garten und die Villa werden von britischindischen Soldaten bewacht. Sie tragen weiße Turbane. Alle sind schwer bewaffnet. Der Konvoi fährt auf die Villa zu. KAMERA SCHWENKT und zeigt das danebenliegende Grundstück, einen im Vergleich zum Garten der britischen Gesandtschaft riesenhaften Park, in dem mehrere große Gebäude stehen. Hier wimmelt es von sowjetischen Soldaten.

SPRECHER

Die Wagenkolonne mit Premierminister Churchill hat nun die britische Gesandtschaft erreicht. Churchill und seine Begleiter werden hier wohnen. Bewacht wird die Residenz von britisch-indischen Soldaten. (Nach dem KAMERASCHWENK:) Gleich nebenan befindet sich die sowjetische Botschaft, in der Marschall Stalin mit seiner Begleitung bereits eingezogen ist. Olivera las, an seiner Brille rückend, weiter vor: »›Die Gebäude‹, schreibt Churchill, ›lagen nebeneinander. Unsere über unsere Sicherheit wachende britischindische Brigade kam dadurch in Kontakt mit den noch zahlreicheren, ihr eigenes Areal absperrenden Russen, und bald machten sie gemeinsame Sache, so daß wir uns in einer isolierten, kriegsmäßig gesicherten Enklave befanden ...‹«

Wieder der sowjetische Militärflughafen. Eine Maschine vom Typ »Flying Fortress« landet und rollt an der gleichen Stelle aus wie zuvor die Maschine, mit der Churchill kam. Das Flughafengelände ist wieder hermetisch abgesperrt. Eine lange Kolonne großer amerikanischer Wagen – Chevrolets, Buicks, Chryslers, Lincolns und Cadillacs – rollt an die Maschine heran. Die Luke der »Flying Fortress« öffnet sich, die Gangway ist herangerollt. Unbarmherzig zeigt die KAMERA, wie Präsident Roosevelt von zwei amerikanischen Sicherheitsbeamten die Treppe herabgetragen und in einen Rollstuhl gesetzt wird. (Nach seiner Erkrankung an Kinderlähmung kann der Präsident nicht mehr gehen und nur kurze Zeit mit größter Mühe stehen.) Zahlreiche Zivilisten und Militärs begrüßen ihn. Der Rollstuhl verschwindet hinter einer Limousine. Der Präsident wird offenbar in einen Wagen gehoben. Man sieht sein bleiches, von Krankheit gezeichnetes Gesicht gleich darauf in einem Fondfenster.

SPRECHER

16 Uhr 47. Zu diesem ebenfalls geheimgehaltenen Zeitpunkt landet die Maschine mit Präsident Roosevelt auf dem russischen Militärflughafen. Der Präsident kommt zur Konferenz »Eureka«, wie sie auf Vorschlag des britischen Premiers genannt wird, mit einer sechsundsiebzig Personen umfassenden Begleitung.

Diese außerordentlich große Anzahl von Mitreisenden sehen wir nun. Immer mehr Zivilisten und Militärs kommen über die Gangway herab aus dem Flugzeug. Die Männer steigen in die Wagen. Wie bei Churchill rollt ein Polizeiauto mit zuckenden Blaulichtern an der Spitze des diesmal sehr langen Konvois.

»Allmächtiger«, sagte Ross. »Sechsundsiebzig Mann Begleitung!«

Die Bilder, die der Videofilm nun zeigte, entsprachen im Grunde jenen von der Ankunft Churchills und seiner Fahrt in die Stadt. Mit der Fernsteuerung ließ Olivera die Stimme des Sprechers leiser werden. Zu den Bildern der amerikanischen Delegation auf ihrem Weg zur und durch die Stadt sagte Olivera, das zweite Buch nehmend: »Ich habe hier ein – übrigens ausgezeichnetes – Werk zur Zeitgeschichte von Gottfried Zieger. Der Verfasser dieses 1967 erschienenen Buches mit dem Titel ›Die Teheran-Konferenz neunzehnhundertdreiundvierzig‹ war damals am Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen tätig. Er schreibt in Kapitel römisch drei: ›...von den Schwierigkeiten der Unterbringung dieses riesigen Stabes abgesehen, erwies sich sogleich die Lage des amerikanischen Quartiers als recht ungeeignet ...‹«

Der Film zeigt die Ankunft der Wagenkolonne des Präsidenten vor der amerikanischen Gesandtschaft, einem großen, weißen Gebäude, das gleichfalls in einem Garten liegt. Sehr viele amerikanische Soldaten, schwer bewaffnet, sichern das Gelände.

››... Die Gesandtschaft der Vereinigten Staaten befand sich nämlich fast zwei Kilometer von den Missionsgebäuden Großbritanniens und der Sowjetunion entfernt‹, schreibt Zieger. ›Es wurden Befürchtungen laut, dem Präsidenten könne bei den täglichen Fahrten dorthin etwas zustoßen ...‹ Und an anderer Stelle notiert Zieger: ›Dem Logbuch des Präsidenten zufolge war den Amerikanern bekannt gewesen, daß Teheran noch bis vor kurzem, vollständig unter deutscher Kontrolle gestanden hat‹« – Olivera begann, zuerst unterdrückt, zu lachen, während er weiterlas – »›oder, wie sich Roosevelt drastisch ausdrückte, das Hauptquartier für die ganze Spionage der Achse im Mittleren Osten war und genügend Parteigänger Deutschlands sich in der persischen Hauptstadt aufhalten würden ...‹« Nun lachte Olivera schallend. Er beruhigte sich erst allmählich wieder und sagte, immer noch von Heiterkeitsausbrüchen unterbrochen: »Schlaue Köpfe, wie? Die hatten doch tatsächlich mitbekommen, daß wir in Teheran tätig waren! Ich will mich ja wirklich nicht selber loben ...«

»Das mußt du auch nicht«, sagte Ross zwischen den Zähnen. »Roosevelt tut es.«

»O Daniel«, stöhnte Olivera, »ist das vielleicht kein Kompliment?«

Ross sah, daß Mercedes in flehend anblickte. Ihre Augen bettelten: Bitte nicht! Sie haben versprochen, die Nerven zu bewahren. Ross nickte. Sie lächelte ihm zu. Er sah wieder zum Fernsehapparat.

Der Film zeigt nun einen Saal in einer der Villen, die zur sowjetischen Botschaft gehören. Sehr prunkvoll. Im Raum und im Gespräch: Stalin in Uniform (weiße Jacke), ein kleiner Mann mit altmodischem Kneifer auf der Nase und ein weiterer mächtiger Mann in Uniform.

Olivera hatte den Ton durch Knopfdruck wieder lauter werden lassen.

SPRECHER

Die schon früher eingetroffenen sowjetischen Sicherheitsorgane behaupteten am späten Nachmittag des 27. November, einem Komplott gegen einen der Grossen Drei auf die Spur gekommen zu sein. Marschall Stalin beriet sich mit Außenminister Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow und seinem persönlichen politischen Berater General Kliment Jefremowitsch Woroschilow ...

Abend. Außenminister Molotow fährt von der sowjetischen Botschaft zur amerikanischen Gesandtschaft, verläßt den Wagen, wird von Zivilisten ins Haus geführt und in einem Raum von einem etwa fünfzigjährigen Zivilisten empfangen. Begrüßung, Händeschütteln, die beiden gehen in einen anderen Raum.

SPRECHER

Noch am Abend des Ankunftstages begibt sich Außenminister Molotow in die amerikanische Gesandtschaft und macht den persönlichen politischen Berater Präsident Roosevelts, Harry Lloyd Hopkins, noch einmal nachdrücklich auf die Existenz deutscher Agenten und ihre verbrecherischen Umtriebe aufmerksam.

Olivera hatte das erste Buch wieder in die Hand genommen. Zu den Bildern des Umzugs, der sehr ausführlich gezeigt wurde, sagte er, den Ton leiser stellend: »Wieder Churchill: ›Die von amerikanischen Truppen bewachte amerikanische Gesandtschaft lag fast zwei Kilometer weit von uns entfernt; das bedeutete, daß entweder der Präsident oder Stalin und ich die engen Strassen Teherans zwei- oder dreimal täglich in beiden Richtungen passieren mußten. Molotow, bereits vierundzwanzig Stunden vor uns eingetroffen, meldete zu allem Überfluß, der russische Sicherheitsdienst sei einem Komplott auf die Spur gekommen, einen der Grossen Drei, wie wir genannt wurden, zu ermorden, und der Gedanke, daß wir beständig die Straßen passieren sollten, erfüllte ihn mit Entsetzen. Jedes derartige Ereignis würde einen denkbar schlechten Eindruck machen, meinte er. Das war nicht zu leugnen. Ich unterstützte deshalb mit aller Energie Molotows Appell an den Präsidenten, in der Sowjetbotschaft Quartier zu nehmen, die, räumlich drei- bis viermal größer als die anderen Missionen in einem großen Park stand und von Sowjettruppen und Sowjetpolizei umringt war ...‹«

Gerade da zeigt der Film die ungeheuer große Anzahl von sowjetischen Sicherheitskräften während des Umzugs der Amerikaner.

»›... Es gelang uns‹, schreibt Churchill, ›den Präsidenten zur Annahme dieses guten Rates zu bewegen, und am nächsten Nachmittag zog er mit seinem persönlichen Stab, die ausgezeichneten philippinischen Köche von seiner Jacht mit eingeschlossen, ins russische Besitztum um, wo ihm reichliche und bequeme Unterkunft geboten wurde.‹«

Szenen vom Umzug der Amerikaner in die sowjetische Botschaft. KAMERA zeigt wieder groß den persönlichen Berater Roosevelts, Harry Hopkins.

»Du siehst, Daniel« sagte Olivera, »der Sprechertext und der Text aus Churchills Memoiren sind fast identisch an dieser Stelle. Nur, daß Churchill seine Memoiren erst viele Jahre später zu schreiben begann. An der Echtheit der Bilder und des Filmkommentars kann also kein Zweifel bestehen. Churchill schreibt: ›Damit befanden wir uns alle innerhalb eines kleinen Bezirks, in dem wir ohne die Gefahr einer Störung die Weltkriegsprobleme besprechen konnten. Mir wurde es in der britischen Gesandtschaft sehr behaglich gemacht; und zum Palast der Sowjets, von dem man sehr wohl sagen kann, daß er für den Moment den Mittelpunkt der Welt bildete, brauchte ich nur einige hundert Meter zurückzulegen. Ich fühlte mich immer noch schlecht; meine Erkältung und mein schmerzender Hals verhielten sich so bösartig, daß ich zeitweise kaum zu reden vermochte. Doch setzte mich Lord Moran mit Einpinselungen und unermüdlicher Fürsorge in die Lage, das zu sagen, was ich zu sagen hatte – und das war viel.‹«

Olivera nahm die Brille ab und schloß das Buch. Die KAMERA zeigt nun groß das Gebäude der

Sowjetbotschaft und fährt sehr nahe an sie heran. Olivera drehte den Ton wieder auf laut.

Olivera sagte: »Über diese Zusammenkünfte berichtet Zieger in seinem Buch übrigens exakt – mit denselben Daten und Zeitangaben. Über das folgende Treffen berichtet er natürlich nicht ...«

Ein kleiner Raum. Darin Harry Hopkins und General Woroschilow. Beide sehr ernst.

SPRECHER

29. November 1943, 2 Uhr morgens. Erstes geheimes Treffen zwischen Harry Hopkins und General Woroschilow, den persönlichen politischen Beratern Präsident Roosevelts und Marschall Stalins, in einem abgelegenen Salon der sowjetischen Botschaft. Später anwesend: zwei Dolmetscher, ein Stenograf. Von diesem Treffen sind nur Roosevelt und Stalin unterrichtet. Es dauert bis 4 Uhr 30 früh. Erster Gedankenaustausch und erster Entwurf eines beidseitigen Geheimprotokolls zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika ...

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