»Prima Leute haben da gearbeitet«, hatte Herdegen gesagt. »Wir beschäftigen nur prima Leute, Doktor«, war die Antwort aus London gekommen. »Mister Hyde zum Beispiel hat unser ganz besonderes Vertrauen. Wir setzen die größten Hoffnungen in ihn. «

»Wird das nicht ein bißchen komisch ausschauen, wenn nun ganz plötzlich und unerwartet ein paar – vielleicht zahlreiche – Leute sterben, Mister Morley?«

»Plötzlich und unerwartet ... So heißt es doch immer in diesen Todesanzeigen, Doktor, wie? Plötzlich und unerwartet, tja, hm. Rasch tritt der Tod ... und so weiter. Natürlich wird man darüber reden. Sollen die Leute reden! Wichtig ist, daß kein Beweis und kein Zeuge für die angebliche Echtheit des Films vor eine Kamera kommen. Das klingt hart, aber wir sind kein Mädchenpensionat. Menschen, das wissen wir, glauben, was sie hören und sehen. Die Masse jedenfalls. Auf die kommt es nun aber an. Alle Recherchen des Senders müssen darauf hinauslaufen, daß er da eine von vielen Leuten wiedererkannte Fälschung ausstrahlt. Das ist unser Ziel. Und der Weg dahin ist vorgezeichnet ...«

In der stinkenden Zelle auf dem dunklen Gang des Gasthauses in Heiligenkreuz sagte Daniel am Telefon: »Ich bin wieder okay, Conny. Und es ist gut möglich, daß ich sehr schnell einen Zeugen präsentieren kann.«

»Was ist passiert?« fragte Colledo.

»Heute früh servierte uns ein junges Mädchen das Frühstück. Du weißt ja, hier werden alle Mahlzeiten auf dem Zimmer eingenommen, damit kein Patient den anderen kennenlernt.

Nun, wir sahen dieses Mädchen schon öfter. Es heißt Elsie. Elsie war traurig und sagte ...«

»... Einen recht guten Appetit wünsch ich, gnä’ Frau, gnä’ Herr.«

Sie trug einen blauweiß gestreiften Kittel und ein Häubchen. »Was haben Sie denn?« fragte Mercedes.

Elsie, besonders hübsch, war seit zwei Jahren die Freundin Herdegens – bei weitem nicht seine einzige, aber das wußte Elsie nicht. Elsie war Herdegen sehr ergeben. Worum er sie bat, das tat Elsie. Und Herdegen hatte sie wieder um etwas gebeten.

»Haben, wieso, gnä’ Frau?«

»Sie machen einen so bedrückten Eindruck. Nicht wahr, Danny, das tut sie!«

»Ja«, sagte Daniel. »Was ist los, Elsie? Unglückliche Liebe?« Elsie lachte ein trauriges Lachen.

»Ach, hörns auf, gnä’ Herr! Nein, ich bin traurig, weil jemand hier weggeht.«

»Ein Arzt?«

»Ein Patient. Der netteste alte Herr, den wir je gehabt haben.« »Tja, aber wenn man ihn wieder gesund gemacht hat ...« »Man hat ihn nicht wieder gesund gemacht. Das ist nicht

möglich gewesen. Der arme Herr Damiani!« Elsie erschrak. Sie tat jedenfalls so, als erschrecke sie. »Maria! Darf ich doch gar nicht! Reden über unsere Patienten. Noch dazu über einen so berühmten. Völkerkundler oder so was ist er.«

Mercedes und Daniel wechselten einen Blick. Sie dachten beide dasselbe.

»Wir verraten Sie bestimmt nicht, Elsie«, sagte Mercedes. »Was ist denn schon dabei? Es kennt doch hier keiner den anderen. Wer ist Damiani? Keine Ahnung. Du, Danny?«

»Nicht die geringste.«

»Sehen Sie, Elsie. Sie können ruhig reden. Dieser Damiani ist also von allen am nettesten zu Ihnen gewesen, und darum sind Sie jetzt darüber traurig, daß er geht, ist das so?« Elsie nickte. »Wohin geht er denn?«

»Weiß ich nicht, gnä’ Frau. Zurück nach Italien, glaub ich. Er ist Italiener. Vielleicht kommt er in ein anderes Sanatorium. Keine Ahnung. Die Frau Primaria hat gesagt, hier hat man alles Menschenmögliche für ihn getan.«

Hoffentlich ist Gerd zufrieden mit mir, dachte Elsie. Er sagt immer, wie er mich liebt. Vielleicht werde ich noch eine Frau Doktor.

»Good girl«, sagte Wayne Hyde, der mit Herdegen diese Konversation über Lautsprecher verfolgte.

»Ja, wirklich«, sagte Herdegen neben ihm. »Hat etwas im Kopf und nicht nur zwischen den Beinen. Kapiert, was man sagt. Bin sehr zufrieden mit ihr.«

»So schlimm geht es ihm«, erzählte Elsie weiter. »Ist ihm noch viel schlimmer gegangen, wie er zu uns gebracht worden ist. Aber gut geht es ihm noch lange nicht. Trotzdem: Immer hat er einen Spaß mit mir gemacht, wenn ich zu ihm gekommen bin mit dem Frühstück oder dem Essen. Immer war er freundlich. Immer wieder hat er kleine Geschenke gehabt. Nur ›Belissima‹ hat er mich genannt. Ich red schon von ihm, als wenn er nicht mehr da wär. Na ja, in ein paar Tagen ist es ja auch soweit.«

»Haben Sie sich gern mit ihm unterhalten, Elsie?« »No freilich. Und er kann doch so gut Deutsch, gnä’ Frau.

Immer deutsch hat er sein Gspaß gemacht, der Herr Professor. Wo er so lang in Deutschland gelebt hat.«

Wieder sahen Mercedes und Daniel einander an. »Hat er Ihnen das gesagt, Elsie?«

»Was, gnä’ Herr?«

»Daß er in Deutschland gelebt hat.«

»Ja, hat er. Ist schon lang her. Aber reden tut er einfach phantastisch. Ein bissel Berlinerisch.«

»Berlinerisch?«

»No ja, er hat ja in Berlin gearbeitet.«

»Wann?«

»Ah, vor einer Ewigkeit«, sagte die hübsche Elsie. »Im Krieg. Bis Mitte vierundvierzig ...«

»... Bis Mitte vierundvierzig hat er angeblich in Berlin gearbeitet«, sagte Daniel am Telefon zu Colledo. Jemand schlurfte an der Zelle vorüber. Ein Mann in Schlafrock und Pantoffeln. Die Klosettür fiel hinter ihm zu.

»Eine Falle natürlich«, sagte Colledo. Daniel zuckte die Achseln.

»Sehr wahrscheinlich, ja. Muß nicht sein. Es gibt Zufälle.« » Solche Zufälle nicht«, sagte Colledo.

»Vielleicht doch«, sagte Daniel. »Mercedes meint nein – wie du. Ich bin nicht sicher. Und wenn es eine Falle ist! Ich will diesen Professor Damiani kennenlernen.«

»Sei um Himmels willen vorsichtig, Danny! Denk an Kramer in Koblenz. Du hast es mit einer skrupellosen Mörderbande zu tun.«

»Wir müssen weiterkommen. Wer weiß, wohin ein Gespräch mit Damiani führt.«

»Du hast doch gesagt, Gespräche unter den Patienten sind unerwünscht.«

»Im Sanatorium! Ich habe Sibylle gebeten, uns zusammen mit Damiani zum Abendessen einzuladen. Ich habe dir doch erzählt, sie wollte für uns kochen ...«

»Ja, ja, ja. Und? War Sibylle begeistert von deiner Bitte?« »Natürlich nicht. Aber Herdegen hatte ihr schon den Auftrag

gegeben, Damiani und uns einzuladen, und sie muß doch tun, was er von ihr verlangt. Man erpreßt sie wegen ihres Bruders, das erzähle ich dir ein andermal.«

»Wenn das so ist ... Aber was ich nicht verstehe, ist, warum man dich und Mercedes unbedingt mit Damiani zusammenbringen will.«

»Na, um herauszukriegen, ob er etwas von dem Geheimprotokoll weiß. Er war zu der Zeit in Berlin. Es ist durchaus denkbar, daß er als Völkerrechtler davon gehört hat. Vielleicht sogar von einem deutschen Kollegen, der mit der Sache beschäftigt war. Einem Zeugen also.«

»Das habe ich schon kapiert. Aber wozu brauchen sie dich dazu? Damiani ist doch schon lange genug dort. Herdegen hätte doch selber versuchen können, das herauszukriegen.«

»No can do«, sagte Daniel. »Das ist wie eine Sperre bei Damiani. Sibylle hat mir alles auf ein Blatt Papier geschrieben. Du weißt doch, hier sind Mikrofone in jedem Zimmer. Was Herdegen und wer weiß noch nicht hören dürfen, müssen wir immer aufkritzeln, während wir über etwas anderes reden.«

»Ja, das hast du mir schon erklärt. Sibylle schrieb also auf, daß Damiani über Berlin befragt wurde, aber nichts erzählt hat.«

»Ja. Während der Abschlußuntersuchung. In ihrem Ordinationsraum. Da gibt es natürlich auch ein Mikrofon. Es war sehr umständlich und riskant. Herdegen hat diesem Damiani erzählt, wie ich heiße und daß mein Vater im Krieg auch in Berlin und angeblich gleichfalls Völkerrechtler gewesen ist. Und da er fünfundvierzig in Berlin umgekommen sei, versuchte ich seit einer Ewigkeit herauszubekommen, ob das stimmt und was er in Berlin getan hat. Herdegen fragte Damiani, ob er mich kennenlernen möchte, ich würde mich brennend für sein Fachgebiet interessieren. Damiani ist eitel. Das schmeichelt ihm natürlich. Wenn er mich jetzt trifft, den wirklichen Ross-Sohn, kommt Herdegen an einen Zeugen heran – falls es überhaupt einen Zeugen gibt und Damiani ihn kennt: Und dieser Zeuge würde mir sicher die Wahrheit erzählen.«

››Das ist also die Falle.«

»Es ist keine Falle, wenn man weiß, wie sie funktioniert.« »Stimmt. Nehmen wir also an, Damiani nennt dir so einen

Zeugen. Die Killer können den Mann nicht gleich umlegen, denn sie wissen ja nicht, was er dir erzählt. Vielleicht erzählt er dir, er weiß, daß der Film und das ganze Geheimprotokoll eine Fälschung sind. Dann wird man ihm kein Haar krümmen. Dann ist er wertvoll wie Gold für die Kerle. In Todesgefahr schwebt er erst, wenn er sagt, das Dokument ist echt. Dann legen sie ihn sofort um wie Kramer in Koblenz. Die sind jetzt hinter jedem Rechercheur her, hinter dir und Mercedes natürlich besonders. Danach müssen wir unser Vorgehen einrichten. Wenn du einen Zeugen für die Echtheit des Films gefunden hast – und das gilt natürlich für alle, die nun unterwegs sind und suchen –, dann muß der Mann augenblicklich geschützt werden. BKA und Polizei arbeiten mit uns. Und außerdem – der Zeuge muß so schnell wie möglich vor die Kamera!«

»Wie willst du das fertigbringen?«

»Wir müssen Einsatz-Teams bilden, die sofort an Ort und Stelle sind, nicht erst einen Tag später wie in Koblenz. Das würde leicht gehen, wenn wir die anderen Sender der ARD einweihen und um Mitarbeit bitten. Dann wissen aber zu viele Leute von der Sache. Wir beschränken uns auf Techniker vom Sender Frankfurt. Zum Glück gibt es Flugzeuge. Sollte also bei dieser Damiani-Sache ein lebender Zeuge auftauchen, dann rufst du mich an, bevor du zu ihm fliegst, damit ich ein Team losschicken kann. Die Polizei alarmiere ich aber erst, wenn du weißt, was mit dem Zeugen los ist. Nicht vorher. Die sind fähig und nehmen ihn in Schutzhaft, und er kriegt Angst und sagt nichts. Das Wichtigste ist, daß wir sofort aufnehmen können – in jedem Fall, bei jedem Zeugen.«

»Und wie soll das mit der Polizei im Ausland funktionieren? In Amerika? In Frankreich? In England? Dort hast du doch auch Rechercheure hingeschickt.«

»Das weiß ich noch nicht. Ich telefoniere sofort mit dem BKA. Die müssen ihre Kollegen um Hilfe ersuchen.«

»Dann werden aber auch immer mehr Leute eingeweiht.« »Nicht in die Details. Überlaß das mir! Tu unbedingt, was ich

dir gesagt habe, Danny. Viel Glück ...«

»Mit seiner Bulle ›Inter caetera divinae‹, in der er also die Welt einfach zwischen den spanischen ›katholischen Königen‹ Isabella und Ferdinand einerseits und Johann dem Zweiten von Portugal aufteilte, verursachte Papst Alexander der Sechste eine ungeheuere Gewissenskrise bei denjenigen Theologen und Juristen, die überzeugt waren, daß der Gedanke der Universalmonarchie, dessen Ausgreifen ins buchstäblich Uferlose sie hier vor sich sahen, allen Prinzipien der Lex naturalis, des Naturrechts, widersprach«, sagte Professor Umberto Damiani. Er hatte nun hektische rote Flecken auf der Haut über den Backenknochen. »Was ist das, ›Naturrecht‹?« fragte Mercedes.

»Ein sehr altes Rechtsprinzip, Signora. Seine Wurzeln reichen in das sechste und fünfte Jahrhundert vor Christus zurück. Die großen griechischen Philosophen haben es geschaffen. Das Naturrecht ist das in der vernunftbegabten Natur des Menschen begründete, von Zeit und Ort ebenso wie von jeder menschlichen Rechtsprechung unabhängige Recht. Hauptinhalte dieses Naturrechts sind zum Beispiel der Anspruch auf die Unverletzbarkeit von Leib und Leben, von Eigentum und Ehre, auf persönliche Freiheit sowie auf die Einhaltung geschlossener Verträge. Nach diesem Naturrecht, das selbstverständlich einen gewaltigen Einfluß auf das Völkerrecht und auf die Theologie hatte, war es – ich drücke mich so einfach wie möglich aus – natürlich unerhört, wenn ein Papst sich anmaßte, allein zwei christliche Herrscherhäuser zu Herren der Welt zu machen, die alle Nichtchristen behandeln durften wie Tiere, schlimmer als Tiere ...« Damianis Sprache war leise und seltsam verschmiert geworden, er sah irritiert auf eine Ikone, die im Halbdunkel neben dem Kamin hing. Plötzlich schwieg er, schien zu lauschen, wollte etwas sagen, schluckte schwer, sein Gesicht lief rot an und erhob eine Hand. »Entschuldigen Sie, Herr, aber was hat denn zum Beispiel dieser Kolumbus vor?« Er schwieg wieder, als habe ihn jemand unterbrochen, dann sagte er mit einer Grimasse: »Verzeihung, also: Heiliger Vater, bitte schön! Ich frage Sie, Heiliger Vater, was hat dieser Kolumbus vor?« Wieder das angespannte und zornige Lauschen auf eine für alle anderen unhörbare Stimme, dann wurde Damiani laut: »Missionare mitnehmen! Menschen auf fernen Kontinenten zum christlichen Glauben bekehren! Und dann? Kolumbus will doch nur Gold, Silber und alle anderen Schätze dieser Völker haben, Heiliger Vater, ich bitte Sie!« Plötzlich stand Schweiß auf Damianis Stirn. Er wischte ihn fort. Der Kopf fuhr zu einem der Fenster. Er lauschte erneut, dann sagte er wütend: »Ach, hört, Majestät, Ihr macht Euch ja lächerlich!«

Mercedes sah ihn erschrocken an.

»Mit wem sprechen Sie, Herr Professor?«

»Mit Isabella von Kastilien und Papst Alexander. Sie wollen mir einreden, daß Kolumbus und die Spanier sozusagen als Heilsarmee den neuen Seeweg nach Indien suchen und nur missionarische Interessen haben. Lügner!« schrie er plötzlich wild. Wieder normal fuhr er fort: »So geht das immer. Lügen einfach drauf los. Verdrehen jede geschichtliche Tatsache. Und der Papst ist auch noch beleidigt, wenn ich ihn Herr und nicht Heiliger Vater nenne! Ich werde noch verrückt! Tag und Nacht geht das so. Immer sind die drei da.«

»Die drei?«

»Na, und Isabellas Gatte, Ferdinand von Aragon.« »Jetzt sind sie auch da?« fragte Mercedes verblüfft. »Natürlich, Signora, natürlich. Ich habe doch eben mit ihnen

geredet.«

»Wo sind sie?«

»Der Papst, pardon, der Heilige Vater sitzt neben dem Kamin, Isabella am Fenster und Ferdinand vor der Bücherwand hinter Ihnen, Signora.«

»Sie sehen sie wirklich?« fragte Daniel.

»Nicht deutlich. Ihre Silhouetten. Es ist ja auch halbdunkel dort, nicht wahr? Aber ihre Stimmen höre ich ganz deutlich.« Damiani war jetzt sehr erregt. Er blickte wieder zum Kamin, wo er Papst Alexander Vl. sah, und sagte mit einem bösen Grinsen: »Schön. Kolumbus geht es um einen neuen Seeweg, verehrter

Heiliger Vater ... Aber warum will er dann Vizekönig der zu entdeckenden Länder werden? Lassen Sie, Frau Primaria, ich habe doch keine Angst vor diesem Borgia, dessen Tochter mit dem eigenen Bruder – verzeihen Sie, meine Damen! Na, warum Vizekönig, Heiliger Vater? Jetzt sind Sie still, wie?« Damiani atmete schwer, lehnte sich zurück und zerrte an seiner Krawatte.

Wieder stand ihm Schweiß auf der Stirn. Er keuchte. Daniel sah, daß Sibylle, Werner und Herdegen gleichmütig blieben. Die kennen das, dachte er. Ein armer Schizophrener. »Wirklich, Sie ahnen nicht, was ich mitmache mit den dreien«, sagte der arme Schizophrene. »Natürlich habe ich trotzdem Angst um mein Leben. Ein Borgia, ich bitte Sie! Wie viele Morde hat diese Gesellschaft ...« Er zuckte zusammen, dann schrie er in Richtung Kamin: »Schreien Sie mich nicht an, Heiliger Vater! Wer schreit, hat von vornherein unrecht, das sage ich Ihnen jeden Tag!« Und zu Mercedes gewandt, mühsam um Fassung ringend: »Schreit dauernd, der Mann. Isabella auch, schwere Hysterikerin.« Er schien nun unter den Angriffen beider zu leiden, denn er preßte die Hände gegen die Ohren und rief: »Ich höre Sie nicht! Ich höre Sie nicht! Nicht ein Wort höre ich!« Er ließ die Hände sinken. Offenbar war er sehr erschöpft, denn er redete erst nach einer Weile leise weiter. »Ich gebe ja zu, daß es sich hier um eine äußerst diffizile Angelegenheit handelt. Aber auch um eine grundlegende der Menschheitsgeschichte.« Dann sprach er wieder mit weitausholenden Bewegungen der Arme und italienischem Pathos. »Ich bitte doch, sich diese Frechheit einmal richtig vorzustellen, Signora, Signore! Unter Berufung auf die ihm von Gott verliehene Macht teilt ein Mann die Welt von Pol zu Pol unter zwei ihm wohlgefälligen Königshäusern auf! Warum wohlgefällig? Weil sie stramm katholisch sind und versprochen haben, so viele andere Menschen katholisch zu machen, wie sie nur können. Und zwar durch Unterwerfung, Krieg, Folter, Kerker oder Todesdrohung. Seit den Kreuzzügen ist der katholische Universalismus nicht mehr derart militant aufgetreten wie in dieser päpstlichen Bulle. Der Widerspruch gegen das Verhalten jenes feinen Papstes ist bis in unsere Zeit auch immer wieder sehr deutlich geäußert worden.«

»In erster und bekanntester Weise durch Sie, Herr Professor«, sagte Herdegen lauernd.

»Ja, ich glaube, das darf ich ohne Überheblichkeit sagen«, meinte Damiani. »Ach, aber Sie sehen ja alle, wie sehr ich darunter zu leiden habe, daß ich gewagt habe, Alexander und seine Partner wegen dieser Weltenteilung anzugreifen. Sterben, sterben werde ich noch daran!«

»Wann haben die Herrschaften denn zum erstenmal protestiert?« fragte Daniel höflich. »In dieser brutalen Form, meine ich. Schon während Sie Ihr Werk schrieben? Oder erst nach der Publikation?«

»Ach nein.« Darmani winkte ab. »›Inter caetera divinae‹ erschien neunzehnhundertsiebzig. Bis neunzehnhundertfünfundsiebzig war das Werk in sechsundzwanzig Sprachen übersetzt und hatte mich – ja, das muß man wohl sagen – weltbekannt gemacht. Aber erst zwei Jahre später, im September siebenundsiebzig, meldeten sich die drei zum erstenmal und beschwerten sich – damals noch in einigermaßen verbindlicher Form. Es ist mit den Jahren immer schlimmer und schlimmer geworden und nun kaum noch zu ertragen.«

»Ja«, sagte Sibylle, »im Herbst siebenundsiebzig begannen seine Widersacher damit, den Herrn Professor zu attackieren.«

»Weil ich ›Inter caetera‹ als das, was die Bulle war, dargestellt habe, nämlich als eine Schenkungsurkunde, und weil ich diese ›Weltverschenkung‹ Alexanders als das gebrandmarkt habe, was sie war: eine menschliche Anmaßung von unvorstellbarem Ausmaß.« Darmanis Kopf fuhr in Richtung Kamin herum. Der Mund stand offen. Er lauschte wieder der Stimme des für die anderen unsichtbaren, unhörbaren Borgia-Papstes. Immer heftiger schüttelte Damiani den Kopf. Endlich begann er gehetzt und laut zu sprechen: »Das ist nicht wahr! Das ist einfach nicht wahr, Heiliger Vater! Kommen Sie mir nicht damit! ›Lehensrechtliche Formeln‹! Es stimmt nicht, daß ich diese ›lehensrechtlichen Formeln‹ nicht richtig verstanden habe! Ihre Bulle war eine ›Schenkungsbulle‹, keine ›Lehensbulle‹, ich bleibe dabei! Töten Sie mich! Vergiften Sie mich! Sie haben ja Ihre Erfahrungen!« Er wandte sich zum Fenster. »Nein«, sagte er, »nein und nein und nein, Majestät. Ich weiß sehr wohl, was ›donamus, concedimuset assignamus‹ heißt, wie man die Worte übersetzt, welchen Sinn sie haben. Sie wollen mit diesem rabulistischen Trick nur den Nachweis erbringen, daß hier keine Schenkung, sondern eine Lehensübertragung zum Ausdruck gebracht wurde.«

»Oh, Gott, Danny!« Mercedes sah Daniel entsetzt an. Er ergriff ihre Hand und streichelte sie, während er den Kopf schüttelte und leise sagte: »Du siehst doch, er ist krank.«

Damianis Aufregung steigerte sich nun wieder erschreckend. Sein Blick wechselte zwischen Kamin, Bücherwand und Fenster. Er schien von seinen drei Widersachern gleichzeitig angegriffen zu werden. Seine Stimme war völlig verändert ...

»Also gut ... Gut, ich bin bereit, mich belehren zu lassen, Majestät ... Natürlich kann ich Euch folgen ... Ihr sagt, die Demarkationslinie von Tordesillas sei nicht bloß eine Schiffahrtsgrenze, sondern auch die Abgrenzung der beiderseitigen Lehensbereiche .... Ja, ja ... ja ... Ich habe verstanden, ich bin kein Idiot ...« Der Kopf fuhr in Richtung Kamin herum. Damianis Stimme klang plötzlich triumphierend: »Und damit, mein verehrter Heiliger Vater, haben Sie sich in der eigenen Fußangel gefangen ... Wieso? ... Nun, verzeihen Sie, eines kann doch wohl nicht geleugnet werden: Ihre ganze mühsame lehensrechtliche Deutung der Bulle ändert nichts an dem theokratischen Sachverhalt, daß Sie sich an den entdeckten oder noch zu entdeckenden Gebieten das Dominium, also das Obereigentum anmaßen. Ha! Ich wußte ja, ich würde Sie auch diesmal kriegen! Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, ich kriege Sie jedesmal!« Damiani fiel keuchend in seinem Sessel zurück. Er zerrte die Krawatte ganz fort und öffnete den Hemdkragen. Erst nach einer Weile hatte er sich so weit beruhigt, daß er mit normaler Stimme sprechen konnte. »Jetzt haben Sie einmal so einen kleinen Disput miterlebt, Signora, Signore Ross. Meine lieben Freunde hier kennen das schon. Sie unterstützen mich mit allen Mitteln, die in ihrer Macht stehen. Aber so, wie es aussieht, ist die Macht jener drei größer. Nein, das ist unpräzise. Nicht ihre Macht ist größer, sondern ihre Ausdauer bei der stets wiederholten Rechtfertigung einer Ungeheuerlichkeit ...«

»Eines ungeheuerlichen Betruges«, sagte Mercedes. Damiani sah sie mit schwimmenden Augen an. So präzise und

logisch er sich in seinem Kampf gegen die Stimmen, die ihn quälten, ausgedrückt hatte, so wirr und abstrakt wurden seine Worte nun, da er in die bodenlosen Tiefen der Krankheit glitt. »Betrug«, wiederholte er. »Natürlich Betrug! Betrogen werden Sie, betrogen werde ich, betrogen werden wir alle – von Kindheit, vom Ursprung an. Betrug an der Menschheit! Wir hören ganz anderes, als wirklich geschieht. Was uns gesagt wird, ist Betrug. Was uns gezeigt wird, ist Betrug. Die Verträge, die geschlossen werden von den Hohen und Mächtigen, was sind sie? Betrug! Immer Betrug!« Er wies mit einem Finger auf Daniel. »Sehen Sie, Signore Ross, man hat mir gesagt, daß Ihr Vater im Krieg in Berlin war. Sie wissen nicht, was er dort gemacht hat. Sie meinen, ich könnte es vielleicht wissen, weil Ihr Vater auch mit Völkerrecht zu tun hatte, wie Sie sagen. Nun, lieber Herr Ross, ich ...« Damiani verstummte. Herdegen hatte sich vor Spannung weit vorgeneigt. Der Professor sah ihn abweisend an und wandte sich an Sibylle. Übergangslos sagte er ganz klar und vernünftig: »Ich bin Herrn Ross gerne behilflich. Aber das ist eine rein private Angelegenheit, Frau Primaria, und deshalb kann ich unmöglich in diesem Kreis darüber reden. Wäre es wohl möglich, daß ich mich kurz mit Herrn Ross zurückziehe?« Herdegen sank enttäuscht in seinen Sessel. In den traurigen Augen stand jetzt ein Ausdruck von Zorn.

››Aber selbstverständlich, Herr Professor.« Sibylle stand auf. »Kommen Sie ins Arbeitszimmer meines Mannes! Da können Sie sich ungestört unterhalten.« Sie ging schon voraus. Daniel und Damiani folgten. In dem großen Arbeitszimmer mit den vielen Büchern und dem überfüllten Schreibtisch schaltete sie Licht an. Vor einem Fenster standen ein runder Tisch und vier Stühle. »Hier, bitte, wenn Sie sich setzen wollen!«

»Vielen Dank, Sibylle«, sagte Daniel.

Sie strich über seinen Arm und lächelte. Dann fiel die Tür hinter ihr zu. Die beiden Männer waren allein.

»Sie können mir etwas über meinen Vater sagen?« fragte Daniel. »Ja. Aber ich möchte es nur Ihnen sagen. Die anderen geht es nichts an. Es ist nicht schön, was ich Ihnen zu erzählen habe, Signore Ross. Als ich Ihren Namen hörte, fiel mir die

ganze Geschichte wieder ein.«

»Was für eine Geschichte?«

Wieder einmal warf Damiani die Arme in die Höhe. »Ihr Vater- es tut mir leid für Sie, Signore Ross, aber Sie

wollen ja die Wahrheit wissen ...«

»Natürlich. Unter allen Umständen.«

»Ihr Vater war auch ein Betrüger. Er arbeitete für Betrüger. Betrug, Betrug, da haben Sie es wieder, sehen Sie?«

»Ich verstehe nicht. Wo arbeitete mein Vater? Für wen?« »Er mag Völkerrechtler gewesen sein, aber in Berlin arbeitete

er für den Geheimdienst des Außenministeriums. Für Herrn von Ribbentrop, diesen Erzbetrüger. Ich habe Ihnen gesagt, daß es mit leid tut, Signore Ross ...«

»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, sagte Daniel betont freundlich. »Ich habe vermutet, daß mein Vater in irgendeine dunkle Sache verwickelt war. Ich bin glücklich, wenn ich jetzt durch Sie Gewißheit erhalte. Also für Ribbentrops Geheimdienst hat er gearbeitet. Und woher wissen Sie das, Herr Professor?«

Damiani lachte bitter. »Betrug. Immer Betrug. Die ganze Welt besteht aus Betrug, lieber Signore Ross. Sehen Sie, Völkerrechtler gibt es nicht besonders viele. Ich habe in Berlin für meine Botschaft als Experte gearbeitet. Natürlich hatten deutsche Regierungsstellen ihre eigenen Experten. Auch Ribbentrops Außenministerium, auch sein Geheimdienst. Und wir Völkerrechtler kannten einander alle. Viele waren miteinander befreundet. Ich zum Beispiel mit Professor Emil Kant, einer Kapazität. Eines Abends im Frühjahr vierundvierzig – Ende März muß das gewesen sein, ich habe darüber nachgedacht – erzählte mir Emil in meiner Wohnung von einem weiteren Fall dieses ewigen Betrugs. Wir trafen uns jede Woche. Wir waren wirklich Freunde. Emil konnte Vertrauen zu mir haben, das wußte er. Darum berichtete er mir auch von der Sache. Sie war streng geheim. Hätte ihn sofort den Kopf gekostet, wenn die Nazis erfahren hätten, daß er mit mir darüber sprach. Emil ...« Damiam sah ins Leere und lächelte verloren. Er schwieg, in Gedanken und Erinnerungen versunken.

»Herr Professor!«

»O ja. Natürlich. Entschuldigen Sie! Sehen Sie, Emil arbeitete für Ihren Vater als Experte für Völkerrecht. Er arbeitete auch für andere Stellen, aber meistens für Ihren Vater. Ross. Georg Ross. So hieß Ihr Vater doch, nicht wahr?«

»Ja, so hieß er. Sie haben ein hervorragendes Gedächtnis.« »Hervorragend. Ich merke mir alles. Über Jahrzehnte. Mein

Gehirn hat Millionen Ereignisse und Fakten engrammiert, das kann ich wohl sagen. Dazu kommt, daß diese Sache, die Ihr Vater meinem Freund zur Prüfung gegeben hatte, uns beide sehr aufregte. Emil viel mehr als mich natürlich, ich wußte schon damals einigermaßen, wie es zugeht in dieser Welt. Aber ich gestehe, auch ich war aufgeregt, o ja ...« Wieder glitt Damianis Blick ins Leere. Wieder schwieg er. Erst nach einer Weile fuhr er fort: »Betrug natürlich. Darum handelte es sich. Ein Vertrag zwischen Amerika und der Sowjetunion, in dem die beiden sich die Welt teilten – genauso wie vierzehnhundertvierundneunzig die Spanier und die Portugiesen – nur diesmal ohne den Segen eines Papstes!« Er lachte hüstelnd und rieb die Hände gegeneinander.

»Ein Vertrag zwischen Amerika und der Sowjetunion?« wiederholte Daniel mit einer Stimme, die möglichst ungläubig klingen sollte. »Wann wäre der geschlossen worden? Und wo? Und was hatte mein Vater damit zu tun?«

»Das ist alles sehr unklar, lieber Signore Ross. Ihr Vater ließ meinen Freund Emil kommen und überreichte ihm eine Abschrift dieses Vertrages ... Angeblich war es die Abschrift eines gefilmten Geheimprotokolls, das Ribbentrops Dienst in Teheran an sich gebracht hatte ...«

»In Teheran?«

Wüst tobte jetzt der Nachtsturm um die Villa. Dachziegel klapperten, Holz ächzte, es zog durch die Doppelfenster.

»In Teheran, ja. Da war doch Ende dreiundvierzig diese Konferenz der Großen Drei: Churchill, Stalin und Roosevelt. Und damals wurde angeblich jener Geheimvertrag geschlossen, den Emil auf seine Echtheit prüfen sollte. Oder man kann auch sagen: dessen Fälschung er auf ihre Perfektion hin prüfen sollte. Solche Abkommen werden in einer ganz bestimmten Sprache verfaßt, mit ganz bestimmten Formeln und Regeln, nicht wahr? Ein Fachmann merkt sofort jedes falsche Wort. Und man wollte doch sichergehen, daß der Betrug vollkommen war ...«

»Wer wollte sichergehen, Herr Professor, wer?« »Nun, die Betrüger natürlich, lieber Freund. Entweder war

dieses Protokoll echt – dann betrogen die Amerikaner und die Sowjets die Menschheit. Oder es war von den Nazis gefälscht, mußte aber echt wirken, weil man es für Propagandazwecke einsetzen wollte – dann betrogen die Nazis die Menschheit oder hatten zumindest vor, es zu tun. Auf jeden Fall brauchten sie einen erstklassigen Experten, der ihnen sagte, ob das Protokoll in Stil und Formulierung einwandfrei war. Betrug, wie Sie sehen. Betrug der Alliierten, Betrug der Nazis – das ist doch einerlei, nicht wahr? Emil geriet ganz außer sich, der Gute ... so naiv war er ... Im Gegensatz zu Ihrem Herrn Vater ... Es tut mir leid, ich habe Ihnen gesagt, es tut mir leid, so über ihn reden zu müssen. Aber Betrug war eben der Beruf Ihres Herrn Vaters, nicht wahr? Und wir werden doch von allen betrogen ... und wurden es immer. Wie oft ist diese Welt schon geteilt worden? Wie oft hat man die Menschen schon betrogen? Denken Sie bloß an den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Rußland, den Ribbentrop und Molotow im August neununddreißig unterzeichneten ... Und denken Sie daran, daß Deutschland Rußland dann im Juni einundvierzig, weniger als zwei Jahre später, überfiel ... Betrug ... Betrug ... Die Nazis betrogen ... Betrogen auch die Amerikaner und die Sowjets die Menschen? Und wollten die Nazis diesen Betrug nun der Menschheit präsentieren? Vermutlich! Vermutlich waren auch Kohl und Reagan in diese Sache verwickelt ...« Damianis Blick irrte durch den Raum.

»Herr Professor! Ich bitte Sie! Reagan war damals Schauspieler in Hollywood und Kohl ein vierzehnjähriger Junge!«

»Ach so ...« Nichts konnte Damiani in seiner nun wieder realitätsfremden Argumentation erschüttern. »Nun ja, aber das ist doch ganz ohne Bedeutung! Der Geschichtsablauf ist immer derselbe: Wir werden betrogen! Ich stehe mit allen wichtigen Persönlichkeiten in ständiger Verbindung. Laufend erhalte ich neue Informationen. Betrug. Betrug. Vom Anfang der Welt bis an ihr Ende ...«

Daniel sprach jetzt sehr laut, um Damiani aus seiner Versunkenheit zu reißen. »Und zu welchem Ergebnis ist Ihr Freund gekommen, Herr Professor?«

»Ergebnis?« Damiani sah Daniel verständnislos an. »Nach der Prüfung des Geheimprotokolls, das mein Vater ihm

gab.«

»Wieso? Ach so! Das weiß ich nicht, lieber Freund.« »Warum nicht?«

»Ich mußte im Mai nach Rom zurück. Im Mai wurde Emils Villa am Savignyplatz ausgebombt, hörte ich dann noch. Seine Frau und seine Kinder kamen ums Leben, er selber ins Krankenhaus, schwer verletzt ... Sie wissen nicht, wie es damals zuging in Berlin mit diesen Luftangriffen ... Grauenhaft ... Ich habe jedenfalls niemals mehr mit Emil über das Ergebnis seiner Prüfung gesprochen ... Wie gesagt, erst als ich Ihren Namen hörte und daß Ihr Vater in Berlin gearbeitet hat während des Krieges, fiel mir die ganze Sache wieder ein ...«

Daniel sagte: »Und wenn es einen solchen Vertrag zwischen der Sowjetunion und Amerika wirklich gab – und noch gibt?«

»Ach!« Damiani winkte müde ab. »Dann gibt es ihn eben, lieber Freund. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist das sogar durchaus denkbar. Denn es läge in der Natur der Welt, nicht wahr? Betrug, Betrug ... So ist diese Welt eben! Was meinen Sie, was passieren würde, wenn sich herausstellte, daß es einen solchen Vertrag tatsächlich gibt? Nichts, lieber Freund, nicht das geringste! Glauben Sie mir: Es würde keinen Menschen interessieren. Weil wir doch andauernd betrogen werden ...« Damiani sank in sich zusammen. Er lächelte irre. Es folgte eine lange Pause, die erfüllt war vom Toben des Sturms draußen. Endlich fragte Daniel vorsichtig: »Und ... lebt Ihr Freund noch, Herr Professor?«

Damiani sah langsam auf.

»Welcher Freund?« Er war weit, weit weg gewesen mit seinen Gedanken, in einer anderen Welt, in seiner Welt.

»Der, von dem Sie mir gerade erzählt haben. Der von meinem Vater dieses Dokument zur Prüfung erhielt. Dieser Professor Emil Kant.«

»Oh, Emil meinen Sie!« Damiani hatte plötzlich den Gesichtsausdruck eines Kindes. »Neunzehnhundertsiebzig lebte er noch. Da erschien mein Buch, und er gratulierte mir. Wir hatten seit dem Krieg jeden Kontakt verloren, wissen Sie. Aber als mein Buch in Italien und unter Fachkollegen gewaltiges, ja, das muß man sagen, gewaltiges Aufsehen erregte, da machte sich Emil die Mühe, meine Adresse in Rom ausfindig zu machen. Ich wohnte damals in der Via Cortina d’Ampezzo. Wir begannen einen regen Briefwechsel, und Ende einundsiebzig besuchte er mich sogar. Er war damals – lassen Sie mich überlegen – vierundsechzig. Ja, Jahrgang neunzehnhundertsieben. Als neunzehnhundertdreiundsiebzig die deutsche Übersetzung von ›Inter caetera divinae‹ erschien, lud mich die Völkerrechtliche Fakultät der Freien Universität Berlin ein und verlieh mir eine Auszeichnung. Die Laudatio hielt mein alter Freund Emil. Es war sehr ergreifend. Oktober dreiundsiebzig, ja. Da sah ich ihn zum letztenmal. Danach war ich dauernd auf Vortragsreisen mit diesem Buch und hatte wahnsinnig viel zu tun. Unser Kontakt brach wieder ab. Ob Emil also heute noch lebt, das weiß ich nicht. Ich habe nie wieder von ihm gehört. Allerdings habe ich auch nie vernommen, daß er gestorben ist. Siebenundsiebzig wäre er heute. Damals, als ich in Berlin geehrt wurde, lebte er mit einer Haushälterin in einer Villa am Schwanenwerderweg beim Wannsee, da in dieser kleinen Bucht. Kennen Sie Berlin?«

»Ja.«

»Schwanenwerderweg. Das ist noch Westsektor. Idyllisch da draußen. Dreihundertfünfundzwanzig, glaube ich. Irgendwas mit dreihundertzwanzig. Warum? Wollen Sie Emil sprechen?«

»Ja, Herr Professor. Sie sind im Mai vierundvierzig aus der Stadt fortgezogen. Unsere Verbindung mit meinem Vater brach im März fünfundvierzig ab. Vielleicht weiß Ihr Freund, was aus ihm geworden ist und ob er wirklich fünfundvierzig starb und

wie und wo.«

»Sie haben recht«, sagte Damiani. »Emil müßte es wissen. Und auch, was aus der Teheran-Sache geworden ist. Seltsam, wir haben nicht einmal darüber geredet, als ich dreiundsiebzig in Berlin war. Würde mich interessieren. Grüßen Sie ihn herzlich! Er soll mir wieder schreiben. Erzählen Sie ihm ruhig, wie wir uns kennengelernt haben und daß es mir nicht so ganz gut geht, leider. daß ich diese gräßlichen Scherereien mit Alexander und Isabella und Ferdinand habe. Erzählen Sie ihm alles. Er wird Ihnen auch alles über Ihren Vater erzählen. Wenn er noch lebt ...«

Die Stehgeigerin Franzi müssen Sie gehört haben! Mit diesen Worten begann der Innentext eines in den Farben

Dunkelrosa, Grau und Weiß gehaltenen Prospekts, der auf dem Umschlag eine junge, Geige spielende Frau zeigte. Ihr Kleid im Stil der Jahrhundertwende war tief ausgeschnitten. Rot waren Haare und angedeutetes Gesicht, rot war die Geige, rot das Dekollete. Der Maler Reznicek hat solche Frauen vor dem Ersten Weltkrieg dargestellt, dachte Daniel Ross. Ich habe viele in alten Bänden des SIMPLICISSIMUS gesehen. Welcher Charme. ..

»... ja, Fräulein, richtig!« Er telefonierte am Schreibtisch im Salon des Appartements vierhundertneunzehn/zwanzig im Hotel RITZ, nahe dem Schwarzenbergplatz, und sah zu den Lichtern des flutenden Abendverkehrs auf der breiten Wiener Ringstraße hinab. Das Appartement war mit Stilmöbeln eingerichtet. Eine Vase voll Blumen der Direktion und eine zweite, kleinere voller Mimosen standen auf dem Schreibtisch. Nebenan im Schlafzimmer hörte Daniel Mercedes hin und her gehen. Sie waren vor einer Stunde angekommen. Daniel sprach mit einer Telefonistin des Hotels. »Professor Doktor Emil Kant, Berlin-West, Schwanenwerderweg, die Hausnummer um dreihundertzwanzig herum ...«

Wiener Jause mit den Säßen Wiener Mädeln« im Cafe Ritz täglich von 17 bis 19 Uhr, stand über der Zeichnung. Daniel wohnte immer im RITZ, wenn er in Wien zu tun hatte, er liebte dieses Hotel und kannte es seit vielen Jahren ebenso wie das berühmte angeschlossene Kaffeehaus, für welches der Prospekt warb.

»Sie rufen zurück, danke sehr!« Er legte den Hörer auf, faltete den Prospekt wieder auseinander und las noch einmal abwesend: Die Stehgeigerin Franzi müssen Sie gehört haben! Und die temperamentvolle Tschinellen-Fifi ...

Es war Freitag, der 9. März 1984, gegen 20 Uhr. Vor zwei Stunden hatte Daniel mit Mercedes das Sanatorium Kingston bei Heiligenkreuz verlassen und vielen Menschen für ihre Mühe und Hilfe gedankt: Ärztinnen, Ärzten, Schwestern, Pflegern, der dicken Oberschwester Magdalena, dem bleichgesichtigen Doktor Herdegen. Zuletzt standen Mercedes, er, Sibylle und Werner vor dem Eingang der Klinik neben einem Taxi im Schnee.

»Dir danke ich natürlich am allermeisten, Sibylle. Du hast mich wieder hingekriegt. Du bist wunderbar. Es gibt keinen besseren Arzt für mich ...«

»Du wirst keinen Arzt brauchen, wenn du einmal hältst, was du versprichst, und nicht mehr als zwei Tabletten Amadam täglich nimmst. Ich warne dich, mein Lieber! Ewig kann das nicht so weitergehen mit deiner Tablettenschluckerei. Diesmal warst du schon arg kaputt, ich sage dir die Wahrheit.«

... Zusammen mit den anderen Stars der legendären Wiener Damenkapelle bezaubern die beiden Sie mit einem Melodienreigen von Strauß bis Lanner, Ziehrer, Stolz und Lehar ...

»Ich werde aufpassen, Sibylle«, sagte Mercedes. Sie redeten immer weiter, um den endgültigen Abschied hinauszuzögern. Alle vier waren in einer wehmütigen, sentimentalen Stimmung. »Das ist lieb von Ihnen, Mercedes, aber das können Sie nicht. Das kann nur dieser Haderlump allein, und das weiß er. Hat er immer gewußt ...«

Daniel umarmte Sibylle und küßte sie auf beide Wangen. Sie schlug ein Kreuz über seiner Stirn.

»Was soll das?« fragte er. »Ich ...«

»Du glaubst nicht an Ihn, ich weiß«, sagte Sibylle. »Aber ich glaube an Ihn. Er soll dich beschützen. Vor zwölf Jahren standen wir auch so voreinander – allein. Spät nachts vor dem Wohnturm beim Allgemeinen Krankenhaus. Da hast du ein Kreuz über meiner Stirn geschlagen und gesagt, Er soll mich beschützen, und ich habe gesagt: ›Was soll das? Du glaubst doch nicht an Ihn!‹ Und du hast geantwortet: ›Ich nicht, aber du.‹ Erinnerst du dich?«

»Ja, Sibylle«, sagte er. »Genau erinnere ich mich.« »Laß nicht wieder zwölf Jahre vergehen!« sagte Werner.

»Mercedes, wir machen Sie verantwortlich dafür, daß der Kerl sich von jetzt an immer wieder meldet – mit Ihnen! Ruft an, bitte! Wo ihr auch seid! Wir machen uns doch Sorgen um euch!«

»Ja, Werner«, sagte Mercedes.

»Bleibt gesund! Bleibt glücklich! Bleibt zusammen! Und verliert nie den Mut in dieser beschissenen Zeit!« sagte Daniel und sah dabei Sibylle an.

Die schloß kurz die Augen. »Du auch nicht, Danny. Und paß auf dich auf, bitte!«

... Dazu Kaffee, Tee oder heiße Schokolade wie anno dazumal. Wählen Sie ein Stück Mehlspeise, Brioche, Kuchen oder Torte – ganz wie es Ihnen gefällt. (Und alles zu einem Inklusivpreis von S 65,-) ...

Schließlich stiegen sie dann sehr schnell ein. Das Taxi fuhr los. Daniel blickte zurück. Werner und Sibylle standen unter der Lampe des Eingangs und winkten.

Daniel hatte über Colledo ein Appartement im RITZ bestellen lassen: Vierhundertneunzehn/zwanzig. Er bekam stets vierhundertneunzehn/zwanzig, so lange er zurückdenken konnte. Es war »sein« Appartement geworden in der langen Zeit. Alle Portiers und Rezeptionisten begrüßten ihn jedesmal erfreut. Sie waren auch diesmal besonders zuvorkommend und hilfsbereit. Er schüttelte viele Hände und umarmte die einzige Dame der Rezeption, seine gute alte Freundin Edith. Sie kannten einander seit mehr als zwanzig Jahren. Edith, liebenswürdig wie stets, trug eines ihrer schwarzen, hochgeschlossenen Kleider und ihre schöne Türkiskette und war großartig frisiert und dezent geschminkt wie immer, und sie fuhr mit Mercedes und ihm in den vierten Stock empor, öffnete vierhundertneunzehn/zwanzig, drehte alle Lichter an und wünschte einen angenehmen Aufenthalt. Als sie gegangen war, hatte Daniel den Umschlag mit einem Willkommensgruß entdeckt, der an der kleinen Vase auf dem Schreibtisch lehnte. Die Mimosen waren eine Aufmerksamkeit Ediths. Sie freute sich so sehr, Daniel wiederzusehen, schrieb sie.

Das Telefon vor ihm schrillte. Schnell hob er ab. »Ja?«

»Hier ist die Zentrale, Herr Ross. Sie wollten die Nummer von diesem Professor Emil Kant ...«

»Haben Sie sie bekommen?«

»Ja, Herr Ross.« Das Mädchen nannte sie. Er notierte die Zahlen auf einen Block, der vor ihm lag. »Und die genaue Adresse ist Schwanenwerderweg dreihundertsiebenundzwanzig.«

»Danke vielmals, liebes Fräulein.« Daniel legte auf. Es war warm im Appartement. Er hatte sich gleich nach dem Eintreffen umgezogen. Nun trug er Pyjama und Morgenmantel.

»Ich hab ihn!« rief Daniel.

»Fein!« kam Mercedes’ Stimme aus dem Schlafzimmer. »Ruf gleich an! So schnell haben sie unser Telefon bestimmt noch nicht angezapft.«

Er wählte die Berliner Vorwahl und dann Kants Nummer. Es dauerte lange, bis jemand abhob. Eine weibliche Stimme meldete sich: »Hier bei Professor Kant!«

»Guten Abend! Ich spreche aus Wien. Mein Name ist Daniel Ross. Wäre es möglich, den Herrn Professor zu sprechen?«

»Ross, sagen Sie? Aus Wien?«

»Ja.«

»Einen Moment, bitte.« Ich komme weiter, dachte Daniel. Er fuhr sich aufgeregt durch das weiße Haar.

Eine Männerstimme: »Hier Kant.«

»Verzeihen Sie bitte die Störung am Abend, Herr Professor, es ist sehr wichtig für mich. Ich hoffe, von Ihnen Aufschluß über das Schicksal meines Vaters zu bekommen.«

»Wie war Ihr Name?«

»Ross. Daniel Ross. Mein Vater hieß Georg Ross und arbeitete im Krieg für den Dienst Ribbentrop. Sie kannten ihn ...«

»Wer sagt das?«

»Professor Damiani.«

»Umberto? Aber wieso ...« Daniel berichtete kurz von seinem Gespräch mit Damiani. »Erinnern Sie sich noch an diese Sache, Herr Professor?« Stille.

»Herr Professor!«

»Ja.«

»Ich fragte ...«

»Ich kenne Sie nicht, Herr Ross. Sie sagen, Sie sprechen aus Wien. Ich glaube nicht, daß wir das am Telefon ...«

»Natürlich nicht! Darf ich zu Ihnen nach Berlin kommen?« Wieder Stille.

Dann sagte Kant: »Wenn es für Sie so wichtig ist, Herr Ross ... bitte, kommen Sie!«

»Wann?«

»Wann Sie wollen. Ich habe Zeit.«

»Ginge es schon morgen? Ich bin in Eile. Morgen abend?« »Meinetwegen. Sagen wir um sieben?«

»Sieben ist wunderbar. Ich danke Ihnen sehr, Herr Professor!« Daniel verabschiedete sich und legte auf. Danach wählte er die Nummer der Portiers. Er kannte den, der sich melde, an der Stimme.

»Herr Albert, hier ist Ross.«

»Habe die Ehre, Herr Ross. Was kann ich für Sie tun?« »Ich brauche Tickets. Wir fliegen morgen nach Berlin.« »Da gehen mehrere Maschinen. Müssen Herr Ross in

München oder in Frankfurt umsteigen. Direktflüge gibt es nicht.«

»Weiß ich. Ich habe um sechs Uhr eine Verabredung.« »Momenterl, hier ist der Flugplan. Um sechs Uhr, sagen Sie?

Da würde ich vorschlagen, Sie nehmen die AUA um elf Uhr dreißig nach München. Besonders günstig wegen dem Anschluß. Sind Sie mit PAN AMERICAN schon um halb vier in Berlin-Tegel.«

»Ausgezeichnet. Aber jetzt ist es schon Abend. Das Stadtbüro der AUA ...«

»Hat geschlossen. Ich reserviere draußen am Flughafen. Herr Ross bezahlen die Tickets dann morgen.«

»Und wenn der Flug ausgebucht ist?«

»Nicht jetzt im Winter. Die Maschinen sind halb leer. Können Herr Ross ganz beruhigt sein. Einmal für Sie und einmal für die gnädige Frau. Ich kümmere mich sofort darum.«

»Danke, Herr Albert!« Daniel erhob sich ein wenig taumelig. Wenn ich jetzt Glück habe, dachte er ... Wenn ich jetzt Glück habe ...

Er ging durch den Salon und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Hier brannte nur eine Nachttischlampe. Mercedes lag nackt auf dem Bett. Er sah ihren braungebrannten Körper, die großen, schönen Brüste, die langen Beine, den flachen Bauch und das dunkle Dreieck der Scham.

»Komm, Danny!« sagte Mercedes. »Komm zu mir! So lange habe ich mich danach gesehnt.«

Später.

»Es war wunderbar. Es war so wunderbar und so stark wie noch nie.«

»Für mich auch, Mercedes.«

»Bei den meisten Menschen ist das erste Mal gar nicht wunderbar. Weil sie sich noch nicht richtig kennen. Darum ist es gut, daß wir so lange warten mußten, Danny. In dieser Zeit haben wir einander genau kennengelernt. Deshalb war es so großartig. Du bist sehr geliebt, weißt du das?«

»Und du erst, Mercedes. Und du erst.«

»Manchmal funktioniert es bei einem Mann zuerst überhaupt nicht, so sehr beide sich auch bemühen, hat mir eine Freundin gesagt. Die Frau kann dann besonders glücklich sein.«

»Aha.«

»Ja, weil das nämlich zeigt, daß der Mann sie ehrlich und wirklich liebt. Zu ehrlich und wirklich. Er will es zu sehr und zu heftig. Darum funktioniert es nicht. Das ist immer ein gutes Zeichen, habe ich gehört.«

»Da wärest du also auch bei mir besonders glücklich gewesen, wenn es nicht funktioniert hätte, Mercedes?«

»Ganz ungeheuer.«

»Tut mir leid, daß ich das nicht früher gewußt habe. Es hätte nur nichts genützt, fürchte ich.«

»Ja, das fürchte ich auch.«

»Aber, du glaubst mir, daß ich dich liebe, obwohl es funktioniert hat?«

»Ja«, sagte sie ernst. »Vielleicht reden das, was mir meine Freundin erzählt hat, manche Männer den Frauen auch nur ein. Als Ausrede. Und du hast dabei gar nicht an Sibylle denken müssen?«

»Nein, Mercedes.«

»Ich weiß es. Ich weiß es, Danny. Ich hätte es gemerkt, bestimmt. Es wäre nicht so wunderbar gewesen. Jetzt glaube ich, daß du mich wirklich liebst. Bis heute hatte ich Angst.«

»Angst wegen Sibylle?«

»Ja. Sie ist so großartig. Ich habe in den letzten Tagen immer gedacht, du mußt sie einfach noch lieben, was du auch sagst. Jetzt weiß ich, daß ich ruhig sein kann.«

»Ganz ruhig, Mercedes.« Er sah etwas auf dem Nachttisch. »Was soll ... Das ist doch die alte Platte!«

»Die uns Sibylle geschenkt hat, ja. Euer Lied einmal. Unser Lied jetzt. Es soll uns beschützen. Uns und unsere Liebe. Ich habe die Platte aus Aberglauben da hingelegt. Ich dachte, wenn dieses Lied so nahe ist und es wunderbar wird, dann liebst du mich ehrlich und wirklich.«

»Na, siehst du!«

»Aber ich wünsche uns nicht nur etwas Glück. Ich wünsche uns alles Glück, das wir kriegen können. Ich kann nie gar zu glücklich werden. Und Heimweh nach dem Traurigsein hätte ich auch nie ...«

»Weißt du, die Worte sind aber so schön.«

»Ja, das stimmt natürlich ...« Sie neigte sich über ihn und umarmte ihn wild. »O Danny, Liebster, komm wieder zu mir ...«

Um 23 Uhr löste der Nachtportier Felix Pokorny die Vorgänger von der Nachmittagsschicht ab. Zu dieser Zeit saßen noch viele Gäste in der Bar und in der großen hinteren Halle. Felix Pokorny war seit Jahren in Pension. Er hatte sehr lange im RITZ gearbeitet. Nun wurde er von seinen früheren Kollegen im RITZ und in den anderen Ringstraßen-Hotels immer gerufen, wenn einer der festangestellten Nachtportiers krank geworden war. Dann sprang Pokorny für ihn ein. Seit drei Nächten vertrat er im RITZ die beiden Kollegen, die stets gemeinsam die letzte Schicht hatten, nun aber mit schwerer Grippe zu Bett lagen.

Pokorny war ein kräftiger, großer Mann, der allein lebte. Seine Frau hatte er vor langer Zeit verloren, die Kinder waren groß und schon verheiratet. Pokorny sprang gerne für erkrankte Kollegen ein. Nicht wegen des Geldes. Er hatte zu lange in

großen Hotels gearbeitet. Ihre seltsame Faszination hielt ihn für immer gefangen.

Gegen ein Uhr morgens leerten sich Halle und Bar. Die Gäste gingen auf ihre Zimmer. Viele nahmen Ausgaben der Morgenzeitungen mit, die Träger gebracht hatten. Um zwei Uhr war es totenstill geworden. Ein Hausdiener döste bei den Gepäcklifts in einem Sessel. Pokorny, der die großen gläsernen Flügel der Eingangstür versperrt hatte, saß in der kleinen Telefonzentrale hinter dem langen Tresen des Empfangs und las in einem Buch mit ausgewählten Briefen von Ernest Hemingway gerade den Satz: »Die Welt ist so voll von vielen Dingen, daß ich sicher bin, wir sollten alle glücklich wie die Könige sein. Wie glücklich sind Könige?« Da schrillte die Eingangsglocke.

Pokorny erhob sich, ging durch die Halle und sah vor der Glastür einen Mann stehen, der einen pelzgefütterten Dufflecoat trug. Hinter ihm parkte ein Wagen auf der Seitenfahrbahn der Ringstraße. Der Mann war groß und hager, sein blondes Haar kurz geschnitten. Nun lächelte er, während Pokorny die eine Hälfte des gläsernen Eingangs öffnete und ihn eintreten ließ. »Guten Abend, mein Herr.«

»Abend«, sagte Wayne Hyde. »Endlich! Großer Gott, was für eine Nacht! Ich habe schon gedacht, ich komme nie mehr nach Wien.«

»Was ist denn passiert?« fragte Pokorny.

»Rechter Hinterreifen geplatzt. Auf der Autobahn. Bei hundertzwanzig.«

»Jessas«, sagte Pokorny. »Da haben der Herr vielleicht ein Massel gehabt.«

»Kann man sagen. Und keinen Reservereifen. Und bis der Wagen abgeschleppt war!«

»Wo ist es denn passiert?«

»Vor Sankt Pölten.«

»Jessas«, sagte Pokorny. »Müssen todmüd sein, der Herr.« »Bin ich, ja. Sie haben doch hoffentlich ein Zimmer für

mich?«

»So viele Sie wollen. Wenn Sie mir folgen, bittschön ...« Pokorny ging voraus. Wayne Hyde zog ein Taschentuch aus dem Dufflecoat und eine kleine Flasche, öffnete sie geschickt und tränkte das Tuch kräftig mit Äther. Er trat rasch dicht hinter Pokorny und preßte ihm das Tuch mit abgewinkeltem Arm auf Nase und Mund. Der alte Portier wehrte sich kurz, dann sackte er zusammen. Hyde ließ ihn auf den Teppich der Halle gleiten. Von den Gepäcklifts her kam der verschlafene Hausdiener, den die Nachtglocke geweckt hatte. Er rieb sich die Augen.

»Was soll ...« Weiter kam er nicht. Hyde preßte auch ihm schon das Tuch aufs Gesicht. Der Hausdiener machte ein paar heftige Armbewegungen, danach sank er wie Pokorny auf den Teppich und blieb bewußtlos liegen.

Hyde bewegte sich schnell und geschmeidig. Er huschte hinter den langen Tresen des Empfangs und ließ den Blick über die große schwarze Tafel mit den vielen verschiedenfarbigen Kärtchen schweifen, auf denen Namen standen. Es war der Zimmerbelegungsplan. Hyde fand, was er suchte.

419/20 – DANIEL ROSS.

Nun trat er in das Büro hinter der Schlüsselwand, schaltete das Neonlicht an und sah sich um. Da stand ein Computer. Auf dem Schreibtisch daneben erblickte Hyde einen Ablagekasten mit den Rechnungen der Gäste und den dazugehörenden Belegen. An dem Rechnungsblatt für das Appartement vierhundertneunzehn/zwanzig hingen nur zwei Belege: einer vom Etagenservice und ein vom Computer ausgedruckter Streifen mit Angaben über ein Telefongespräch, angewählte Nummer, Sprechdauer vier Minuten und die Gebühr. Hyde schrieb die Berliner Nummer schnell auf ein Stück Papier, das er einsteckte. Die Rechnung mit dem Computerstreifen legte er ordentlich in den Kasten zurück. Er drehte das Neonlicht aus, verließ das Büro und trat an die Schlüsselwand. Im Fach vierhundertneunzehn fehlte der Schlüssel, aber eine Karte steckte darin. Hyde nahm sie heraus und las, was darauf stand.

Er nickte zufrieden und schob die Karte wieder zurück. Danach verließ er das Hotel, wobei er umsichtig über den reglosen Pokorny stieg. Gleich darauf saß er neben dem Fahrer des Wagens, der noch immer vor dem Eingang parkte.

»Wohin?« fragte der bleiche Dr. Herdegen. »Rechte Wienzeile zehn«, sagte Hyde.

Zu dieser Zeit – es war 2 Uhr 15 früh am Samstag, dem 10. März telefonierte Conrad Colledo, Hauptabteilungsleiter für Politik und Zeitgeschehen beim Sender Frankfurt, im Arbeitszimmer der Villa in der Siesmayerstraße am großen Grüneburgpark zu Frankfurt gerade mit einem seiner Rechercheure in Los Angeles. Dort war es erst 17 Uhr 15, die Zeitdifferenz betrug neun Stunden. Colledo machte einen erschöpften Eindruck.

»Um also zusammenzufassen, Chef«, drang die Stimme eines jungen Mannes an Colledos Ohr: »In den letzten zwei Tagen waren wir dauernd zwischen Washington und Los Angeles unterwegs. Sieben Mann. Es gibt hier den C.C.A. und die A.C.A., den ›Club der Kameraleute Amerikas‹ und die ›Vereinigung amerikanischer Kameraleute‹. Nach langem Hin und Her haben sie uns ihre Mitgliederlisten aus dem Krieg gezeigt. Fast jeder Kameramann ist da drin, die guten sowieso. Na, und die Brüder in Teheran waren doch bestimmt erstklassig.«

»Bestimmt, Pit. Weiter!«

»Jetzt haben wir die komplette Übersicht. Am elften Dezember einundvierzig erklärten Italien und Deutschland Amerika den Krieg. Wir haben deshalb überprüft, wie viele und welche Mitglieder der beiden Vereinigungen zwischen einundvierzig und sechsundvierzig Militärdienst leisteten. Es waren zweitausendsechshundertsiebenundfünfzig. Ja, uns ist auch ganz schlecht geworden. Beim Verteidigungsministerium in Washington haben sie uns außerordentlich höflich behandelt, aber Einblick in die Stammrollen bekamen wir nicht. Wir versuchten wirklich jeden Trick, immer wieder. Einen alten Archivar haben wir schließlich so weit gekriegt, daß er wenigstens versuchen wollte, uns zu sagen, auf welchen Theatres of War, auf welchen Kriegsschauplätzen, oder zu welchen besonderen Aufgaben die Männer eingesetzt worden sind.«

»Und?«

»Der alte Herr hat einen Autounfall gehabt. Heute vormittag. Bevor er uns etwas sagen konnte. Wurde überfahren auf einem Zebrastreifen. Ein Wagen raste durch und erwischte ihn. War sofort tot.«

»Und der Wagen?«

»Fahrerflucht. Bis jetzt keine Spur, sagt die Polizei. Die Nummernschilder waren so verdreckt, daß Zeugen nichts erkennen konnten. Klarer Fall, wie?«

»Völlig klar«, sagte Colledo. »Scheiße.«

»Wir haben über alles eine Dokumentation gedreht. Dann haben wir herausbekommen, wie viele von den über zweitausendsechshundert Mitgliedern der beiden Vereinigungen, die damals eingetragen waren, heute noch leben. Eintausendneunhundertachtundneunzig. Arbeiten natürlich nicht mehr alle. Und die, die arbeiten, sind nicht alle in Hollywood, sondern auch an der Ostküste oder bei Fernsehstationen. Praktisch im ganzen Land. Die nicht mehr arbeiten, auch.«

»Versucht, sie alle zu finden!«

»Chef, ich habe gesagt, es gibt noch eintausendneunhundertachtundneunzig!«

»Hab’s gehört. Ihr sollt sie alle suchen.«

»Das dauert ewig!«

»Dann dauert’s eben ewig!«

Hinter Colledo hing ein Bild seiner kleinen Tochter Kathi, die im vergangenen Jahr gestorben war.

»Fast zweitausend Kameramänner! Wir sind sieben! Kommen auf jeden von uns rund dreihundert! Das ist unmöglich, das müssen Sie doch zugeben, großer Gott!«

»Ich schicke euch noch zehn Jungs rüber.«

»Aber das ist doch verrückt, Chef!«

»Weißt du, hinter was wir her sind, Pit?«

»Natürlich, Chef.«

»Dann mosere nicht herum!«

»Wie Sie befehlen, Chef. Werden wir eben alle noch meschugge.«

»Werdet ihr eben alle noch meschugge. Oder ihr findet die richtigen Männer.«

»Nie, Chef, nie! Wenn wir – Gott behüte – nahe genug an die rangekommen sind, haben die auch Autounfälle. Haben sie vielleicht schon gehabt. Oder eine Waffe ist ihnen beim Reinigen losgegangen. Oder ...«

»Pit?«

»Ja, Chef?«

»Halt’s Maul. Tu, was ich sage! Und bleib’ in Verbindung! Gute Nacht!«

Colledo legte auf und stützte den Kopf in die Hände. Also auch nichts, dachte er. Nichts und nichts. Überallhin habe ich meine besten Leute geschickt. Ins Institut für Zeitgeschichte nach München, ins Landesarchiv nach Berlin. In Koblenz, ja, da hätten wir beinahe Glück gehabt. Beinahe. Sie haben den armen Hund aus dem Dokumentationszentrum erschossen und das Arbeitsjournal verschwinden lassen. Sonst? Sonst nichts. Überhaupt nichts. Nichts im British War Museum in London. Nichts im Archive de la Seconde Guerre mondiale in Paris und in allen anderen Archiven. Nichts in den Archiven von Washington. Nichts, nichts, nichts. Danny hat angerufen. Aus Wien. Wenigstens er hat jemanden ausfindig gemacht: den Gutachter des Geheimprotokolls. Fliegt heute nach Berlin. Ich habe schon ein Team raufgejagt. Das BKA ist verständigt. Vielleicht ...

»Conny!« Er sah auf. Lisa, seine kleine, zarte Frau, war in den Raum gekommen – barfuß und im Nachthemd. Ihr blondes Haar war zerzaust. »Willst du die ganze Nacht arbeiten? Es ist halb drei.«

Sie war zu ihm getreten und legte die Arme um seine Schultern. Er küßte ihre zerschnittenen Handgelenke.

»Ich komme schon«, sagte er.

»Ist es diese Geschichte, von der du mir nichts erzählen willst?«

»Ich kann nicht, Lisa, ich kann nicht.«

Die kleine Frau begann plötzlich zu weinen. Er versuchte, sie zu trösten und zu beruhigen, aber es dauerte lange, bis es ihm halbwegs gelungen war. Sie gingen zu Bett. Lisa war bald eingeschlafen. Conrad Colledo lag mit offenen Augen neben ihr und lauschte den regelmäßigen Atemzügen seiner Frau. Er fand keine Minute Schlaf in dieser Nacht.

Mercedes und Daniel mieteten am Flughafen Tegel einen Leihwagen und kamen gegen 16 Uhr 30 in das Hotel KEMPINSKI am Kurfürstendamm. Der Haupteingang befand sich in der Fasanenstraße. Daniel, der mit dem Volvo von der Hardenbergstraße her kam, parkte ihn und betrat mit Mercedes die große Hotelhalle. Hausdiener kümmerten sich um ihr Gepäck. Der Chefportier Willi Ruof, ein besonders freundlicher und hilfsbereiter Riese, der aus Bayern stammte, begrüßte Daniel herzlich. Die beiden kannten einander seit vielen Jahren, denn wo immer möglich, stieg Daniel stets in denselben Hotels ab. Auch im KEMPINSKI hatte Daniel sein ständiges Appartement: sechshundertsechs/sieben.

Er machte Mercedes mit Ruof bekannt, und sie plauderten ein paar Minuten. Tags zuvor war eine polnische Verkehrsmaschine der staatlichen Gesellschaft LOT von drei Männern nach Westberlin entführt worden und auf dem Flughafen Tempelhof gelandet. Die Maschine hatte sich auf einem Inlandflug befunden. Als die Passagiere begriffen, wo sie sich befanden, entschlossen sich elf von ihnen, gleich den drei Entführern im Westen zu bleiben und um politisches Asyl nachzusuchen. Wie bei allen derartigen Zwischenfällen, und wenn es die schlimmsten waren, gab es natürlich sofort einen witzigen Kommentar der Berliner.

»Wissen Sie, was LOT heißt, Herr Ross?« fragte Chefportier Ruof. »Landet ooch Tempelhof ... Und eine Nachricht für Sie!« Ruof übergab Daniel ein Kuvert und wünschte einen angenehmen Aufenthalt.

Im Lift riß Ross den Umschlag auf und las die Nachricht. »Was ist?« fragte Mercedes.

Daniel sah auf den jungen Mann, der sie nach oben brachte, und reichte Mercedes den Bogen.

»Team abrufbereit im Hotel STEIGENBERGER«, las sie und danach einen ihr unbekannten Namen und eine Telefonnummer. Das Appartement in Berlin gefiel Mercedes besonders gut. Es war noch genügend Zeit. Daniel bestellte Tee. Während sie ihn tranken, suchte er auf einem Stadtplan den besten Weg hinaus zum Wannsee. Er kannte sich gut in der Stadt aus, doch es war noch früh im Jahr und schon zeitig dunkel.

Mercedes wurde immer unruhiger. Sie hatte eingesehen, daß sie Daniel nicht begleiten konnte. Jede Erklärung hätte Professor Kant nur unsicher gemacht und beunruhigt. Er erwartete eine Person: den Sohn des Mannes, mit dem er im Krieg zusammengearbeitet hatte. Daniel hatte vorgegeben, erfahren zu wollen, was Kant über das Schicksal seines Vaters wußte. Da war es unmöglich, dem Professor eine argentinische Stieftochter zu präsentieren. Man hätte ihm dann gleich von Anfang an die Wahrheit sagen müssen. Und eben das wollten beide nicht. »Keine Angst«, sagte Daniel beim Abschied. »Es passiert nichts. Da draußen ist alles voller Polizei, das hat Conny veranlaßt. Die greifen ein beim geringsten Verdacht, daß etwas nicht stimmt. Und das Team kommt auch gleich, wenn ich mit dem Professor über das Grundsätzliche gesprochen habe.«

»Ich habe trotzdem Angst, Danny, schreckliche Angst ...« Sie klammerte sich an ihn. Er küßte sie und machte sich behutsam frei. »Du bist doch meine tapfere Mercedes.«

»Ich bin überhaupt nicht tapfer!«

»Doch, du bist tapfer, und du liebst mich und weißt, daß ich allein fahren muß, und weil du mich liebst, machst du mir jetzt nicht das Herz schwer, sondern hörst sofort auf damit und sagst, daß du gar keine Angst hast.«

Sie schluchzte und schluckte ein paarmal, fuhr sich über die Augen und sagte: »Ich habe gar keine Angst.«

»Das ist mein Mädchen!« Er umarmte sie noch einmal, dann ging er schnell aus dem Appartement und zum Lift.

Im Salon war Mercedes auf einen Stuhl gesunken. Tränen stiegen in ihre Augen und sie flüsterte: »O Gott, wenn ich doch bloß keine so furchtbare Angst hätte!«

Ein Wagenmeister begleitete Daniel zu dem Mietvolvo. Es war kälter geworden.

»Vorsichtig fahren, Herr Ross! Es gibt Glatteis. Ich danke sehr.« Er steckte das Fünfmarkstück ein und warf die Tür hinter Daniel zu.

Der Kurfürstendamm war verstopft vom Abendverkehr. Am Rathenauplatz bog Daniel in die Halenseestraße ein. In nördlicher Richtung fuhr er diese Straße, auf der es schon viel ruhiger war, bis zum Messegelände. Vor sich sah er den Funkturm mit seinen roten Positionslichtern, dann war er auf der Avus. Halb sieben vorbei.

Daniel gab Gas und fuhr nun erheblich schneller über die eisfreie Autobahn südwestlich. Nur wenige Autos kamen ihm entgegen. Auf der Höhe der S-Bahn-Station Nikolassee benützte er die Ausfahrt, überquerte den Kronprinzessinnenweg und bog in den nach Nordwesten führenden langen Wannseebadweg ein. Aus vielen Villen in den Gärten fiel Licht, andere schienen nicht bewohnt zu sein. Daniel kam dem Wasser immer näher. Plötzlich war er im Dunst, gleich danach im Nebel. Den Nebel trieb Westwind vor sich her. Daniel konnte schlecht sehen und fuhr nun sehr langsam. Er wußte, vor ihm lag die Inselstraße, die über einen kurzen Damm zur kleinen Insel Schwanenwerder hinüberführte. Knapp bevor die Straße anfing, bemerkte er drei geparkte Wagen. Er hatte mit Conrad Colledo telefonisch ein Zeichen vereinbart, wie er erkennen konnte, daß die Polizei ihre Stellung bezogen hatte. Im Schrittempo fahrend, blendete Daniel dreimal kurz hintereinander die Scheinwerfer auf. Die Fernlichter der drei Wagen wurden dreimal hintereinander kurz hell. Von der Inselstraße zum Schwanenwerderweg waren es nur ein paar Meter, und gleich in der Nähe lag das Haus dreihundertsiebenundzwanzig. Noch in der Inselstraße parkte ein vierter Wagen, der gleichfalls auf das Lichtzeichen Daniels reagierte. In weniger als einer Minute wären die im Haus, dachte Daniel.

Er bog noch einmal rechts ab und hielt gleich darauf. Hier draußen gab es keine Straßenbeleuchtung. Der Nebel war dichter geworden, man sah nur wenige Meter weit. Ganz nahe mußte der Wannsee sein, Daniel roch das Wasser. Die Villa des Professors war zweigeschossig und hatte ein mächtiges, steiles Ziegeldach mit großen Luken. Wilder Wein bedeckte die Mauern und rankte sich an breiten Holzlatten hoch. Das nächste Haus war gewiß hundert Meter entfernt.

Daniel klingelte am Gartentor, an dem die Hausnummer angebracht war. Aus der Sprechanlage erklang eine verzerrte Frauenstimme: »Wer ist da?«

Er neigte sich vor und sprach in die Mikrofonlöcher: »Daniel Ross. Ich bin mit dem Herrn Professor verabredet.«

»Einen Moment!«

Das Tor sprang auf, über dem Hauseingang ging eine Lampe an. Daniel schritt durch den nebelgrauen Garten. Die Haustür öffnete sich. Daniel sah eine ältere, korpulente Frau. »Guten Abend«, sagte er.

»Abend«, sagte die Frau. »Haben Sie Ihren Paß?« »Ja.«

»Geben Sie ihn mir!« Daniel gab ihn ihr. »Moment.« Die Tür fiel zu, Daniel hörte Schritte, die sich entfernten. Er

wartete. Die Schritte kehrten zurück. Die Tür ging wieder auf. Die ältere Frau reichte ihm seinen Paß und sagte: »Treten Sie ein, Herr Ross. Sie müssen entschuldigen! Aber man kann nicht vorsichtig genug sein.« Sie standen in einem kleinen Vorraum. »Ihren Mantel, bitte!«

Die Frau hängte ihn über einen Bügel. Dann öffnete sie eine andere Tür.

»Hier herein, bitte!«

Daniel trat vor und blieb erstaunt stehen. Er befand sich in einem sehr großen Raum, der wie eine mächtige Wohnhalle eingerichtet war. Teppiche bedeckten den Boden, fünf Stehlampen mit gelben Glockenschirmen brannten und verbreiteten warmes, helles Licht. Der Raum war außerordentlich geschickt in einen Wohn-, einen Eß- und einen Arbeitsteil untergliedert – einfach durch das Arrangement der Möbelstücke. Eine breite, freitragende Holztreppe führte in das Obergeschoß. Bücherregale bedeckten die Wände des Arbeitsteils. Lexika und Schriftstücke lagen unter einer starken Lampe auf einem Eichentisch, hinter dem sich jetzt ein großer, schlanker Mann in burgunderfarbener Hausjacke und Flanellhose erhob. Er trug ein weißes Seidenhalstuch. Mit jugendlichen Schritten kam er Daniel entgegen.

»Ich begrüße Sie, Herr Ross!«

»Guten Abend, Herr Professor!« Sie schüttelten einander die Hände. Professor Emil Kant hatte ein rundes, rosiges Gesicht, helle Augen und einen kleinen Mund. Sein Haupt war kahl, doch an den Seiten und hinten wuchsen noch lange braune Strähnen, die Kant in den Nacken gekämmt und mit einer Klammer zusammengehalten trug. Die Strähnen reichten bis auf die Schultern. Er sah aus wie ein alter Hippie.

»Wollen Sie Tee, Kaffee – oder lieber etwas Alkoholisches?« »Ein kleiner Whisky könnte nicht schaden.« »Kriegen Sie. Kriegen Sie.« Kant sagte zu der älteren Frau,

die gewartet hatte: »Es ist gut, Erna. Danke schön!« Erna verschwand hinter einer Tür im Hintergrund –

vermutlich in der Küche.

»Meine Haushälterin. Habe ich schon vierzehn Jahre. Großartige Person. Wie die für mich sorgt!« Kant ging mit Daniel in die Arbeitsecke der Halle und wies auf einen Ledersessel. »Nehmen Sie Platz!« Er neigte sich über einen Tisch voller Flaschen und Gläser und bereitete einen Drink. »Eis und Wasser?«

»Nur Eis, bitte!«

»Sehr gut. Werde ich mir auch einen genehmigen.« Kant brachte zwei Whiskys. Sie tranken einander zu. Dann

setzte sich der Professor.

»Hätte natürlich ein falscher Paß sein können, wie?« fragte er. Daniel wollte etwas sagen, aber Kant winkte ab.

»Hätte kein falscher Paß sein können. Sie nannten Ihrem Freund Colledo am Telefon die Paßnummer. Der gab sie der Polizei, und die gab sie mir.« Kant lachte kurz und meckernd.

»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar dafür, daß Sie mich so schnell empfangen«, sagte Daniel und drehte das Glas in den Händen.

»Warum sollte ich nicht, wenn mein alter Freund Umberto Sie an mich verwiesen hat?« Kant wiegte den Kopf. »Schlimm, schlimm. Er ist sehr krank, wie?«

»Ich fürchte, Herr Professor.«

»Schizophrenie?«

»Ja.«

»Und keine Besserung zu erwarten?«

»Soweit ich verstanden habe, nein. Er ... er leidet sehr unter Stimmen, die ihn dauernd attackieren. Ich habe es selbst miterlebt ...« Daniel berichtete kurz von dem Streitgespräch Damianis mit Papst Alexander dem Sechsten, Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien, dessen Zeuge er geworden war.

»Der arme Kerl ...« Kant schüttelte betrübt den Kopf. Die Hippie-Haarsträhnen im Nacken flogen hin und her. »Dieses Buch, das er schrieb, ›unter caetera divinae‹, hat seinerzeit ungeheueres Aufsehen unter Theologen und Völkerrechtlern erregt, wie Sie sich vorstellen können. Manche Theologen sind fast toll geworden vor Wut. Natürlich bekam Umberto auch mächtigen Zuspruch. Aber es war ein Weltskandal! Großer Gott, ist er damals mit Unrat überschüttet worden – bildlich gesprochen. Waren das Auseinandersetzungen! Waren das Kämpfe! Heute ist das Buch das Standardwerk zum Thema. Aber was hat der arme Umberto noch davon? Es war einfach zuviel für ihn an Aufregungen und Angriffen übelster Art. Man muß natürlich auch die Kirche verstehen. Umberto griff sie gnadenlos an. Und was wollen Sie« – Kant hob eine Hand – »Sie werden einen Schneemann niemals von der segensreichen Kraft der Frühlingssonne überzeugen können.« Er trank. »Ja, nun zu Ihnen, Herr Ross! Ich gestehe, diese Begegnung berührt mich tief. Immerhin ist es schon vierzig Jahre her, daß ich mit Ihrem Vater zusammengearbeitet habe. Ja, jetzt im März sind genau vierzig Jahre vergangen, seit er mir dieses Geheimprotokoll zur Prüfung gegeben hat, das der arme Umberto erwähnte. Ich hätte ihm natürlich nie davon erzählen dürfen. Das war eine ›Geheime Reichssache‹. Aber Sie wissen ja: Niemand ist so verschwätzt wie wir Wissenschaftler. Und wir waren auch innig miteinander befreundet. Trinken Sie aus! Ich hole die Flasche und das Eis her.«

»Ich muß Auto fahren, Herr Professor.«

»Ach was, so ein paar Schluck werden Sie nicht gleich umschmeißen.« Der alte Mann ging schon zum Tisch und brachte, was er brauchte. Er stellte eine Whiskyflasche und einen Thermosbehälter mit Eiswürfeln auf den niederen Tisch vor Daniel und machte neue Drinks.

»Sie haben den ganzen Krieg in Berlin erlebt, Herr Professor?«

»Bis zum bitteren Ende. Und das Ende war vielleicht bitter, mein Lieber! Hier, Ihr Glas. Zum Wohl!« Sie tranken wieder. »Bitter«, wiederholte Kant. Danach lachte er neuerlich sein seltsam meckerndes Lachen. »Die Welt soll zittern bei der Germanen Untergang, wie? Na ja! Teuflisch war es, teuflisch. Aber man hat überlebt. Man hat überlebt ...«

»Und mein Vater?« Daniel stellte sein Glas ab. »Verzeihen Sie, wenn ich sofort danach frage. Sie sind meine letzte Hoffnung. Nach Ihnen kommt nichts mehr.«

»Ihr Vater ist bei den Kämpfen gefallen«, sagte Kant. »Das habe ich fast erwartet«, sagte Daniel mit unbewegtem

Gesicht. »Ich wollte nur Gewißheit haben. Jetzt habe ich sie. Sie sind sich natürlich ganz sicher, Herr Professor, sonst würden Sie nicht eine solche Auskunft geben, nicht wahr?«

»Ganz sicher, Herr Ross. Goebbels selber hat es mir gesagt.« »Goebbels?«

»Ja. Er ließ mich rufen. In den Bunker unter der Reichskanzlei. Am zehnten April fünfundvierzig war das. Ich habe in meinem Tagebuch nachgesehen. Eine Odyssee, kann ich Ihnen sagen!

Die Stadt unter dauerndem Beschuß. Die Russen hatten schon die letzte Abwehrlinie an der Lausitzer Neiße durchbrochen. Zwei Wochen später kämpften sie sich bereits in Berlin von Haus zu Haus. Tiefflieger ...«

»Warum ließ Goebbels Sie rufen?«

»Um mir zu sagen, daß Ross tot war. Er wußte, ich hatte im Jahr zuvor das Dokument zur Prüfung erhalten – als ein vertrauenswürdiger Mitarbeiter Ihres Vaters. Der wurde in seinem Dahlemer Haus schon im März vierundvierzig ausgebombt. Seither wohnte er bei einem Bekannten am Bayerischen Platz, ich kannte das Haus. Goebbels verlangte nun, daß ich hinging und in der Wohnung alle Akten vernichtete, die Ihr Vater mit nach Hause genommen hatte. Das Auswärtige Amt war damals längst ausgelagert. Goebbels nahm zu Recht an, daß ich alle wichtigen Akten und Papiere erkennen würde. Was sollte ich tun? Ich arbeitete mich zum Bayerischen Platz durch – brauchte einen ganzen Tag dazu – und verbrannte stoßweise Papiere. Hatte Pech dabei.«

»Wieso?«

»Der Brand geriet außer Kontrolle, die Wohnung fing Feuer. Anschließend das Haus. Es wohnte niemand mehr drin, und es war halb zerstört. Der Bekannte Ihres Vaters war beim Volkssturm, hatte Goebbels gesagt. Hat sich nie mehr gemeldet. Auch tot. Oder in Gefangenschaft gestorben.«

»Wie starb mein Vater?« fragte Ross. »Und wo?« »Goebbels sagte, es sei in der Gneisenaustraße passiert. Im

Bezirk Kreuzberg. Er hatte auch Ihren Vater in den Führerbunker kommen lassen, und auf dem weiten Weg zu seiner Behelfswohnung am Bayerischen Platz erwischte es ihn – verzeihen Sie! – wurde er getötet. Ich habe doch gesagt, die Russen setzten andauernd Tiefflieger ein. Die flogen direkt in die Straßenzüge und warfen Fünfzig-Kilo-Bomben ab und schossen mit MGs auf alles, was sich bewegte. Ihr Vater konnte sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen – diese kleinen Flugzeuge waren immer ganz plötzlich da.«

»Woher wußte Goebbels, daß mein Vater getötet worden war?«

»Eine Wehrmachtsstreife kam in der Gneisenaustraße vorbei, als die Überlebenden die Opfer gerade in einem Bombentrichter verscharren wollten. Die Männer der Streife holten den Leichen die Personalpapiere aus der Tasche. Als sie bemerkten, was für eine Position Ihr Vater innegehabt hatte, lieferten sie die Papiere

sofort auf der Kommandantur ab, und von dort schickte man sie Goebbels. Er hat sie mir gezeigt.«

»Er zeigte Ihnen die Papiere meines Vaters?« »Sage ich doch! Er ist bestimmt in der Gneisenaustraße

umgekommen. Und da ist auch sein Grab. Irgendwo unter der neuen Straßendecke. Man konnte die Toten nicht herumliegen lassen, nicht wahr. Das war an jenen Tagen die übliche Art, Gefallene zu bestatten. Ganz schlimm wurde es, als die Russen

direkt in der Stadt kämpften.«

So also war das, überlegte Daniel. Mein Vater gab Goebbels die Zyankalikapseln, als er im Bunker war und den Film ausgehändigt bekam in der Nacht vom 7. zum 8. April. Falsche neue Papiere hatte er schon am Nachmittag im Auswärtigen Amt erhalten. Dann wurde er von Berlin nach Bergen ausgeflogen, wie er in Buenos Aires erzählt hat. Wir haben ja auch eine offizielle Todesnachricht erhalten, Mutter und ich. Gefallen bei Abwehrkämpfen am 2. März im Großraum Küstrin. Soweit funktionierte bis zuletzt alles im Dritten Reich. Goebbels wünschte, daß Georg Ross keine Spuren hinterließ. Er mußte tot sein – zu seiner eigenen Sicherheit.

»Es tut mir leid«, sagte Kant.

»Ich war darauf gefaßt«, sagte Daniel. »Er hätte sich doch sonst irgendwann gemeldet. Jetzt weiß ich genau Bescheid. Und das Geheimprotokoll, Herr Professor? Wie verhielt es sich mit dem?«

»Na ja, ich sollte das Dokument auf seine Echtheit prüfen. Übrigens gab mir Ihr Vater die Abschrift am Nachmittag bevor er dann in Dahlem ausgebombt wurde. Er ließ von dem Text sofort eine Abschrift anfertigen, nachdem er den Film in Händen hatte. Nach meinem Tagebuch war das am einunddreißigsten März vierundvierzig.«

»Und war das Geheimprotokoll echt, oder war es eine Fälschung?«

»Echt. Es war echt!« Kant sprach plötzlich erregt. »Sie sind sich sicher?«

»Absolut sicher!« rief Kant.

»Das konnten und können Sie mit völliger Gewißheit sagen?« »Mit völliger. Als ich dann den Film sah, gab es auch nicht

mehr den geringsten Schatten eines Zweifels.« »Sie haben den Film gesehen?«

»Ja, ich und drei Spezialisten des Geyer-Kopierwerks.« »Wann war das?«

»Am dritten August vierundvierzig. Ihr Vater zeigte ihn uns.« »Warum erst so spät?«

»Ihr Vater sagte, der Keller, in dem man den Film verwahrt hatte, sei von Bomben verschüttet worden, und es habe so lange gedauert, ihn auszubuddeln.«

»Dann waren Geheimprotokoll und Film nach Ihrer und der Ansicht der anderen Spezialisten echt, keine Fälschung?«

»Unter allen Umständen echt. Mit amerikanischem Kodak-Material aufgenommen. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.«

Na fein, dachte Wayne Hyde.

Er lag im dunklen ersten Stock nahe dem Treppenende auf dem Bauch, den Körper an den Boden gepreßt, vor sich ein Gewehr des sowjetischen Typs wintowka obr 1891/1930: Wintowka ist das russische Wort für Gewehr. Es hatte große Ähnlichkeit mit der von Hyde bevorzugten amerikanischen Springfield 03. Das Kaliber war bei beiden Gewehren dasselbe: 7,62. Das sowjetische Gewehr war etwas leichter, länger und hatte im Gegensatz zum amerikanischen Rechtsdrall. In einem Schulterhalfter trug Hyde eine großkalibrige sowjetische Armeepistole. Dem Gewehr war ein Zielfernrohr aufgesetzt. Im Fadenkreuz hatte Hyde den Professor für Völkerrecht Dr. Emil Kant, einmal die Brust, einmal den Kopf. Der Gewehrlauf bewegte sich hin und her ...

Gleich nach der Ankunft bei seinem Wiener Söldnerfreund Franz Loderer in dessen Wohnung im Rückgebäude des Hauses Rechte Wienzeile zehn, wohin ihn Herdegen vom RITZ aus noch gefahren hatte und wo er den Rest der Nacht verbringen wollte, hatte Hyde mit Hilfe des kleinen Decoders den Anwalt Roger Morley in London angerufen und auf das Band des Telefonbeantworters gesprochen: »Hier ist Wayne Hyde. Ich bin bei einem Freund in Wien. Es ist zwei Uhr fünfundvierzig, Samstag, zehnter März. Folgendes habe ich herausbekommen: Der Völkerrechtler, der neunzehnhundertvierundvierzig das Geheimprotokoll prüfte, heißt Professor Emil Kant und lebt in Berlin. Seine Telefonnummer ist dreivierzwozwofünfnullsieben. Da kriegen Sie leicht die Adresse raus. Ross und die Olivera haben für heute einen Flug nach Berlin über München, ab Wien um elf Uhr dreißig gebucht. Das konnte ich im RITZ feststellen. Die Buchung liegt in ihrem Schlüsselfach. Sie werden gegen halb vier in Berlin landen. Ross hat Kant angerufen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird er ihn sehr bald nach seiner Ankunft besuchen. Bitte schnellstens um Instruktionen. Rufe um drei Uhr dreißig wieder an.«

Das hatte er getan.

Die Stimme Morleys erklang: »Guten Morgen, lieber Mister Hyde. Meine Bekannten haben die Lage geprüft. Also: Sie nehmen die erste Maschine nach Berlin, auch via München. Das ist eine Swiss AIR um neun Uhr fünfzig. Sie haben Anschluß mit PAN AMERICAN und sind um zwölf Uhr fünfundvierzig in Berlin-Tegel. Dort fahren Sie schnellstens zum Ausländerübergang an der Friedrichstraße, dem Checkpoint Charlie. Verlangen Sie den diensthabenden Vopo-Offizier. Bei ihm wird ein Mann auf Sie warten. Wir haben auch in Ostberlin unsere Leute. Sie, lieber Mister Hyde, tun das, was der Mann sagt.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Hyde«, sagte der Mann im Barackenzimmer des diensthabenden Vopo-Offiziers am Checkpoint Charlie, nachdem der Offizier den Raum verlassen hatte. »Pünktlich, pünktlich. Wenn Sie mir bitte folgen wollen – Ihr Gepäck lassen Sie am besten hier, Sie kommen ja auf dem Rückweg noch einmal vorbei.«

Der Mann war groß und sah aus wie ein Freistilringer. Seine Nase war plattgedrückt. Er hatte sehr kleine Augen. Schweineritzen, dachte Hyde. Die Finger taten ihm noch weh nach dem Händedruck des Athleten. »Ich heiße Lohotski«, sagte der Mann, schon im Freien, als er auf einen Wolga mit Volkspolizeinummer zuging. Er öffnete eine Tür und ließ Hyde in den Fond steigen. Am Steuer saß ein hagerer junger Mann. Wie Lohotski trug auch er Zivil.

»Hallo«, sagte Hyde.

»Freundschaft«, sagte der junge Mann.

Lohotski setzte sich neben ihn. »Also dann los, Max!« sagte er. »Tritt dem Ding den Stempel in den Bauch, und mach die Sirene an!«

Der Wolga raste los. Die Polizeisirene begann zu heulen. Hyde, den so leicht nichts erschreckte, fühlte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Lohotski saß halb zu ihm umgewandt. »Keine Angst«, sagte er grinsend. »Max ist der beste Fahrer, den wir haben.« Der Wolga schoß durch die Stadtmitte Ostberlins, überholte im Abstand von zwei oder drei Zentimetern andere Wagen und wich im letzten Moment entgegenkommenden Autos aus, die meist anhielten oder an den Straßenrand fuhren. Die Sirene heulte. Ein Blaulicht zuckte.

»Wohin geht es?« fragte Hyde, der im Fond hin und her geworfen wurde.

»Erst mal Richtung Norden.« Ringer Lohotski gefiel sich in seiner Rolle als Reiseführer. Er lächelte. »Zweigeteilte Stadt, nicht wahr? Zweigeteilt durch die Mauer. Die Mauer ist nur fünfzehn Kilometer lang. Nun müssen wir uns aber doch überall vor Westberlin schützen, nicht wahr? Also läuft um ganz Westberlin ein Todesstreifen herum. Die Grenze entlang, immer die Grenze entlang. Der Todesstreifen ist zehn Meter breit und hundertsiebzig Kilometer lang. Tja, großes Stück, Westberlin. Stacheldrahtverhaue in einer Länge von hundertdreißig Kilometern. Verwendeter Stacheldraht zwölftausend Kilometer. Dann natürlich die Bunker. Zweihundertachtunddreißig gibt es rund um Westberlin. Und Kontrollpunkte an den Autobahnen und Transitstraßen, klar.«

»Klar«, sagte Wayne. »Wir müssen also erst mal so weit nach Norden, bis die Mauer aufhört. Bis zur Stadtgrenze.«

»Richtig, Mister Hyde, richtig. Danach um ganz Westberlin außen herum. Auf DDR-Gebiet. Der Wannsee liegt tief im Südwesten.«

»Und was machen wir dann?«

»Werden Sie sehen, Mister Hyde. Werden Sie sehen.« An der Stadtgrenze im Norden wurden sie kontrolliert.

Lohotski streckte dem Vopo, der den Wolga anhielt, eine Marke entgegen. Der Vopo salutierte. Der Wolga glitt durch die Slalomstrecke des Kontrollpunktes und schoß dann weiter. Nun ging die Fahrt westwärts. Die Häuser wurden immer spärlicher. Sie fuhren auf eisglatten Straßen durch kleine Wälder und unbebautes Gebiet.

»Staatsforst Falkenhagen«, sagte Lohotski einmal. Etwas später, als eine große Wasserfläche zu ihrer Rechten sichtbar wurde: »Der Falkenhagener See.« Schließlich: »Wir fahren jetzt dicht an der Grenze zum Westsektor entlang. Sehen Sie den Todesstreifen mit dem Stacheldraht? Da liegt unser Kontrollpunkt Staaken. Ein Stück weiter drüben der Kontrollpunkt Heerstraße. Diese Heerstraße ist wahnsinnig lang. Geht im Westsektor bis zum Theodor-Heuss-Platz und hier in Richtung Hamburg.« Dann fuhren sie über riesige unbesiedelte Flächen. »Groß-Glienicker-Heide«, sagte Lohotski. »Jetzt sind wir schon wieder ganz nahe an der Grenze. Das ist die Potsdamer Chaussee da drüben. Sehen Sie die Stacheldrahtrollen und die Flugzeuge dahinter? Das ist der Flugplatz Gatow. Gehört den Engländern. Da schließt der Stacheldraht das Ende einer Startbahn ab. Jetzt müssen wir nach Westen, um den Groß-Glienicker-See herum. Da läuft die Grenze mitten durchs Wasser.«

»Gibt viele Seen in Berlin«, sagte Hyde.

»Jede Menge«, sagte Lohotski. Der Fahrer Max sprach kein einziges Wort. Er hatte schon seit einiger Zeit Blaulicht und Sirene abgeschaltet. Wieder sah Hyde eine sehr große Wasserfläche.

»Und das?«

»Die Havel«, sagte Lohotski. Sie fuhren auf einer breiten Straße. SPANDAUER STRASSE las Hyde auf einem Schild. Plötzlich hielt der Wagen vor einem niederen Steinbau, neben dem, auf einem Mast, die Fahne der DDR im Westwind wehte.

»So, da wären wir«, sagte Lohotski, stieg aus und öffnete für Hyde den Schlag. »Kommen Sie mit!«

Sie betraten gemeinsam das kleine Gebäude. In einem Raum zur ebenen Erde arbeiteten hier ein halbes Dutzend Männer in Uniform an Schreibtischen. Lohotski ging zu einem jungen Mann und machte ihn mit Hyde bekannt. Der junge Mann hieß Wilms. Hinter ihm hing an der Wand eine große Karte von Berlin und Umgebung. Hyde sah auf seine Armbanduhr. Es war 14 Uhr 34. »Erklären Sie Mister Hyde mal die Lage, Wilms«, sagte Lohotski.

Dieser trat an die Wandkarte. »Ja, also«, sagte er, »wir sind hier, Sir.« Er deutete mit dem Finger auf die linke untere Seite des Plans. »Spandauer Straße, sehen Sie? Von der Spandauer Straße ein paar Meter, und Sie sind bei der Havel. Da geht die Grenze mitten durchs Wasser. Die dicke rote Linie, sehen Sie? Haben wir natürlich Bojen und Schilder und Wasserschutz-Volkspolizei, klar.«

»Klar«, sagte Hyde.

»Auf der anderen Seite, drüben im Westen, liegt die große Pfaueninsel. Ist ein Schloß drauf. Und ein großes Naturschutzgebiet mit einem Haufen Pfauen. Darum heißt sie so.«

»Aha«, sagte Hyde.

»Jetzt ein Stück die Havel rauf auf Westgebiet«, fuhr Wilms fort, »da bei diesem Knick hängt wie ein Sack der Große Wannsee drin. Sehen Sie, das Strandbad Wannsee. Und hier noch ein Stück weiter rauf wieder eine Insel. Viel kleiner als die Pfaueninsel, Schwanenwerder heißt sie. Macht eine Straße eine Schleife auf ihr und führt dann über einen kurzen Damm zum Festland.« Wilms zog die Schleife mit dem Finger nach. »Da geht sie rüber. Wie heißt sie? Inselstraße heißt sie natürlich. Und wohin führt sie auf dem Festland sofort? Sofort führt sie zum Schwanenwerderweg. Hier. Und das da« – er klopfte mit dem Knöchel auf eine Stelle nahe dem Wasser- »das ist dreihundertsiebenundzwanzig. Hier wohnt Professor Emil Kant.«

»Wenn es dunkel wird und noch ordentlich Nebel aufkommt, können wir Sie ganz leicht von hier die Havel hinauf und über die Grenze bis Schwanenwerder bringen«, sagte Lohotski. »Und zwar hierher, zur Südseite. Da gibt’s jede Menge Trauerweiden. Kann ein Boot sich prima verstecken. Wir müssen die Südseite nehmen. An der Nordseite ist nämlich eine Polizeistation, direkt bei der Inselstraße. Sie müssen auf der Südseite bis zum Damm ein paar hundert Meter durch den Park laufen und dann rüber in den Schwanenwerderweg. Kleinigkeit für einen Mann wie Sie, Sir. Was wir sind, wir warten hier auf der Südseite auf Sie. Wenn Sie alles erledigt haben, kommen Sie zurück. Dann hauen wir wieder ab. Alles klar?«

»Nein«, sagte Hyde. »Was ist nicht klar?«

»Wie Sie mich rüberbringen.«

»Na, mit einem Patrouillenboot natürlich«, sagte Wilms erstaunt.

»Und der Motorlärm? Das ist doch ein mächtiges Stück Weg! Der Motorlärm bringt uns die ganze westliche Wasserpolizei auf den Hals.«

»Gibt keinen Motorlärm«, sagte Wilms. »Was?« »Gibt überhaupt keinen Lärm. Nicht den geringsten. Wir

haben ein Elektroboot hier. Wird mit Akkus betrieben. Nichts hören Sie. Absolut nichts.«

»Ihr seid vielleicht up to date!«

»Müssen wir sein, Sir, müssen wir sein. Die anderen sind es auch.« Wilms trat einen Schritt zurück.

»Was uns angeht, so garantieren wir sicheren Hintransport. Alles andere können wir natürlich nicht beeinflussen. Ist schon eine verdammt beschissene Geschichte«, sagte Lohotski. »Wieso?« fragte Hyde.

»Wir haben einen gemeinsamen Freund in London, nicht? Er hat heute nacht mit mir telefoniert. Sie annonciert und so weiter. Zum Schluß hat er gesagt, ich soll Ihnen unbedingt sagen, daß das Haus des Professors von Polizei bewacht sein wird. Ganz bestimmt.«

»Woher weiß er das?« fragte Hyde. »Hat seine Leute überall, scheint es.« Ja, dachte Hyde. Ich erinnere mich. Morley sagte doch, zum Glück habe er einen Vertrauensmann im Sender. Aber warum ... »Aber warum hat er es mir nicht gesagt?« fragte er. »Ich habe auch mit ihm telefoniert heute nacht.«

»Da hat er es vielleicht noch nicht gewußt.« »Ja«, sagte Hyde. »Das kann sein.«

»Er hat auch gesagt, es wartet ein Aufnahmeteam in Westberlin. Auf ein Zeichen von diesem Ross hin ist es sofort bereit, zum Professor zu kommen. Die sind sehr vorsichtig geworden. Ist ja auch ein Riesending.«

»Ja«, sagte Hyde. »Nicht wahr?« Er sah Lohotski scharf an. »Schon gut«, sagte der. »Ich weiß Bescheid über Sie. Ich bin beim selben Verein. Hat Ihnen das unser Freund in London nicht gesagt?«

»Doch, hat er.«

»Waffen haben wir hier. Können sich aussuchen, was Sie wollen. Höre, Sie bevorzugen die Springfield. Haben wir nicht. Aber eine wintowka obr 1891/1930 haben wir zum Beispiel. Ist fast dasselbe. Und sowjetische Armeepistolen. Neun Millimeter; praktisch eine Parabellum. Jetzt ist es noch viel zu früh. Wir

müssen warten, bis es dämmrig wird und hoffentlich viel nebliger. Das nennt man Glück, daß jetzt auch noch Nebel hochkommt, wie?«

»Ja«, sagte Wayne Hyde. »Das nennt man Glück.« Es war fast dunkel, und der Nebel kam in dicken Schwaden,

als sie mit dem Elektroboot unterhalb der Station, wo noch andere Schiffe lagen, ablegten. Zwei Vopos übernahmen das Steuer, Lohotski und Wilms begleiteten Wayne Hyde.

»Ich war in Gambia und Uganda, neunzehnhunderteinundachtzig«, sagte Lohotski plötzlich. Und auf einen erstaunten Blick Waynes fügte er hinzu: »Hab’ früher im Westen gelebt.«

»Viel zu tun hier im Osten?«

»Jede Menge«, sagte Lohotski.

Das Boot war supermodern. Hyde staunte. Die Akkus machten wirklich kaum ein Geräusch. Still glitt das Patrouillenboot durch den Nebel. Hyde, Lohotski und Wilms saßen hinter den Aufbauten an Deck. Wayne trug jetzt eine Art enganliegenden schwarzen Taucheranzug und ganz weiche, leichte schwarze Sportschuhe. Das Schulterhalfter der Pistole und das Futteral des Gewehrs waren wasserdicht. Eine Brille mit schwarzen, schmalen Gläsern an einem Gummizug um den Kopf hatte er hoch ins kurzgeschnittene, blonde Haar geschoben.

Da kam die große Pfaueninsel. Hyde sah ihren Schatten zur Rechten. Als die Wasserfläche wieder breiter wurde, tauchte im Nebel ein winziges Inselchen auf. Wayne wies mit dem Kinn nach ihm.

»Kälberwerder«, flüsterte Lohotski. Das Boot ging auf größere Geschwindigkeit. Hoffentlich haben die ein gutes Radar, dachte Hyde.

Sie fuhren Nordnordostkurs. Hydes Uhr besaß einen Leuchtkompaß. Nach einer Weile änderte sich der Kurs auf fast reine Ostfahrt. Einer der Vopos kam aus dem kleinen Steuerraum mit seinem Rundumfenster und flüsterte mit Lohotski. Dieser nickte. Daraufhin sagte der Vopo, die Lippen am rechten Ohr Hydes: »Radar zeigt vier Fahrzeuge Wannseebadweg und Inselstraße. Polizei, kein Zweifel. Sie fallen auf, wenn Sie von Schwanenwerder her kommen. Wir fahren deshalb direkt ans Ufer, nördlich der Wannseeterrassen, nahe beim Damm. Müssen Sie durch ein paar Gärten und über eine Wiese hinten an den Autos vorbei. Auch so zurück. Wenn sie uns entdecken, bevor Sie zurück sind, müssen wir ohne Sie abhauen.«

Hyde nickte.

Das Boot fuhr nun ganz langsam. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Hyde bei einem schmalen Schilfstreifen Ufer erkannte. Das Boot stoppte und schwankte leicht in der schwachen Dünung. Lohotski machte Hyde ein Zeichen: Näher

können wir nicht ran. Los jetzt!

Hyde schwang sich über die Reling, glitt langsam in knietiefes Wasser, nahm das Gewehrfutteral und einen Beutel, den Lohotski ihm reichte, und watete vorsichtig und geduckt an Land. Nach ein paar Schritten ließ er sich zu Boden gleiten und begann, durch den Sand vorwärts zu robben. Das Futteral und die Tasche hielt er dabei hoch, mit den Ellbogen schob er sich weiter. Langsam, langsam, leise, leise.

Es blieb still. Eine Wiese. Ein Baum. Immer wieder kontrollierte Hyde die Richtung mit dem Leuchtkompaß. Nach Osten mußte er! Ein Zaun. Schon war Hyde darüber weg. Ein Garten. Ein Haus. Er robbte vorbei. Nur kein Hund, dachte er. Nur kein gottverfluchter Hund jetzt. Leer soll das Haus sein. Die anderen auch. Er sah schemenhaft drei weitere Häuser. Er sah kein Licht. Garten nach Garten brachte er hinter sich. Einige Male deponierte er kleine Metallgegenstände, die aussahen wie schwarze Eierhandgranaten, im braunen Gras.

Er robbte jetzt ein Stück nordwärts und dann wieder nach Osten. Auf dem Radarschirm des Bootes hatte er gesehen, wo die Autos standen. Eines blockierte in der Inselstraße den Damm nach Schwanenwerder. Wayne wollte südlich hinter den anderen Wagen über den Wannseebadweg. Es gelang ihm. Er sah die Autos links vor sich. Das letzte in der Reihe – sie waren alle mit den Kühlern nach Nordwesten, zur Insel hin, geparkt – stand keine zehn Meter von ihm entfernt, als er über den Wannseebadweg robbte. Auch hier placierte er eine Granate. Nun kam noch ein Garten. Dann war er beim Schwanenwerderweg.

Hier gab es keine Autos. Ein Haus. Wayne kroch nahe an das Eingangstor zum Garten heran. Dreihundertsiebenundzwanzig. Gut. Er rutschte ein Stück weiter, fand eine Stelle im Zaun, wo er sich durchzwängen konnte, und robbte um das Haus herum. Er erkannte im Nebel die zwei Geschosse und das steile Ziegeldach mit den großen Lukenfenstern. Er erreichte die Rückseite. Nun erhob er sich vorsichtig, streifte den Riemen des Gewehrfutterals über eine Schulter und zerrte an den Holzlatten, an denen wilder Wein bis zum Dach hochwuchs. Er zerrte, so fest er konnte, dann nickte er zufrieden.

Geschickt und schnell wie eine Katze kletterte er die Latten und Weinreben empor, höher, noch höher, da war schon das Dach. Hyde sah eine Luke. Sie ließ sich öffnen. Er schlüpfte durch. Nun war er in einem großen, hohen Bodenraum. Hier lagerten Bücher und Akten. Hyde huschte gebückt weiter. Schwaches Licht deutete das Viereck einer offenen Falltür an. Er erreichte sie. Von hier führte eine Leiter in den ersten Stock hinunter. Nur zu ebener Erde, in einer riesigen Halle, brannte Licht. Ein alter Mann sprach da mit einer korpulenten Frau. Die mächtige Treppe zum Erdgeschoß war freitragend. Man konnte vom ersten Stock gut nach unten sehen, ja fast die ganze Halle überblicken. Okeydokey, dachte Hyde. Was soll sein? Wenn sie mich entdecken, lege ich beide um. Ich bleibe hier oben liegen, bis Ross kommt. Langsam und bedächtig nahm er das Gewehr aus dem Futteral, setzte das Zielfernrohr auf, legte sich wieder auf den Bauch, wartete. Die Frau unten verschwand. Der Mann mit der burgunderfarbenen Hausjacke und dem fast kahlen Schädel, der die braunen, langen Seitensträhnen im Nacken zusammengefaßt trug wie ein alter Indianer, verschwand aus Hydes Blickfeld und schien sich an einen Schreibtisch zu setzen. Hyde atmete gleichmäßig. Er war sehr zufrieden und ganz ruhig.

Erst sechsunddreißig Minuten später läutete es, und Daniel Ross trat nach einer Weile in die Halle. Er schüttelte dem alten Mann die Hand. Hyde wußte, wie Ross aussah. Herdegen hatte ihm den Mann gezeigt, als Ross die Klinik zu einem Spaziergang verließ. Kein Zweifel, das war er. Hyde kroch noch weiter vor bis zum Geländer am Treppenabsatz. Er hörte deutlich die Konversation der beiden Männer. Sie hatten sich vorgestellt. Kein Zweifel auch: Das war Professor Emil Kant. Er saß jetzt schräg unterhalb von Hyde in der Arbeitsecke. Das Gespräch zog sich hin. Hyde hörte geduldig zu. Es dauerte eine Weile, bis die zwei zum Wesentlichen kamen, bis der alte Mann laut sagte: »Unter allen Umständen echt. Mit amerikanischem Kodak-Material aufgenommen. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.«

Wayne Hyde hatte gerade die linke Brustseite Kants im Fadenkreuz, die Stelle über dem Herzen ...

»Unter allen Umständen echt. Mit amerikanischem Kodak-Material aufgenommen. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel«, sagte Kant.

»Sagten das auch die Spezialisten des Kopierwerks?« fragte Daniel.

»Ja, die waren genauso überzeugt.« Kants Stimme wurde noch lauter, seine Wangen röteten sich. »Echt! Echt! Ich weiß nicht, wie die Leute Ihres Vaters an den Film kamen, aber echt war er, das schwöre ich. Wenn man ihn den Menschen gezeigt hätte! Du großer Gott! Einen Aufstand hätte es gegeben in der ganzen Welt! Wer waren die wirklichen Verbrecher? Wir? daß ich nicht lache! Die Amis und die Sowjets! Was der Führer immer gesagt hat. Juden und Bolschewiken. Hundertmal hat er es gesagt. Tausendmal. Bolschewiken und Juden. Die Weltverderber. Und hier hatten wir den Beweis, mein Gott, hier hatten wir den Beweis!« Kant trank hastig. Whisky rann über sein Kinn. Er goß die Gläser wieder voll, ließ Eiswürfel hineinfallen. (Im Fadenkreuz war jetzt sein Kopf. Noch nicht, dachte Hyde. Laß ihn noch den Rest sagen. Ich muß alles hören.)

»Und warum hat man den Film nicht gezeigt?« fragte Daniel. »Habe ich Ihren Vater auch gefragt damals im August. Hat er geantwortet, das kommt noch. Ein paar Tage später hat er mir gesagt, die oberste Führung habe beschlossen, es komme nichts mehr. Die Kriegslage war schon zu schlecht. Jedermann hätte den Film für eine Fälschung gehalten. Auch die Deutschen. Man wagte nicht, den Film zu zeigen. Man wagte es nicht mehr. Ich sage heute noch: Das war der größte Fehler, der jemals gemacht

wurde. Den Krieg hätten wir gewonnen – auch zu diesem Zeitpunkt noch! Sehen Sie mich nicht so an, junger Mann! Ich weiß nicht, was aus dem Film geworden ist. Aber wenn wir ihn heute hätten ... wenn wir ihn heute hätten! Die Welt verändern könnten wir mit ihm!«

»Das meinen Sie wirklich?«

»Sie haben den Film nicht gesehen. Und ob ich das wirklich meine! Wenn wir diesen Film heute hätten, junger Mann ...« Daniel sagte: »Wir haben ihn, Herr Professor.«

»Was?« Kants rotes Gesicht wurde weiß. »Wir haben den Film.«

(Jetzt war wieder Kants Brust im Fadenkreuz. Gleich, dachte Hyde. Gleich.)

»Woher haben Sie ihn?«

»Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie Ihnen später. Ich habe den Film gesehen, Herr Professor. Sie haben recht mit dem, was Sie sagten.«

»Wer ... wer sind Sie?«

»Das wissen Sie doch! Ich arbeite beim Sender Frankfurt. Der hat den Film. Wir suchen Zeugen, die damals mit ihm zu tun hatten. Sie sind so ein Zeuge.«

»Weiß Gott! Allmächtiger, Sie haben den Film ... Sie haben den Film ...«

»Wären Sie bereit, das, was Sie mir eben erzählt haben, zu wiederholen?«

»Daß ich von der Echtheit des Films überzeugt bin – und aus welchen Gründen?«

»Ja.«

»Natürlich wäre ich dazu bereit.«

»Vor einer Fernsehkamera?«

»Auch vor einer Fernsehkamera. Nicht zu fassen! Der Film ist da! Der Film ist da!«

»Ich habe ein Aufnahmeteam in Berlin, Herr Professor. Es kann in einer halben Stunde hier sein. Zu Ihrem Schutz ist schon Polizei hier.«

»Ich weiß, ja.«

»Wenn Sie gestatten, rufe ich jetzt mein Team – und auch die Polizei.«

»Meinetwegen. Das Telefon steht auf dem Schreibtisch. daß ich das noch erleben darf ... Mein Gott, daß ich das noch erleben darf!«

Daniel erhob sich.

(Na, aber jetzt, dachte Wayne Hyde. Du alte Nazisau. Im Fadenkreuz hatte er nun wieder die linke Brustseite des alten Mannes. Behutsam drückte er den Abzug durch.)

Ein Schuß krachte.

Kant wurde in seinem Fauteuil hochgerissen, dann sackte er zurück.

»Herr Professor!« schrie Daniel entsetzt.

Er rannte um den Tisch herum zu Kant. Der lag mit dem Kopf nach hinten in seinem Stuhl. Eine Hand hatte er zum Hals gehoben, als sei ihm zu warm und er wolle den Kragen des Hemdes lockern und das weiße Seidenhalstuch herabziehen. Aber Professor Dr. Emil Kant war es nicht zu warm. Er wollte auch nicht den Kragen des Hemdes lockern und das weiße Seidenhalstuch herabziehen. Professor Dr. Emil Kant wollte überhaupt nichts mehr. Professor Dr. Emil Kant war tot.

Wayne Hyde befand sich nur noch wenige Meter über dem Boden an der weinbewachsenen Rückseite der Villa, als Daniel die Eingangstür öffnete und um Hilfe brüllte. Die Scheinwerfer der vier Polizeiautos am Wannseebadweg und in der Inselstraße flammten auf, aus jedem stürzten vier Mann ins Freie. Einige

rannten zum Schwanenwerderweg und verschwanden in Kants Haus. Zwei sicherten den Eingang. Der Rest versuchte, das Gebäude zu umstellen. In einigen benachbarten Villen öffneten sich Fenster und Türen. Männer schrien, Frauen kreischten, Kinder greinten, Hunde bellten wie toll. Hyde erreichte den Gartenboden. Er lief gebückt und zickzack über Blumenbeete und Wiesen, sprang über den Zaun zum Nebengrundstück, rannte um das Haus dort herum ...

»Da ist wer!« schrie eine Frau.

... übersprang den nächsten Zaun und lief an einem unbewohnten Haus vorbei zum Schwanenwerderweg. Die Umgebung war jetzt von den Scheinwerfern der Polizeiautos und den Lichtern der Villen milchig erhellt.

»Da!«

Zwei Polizeibeamte, einer in Zivil, der andere in Uniform, kamen auf dem Schwanenwerderweg Hyde entgegen. Sehr schön, dachte er. Kommt nur! Näher! Noch näher, ihr Hunde! Die Männer gingen gebückt, dicht an einem Zaun entlang. Beide trugen Maschinenpistolen im Anschlag. Hyde hatte eine Tasche seines Gummianzugs. geöffnet und ihr ein kleines schwarzes Kästchen, das große Ähnlichkeit mit dem Fernsteuergerät eines TV-Empfängers besaß, entnommen. Silbern blinkten mehrere Drucktasten. Hyde drückte die vierte Taste von rechts nieder. Auf dem Schwanenwerderweg, direkt vor den beiden Polizeibeamten, explodierte mit der grauenvollen Helligkeit eines Atomblitzes eine Blendgranate, die Hyde deponiert hatte, als er zur Villa des Professors gerobbt war. Beide Beamte ließen die Waffen fallen und schlugen die Hände vor die Augen. Die sehen mal zehn Minuten lang gar nichts, dachte Hyde zufrieden. Wer weiß, wann und wie sie wieder sehen. Manche Leute werden blind von so was. Mit Blendgranaten hatte Hyde beste Erfahrungen. Auf dieses Zündsystem kann man sich auch verlassen, dachte er, während er über den Schwanenwerderweg hechtete und schon den nächsten Zaun nahm. Er hörte wieder Männerstimmen, die durcheinander brüllten. Hyde schob die Brille mit den schwarzen, schmalen Gläsern am Gummizug, die er aufgesetzt hatte, bevor er die Blendgranate zündete, wieder hoch.

Nun rannte er von Garten zu Garten, setzte über einen Zaun nach dem andern, erreichte ein kleines Wäldchen, dann kam noch ein Zaun, dann war er am Wannseebadweg.

Er hörte plötzlich zwei Maschinenpistolen feuern. Mehrere Geschosse schlugen in den Staketenzaun unmittelbar neben ihm ein. Er ließ sich zu Boden fallen und drückte eine andere Taste der Fernzündung. Die zweite Blendgranate explodierte nahe dem Wannseebadweg. Die beiden Beamten, die geschossen hatten, wurden von dem fürchterlichen Licht gleichfalls völlig geblendet. Wieder hatte Hyde, bevor er die Zündung betätigte, die Schutzbrille über die Augen gestreift. Nun hastete er weiter. Er sah durch den Nebel hellen Ufersand und auf dem Wasser das Patrouillenboot der Volkspolizei. Keuchend holte er noch einmal die Fernzündung heraus. Sicher ist sicher, dachte er und drückte die Knöpfe eins und zwei von rechts. Zwei Blendgranaten explodierten in den Gärten, die er durchquert hatte. Hyde rannte über den Uferstreifen und watete im eiskalten Wasser durch das Schilf. Dann war er beim Boot. Er sah zwei Männer, den Ringer Lohotski und den jungen Mann namens Wilms. Sie zogen ihn hoch. Er stand auf Deck.

»Los!« sagte Lohotski halblaut.

Die beiden Volkspolizisten am Steuer reagierten sofort. Schon glitt das Boot im dichten Nebel auf die Havel hinaus. Noch immer schrien auf dem Festland viele Stimmen durcheinander. Lohotski reichte Hyde eine Flasche, entkorkt.

»Was ist das?«

»Wodka.«

»Danke«, sagte Hyde, »ich trinke keinen Alkohol.« »Haben Sie ihn erwischt?«

»Hundertprozentig.«

»Gratuliere!« sagte Lohotski. »Phantastisch, wie Sie das gemacht haben. Auch Ihr Rückzug! Was, Wilms?«

»Wirklich phantastisch, Sir.«

»Ja, muß ich selber sagen«, murmelte Hyde. Das Boot fuhr geräuschlos südwestwärts. »›Das weiß ich sicher: Geister alter Zeit, / Sie haben Schlechterem ihr Lob geweiht.‹« Er sah die verblüfften Gesichter der beiden Männer. »Shakespeare«, sagte

er.

Zweieinhalb Stunden später hatte die Mordkommission ihre Ermittlung am Tatort beendet, und Professor Kants Leichnam war in einer flachen Blechwanne fortgeschafft worden. Die Haushälterin Erna hatte man mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus bringen müssen. In der riesigen Halle befand sich ein halbes Dutzend Menschen. Auf Stativen standen Scheinwerfer und zwei Arriflex-Kameras. Die Scheinwerfer leuchteten die ganze Halle aus. Kabelknäuel lagen auf dem Boden. Der Assistent des Toningenieurs hängte Daniel ein sehr kleines schwarzes Mikrofon an einer schwarzen dünnen Schnur um den Hals. Das Team, welches Conrad Colledo nach Berlin geschickt und das im Hotel STEIGENBERGER gewartet hatte, war eingetroffen und aufnahmebereit. Daniel hatte die Männer herbeigerufen, nachdem er mit Mercedes telefoniert und ihr alles erzählt hatte. Sie wußte nun, daß er erst sehr spät ins Hotel zurückkommen würde ...

»Wir können«, sagte der Assistent des Tonmanns, ein junger Hüne mit einem mächtigen Bart.

»Okay, Herr Ross«, sagte der Kameramann. »Fertig?« »Fertig«, sagte Daniel. Auf dem Fauteuil, vor dem er stand,

war eine große Menge Blut aus Kants Wunde in den Stoff gesickert.

»Ton?« Ein Techniker sah von seinen Instrumenten auf und sagte: »Ton läuft.«

»Kamera auch. Klappe!«

Der Assistent sprang vor Daniel, schlug in Ermangelung einer Klappe fest die Hände zusammen und rief laut: »Halle Professor Kant, Take eins.« Dann machte er, daß er aus dem Bild kam. Daniel sprach in die Kamera: »Hier ist Daniel Ross. Es ist zweiundzwanzig Uhr vierundvierzig am Samstag, dem zehnten März neunzehnhundertvierundachtzig. Ich befinde mich in Berlin-West, Schwanenwerderweg dreihundertsiebenundzwanzig. Dies ist die Villa von Professor Doktor Emil Kant, einem international bekannten Völkerrechtsexperten. Vor etwa drei Stunden, um neunzehn Uhr einundvierzig, wurde Professor Kant in meiner Gegenwart auf dem Fauteuil hinter mir erschossen. Die Polizei hat uns verboten, den Toten zu filmen. Sie hat uns nicht verboten, meine Schilderung des Tathergangs und der vorangegangenen Ereignisse in Wort und Bild festzuhalten ...« Von draußen drang der Lärm erregter Stimmen herein. »Was Sie hören, sind Berliner Fernseh-, Zeitungs- und Rundfunkreporter, die vergebens versuchen, ins Haus zu kommen ...«

Vor der Villa parkten viele Wagen. Es war jetzt sehr hell, denn zahlreiche Autoscheinwerfer beleuchteten die Nebelschwaden. Mehr als zwei Dutzend junge Männer und einige Frauen schrien durcheinander und redeten auf einen gleichfalls noch recht jungen Kriminalbeamten ein, der im Garten vor dem Tor stand. Die Reporter hatten Kameras, Fotoapparate, Tonbandgeräte und Leuchten mitgebracht. In ihren Redaktionen lief rund um die Uhr der Polizeifunk. So hatten sie die Meldung von dem Mord am Schwanenwerderweg gehört und waren losgerast. Aus den Radios vieler Wagen, deren Türen offenstanden, ertönten auch jetzt krachende Störgeräusche und die Stimmen der Männer in der Polizeizentrale und in den Einsatzwagen.

Zwischen dem jungen Beamten und der erregten Gesellschaft sorgte eine Kette von Polizisten dafür, daß niemand das Grundstück betrat. Polizisten und Kriminalbeamte des Erkennungsdienstes und alle verfügbaren Männer des Polizeipostens auf der Insel Schwanenwerder arbeiteten noch immer in der weiteren Umgebung. Mit starken Handscheinwerfern durchkämmten die Beamten das Gelände bis zur Havel. Sie fotografierten Spuren, das Streifenprofil, das Wayne Hydes Sportschuhe im Schnee zurückgelassen hatte, und sie füllten ein paar besonders markante Eindrücke mit flüssigem Gips.

»Was heißt, wir stören die laufende Untersuchung?« schrie ein Mädchen mit Pudelmütze und Pelzjacke, in Bluejeans und Stiefeln. »Wieso denn? Weil wir wissen wollen, warum der Professor erschossen worden ist?«

»Jawohl«, sagte der Kriminalbeamte. Er fror in seinem dünnen Mantel und war wütend darüber, daß man ihn mit den Reportern allein gelassen hatte.

»Was heißt jawohl? Politische Sache?«

»Wer war der Mörder?«

»Wo ist er?«

»Abgehauen in den Osten, was?«

Wieder schrieen die Reporter durcheinander. Sie froren alle, sie waren übermüdet, erkältet und gereizt.

»Los, Johnny, los, nun sag schon was!«

»Mach das Maul auf!«

»Wie oft haben wir euch geholfen?«

»Ist das eine politische Sache?«

»Kommt eine offizielle Stellungnahme«, sagte der Beamte, den sie Johnny nannten.

»Offizielle Stellungnahme? Scheiße! Das ist doch nur zusammengelogener Quatsch!«

»Wie in Koblenz! Der Mann vom Dokumentationszentrum! Da weiß bis heute keiner, was da wirklich passiert ist!«

»Es hat doch eine offizielle Stellungnahme gegeben!« »Ja, und was für eine! Zu dünn zum Arschabwischen! Täter

und Tatmotiv unbekannt!«

»Warum dürfen wir nicht ins Haus?«

»Niemand darf ins Haus.«

»Und die TV-Jungs vor einer halben Stunde? Was ist mit denen?«

»Die dürfen filmen! Warum die und wir nicht?« »Ich bin nicht autorisiert ...«

»Autorisiert! Mensch, Johnny! Sag uns wenigstens, wer die waren, die rein durften – mit Kameras und Scheinwerfern und allem. Was für welche sind das jetzt, da drin? Amis?«

Der Mann, den sie Johnny nannten, dachte wütend: Mich allein lassen und sagen, du sagst kein Wort, das können sie. jedesmal machen sie das mit mir. Ein Scheißjob. Ich geh zurück zur Sitte. War das ein ruhiges Leben mit den Huren! Verbissen sagte er: »Kein Kommentar. Wartet auf die offizielle Stellungnahme. Und jetzt haut endlich ab!«

»Mensch, Johnny, das ist aber eine Gemeinheit von dir! Ein ganz mieses Arschloch bist du!«

Einen Ton haben die am Leib, dachte Johnny erbittert. Bei den Huren hat es so ein Wort nie gegeben. Nie.

»Finest Highgrown Darjeeling« schmeckt doch am besten, dachte der Anwalt Roger Morley in seinem altmodisch eingerichteten Büro an der Londoner Chancery Lane. Der kleine Mann mit dem wirren, grauen Haar, dem Spitzbauch, dem rosigen Gesicht und den Mäusezähnchen trank einen Schluck Tee, während er der Stimme lauschte, die aus dem Telefonhörer kam. Er stellte die Tasse vorsichtig auf den Schreibtisch. Die Männerstimme erging sich in Lobpreisungen Wayne Hydes. Der hatte Morley sofort angerufen, nachdem er bei der Vopo-Station neben der Spandauer Straße am Havelufer gelandet war. Mit Hilfe des kleinen Decoders konnte man tatsächlich überall Verbindung zu dem Telefonbeantworter in London aufnehmen. Hydes Mitteilung, daß seine Mission gelungen sei, war von dem Anwalt gleich weitergegeben worden – an einen seiner Bekannten. In London war es eine Stunde früher als in Berlin –

21 Uhr 55.

»Unseren herzlichsten Dank an Mister Hyde«, sagte nun Morleys Bekannter. »Wir stehen immer tiefer in seiner Schuld. Dieser Mann setzt wahrhaftig sein Leben ein für den Frieden in unserer Welt.«

Ich habe weiß Gott nichts gegen Zyniker, dachte Morley, an seiner Tasse nippend, ich bin selber einer, aber es will mir scheinen, als würde der Mann übertreiben. Das kann ich ihm natürlich nicht sagen. Ich muß es anders formulieren. Roger Morley formulierte es anders: »Es ist doch nicht wirklich Ihre und Ihrer Freunde Ansicht, Sir, daß eine Ausstrahlung des Films – auch wenn es gelingt, alle widrigen Zeugen zu liquidieren und nur solche zu Wort kommen zu lassen, die ihn als Fälschung bezeichnen –, daß eine Ausstrahlung des Films zu einem empörten Aufstand von Abermillionen führen wird, zu einer Rebellion gegen die Lenker der beiden Supermächte. Ein Film, Sir! Sie kennen die Menschen wie ich. Weltrevolution wegen eines Films? Ich bitte Sie!«

»Natürlich befürchten wir nicht den Aufstand der Massen. Das wäre eine lächerliche Angst.«

»Und wie sieht die reale aus, Sir?«

»Die reale, lieber Mister Morley, sieht so aus, daß die Politiker der mit den USA, aber auch den Sowjets verbündeten Staaten schwerst irritiert sein könnten durch diesen Film. Auch wenn alle Zeugen ihn als Fälschung bezeichnen. Unsere Verbündeten – und die Verbündeten der Sowjets – würden, populär ausgedrückt, sagen: Na schön, der Film kann eine Fälschung sein oder nicht. Aber das interessiert uns eigentlich gar nicht. Was uns – Film hin, Film her, echt oder gefälscht – sehr, sehr nachdenklich macht, ist der Gedanke: Die Ereignisse der letzten vierzig Jahre sprechen ungeheuer dafür, daß es ein Abkommen über die Teilung der Welt zwischen den USA und der Sowjetunion gibt. Das ist die Gefahr, verstehen Sie? daß man unsere Verbündeten – und ich spreche jetzt für uns und die Sowjets – durch diesen Film auf die Idee bringt, so ein Abkommen könne mit sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit in der Tat bestehen. Und diese Vermutung, wenn sie sich bis zur Überzeugung steigert, wäre tödlich für jedes Bündnis in Ost oder West. Denn wer krepiert schon gern für fremde Interessen, nicht wahr, lieber Mister Morley? Wer sagt da nicht: Schlachtvieh für die beiden Großen? Nein, danke! Würde Ihre Regierung das nicht sagen?«

»Ich denke, sie würde es gewiß sagen.«

»Sehen Sie. Und alle anderen Regierungen auch. Es wäre das Ende aller Pakte, aller Allianzen. Engste Bündnisse würden sich auflösen. Jede Regierung dächte nur noch daran, wie sie ihr Land aus einer atomaren Katastrophe heraushalten kann. Die Teilung der Welt in zwei Lager – und die haben wir ja de facto – wäre aufgehoben, die saubere ideologische Teilung. Sterben für die Ideale des Westens? Sterben für die Ideale des Ostens? Wenn Osten und Westen sich klammheimlich über alle Köpfe hinweg verständigt haben? Bißchen viel verlangt, würden unsere Bündnisfreunde sagen, nicht wahr? Bißchen sehr viel verlangt. Das ist es, was wir und die Sowjets befürchten. Das große Durcheinander, verstehen Sie? Die Aufhebung des Feindbildes – zu Ihnen kann ich ganz offen sein. Ja, das ist die beste Formulierung: Aufhebung des Feindbildes. Und, nicht zu stoppen, Gedanken darüber, wer denn nun wirklich der Feind oder die Feinde eines Lebens in Frieden sind. Natürlich wären solche Gedanken Ausbund einer kranken Phantasie ...«

»Natürlich«, sagte Morley und trank Tee.

»... aber sie wären nun einmal da, nicht wahr? Auch in den USA. Auch in der Sowjetunion. Und wir wissen doch, was Gedanken – noch so krankhafte, gerade die krankhaften! – in der Vergangenheit angerichtet haben. Nicht Revolten, heldenmütige Erhebungen empörter Menschen fürchten wir, wenn der Film ausgestrahlt wird. Hingegen Verwirrung. Widerborstigkeit. Unlust. Zerfall bestehender Ordnungen. Eine dreimal gottverfluchte Schweinerei hat dieser Olivera uns da eingebrockt mit seiner Nazifälschung. Die böse Saat – nach vierzig Jahren soll sie nun noch aufgehen! Okay, wir können wohl die Ausstrahlung des Films nicht verhindern. Wir können indessen – mit Gottes gütiger Hilfe – alle jene liquidieren, die für die Echtheit des Films plädieren ...«

»Ja«, sagte Morley rasch, »und eben das bereitet mir Sorgen. Lauter Zeugen, welche die Fälschung belegen. Kein einziger, der die Echtheit belegt. Dafür eine Reihe mysteriöser Morde. Meinen Sie, Sir, daß das einen sehr vorteilhaften Eindruck machen wird? Besonders, wenn ich daran denke, daß der deutsche Sender ja auch seine Dokumentation zu dem Film bringen will.«

Die Männerstimme antwortete in breitem Amerikanisch: »Genau dies ist es, was uns als die Lösung erscheint, Mister Morley.«

»Die Lösung?«

»Sehen Sie: Ein Film, in dem alle Zeugen nur ›Fälschung!‹ rufen, ein solcher Film macht doch einen recht eigenartigen Eindruck. Sie sagen es selbst. Warum sendet man wohl einen solchen Film? Nun, natürlich werden die USA und die Sowjetunion Stellungnahmen abgeben, nachdem der Film ausgestrahlt wurde. Die Stellungnahmen werden ungefähr so lauten: Dieser Film mit all den Zeugen für seine Unechtheit soll die Menschen verwirren, sie unsicher werden lassen an ihren Überzeugungen, soll die beiden großen Mächte in argen Mißkredit bringen, soll das Chaos schaffen. Natürlich ist der Film eine Fälschung der Nazis. Um indessen behaupten zu können, es habe auch gewichtige Zeugen für seine Echtheit gegeben, hat man – menschenverachtend und skrupellos – eine Reihe von Menschen getötet, die gar nichts zur Sache zu sagen gehabt hätten, von denen man nach ihrem Tode jedoch behaupten kann, sie hätten, wären sie nicht von mysteriösen Killern ermordet worden, sehr wohl die Echtheit des Films bestätigt. Man hat sie getötet. Dabei hatten sie, wie gesagt, gar nichts mit der Sache zu tun. So würde es in den Stellungnahmen heißen.«

»Und wer ist ›man‹?«

»Lieber Mister Morley, ich bitte Sie! Wer ist ›man‹? Alle Staatsführer, die mehr und mehr Angst vor ihren großen Paktpartnern empfinden, Angst davor, einen Atomkrieg im eigenen Land zu erleben. Vergessen Sie die lächerlichen Friedensbewegungen! Denken Sie an die Regierungen dieser vielen Länder! Sehen Sie nur, wie sich die beiden deutschen Staaten aufeinander zu bewegen! Wie sie erklären, der ›Schaden der Nachrüstung‹ müsse möglichst begrenzt werden. Erich Honecker sagte in Eisenhüttenstadt in Gegenwart des österreichischen Bundespräsidenten über die neuen Raketen, welche die Sowjetunion in der DDR aufstellt: ›Wir wollen das Teufelszeug hier nicht haben.‹ Nun, genauso hat es Willy Brandt für Westdeutschland an die Adresse der USA formuliert. Dem Kanzler Kohl schrieb Honecker, es sei besser, weiterzuverhandeln als hochzurüsten, er schrieb das auch noch ›im Namen des deutschen Volkes‹! Der frühere Abgrenzler plädiert ständig für ›Dialog‹, für ›mehr Sicherheit mit weniger Waffen‹. Für ihre Verhältnisse drastischer denn je demonstriert die DDR, die Ungarn auf ihrer Seite hat, Rumänien sowieso, vielleicht auch weitere Ostblockländer, ihr Unabhängigkeitsbestreben. Zum erstenmal seit Bestehen des Ostblocks sieht sich Moskau damit einer konzertierten Aktion gegenüber – und im Juni fünfundachtzig läuft der Warschauer Pakt aus, ohne automatische Verlängerung. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich verstehe, Sir. Und im Westen ...«

»Im Westen geht der Protest natürlich noch viel heftiger und ganz offen vor sich. Es ist klar, daß sich die Deutschen am meisten betroffen fühlen. Denn sie wissen, wo eine atomare Auseinandersetzung mit größter Wahrscheinlichkeit ihren Ausgang nehmen wird. Es gab einmal glückliche Zeiten, da sagten die Deutschen ungefähr: ›Die Großen sind schon verrückt, aber so verrückt, daß sie auf den Knopf drücken, sind sie nicht.‹ Selige Zeiten, sie kommen nie wieder. Nirgendwo! Sehen Sie sich Holland an, England, Italien! Dieselben Proteste, dieselben Anklagen gegen die beiden Supermächte. Frankreich! Mitterrand versetzt uns einen weiteren Schock. Er holt die Westeuropäische Union aus ihrem Schattendasein zurück, um das Gewicht Europas gegen Amerika anzuheben. Weniger und weniger Verlaß auf ihre Verbündeten müssen die USA und die Sowjetunion empfinden. Stärker und stärker wird die Ablehnung, ja Feindseligkeit dieser Verbündeten gegen die Politik ihrer Schutzmächte, größer und größer ihr Protest und ihre Verweigerung – besonders, ich wiederhole mich, in den beiden Deutschlands. Und da taucht nun der alte Nazifilm auf. Den sollten die Mißtrauischen und Verängstigten nicht für ihre Ziele gebrauchen? werden wir fragen. Da sollten sie auch nur die geringsten Skrupel haben, für ein so großes Ziel, die Befreiung von der Fesselung an ihre gewaltigen Bündnisführer, ein paar Menschenleben zu opfern? So etwa wird unser Kommentar sein. Wie finden Sie das, lieber Mister Morley?«

»Ganz ausgezeichnet. Diese Form der Argumentation, die Sie da gewählt haben, finde ich ganz ausgezeichnet, Sir.«

»Es ist die einzige Möglichkeit. Auf einen derartig infamen Betrug kann man nur so antworten.«

»Sie haben recht, Sir. So sehr recht. Ich bin absolut beruhigt. Das alles, wenn ich mir erlauben darf, es zu sagen, zeugt von der großen ... hrm ... Weisheit Ihrer Freunde.«

Bereits kurz nach 21 Uhr war Wayne Hyde wieder am Checkpoint Charlie. Er kam in dem Wolga mit Vopo-Nummer, den der hagere junge Mann namens Max fuhr. Auf dem Rückweg raste er nicht mehr so furchterregend wie am Nachmittag. Lohotski stieg aus und öffnete den Schlag für Hyde.

»Jetzt müssen Sie Ihr Gepäck mitnehmen«, sagte der Exsöldner, der aussah wie ein Freistilringer. Es war eisig kalt geworden. Lohotskis eingeschlagene Nase funkelte dunkelrot, aus seinen kleinen Augen, die Hyde an Schweinritzen gemahnten, rannen Tränen über die Wangen.

»Vielen Dank und auf Wiedersehen«, sagte Hyde zu Max. »Freundschaft, Freundschaft«, sagte Max. Hyde folgte

Lohotski in den Barackenraum des diensthabenden Vopo-Offiziers. Es war noch jener vom Mittag. Er grüßte voller Hochachtung und reichte Lohotski ein geschlossenes Kuvert. Ein Kanonenofen bullerte.

»Fernschreiben. Vor einer Stunde angekommen.« »Danke.« Lohotski riß den Umschlag auf. Ein Blatt steckte

darin. Lohotski reichte es Hyde. »Das ist für Sie.« Hyde nahm das Papier und sah kurz darauf, ohne die geringste

Regung zu zeigen, steckte es in die Tasche, verabschiedete sich von Lohotski und nahm dann seine beiden Kleidersäcke. Er warf sie über die Schulter und ging durch die Sperren der Ostseite. Lohotski hatte mit den Beamten vor den Kontrollbaracken telefoniert. Niemand hielt Hyde auf. Zwei frierende Volkspolizisten in dicken Mänteln stampften mit ihren Stiefeln auf dem eisglatten Boden. Sie salutierten.

»Freundschaft«, sagte Hyde.

Er ging an den Stahlhindernissen und Barrieren vorbei, welche die Autos zwangen, hier unmittelbar an der Mauer im Schritttempo eine Slalomstrecke zu fahren, aus dem einen Deutschland hinüber in das andere Deutschland. Grelle Neonpeitschen erleuchteten die Gegend taghell. Auf der anderen Seite standen Westberliner Polizisten und alliierte Soldaten. Sie froren ebenso wie ihre Kollegen im Osten. Hyde zeigte einem amerikanischen Mastersergeant seinen amerikanischen Paß. Der Mastersergeant, ein Schwarzer, blätterte ihn sorgfältig durch.

»Was haben Sie drüben gemacht, Mister Hyde?« »Einen Freund besucht«, sagte Hyde.

»Samt Gepäck?«

»Ich bin gleich nach der Landung in Tegel mit dem Taxi hierhergefahren. War in Eile. Mein Freund liegt im Sterben«, sagte Hyde.

»O ja?« Der Schwarze musterte ihn. »Einen Moment, Mister Hyde. Sie können mitkommen, wenn Ihnen zu kalt ist.« Der Mastersergeant ging voraus in eine weißgestrichene Baracke der amerikanischen Militärpolizei, auf deren Dach eine Tafel befestigt war. Sie zeigte im Kleinformat die Flaggen der drei Westmächte und die Worte ALLIED CHECK-POINT. Der Mastersergeant deutete auf eine Bank. Hyde setzte sich. Der Schwarze verschwand hinter einer grüngestrichenen Tür. Irgendwo lief ein Radio. Hyde hörte Musik. Frank Sinatra sang: »At last my love has come along«. Hyde summte mit. Als das Lied zu Ende war, vernahm er eine Sprecherstimme: »This is AFN Berlin. We are bringing you ›Music in the Miller Mood‹. Next: ›Little brown jug‹.« Wieder setzte swingende, sentimentale Jazzmusik ein.

Die grüne Tür ging auf, der Schwarze erschien wieder. »Hier ist Ihr Paß, Sir«, sagte er überhöflich. »Mir war, als

hätte jemand für Sie angerufen. Ich habe mich nicht getäuscht.« »Wer hat angerufen?« fragte Hyde gleichgültig. »Das weiß ich nicht, Sir. Er hinterließ eine Nachricht: Sie

sollten unbedingt sofort, nachdem Sie hier durch sind, in das CHECKPOINT RESTAURANT kommen. Gleich im nächsten Haus. Anständiges Essen, Sir. Der Gentleman wartet auf Sie.«

»Danke«, sagte Hyde.

»Good night, Sir«, sagte der Schwarze, »and good luck.« Erhob eine Hand an den weißen Plastikhelm.

In der zugigen Kälte ging Wayne Hyde nun auf Westberliner Gebiet. Die linke Straßenseite säumten ein paar Geschäfte, darunter eine Foto-Zentrale. Sie hatten längst geschlossen. Gegenüber befand sich die Gaststätte CHECKPOINT RESTAURANT. Hyde trat ein. Das bürgerliche Lokal war fast leer. Ein paar Taxifahrer spielten Karten, ein Mann mit Hornbrille, der die BILD-Zeitung las, saß allein am Tisch. Ein Teller mit Resten von Rührei und Schinken stand vor ihm. Hinter der blitzenden Theke und einer Glasvitrine voll Bouletten und Heringen wartete der dicke Wirt.

»Guten Abend«, sagte Hyde und nahm in einer Ecke Platz. Der Wirt kam herangeschlurft. Er trug eine goldene Uhrkette über der Weste, die den mächtigen Bauch umspannte. Die Jacke hatte er ausgezogen, die Hemdsärmel hochgekrempelt. »Abend, der Herr. Wat darf et sein?«

»Ein Cola und ein Mineralwasser«, sagte Hyde. »IS jut, der Herr.« Der Wirt schlurfte fort.

Hyde nahm das Fernschreiben, das Lohotski ihm gegeben hatte, aus einer Tasche seines Dufflecoats und aus einer anderen das Buch mit den Shakespeare-Sonetten. Das Fernschreiben bestand aus lauter Zahlen. Hyde betrachtete sie sehr aufmerksam. Er las:

41 9 23 11 10 14 10 ...

Der Wirt war wieder herangekommen.

»So, der Herr. Een Cola und een Wasser. Sehr zum Wohle!« »Danke«, sagte Hyde. Er trank einen großen Schluck

Mineralwasser, dann erst Coca-Cola.

Nun nahm er Papier und Bleistift aus der Jackentasche und notierte: 34 2 16 4 3 7 3 ... Dabei zog er von jeder Zahl, die auf dem Fernschreiben stand, sieben ab. Nach etwa fünf Minuten hatte er seine Arbeit beendet. Er schlug das Buch auf und suchte das vierunddreißigste Sonett, die zweite Zeile und den sechzehnten Buchstaben von links. Der Buchstabe war ein T. Als nächster Buchstabe folgte ein E. Nach einer Viertelstunde hatte Hyde den gesamten Text dechiffriert und aufgeschrieben:

TEDDY SHIMON VON DER ISR. BOTSCHAFT BONN WAR VORMITTAGS BEI KARRELIS IM SENDER FRANKF. STOP FLOG NACH BERLIN STOP HOTEL KEMPINSKI STOP INFORMATIONEN GIBT MANN MIT HORNBRILLE UND BILDZEITUNG GRUSS MORLEY

Die Art der Chiffriermethode hatte Hyde mit Morley festgelegt. Der Söldner nahm das Papier, zündete es an und sah zu, wie es verbrannte. Die Reste zerstochene er in einem Porzellanaschenbecher. Dann stand er auf. Der Wirt putzte gerade mit einem Lappen die Metallteile der Theke.

»Ich muß mal«, sagte Hyde.

»Tür da drüben und dann die erste rechts, der Herr.« Hyde ging auf das Männerklosett und stellte sich vor eines der

Becken. Etwa nach zwei Minuten erschien der Mann mit der Hornbrille. Er trat neben Hyde, nachdem er festgestellt hatte, daß alle Toiletten frei waren.

»Alice im Wunderland«, sagte der Mann. »Die weiße Königin. Was tat sie?«

»Sie schrie«, sagte Hyde, »und danach erst tat sie sich weh.« Der Mann sagte jetzt: »Teddy Shimon hat im KEMPINSKI Zimmer dreihundertdreiundzwanzig. Ross und die Olivera haben Appartement sechshundertsechs/sieben. Wir haben für Sie sechshundertacht/neun reservieren lassen. Unter Ihrem Namen. Ist am Ende des Ganges. Glück gehabt. War frei. Ross ist noch am Wannsee. Mit dem Fernsehteam. Verlieren Sie keine Zeit!«

»Danke«, sagte Hyde.

»Nichts zu danken«, sagte der mit Brille. »Gehen Sie jetzt. Ich bleibe noch ein Weilchen.«

»Gute Nacht«, sagte Hyde. Er kehrte in die Kneipe zurück und ging zu dem Tisch, an dem die Taxichauffeure Karten spielten.

»Wer ist der erste?« fragte er.

»Ich.« Ein Mann mit flachsblondem Haar sah auf. Er trug eine Lederjacke zu Rollkragenpullover und Cordsamthose. »Zahlen!« rief Hyde. Der Wirt kam und nannte die Summe. Hyde gab ihm einen Zehnmarkschein und wartete, bis er das Wechselgeld in die Hand gezählt bekommen hatte. Der Chauffeur, der eine Schieberkappe aufsetzte, nahm die beiden Kleidersäcke. Sie verließen die Kneipe und gingen zum ersten in einer Reihe von Taxis.

»Scheißkälte, wa?« sagte der Chauffeur. »Jetzt noch im März! Wohin?«

»KEMPINSKI«, sagte Wayne Hyde.

»Also, mit anderen Worten: Die feinen Herren weigern sich nach wie vor zu zahlen.« Zornig und laut klang die Stimme Eduardo Oliveras aus der Membran des Telefonhörers an Mercedes’ Ohr. Sie preßte die freie Hand gegen die Stirn.

»Vater! Bitte, Vater! Sei vernünftig! Hier in Berlin ist soeben ein Mann erschossen worden.«

»Was geht mich der Mann an? Ich will mein Geld.« »Der Mann wäre ein erstklassiger Zeuge für die Echtheit des

Films gewesen. Das ist schon der zweite Mord. Ich habe dir erzählt, was in Koblenz geschehen ist. Wir kämpfen gegen eine Organisation von skrupellosen Verbrechern.«

»Eure Sorge, nicht meine. Ich habe andere Sorgen, große. Die Zeit verrinnt. Am zwanzigsten Februar seid ihr hier abgeflogen! Heute haben wir den zehnten März. Und ich bekomme kein Geld. Ich bekomme kein Geld.«

»Sie sind bereit, dir hunderttausend Dollar als Zeichen ihres guten Willens zu bieten, das habe ich dir schon vor drei Tagen gesagt ...« Mercedes rief ihren Stiefvater regelmäßig an. Seine Haltung wurde immer bösartiger, ihre Stimmung immer verzweifelter.

»Hunderttausend Dollar! Ich will endlich die zehn Millionen haben! Die haben sie doch geschluckt, nicht wahr? Na also, dann will ich sie auch haben! Dann muß ich sie auch haben! Ich brauche Geld.«

»Du brauchst derart dringend zehn Millionen Dollar?« Den Hörer am Ohr, sah Mercedes von den alten schönen

Stichen an den Wänden des Salons zum Kamin, vom Kamin zu der Bar, die aus einem alten Betschemel gemacht worden war, von dieser zurück zu den Stichen, die Szenen aus dem alten Berlin zeigten. Ein großer Lüster brannte. Es war fast Mitternacht. Mercedes trug einen Morgenmantel. Sie hatte im Grillrestaurant zu Abend gegessen, nachdem Daniel sie angerufen und gesagt hatte, was geschehen war und daß es sehr spät werden würde. Sie hatte zu lesen versucht, vergeblich. Sie hatte ferngesehen, ohne wahrzunehmen, was sie sah. Ihre Gedanken hatten sich im Kreis gedreht. Professor Kant erschossen. In Dannys Gegenwart. Der zweite Tote. Danny in Gefahr. Sie in Gefahr. Der Mörder, die Mörder in Berlin, in der Stadt, im Hotel vielleicht. Mercedes war in Panik geraten. Sie hatte einen großen Cognac getrunken, nervös mehrere Zigaretten geraucht. Dann war ihr eingefallen, daß es wieder an der Zeit sei, ihren Stiefvater anzurufen. Er benahm sich so, wie sie es befürchtet hatte. »Jetzt höre einmal zu, Mercedes!« Sie erschrak über die Kälte seiner Stimme. »Bei mir ist Schluß. Ich warte nicht länger. Schon vor sechs Tagen sind Interessenten an mich herangetreten. Libysche. Bereit, sofort zu zahlen. Ich habe sie anständigerweise hingehalten, weil ich dem Sender ursprünglich eine Frist von vier Wochen eingeräumt habe, aber ...«

Es klopfte. Mercedes hatte die Salontür zugesperrt. »Einen Moment, Vater, es kommt jemand. Ich muß die Tür

öffnen.« Sie ließ den Hörer auf die Couch fallen, lief zur Tür, rief: »Wer ist da?«

»Danny.« Es war seine Stimme. Sie sperrte auf und warf sich, nachdem er eingetreten war, an seine Brust. Sie schluchzte. »Danny ... Danny ... Danny ...«

»Aber Mercedes ... Um Himmels willen ... Was ist geschehen?«

»Ich hatte solche Angst um dich«, stammelte sie, während sie sein Gesicht mit Küssen bedeckte. »So schreckliche Angst. Und ich telefoniere gerade mit Vater ... Er will den Film an Libyer verkaufen ...«

»Was?«

Daniel riß ihre Arme von seinen Schultern und lief zur Couch, auf welcher der Telefonhörer lag. Er nahm ihn und sprach. »Hier ist Daniel.«

»Ja, das höre ich.«

»Ich komme eben ins Hotel zurück. Mercedes hat mir gesagt, was du tun willst. Du bist wahnsinnig!«

»Ich bin vollkommen normal. Ich habe dir ausführlich meine Situation erklärt, als du hier warst, du erinnerst dich?«

»Ja, gewiß, aber du hast uns doch eine Frist von vier Wochen ...«

»Ich habe keine Zeit mehr, Daniel. Keine Zeit mehr, hast du verstanden? Es geht um meine Existenz.«

»Aber ...«

»Nichts aber! Ich warte nicht länger. Ich habe ein Telegramm von deinem Sender bekommen. Ein Fernsehteam ist unterwegs hierher. Also erstens: Bevor ich nicht die zehn Millionen habe ...«

»Vater, bitte!«

»Halt den Mund! Bevor ich nicht die zehn Millionen habe, trete ich nicht eine Sekunde vor die Kamera ...«

»Das ist ...«

»Du sollst den Mund halten, verflucht! Zweitens: Ich verlange, daß mir die zehn Millionen innerhalb von drei Tagen, also bis spätestens dreizehnten, übergeben werden. Übergeben, sage ich. Keine dummen Tricks mit Anweisungen, die gesperrt werden können, und derartiges. Ich will den Scheck in die Hand! Es ist mir egal, wer ihn bringt. Du, jemand vom Sender. Einer muß kommen. Warte, ich bin noch nicht fertig. Bis spätestens morgen nachmittag achtzehn Uhr euerer Zeit will ich vom Intendanten des Senders – wie heißt er?«

»Herr von Karrelis.«

»... will ich von diesem Karrelis die schriftliche Zusage, daß der Scheck über den ganzen Betrag mir bis spätestens dreizehnten gebracht wird. Karrelis muß morgen ein Telex schicken, in dem er sich ehrenwörtlich verpflichtet, meine Forderung zu erfüllen.«

»Das geht niemals!«

»Warten wir es ab! Du telefonierst heute noch mit Frankfurt. Die Leute haben Zeit, sich alles zu überlegen. Wenn sie nicht wollen, wenn ihnen der Film die zehn Millionen nicht wert ist – okay. Dann soll der Intendant mich morgen anrufen. Dann verkaufe ich übermorgen an die Libyer. Wiederhole alles!«

»Wozu? Ich habe es verstanden.«

»Ich will sicher sein, daß du es verstanden hast!« »Aber das ist doch ...«

»Du sollst es wiederholen, verflucht!«

»Ich rufe in Frankfurt an. Du weigerst dich, vor eine Kamera zu treten, bevor du die zehn Millionen hast. Du verhandelst mit Gaddafi-Leuten, die sofort zahlen würden. Also Ultimatum. Du verlangst, daß dir jemand bis spätestens dreizehnten einen Scheck über die gesamte Summe bringt. Das soll der Intendant morgen ehrenwörtlich versprechen – vor achtzehn Uhr unserer Zeit – und ein entsprechendes Telex schicken. Wenn nicht geschieht, was du verlangst, verkaufst du übermorgen an die Libyer.«

»Richtig. Gute Nacht, Daniel.«

Es klickte in der Leitung. Daniel starrte den Hörer an. »Er hat aufgelegt«, sagte er fassungslos. »Mein

gottverdammter Vater. Das hat uns eben noch gefehlt.« Er schlüpfte aus seinem warmen Mantel und schleuderte ihn in eine Ecke. Danach fluchte er lange und obszön.

»Danny, bitte!« Mercedes hatte den Mantel aufgehoben. Sie hängte ihn in den Vorraum. Als sie zurückkam, war Daniel auf einem Sessel zusammengesunken, den Kopf in den Händen. Sie kniete vor ihm nieder, strich über sein Haar.

»Liebster, beruhige dich, bitte ... Es war sehr schlimm, ja?« »Einer von diesen Hunden hat Kant erschossen. Und ich bin

schuld daran. Ich bin schuld daran, Mercedes!« »Was ist das für ein Unsinn!«

»Das ist kein Unsinn. Ich bin schuld, ich, ich, ich! Weil ich mich wie ein kleiner Junge benommen habe, der Indianer spielt. Ein schwachsinniger, kleiner Junge.«

»Aber wieso?«

»Ich habe es den Mördern leichtgemacht. Kindisch leicht. Ich habe vom Hotel in Wien aus ein Mädchen in der Zentrale gebeten, Kants Telefonnummer und Adresse zu eruieren. Vom Hotel aus, ich Trottel! Und vom Hotel aus, wie ein Trottel, habe ich mit Kant gesprochen. Ich habe vom Hotel aus den Flug nach Berlin reservieren lassen. Ich habe noch und noch Spuren gelegt. Ein Blinder hätte mir folgen können. Ich bin schuld an Kants Tod. Ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen.«

»Hör sofort auf damit, Danny! Das Telefon in Wien kann noch nicht angezapft gewesen sein. Und war das BKA nicht verständigt? War das Haus nicht von der Polizei bewacht? Habt ihr nicht alles getan, damit Kant nichts geschieht?«

»Nein, das haben wir nicht. Der Mörder ist ins Haus gelangt und hat Kant getötet. Trotz Polizeischutz. Trotz Bewachung.« Daniel packte sie an den Schultern ... »Und so wird es weitergehen, Mercedes, das habe ich jetzt begriffen. Sie töten jeden, der bereit und fähig ist, auszusagen, der Film sei echt. Sie müssen überall sein. Sie müssen alles wissen. Alles. Wir richten nichts aus gegen sie. Wir geben am besten auf, bevor noch mehr Menschen sterben.«

»Nein!« Mercedes schrie das Wort. Dann faßte sie sich. »Wir dürfen nicht aufgeben! Das ist es ja gerade, was sie wollen. Wir müssen weitermachen! Wir müssen die Menschen informieren. Das müssen wir tun!«

Er betrachtete sie ernst. So groß ist ihr Fanatismus, dachte er. Gewiß noch größer. Sie hat gesagt, daß es nichts gibt, was sie nicht tun würde, wenn es hilft, den Frieden zu sichern. Großer Gott, in was für eine Geschichte schliddern wir da hinein!

Er stand abrupt auf. »Verzeih, Mercedes!«

Sie lächelte verzerrt. »Schon gut, Danny. Wir haben alle nur Nerven.«

Er griff in die Tasche, zog mechanisch ein Medikamentenröhrchen heraus, das er öffnete, und ließ Pillen in die hohle Hand gleiten. Dieses Röhrchen hatte Sibylle ihm mit einigen weiteren noch im Sanatorium gegeben. Sie enthielten das neue Mittel, auf das er eingestellt war: Amadam. Er neigte den Kopf zurück, öffnete den Mund und war im Begriff, fünf Pillen zu schlucken. Noch in der Bewegung, als seine Hand nach oben fuhr, erstarrte er.

»Nein«, sagte er. Er ließ die Pillen in das Röhrchen zurückfallen. »Nein«, sagte er noch einmal. »Ich habe es Sibylle versprochen. Ich kann nicht schon wieder wortbrüchig werden.« Er hielt Mercedes das Medikament hin. »Nimm du es!« sagte er. »Die anderen Röhrchen auch. Sie sind im Badezimmer. In meinem Toilettenbeutel. Ich sehe, du hast die Koffer ausgepackt. Du behältst jetzt das Amadam und gibst mir zwei Pillen am Tag, eine morgens, eine abends, egal, was geschieht. Nun nimm schon, bitte!«

»Danny«, sagte sie, »Danny ...«

»Und jetzt etwas zu trinken, bitte«, sagte er. »Das war ein wenig zu viel da draußen.«

»Cognac? Whisky?«

»Egal ... Cognac, bitte.« Sie füllte ein Schwenkglas. Er trank es mit einem Schluck leer. Sein Gesicht war kreidebleich gewesen, als er kam. Jetzt kehrte Farbe in die Wangen zurück. Er atmete tief.

»Setz dich zu mir, Mercedes«, sagte er. »Ich werde dir alles erzählen ...«

Und er erzählte ihr alles, den Arm um ihre Schultern, und er wurde immer ruhiger dabei. »Wenigstens gibt es diesmal eine genaue Dokumentation«, schloß er. »Wir haben alles Wichtige gedreht, den Mord sozusagen rekonstruiert. Aber das ist auch noch nicht genug. Das nächste Mal – ich werde es Conny sagen,

wenn ich ihn wegen Vater anrufe – müssen Polizei und das Team gleich zu mir kommen, damit wir den Zeugen filmen können, sobald wir bei ihm sind. So etwas wie heute darf nie wieder passieren. Es war ... zu furchtbar. Eben redete ich noch mit Kant – da war er schon tot. Wie soll das überhaupt weitergehen? Conny sagt, seine Leute haben noch nicht eine einzige Spur gefunden. Nicht in Deutschland, nicht in London, nicht in Paris, nicht in Amerika.«

»Ach!« Mercedes fuhr auf. »Was ist?«

»Da hat ein Mann angerufen ... vor zwei Stunden vielleicht.« »Was für ein Mann?«

»Ein gewisser Teddy Shimon von der israelischen Botschaft in Bonn. Er ist hier im Hotel. Zimmer dreihundertdreiundzwanzig. Du sollst dich sofort melden, wenn du kommst.«

»Ich kenne keinen Teddy Shimon.«

»Es ist wichtig, hat er gesagt. Sehr wichtig.« »Glaubst du, es hat mit dem Film zu tun?«

»Ja, das hat mir Conny gesagt.«

»Conny Colledo?« Daniel sah sie verblüfft an. »Ich bin völlig durcheinander. Ja, Conny hat auch angerufen

... Vor diesem Shimon ... Er hat Shimon angekündigt ... Der war bei Conny und dem Intendanten ... Sie haben ihn hierher geschickt. Wir sollen unbedingt mit diesem Shimon sprechen.« Daniel stand auf und nahm den Telefonhörer. Eine Frauenstimme meldete sich.

»Bitte, Herr Ross?«

»Fräulein, ich möchte Herrn Teddy Shimon sprechen. Zimmer dreihundertdreiundzwanzig. «

»Sie können selbst anrufen. Wählen Sie vor der Zimmernummer die Acht.«

Im Salon des Appartements sechshundertacht/neun saß Wayne Hyde auf einer Couch, die an der Wand zum Salon des Nebenappartements stand. Er saß da seit zwei Stunden. Hyde hatte unendliche Geduld. Das war einer der Gründe dafür, daß er noch lebte. Seine Füße lagen auf dem Tisch vor ihm, er lehnte gegen eine Couchecke. In seinen Ohren steckten die beiden Enden eines Metallbügels, der zu einem stethoskopartigen Gerät gehörte. Ein roter Gummischlauch war an der Stelle befestigt, an welcher die beiden Hälften des Metallbügels zusammentrafen. Der Gummischlauch, einen guten halben Meter lang, verbreiterte sich am anderen Ende zu einer flachen Rundkappe. Über ihrer Flachseite war mit einer Klammer ein kleiner, sehr leistungsfähiger elektronischer Verstärker montiert. Diese Rundkappe drückte Hyde an die Wand zum Salon des Nebenappartements. Deutlich konnte er das Gespräch zwischen Mercedes und Daniel verfolgen. Genauso deutlich waren die Worte der jungen Frau an seine Ohren gedrungen, als sie mit ihrem Vater, diesem Teddy Shimon und Conrad Colledo telefonierte. Das Gerät war erstklassig. In den letzten Stunden hatte Hyde alles gehört, was nebenan geschah. Jedes Geräusch, die Schritte Mercedes’, wenn sie umherging, das Öffnen und Schließen von Türen. Er hatte registriert, wie sie ein Glas vollgoß, wie sie hustete, nachdem sie getrunken hatte, wirklich alles. Und er hatte geduldig gelauscht, so geduldig.

Jetzt hörte er Daniel eine vierstellige Nummer wählen, danach seine Stimme: »Herr Shimon? Guten Abend. Hier spricht Daniel Ross. Verzeihen Sie die späte Störung. Sie haben um Rückruf gebeten, egal, wann ... Ja, vor ein paar Minuten erst ...« Hyde saß reglos da, als wäre er gestorben. »Das stimmt, ich kenne Sie nicht ... Was wollen Sie von mir? ... Der Film? ... Was für ein Film? ... Herr Shimon, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie sprechen ... Ja, ja, ja, Herr Colledo hat meine Begleiterin angerufen und gesagt, daß ich unbedingt mit Ihnen reden soll, wenn Sie sich melden ... Gut, jetzt gleich ... Vielleicht in der Bar ... Da haben Sie recht ... Zu viele Menschen ... Warum kommen Sie nicht zu mir herauf? ... Was heißt, Frau Olivera darf natürlich dabei sein? Woher kennen Sie ... Ach so ... Auch ihren Vornamen ... Mercedes, richtig ... sechshundertsechs/sieben, ja ... Wir erwarten Sie, Herr Shimon.«

Wayne Hyde saß weiter absolut reglos da. Sein Gesicht war ohne irgendeinen Ausdruck.

Im Salon ihres Appartements standen Mercedes und Daniel einander gegenüber.

»Conny hat gesagt, es ist sehr wichtig. Das hat er gesagt? daß es sehr wichtig ist?«

»Ja.« Mercedes nickte. »Und daß wir völlig beruhigt sein können. Er wollte am Telefon so wenig wie möglich erklären.« Es klopfte. Daniel ging zur Tür und öffnete.

Draußen stand ein Hüne von einem Mann, braungebrannt, mit blondem Haar, stahlblauen Augen und länglichem, gut geschnittenem Gesicht. Unter seinem grauen Anzug zeichnete sich der durchtrainierte, schlanke Körper ab.

»Treten Sie ein, Herr Shimon!« sagte Daniel. Der Mann hielt einen Ausweis hoch. Dieser zeigte ein

Farbpaßbild, das Hoheitszeichen des Staates Israel und eine Erklärung in Hebräisch, Englisch, Französisch und Deutsch, derzufolge Shimon Mitglied der israelischen Botschaft in Bonn war.

Der blonde Riese, Urtyp des sogenannten Ariers, verneigte sich vor Mercedes. Die drei setzten sich. Einen Drink lehnte Shimon ab.

»Nun?« fragte Daniel. »Seit wann interessiert sich die israelische Botschaft für uns?«

»Oh, schon eine ganze Weile«, sagte Shimon. Er hatte blendendweiße Zähne, die er zeigte, als er lächelte. »Weitaus mehr interessiert sich der MOSSAD für Sie.«

»Der MOSSAD?« fragte Mercedes.

»Ja, der israelische Geheimdienst«, sagte Daniel, und zu Shimon: »Wieso Ihr Geheimdienst?«

»Die meisten Geheimdienste der Welt interessieren sich für Sie, Herr Ross. Ihr Vater ist unvorsichtig in Buenos Aires. Er wird es mehr und mehr. Er ... beträgt sich höchst unklug. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Die Amerikaner und die Sowjets wissen natürlich von dem Film, das ist Ihnen klar, wie?«

Daniel nickte.

»Aber auch die Engländer, die Franzosen, Italiener, Ungarn, Schweizer, Spanier. Man kann sagen, die Welt der Geheimdienste ist alarmiert und weiß von dem Film und allen Bemühungen, die Sie und viele andere unternehmen, Zeugen zu finden, die seine Echtheit beweisen können – oder daß er eine Fälschung ist.«

»Und Sie? Was wissen Sie, Herr Shimon?« fragte Mercedes. »Daß der Film eine Fälschung ist, gnädige Frau. Eine geniale

Fälschung, zugegeben. Aber eine Fälschung.« »Um uns das zu sagen, sind Sie nach Berlin gekommen?«

Daniel lächelte.

»Natürlich nicht.«

»Sondern weshalb?«

»Weil wir den Fälscher kennen«, sagte Shimon. »Er erwartet Sie. Er ist bereit, seine Geschichte zu erzählen. Vor der Kamera. Die ganze Wahrheit. Warum sehen Sie mich so an, Herr Ross?«

»Aus Dankbarkeit, Herr Shimon. Wir sind Ihnen außerordentlich dankbar. Zu denken, daß sich der israelische Geheimdienst die Mühe macht, diesen Fälscher ausfindig zu machen, und daß Sie sich die Mühe machen, nach Berlin zu fliegen, um eine Verbindung herzustellen ...«

»Das irritiert Sie.«

»Aber nein.«

»Aber ja. Es wird für die Vereinigten Staaten ganz außerordentlich vorteilhaft sein, wenn ein Zeuge klarstellt, daß der Film eine Fälschung ist. Wir sind nur ein kleines, ständig bedrohtes Volk, auf die andauernde Hilfe Amerikas angewiesen. Ohne Amerika sind wir verloren. Eine Hand wäscht die andere. Das haben Sie doch eben gedacht, Herr Ross!«

»Also gut, ich habe es gedacht«, sagte Daniel. »Ein naheliegender Gedanke, nicht wahr?«

»Herr Ross, wir helfen Amerika in dieser Angelegenheit selbstverständlich gern, das gebe ich offen zu. Hier lag das Hauptinteresse bei den Untersuchungen des MOSSAD. Aber zu keinem Zeitpunkt hatte irgend jemand von uns die Absicht, Amerika mit einem Betrug zu helfen.«

»Wenn Sie jemanden gefunden hätten, der als Zeuge dafür auftreten könnte, daß der Film echt ist, wären Sie dann auch hier?« Shimon zögerte. »Nein«, sagte er dann. »Das sehen Sie ganz richtig. Aber der MOSSAD hat nun einmal den Fälscher gefunden.«

»Wie?«

»Was wie, Herr Ross?«

»Wie hat er ihn gefunden?«

»Herr Ross, bitte!« Das Lächeln des israelischen Diplomaten wurde breiter. »Wirklich!«

»Ja«, sagte Mercedes, »wirklich, Danny.«

»Entschuldigen Sie, Herr Shimon!«

»Ach, aber bitte! Der MOSSAD hat den Fälscher gesucht – formulieren wir es so – wie alle anderen Geheimdienste, und das sind eine Menge. Nun, wir hatten Glück, wir waren schneller als die anderen. Wir sind sehr oft schneller als die anderen. Gott sei Dank! Ich kann Ihnen den Namen des Fälschers nennen.«

»Dann tun Sie es doch. Wie heißt er?«

»Harry Gold.«

»Harry Gold?«

»Harry Gold.«

»Und wo lebt dieser Harry Gold?«

»In Frankfurt am Main, Herr Ross.«

»Wo in Frankfurt am Main, Herr Shimon?« »Ich bringe Sie hin, Herr Ross, liebe gnädige Frau.« »Das können Sie meinetwegen tun. Aber ich will wissen, wo

Harry Gold wohnt. Ich bin aus Frankfurt. Ich kenne mich da ziemlich gut aus.«

»Odrellstraße zweihundertsiebzehn.«

»Das ist in der Kuhwaldsiedlung«, sagte Daniel. »Westlich vom Messegelände, zwischen Theodor-Heuss-Allee und dem großen Rangierbahnhof.«

»Richtig.«

»Hat Herr Gold Telefon?«

»Sie brauchen ihn nicht anzurufen. Ich habe alles für Sie arrangiert.«

»Sehr freundlich.«

»Herr Gold ist bereit, seine Aussage schon morgen zu machen. Sie können zu ihm kommen, wann Sie wollen. Er erwartet Sie.«

»Sehr schön. Ich muß allerdings noch mit Herrn Colledo telefonieren. Ich weiß nicht, was für ein Aufnahmeteam ich bekomme. Morgen ist Sonntag.«

»Überstürzen Sie nichts! Lassen Sie auch Herrn Colledo Zeit. Dreizehnmal täglich können Sie Berlin auf dem Luftweg Richtung Frankfurt verlassen. Hier ist ein Flugplan.«

Ross blätterte darin.

»Ich würde sagen, wir fliegen um dreizehn Uhr fünfunddreißig«, sagte er. »Dann sind wir um vierzehn Uhr fünfunddreißig in Frankfurt. Rechnen wir noch etwa eine Stunde dazu, bis wir bei Herrn Gold eintreffen. Also fünfzehn Uhr dreißig. Wird ihm das recht sein?«

»Dem ist alles recht. Er wartet den ganzen Tag. Es genügt, wenn wir ihn nach der Landung in Frankfurt anrufen. Kann ich bei den Aufnahmen dabei sein?«

»Bitte.«

»Danke.«

»Wir haben zu danken, Herr Shimon. Sehr.« »Ist mir doch ein Vergnügen.«

»Frühstücken wir zusammen?« fragte Mercedes. »Hier oben?«

»Gerne, Frau Olivera.«

»Wir rufen Sie an. So um neun?« fragte Daniel. »Neun ist fein«, sagte Teddy Shimon. »Warten Sie, ich gehe mit Ihnen.«

»Wohin?«

»Ich muß noch meinen Freund Colledo anrufen.« Daniel nahm seinen Mantel und küßte Mercedes. »Ich bin bald wieder da!«

»Paß gut auf dich auf, Danny!« sagte sie. »Bitte, paß auf dich auf!«

Nebenan hörte Wayne Hyde, wie Shimon sich von Mercedes verabschiedete und wie die beiden Männer das Appartement verließen. Mercedes drehte den Fernsehapparat an. Ein Spätfilm lief. Hyde hörte Musik und Dialoge. Er nahm die verchromten Bügel des stethoskopartigen Apparats vom Kopf, wartete zehn Minuten und erhob sich dann. Er zog den Dufflecoat an, verließ ebenfalls sein Appartement und fuhr mit einem Lift in die Halle. Hier saßen noch viele Menschen. Aus der Bar erklang Klaviermusik. Hyde trat ins Freie. Es war eisig kalt, der Himmel klar. Hyde sah Sterne.

Er ging den Kurfürstendamm hinunter zur Gedächtniskirche. Der zerstörte Turm ragte in die milchige Finsternis empor. Je näher Hyde dem Ende des Kurfürstendamms kam, um so mehr Huren begegneten ihm. Fast alle sprachen ihn an. Er lehnte jedesmal dankend ab. Die Huren waren sehr höflich, wenn auch sehr entmutigt. Sie trugen Pelzmäntel. Trotzdem froren sie. Hyde wollte zum Bahnhof Zoo. Als er vor der Kirche links in die Joachimstaler Straße einbog, trat ihm ein ordentlich gekleideter Mann in den Weg. Der Mann lüpfte einen steifen, schwarzen Hut und sagte. »Ach, verzeihen Sie, mein Herr.«

»Was ist?«

»Fleischmann der Name. Julius Fleischmann. Gymnasiallehrer für Latein und Griechisch. Stellungslos. Hier, mein Ausweis.« Er hielt Hyde das aufgeschlagene, kleine Heft hin.

»Was wollen Sie?«

»Eine milde Gabe, wenn Sie so gütig wären. Ich habe Frau und vier Kinder.«

Hyde öffnete den Dufflecoat und suchte in seinen Jackentaschen.

»Schlechte Zeit haben Sie sich ausgesucht, Herr Professor.« »Sagen Sie das nicht! Jetzt ist es noch still. Aber in ein, zwei

Stunden ... Es gibt viele Striptease-Lokale hier herum. Auch andere. Wenn dann die Betrunkenen kommen ... Betrunkene haben ein weiches Herz.«

»Sie sind auch betrunken, nicht wahr?«

»Ein wenig, mein Herr. Bei der Kälte. Man muß sich warm halten.«

»Ich habe nur zehn Mark.«

»Ich kann wechseln. Wieviel darf ich behalten?« »Geben Sie mir ... Ach was«, sagte Hyde, »nehmen Sie den

Schein!«

»Ich danke tausendmal! Gott wird Sie segnen, mein Herr.« »Ja, das soll er tun«, sagte Hyde. »Stehen Sie jede Nacht

hier?«

»Auch tags. Wir arbeiten in drei Schichten.« »Wir?«

»Ein Baupolier und ein Möbelvertreter. Man muß sich organisieren als Bettler, verstehen Sie? Es gibt so viele. Dies ist eine sehr arme Stadt – in jeder Hinsicht. Ich habe einmal hier in der Joachimstaler Straße gewohnt. Bis zum ersten März

neunzehnhundertdreiundvierzig. Ich war kaum fünf Jahre alt. Am ersten März dreiundvierzig hatten wir einen schweren Luftangriff. Amis. Kamen immer am Tag. Blauer Himmel. Herrlicher Sonnenschein. In unserem Keller war meine ganze

Familie tot: Mutter, Vater, Schwester. Mich haben sie ausgebuddelt. Kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen. Komisch, nicht? O mihi praeteritos si Jupiter referat annos. Zu deutsch ...«

»Oh, daß die verlorenen Jahre zurück mir Jupiter brächte«, sagte Hyde.

»Sie können Latein?«

»Fließend. Ich lese sehr viel, wissen Sie.«

»Griechisch auch?«

»Griechisch nicht. Gute Nacht, Herr Professor. Und viel Glück!«

»Danke!« sagte Fleischmann.

Hyde erreichte den Bahnhof Zoo und ging in das Postamt zu ebener Erde. Es war auch nachts geöffnet, allerdings nur für Telefongespräche. Eine übermüdete alte Frau saß hinter dem Schalter. Sie gab Hyde eine Plastikmarke mit der Nummer vierzehn.

»Zelle fürzehn. Nachher müssense zu mia zurück. Sie könn selba wähln.«

»Ich weiß.« In Zelle fünfzehn saß ein junges Mädchen auf der Erde und schien zu schlafen. Das junge Mädchen trug schmutzige Bluejeans und einen schmierigen Pullover. Wahrscheinlich eine Fixerin, dachte Hyde. Schläft ihren Schuß aus. Er trat in Zelle vierzehn und wählte die Nummer Morleys in London. Mit dem Decoder löste er die Sperre des Beantworters.

Die Stimme des Anwalts ertönte: »Guten Abend, Mister Hyde. Ich nehme an, Sie konnten das Gespräch Teddy Shimons mit Ross und Olivera verfolgen. Wählen Sie noch einmal, und berichten Sie bitte!« Als der Beantworter beim zweiten Anruf aufnahmebereit war, berichtete Hyde, was er mit Hilfe des

stethoskopartigen Geräts erfahren hatte. Er nannte Name, Straße, Hausnummer, Flugzeiten und den Zeitpunkt des Treffs. »Ich werde alles vorbereitet haben, wenn die Herrschaften eintreffen, seien Sie ohne Sorge, Mister Morley! Nun etwas anderes: Die Olivera und Ross haben mit Buenos Aires telefoniert heute abend. Der Vater tobt. Weil er seine zehn Millionen nicht kriegt vom Sender. Scheint pleite zu sein. Oder knapp davor. Jedenfalls behauptete er, er würde schon mit Gaddafi-Leuten verhandeln, und er stellte ein Ultimatum, das Ross sofort an Karrelis weitergeben soll.« Hyde berichtete im Detail. »Eile scheint dringend geboten. Wenn Sie nach mir suchen, Sie erreichen mich morgen über einen Frankfurter Freund.« Hyde nannte die Telefonnummer seines Söldnerkumpels Heinz Erkner. »Ich spreche jetzt natürlich nicht aus dem KEMPINSKI, sondern aus einer Telefonzelle. Gute Nacht, Mister Morley!« Hyde hängte ein. Dann nahm er den Hörer zum drittenmal ab und wählte die soeben genannte Nummer in Frankfurt. Das Signal ertönte lange, bevor sich eine atemlose Männerstimme meldete. »Ja, verflucht!«

»Heinz, hier ist Wayne.«

»Wayne!« Die Stimme klang plötzlich erfreut. Heinz Erkner, Hydes Söldnerfreund in Frankfurt, atmete noch schwer. »Wo bist du, Baby?«

»Westberlin. Was ist mit dir los? Gerade gefickt?« »Ja.«

»Tut mir leid.«

»Macht nichts. Schätzchen bringt ihn wieder hoch. Was gibt’s?«

»Ich komme morgen nach Frankfurt. Neun Uhr dreißig. PAN AMERICAN. Brauche wieder die SIG/Sauer und das Sterling Mk neun.«

»In Ordnung, Baby. Ich warte beim PAN-AM-Schalter in der Ankunftshalle. Habe alles dabei.«

»Prima.«

»Noch was, Baby?«

»Ja, Heinz. Du mußt was für mich erledigen.« Wayne Hyde erklärte Erkner, was er für ihn erledigen mußte.

Dann verabschiedeten sie sich herzlich.

»Und jetzt spritz schön!« schloß Hyde.

»Wie die Feuerwehr, Baby«, sagte Heinz Erkner. Aus der Nebenkabine hörte Hyde plötzlich das Mädchen

stöhnen. Fixerin, was ich vermutete, dachte er. Dann hörte er, wie sie sich würgend übergab.

Als er aus der Zelle trat, wand sich das Mädchen nebenan in schweren Krämpfen. Hyde ging zum Nachtschalter zurück. »Ich möchte zahlen«, sagte er. »Zelle vierzehn.« Er schob die Plastikmarke durch die Öffnung der Glasscheibe.

Die müde ältere Frau sah auf eine Zähluhr vor sich und rechnete auf einem Zettel. »Hundertsechzehn dreißich«, sagte sie. »Sie ham et aba dicke.«

Hyde legte zwei Hundertmarkscheine auf die Theke. Während die Frau das Wechselgeld zurückgab, sagte er: »In Zelle fünfzehn liegt ein Mädchen. Übergibt sich. Stöhnt. Hat Krämpfe. Sie müssen einen Notarzt rufen.«

»Fixerin?«

»Sieht sehr danach aus.«

»Ick werde noch varrickt«, behauptete die ältere Frau. »Jede Nacht detselbe. Den janzen Winta jeht det so. Wenns wärmer wird, liejense in de Klosette rum.« Sie wählte eine Nummer und sagte in den Telefonhörer: »Notarztzentrale? Hier Bahnhof Zoo. Postamt. Abend. Morjien. Wiese wolln. Hier is eene in ner Zelle. Hat sich nen schlechten Schuß vapaßt ... Nee, lebt noch – gloobe ick wenichstens ... Aba ihr müßt euch ranhalten ... ja, is jut.« Sie hängte ein und sagte gähnend zu Hyde, der das Wechselgeld einstrich: »Nee, wissense, nee. So wat hätte der Führa nie zujelassen.«

Daniel hatte Teddy Shimon im Lift zum dritten Stock begleitet und sich dort von dem Israeli verabschiedet. Er fuhr weiter bis zur Halle, trat in die Kälte hinaus und ging den Kurfürstendamm ein kurzes Stück hinunter, Richtung Gedächtniskirche. Dann überquerte er die Fahrbahn und betrat die Meinekestraße. Hier kannte er ein berühmtes Altberliner Lokal. Viele der blankgescheuerten Holztische waren besetzt. Manche Gäste aßen um diese Zeit erst. Alle tranken. Zigarrenrauch vernebelte den Raum. Aus einem Radio erklang beschwingter Jazz. Daniel ging zur Theke, bestellte beim Wirt ein Bier und einen klaren Schnaps und sagte dann, er müsse telefonieren.

»Aba jewiß doch, mein Herr. Apparat in de Zelle da hinten. Nur wählen. Bei mir looft ne Uhr.«

Daniel trank den Schnaps aus, das Bierglas nahm er mit. In der Zelle war es erstickend heiß. Daniel hielt die Tür mit dem Fuß einen Spalt offen. Der Lärm im Lokal war so groß, daß niemand verstehen konnte, was er am Telefon zu sagen hatte. Er trank noch einen Schluck, stellte das Glas auf ein Bord und wählte Conrad Colledos Frankfurter Nummer. Sein Freund meldete sich gleich.

»Conny, hier ist Danny. Ich spreche aus einer Kneipe.« »Hallo, Danny.« Die Stimme klang müde und leise. »Was ist?

Sitzt du noch am Schreibtisch?«

»Ja. Jede Menge Arbeit. In Kalifornien haben die Jungs einen Kameramann gefunden, der damals in Teheran dabei war. William Mackenzie.«

»Und?«

»Nichts und. Herzinfarkt. Vor drei Monaten gestorben. Vor drei Monaten, Danny, nur vor drei Monaten!«

»Pech!«

»Scheißpech. Nur Scheißpech! Du auch. Mit deinem Professor. Mercedes hat mir alles erzählt, als ich euch diesen Shimon ankündigte. War der wenigstens was wert?«

»Weiß ich noch nicht. Sieht so aus. Erzähl’ ich dir gleich. Was ist noch los bei dir?«

»Ach, Mensch, zum Heulen. Erinnerst du dich an Chan Ragai?«

»Chan Ragai?«

»Ja.«

»Nein.«

»Den hatte dein Vater eingesetzt. Als Resident des Ribbentrop Geheimdienstes in Teheran. Hat er dir doch erzählt! Ihm unterstand der fabelhafte Agent CX einundzwanzig.«

»Ach ja, natürlich! Chan Ragai! Hat gelogen, mein Alter, wie?« Daniel trank Bier.

»Nein, nein, da hat er die Wahrheit gesagt. Ich habe drei Jungs in den Iran eingeschleust. Von Bagdad aus. Weil sie vom Khomeini-Regime keine Einreiseerlaubnis bekamen.« Die müde Stimme wurde laut und zornig. »Dieses Land ist ein einziges

Irrenhaus!«

»Natürlich keine Spur von Chan Ragai.«

»Im Gegenteil, Danny. Im Gegenteil. Meine Jungs hatten eine heiße Spur. Chan Ragai lebt. Nicht mehr in Teheran. Dort lebt noch seine Schwester. Wir waren schon ganz dicht an ihm ran, da wurden meine drei Jungs verhaftet. Anklage: Spionage für die USA. Zum Kotzen, Danny, zum Kotzen!«

»Mensch! Spionage? Hoffentlich geht da keine Rübe ab.« »Man wird sie rauslassen. Ich habe sofort mit Genscher

telefoniert. Seine guten Beziehungen zum Iran. Hat schon mit den Obermachern dort gesprochen, den Botschafter hingejagt. Man wird die drei freilassen, aber sofort ausweisen. Na ja, und so weiter und so weiter. Und der Herr Intendant ist sehr ungehalten, weil alles schiefgeht. Hoffentlich haben wir jetzt mit diesem Harry Gold Glück. Wann bist du bei ihm?«

»Heute nachmittag um halb vier. Wir landen um vierzehn Uhr fünfunddreißig. Deshalb rufe ich dich an. Diesmal gehen wir kein Risiko ein. Diesmal muß das Team mit mir zusammen ins Haus und vom ersten Moment an mitdrehen. Und Polizei muß auch da sein, bevor ich komme, und sie müssen das Haus durchsucht haben. Wenn du dabei gewesen wärst, als sie den alten Kant umlegten, mitten im Satz, ich war nur einen Meter von ihm entfernt ... All das Blut ...«

»Mit dem BKA habe ich schon gesprochen. Ihr habt Kriminalbeamte und Polizei. Vor dem Haus. Im Haus. Bei den Aufnahmen. Kommt ein Team von Königstein herunter. Meine besten Leute. Wir drehen wieder mit zwei Kameras. Laß Gold ruhig quatschen, wenn er sich Zeit läßt! Dräng ihn nicht! Rohfilm ist das billigste. Meinetwegen verdreht zwei Kilometer! Wir schneiden das Material dann schon so zusammen, wie wir es brauchen. Und hör mal, du nimmst natürlich Mercedes nicht mit!«

»Natürlich nicht. Die bleibt in meiner Wohnung.« »Allein? Kommt nicht in Frage. Ich bin am Flughafen, wenn

ihr landet, und nehme sie mit zu mir nach Hause, bis alles vorüber ist.«

Die beschwingte Tanzmusik brach ab. Die folgende Sprecherstimme war im Lärm unverständlich. Danach ertönte feierlich und getragen die Hymne der DDR: »Auferstanden aus Ruinen«. Eine sehr hübsche, dunkelhaarige Frau an einem Tisch rief laut: »Freundschaft, Freundschaft!«

Der Wirt raste zum Radioapparat und schaltete ihn aus. Er rief: »’tschuldijen die Herrschaften! Ick hatte den falschn Senda drin.«

»Was war das?« fragte Colledo.

»Nichts. Kleines Malheur. Jetzt paß auf, Conny! Kommt noch was Hübsches.«

»Noch was? Wie schön. Erzähl Pappi nur alles!« Daniel berichtete von dem Gespräch mit seinem Vater und

von dessen neuem Ultimatum.

Colledo fluchte wild.

»Mensch, du hast vielleicht einen Urheber, gratuliere!« »Danke. Und wie gesagt, er will, daß der Intendant sofort

alles erfährt.«

»Das kann er haben.« Colledo lachte grimmig. »Tschüs, Alter! Bis morgen am Flughafen. Und jetzt wecke ich in meiner Gemeinheit Herrn von Karrelis ...«

Daniel trank sein Bier aus und ging zur Theke, um zu zahlen. »Det machense mit Absicht«, sagte der Wirt.

»Wer?«

»Die drüm. Imma schicken Jatz, amerikanischen, besonders scheenen. Damit man sich irrt. So wat finden die komisch. Danke sehr, der Herr, beehrense ma wieda! Anjenehme Ruhe wünsch ick.«

Daniel trat wieder auf die Meinekestraße hinaus. Ein Mann prallte mit ihm zusammen. Der Mann schwankte. Er war mächtig betrunken.

»Na, bloß keene Rücksicht uffn ollen Mann, wa?« »Schon gut.«

»Jarnischt is jut! Ick werd noch varrickt. Jetzt such ick schon seit eena Stunde. Wo is det hier, Schaperstraße?«

»Können Sie nicht bitte sagen?«

»Lieba valoof ick ma weita«, sagte der Betrunkene. Er schwankte davon.

Daniel ging zum Hotel zurück. Er erreichte den Eingang gleichzeitig mit einem großen, hageren Mann, der höflich zur Seite trat.

»Nach Ihnen!«

»Danke«, sagte Daniel. Sie gingen nebeneinander durch die Halle in Richtung der Lifte. »Fahren Sie auch hinauf?« fragte Daniel.

»Nein«, sagte Wayne Hyde. »Ich gehe noch einen Sprung in die Bar.«

Mercedes hatte die Appartementtür abgeschlossen. Daniel klopfte laut.

Sie öffnete, schon im Nachthemd.

Er umarmte und küßte sie. »So, alles erledigt. Ich komme gleich. Erkälte dich nicht!«

Mercedes lief zurück ins Schlafzimmer, während er seinen Mantel auszog. Schnell wählte sie auf dem Apparat, der neben ihrem Bett stand, die Neun. Eine Mädchenstimme meldete sich. »Hier ist Frau Olivera, Appartement sechshundertsechs/sieben«, sagte Mercedes leise. »Fräulein Michaela?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Bitte, fangen Sie jetzt an.« Mercedes legte auf. Gleich danach kam Daniel ins Schlafzimmer. Er zog seine

Jacke aus.

»Großer Gott, war das ein Tag!« sagte er. Aus dem eingebauten Radio im Nachttisch neben Mercedes erklang leise Musik, die »Rhapsody in Blue« von George Gershwin. »Wenn du jetzt nicht bei mir wärst, ich würde wahnsinnig werden, Liebste. Der arme Conny ist im besten Begriff ...« Er brach ab, denn die Musik blendete aus, eine andere wurde eingeblendet, zusammen mit der tiefen, vibrierenden Stimme Marlene Dietrichs.

»... Wenn ich mir was wünschen dürfte, käm’ ich in Verlegenheit ...«

»Mercedes!«

»Überraschung«, sagte sie strahlend. »Ich war am Nachmittag mit unserer alten Platte unten bei der Telefonzentrale und habe gefragt, ob sie die nicht spielen können. Sie konnten nicht. Die Hausmusik kommt von Band. Aber sie hatten das Lied auf einer Kassette, gesungen von Marlene. Denk doch, Danny, unser Lied! Da ist es wieder ...«

»... was ich mir denn wünschen sollte, eine schlimme oder gute Zeit ...« sang die Dietrich.

Daniel trat an das Bett. Mercedes saß da mit geöffneten Armen. Er glitt neben sie. Die Lippen trafen sich. Mercedes preßte ihren Körper an den seinen.

»... Wenn ich mir was wünschen dürfte, möchte ich etwas glücklich sein ...«

»Meine Mercedes!«

»Ja, Danny, ja. Ach, hab’ ich dich lieb.« Er küßte sie wieder. »... denn wenn ich gar zu glücklich wär’, hätt’ ich Heimweh

nach dem Traurigsein«, sang Marlene Dietrich. »Jawohl«, sagte Harry Gold. »Ich liebe Deutschland.

Deutschland ist mein Vaterland. Ich könnte in keinem anderen Land leben. Ich habe es versucht. Amerika. Israel. Frankreich. Unmöglich! Bin umgekommen vor Heimweh. Deutschland. Nur Deutschland. Hier bin ich geboren. Hier will ich sterben. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Drei Jahre KZ haben ihm nicht genügt, dem Idioten. Nein, haben sie auch nicht. Dämlicher deutschnationaler Jude, denken Sie jetzt. Aber ja, sehe ich Ihnen doch an! Na und? Bin ich eben ein dämlicher deutschnationaler Jude. Und jetzt, kann ich mir denken, fällt Ihnen der alte Witz ein. Dreiunddreißig. Juden marschieren Unter den Linden. Tragen Tafeln. Auf den Tafeln steht: RAUS MIT UNS! Sehr komisch.« Harry Gold war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem großen Kopf und dichtem grauem Haar, das an jenes Albert Einsteins erinnerte. Es stand genauso wild und wirr vom Kopf ab. Gold saß in einem Lehnstuhl vor einem Gaskamin. Über dem Kamin hing ein großes Bild Kaiser Wilhelms II.

Scheinwerfer strahlten Harry Gold an. Zwei Kameras waren auf ihn gerichtet. Eine nahm auf. Die zweite arbeitete, sobald bei der ersten die Rohfilmkassette gewechselt werden mußte. Auf diese Weise konnte das Interview ohne Unterbrechungen gefilmt werden. Ein sehr kleines Mikrofon hing an einer schwarzen Schnur vor Golds Brust. Er trug einen dunklen Anzug und eine silberfarbene Krawatte. In einer Ecke des Wohnzimmers kniete der Tonmann mit Kopfhörern vor seinen Apparaten und beobachtete aufmerksam den Ausschlag vieler Zeiger auf vielen Skalen. Es war heiß im Raum, obwohl alle Fenster offenstanden und draußen immer noch grimmige Kälte herrschte. Die Scheinwerfer heizten mächtig auf.

»Gab einen Haufen deutschnationale Juden«, sagte der fünfundsiebzigjährige Harry Gold mit den schwermütigen, dunklen Augen und den schweren, dicken Tränensäcken darunter. »Man hat mir gesagt, ich kann reden, wie ich will. Egal, wie lange. Und das muß ich sagen. Weil es wichtig ist. Die jungen Leute wissen ja gar nichts mehr davon. Auch eine Menge Juden haben Deutschland groß gemacht. Heinrich Heine und der Maler Max Liebermann. Paul Ehrlich, der Chemiker und Arzt. Max Reinhardt. Elisabeth Bergner. Und Kortner, Bassermann, Ernst Deutsch. Und die fünf Brüder Ullstein. Kurt Tucholsky. Walther Rathenau, der Reichsaußenminister. Albert Ballin, Duzfreund des Kaisers, Begründer der HAPAG. Baute seiner Vaterstadt Hamburg den größten Seehafen Deutschlands und der Welt vor neunzehnhundertvierzehn. Brachte sich achtzehn um, als der Krieg verloren war. Carl Zuckmayer. Jacques Offenbach. Ferdinand Lassalle. Maximilian Harden. Bruno Walter. Otto Klemperer. Bismarcks Minister Heinrich von Friedberger und Rudolf Friedenthal. Der halbblinde Gerson von Bleichröder, Privatbankier Wilhelm des Zweiten, der schon Privatbankier Wilhelm des Ersten war. Therese Giese. Fritz Haber mit seiner Ammoniaksynthese, der die Munitionsversorgung Deutschlands im Ersten Weltkrieg sicherte. Unter den fünfunddreißig größten Chemikern des Kaiserreichs waren sechzehn Juden. Richard Willstätter, Adolf von Baeyer, beide Nobelpreis! Die Physiker Max Born und Albert Einstein. Otto Hahn, der im Dritten Reich gerade noch Geduldete, und seine Mitarbeiterin Lise Meitner. Die Deutschen hätten die Atombombe früher herstellen können als die Amis. Niels Bohr ... Ja, ja, ich hör’ schon auf. Und alle die großen Ärzte ... Ich hör’ wirklich auf. Es ist nur, weil Sie gesagt haben, ich kann erzählen, wie ich will ... Und da wollte ich das erklären, daß nicht nur ein kleiner, meschuggener Jude Deutschland liebt, sondern daß es eben auch so viele große und geniale deutsche Juden gegeben hat ...«

Kamera eins lief ...

Das kleinbürgerlich eingerichtete Wohnzimmer war voller Menschen. Daniel stand hinter der Kamera, an eine Vitrine voller Porzellanfiguren gelehnt. Neben ihm stand der israelische Diplomat Teddy Shimon vor einem mächtigen altdeutschen Buffet aus schwerem schwarzem Holz. Im unteren Teil des Buffets war vermutlich das »feine« Geschirr gestapelt, auf der Platte standen schwere, geschliffene Weingläser mit hohen Stielen in allen Farben, sogenannte Römer, und hinter den Glasfenstern des Aufsatzes konnte man in mehreren Etagen aufgestellte Kristallschalen sehen, gleichfalls bunt, von Drahtgestellen gehalten. Das Buffet war reich geschnitzt: zahlreiche Türmchen, Weintrauben, Miniaturfrauen mit nackten Brüsten, Burgen, Söller und im Wind wehende winzige Fahnen, alles aus schwarzem Holz. Der Ecktisch war ebenso verziert, und auf ihm standen viele Fotografien hinter Glas, Harry Golds Verwandte. Ferner gab es um einen Eichentisch eine mächtige Sitzgarnitur, weich gepolstert und mit dunkelgrünem Samt überzogen. Das Sofa hatte eine hohe Rückenlehne. Dort, wo man sie möglicherweise mit dem Kopf berührte, lagen wie auf den Lehnen Spitzendeckchen. Die Tapete zeigte das immer wiederkehrende Muster kleiner Blumensträußchen. Auf einem zusätzlichen Tisch ragte unter einem Öldruck des Letzten Abendmahls von Leonardo da Vinci ein siebenarmiger Menora-Leuchter empor. Und zwischen all diesen und noch anderen alten, schweren Möbeln standen Menschen: Beleuchter, Kameraleute, der Assistent des Tonmanns und drei Kriminalbeamte in Zivil, schwer bewaffnet.

Staub flirrte in den Lichtbahnen der Scheinwerfer, es roch nach Mottenpulver, heißem Metall und Schweiß. Kriminalbeamte mit Maschinenpistolen und Polizisten in Uniform, gleichfalls bewaffnet, standen draußen auf dem Gang, vor dem Eingang des Hauses und um das Haus herum in einem kleinen Garten. Sie standen auch auf den Gehsteigen der von Autos geräumten Straße. Die Polizeiwagen und die Fahrzeuge der Fernsehleute parkten ein Stück entfernt in der Odrellstraße, die bei Harry Golds Einfamilienhaus abgesperrt war. Hinter den weißroten Scherengittern drängten sich die Menschen: Frauen, Männer, kleine Kinder. Die Kuhwaldsiedlung erlebte ihre Sensation. Schon Stunden zuvor waren die ersten Polizisten gekommen, hatten die Sperren errichtet, hatten Golds Haus vom Keller bis unter das Dach durchsucht, ebenso den Garten. Es war, an der Jahreszeit gemessen, viel zu kalt. Die Neugierigen froren. Sie traten von einem Fuß auf den andern und hatten rote Gesichter. Aber sie wichen nicht von der Stelle. Wann gab es hier schon so etwas!

Vom nahen Rangierbahnhof ertönten viele Geräusche: das Rollen der Waggons, das Zusammenstoßen der Puffer, kurze Pfiffe der Rangierlokomotiven. Die Menschen, die hier wohnten, hörten das alles schon lange nicht mehr.

Über Harry Golds Kopf leuchtete das Bildnis Kaiser Wilhelms im Scheinwerferlicht. Sein zu kurzer rechter Arm steckte in der Jacke einer prächtigen Marineuniform, deren Brust sehr viele und große Orden dekorierten. Der Schnurrbart war an den Enden hochgezwirbelt, und Wilhelm Il. sah stählernen Blicks in unendliche Fernen. Der kleine, zierliche Jude unter dem Ölbild sagte: »Seit neunzehnhundertneunundvierzig wohne ich in diesem Haus. Allein. Ich habe nur noch eine Schwester in Amerika. Die ist da verheiratet. Alle meine anderen Verwandten sind« er schluckte – »gestorben. Schon lange. Auch Elsa, meine gute Frau – Gott hab sie selig!«

»Sie sind alle in verschiedenen KZs umgekommen«, sagte Daniel, hinter der ersten Kamera. Er trug gleichfalls ein kleines Mikrofon. »Wir haben uns erkundigt.«

»Sie sind ... umgekommen in KZs ...« Harry Gold nickte. Hastig sagte er: »Aber das waren die Nazis, diese Verbrecher! Die Nazis waren nicht Deutschland. Nicht mein Deutschland.«

»Herr Gold, ich bitte Sie ...«, begann Daniel, aber Gold unterbrach ihn.

»Ja, ja, ja, ich weiß, was Sie denken. Total meschugge, dieser Gold, denken Sie. Bin ich eben total meschugge, soll mir auch recht sein. Meine Familie stammt aus Frankfurt. Hier haben wir alle gelebt. Und die Menschen sind zu uns freundlich gewesen und hilfsbereit – bis zuletzt, bis man meine Leute abgeholt hat. Elsa – Gott hab sie selig – war blond. Die Leute haben immer gesagt: ›Nein, Sie sollen eine Jüdin sein, Frau Gold? Sie sehen doch überhaupt nicht jüdisch aus!‹ Mein Vater – Gott hab ihn selig – hat das Eiserne Kreuz gekriegt im Ersten Weltkrieg. Als sie ihn abholten, die SA-Leute, zusammen mit Mutter und Tante Lenchen, da haben viele Menschen auf der Straße gestanden, und ein paar haben geweint, hat man mir erzählt. Ich war damals mit Elsa in ...« Er stockte. »Das erzähle ich gleich. Auch hier, in der Siedlung – alle haben mich gerne. Wissen Sie, wie sie mich nennen? ›Unsern alten Juden‹ nennen sie mich!« Harry Gold nickte lächelnd. »Ich bin ihr alter Jud ...«

Daniel räusperte sich.

»Entschuldigen Sie!« Der kleine Mann richtete sich auf und sagte: »Zur Sache endlich. Mein Name ist Harry Gold. Ich wurde am elften Januar neunzehnhundertneun in Frankfurt am Main geboren. Da hab’ ich die Schule besucht und das Abitur gemacht. Neunzehnhundertachtundzwanzig ging ich nach Berlin. Ab einunddreißig war ich fest bei der UFA angestellt, der größten deutschen Filmfirma. Ich wollte Cutter werden. Fing ganz unten an und arbeitete mich hoch. Vierunddreißig war ich schon Chefcutter, und mehr als zwei Dutzend Männer und Frauen arbeiteten unter meiner Anleitung. Die Regisseure rissen sich um mich. Ich glaube, ich kann sagen, ich war ein wirklich guter Schnittmeister. Das hatte zur Folge, daß ich zum Wewejott erklärt wurde und weiterarbeiten konnte.«

»Was war ein Wewejott?« fragte Daniel hinter der ersten Kamera.

»Ein sogenannter wirtschaftlich wertvoller Jude«, erklärte Harry Gold, und er konnte den Stolz in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. »Wewejotts waren Chemiker, Ingenieure, Ärzte, was Sie wollen.«

»Auch Filmcutter?«

»So gute wie ich, ja. Überhaupt Filmtechniker. Nur eine Handvoll natürlich. Die besten. Hat Goebbels durchgesetzt. War an den Theatern dasselbe. Nicht ewig natürlich. Aber bei mir bis zweiundvierzig. Immerhin! Die Wewejotts waren geschützt,

auch ihre Frauen und Kinder, wenn sie welche hatten. Mußten keinen gelben Stern tragen. Bekamen Lebensmittelkarten wie ›Arier‹. Behielten ihre Wohnungen. Wir haben damals eine wunderbare Wohnung gehabt, meine gute Elsa – Gott hab sie selig – und ich. Lassenstraße im Grunewald. Ganz in der Nähe vom Hagenplatz. Und jeden Morgen bin ich raus nach Babelsberg gefahren, da war das große Filmgelände der UFA ... Na ja, alles lief gut bis Anfang zweiundvierzig. Am zwanzigsten Januar wurde mein Wewejott-Status aufgehoben, am dreißigsten war ich schon im KZ. Alle Verwandten mit Ausnahme meiner Schwester in Amerika und Elsa waren schon vorher in KZs gekommen. Ich konnte doch nur meine gute Frau – Gott hab sie selig- schützen. Die haben sie mit mir zusammen verhaftet. Elsa ist nach Auschwitz gekommen, und dort hat man sie ver ... Dort ist sie gestorben.«

»In welches Konzentrationslager kamen Sie, Herr Gold?« fragte Daniel.

»Nach Oranienburg«, sagte Gold. »Das heißt, eigentlich war es Sachsenhausen. Sachsenhausen ist eine Gemeinde im Kreis Oranienburg, Bezirk Potsdam. Ich wurde in den Block einunddreißig gesteckt, und damit war ich sozusagen gerettet.«

»Wieso?« fragte Daniel.

»Block einunddreißig war ein ganz besonderer Block.« »Was war so besonders an ihm?«

»Dort arbeiteten Fachleute. Die erstklassigsten, die es gab in Deutschland.«

»Was für Fachleute?«

»Fachleute für Fälschungen«, sagte Harry Gold, und wieder klang Stolz in seiner Stimme mit.

Mit viel Lärm krachte eine Maschinenpistole zu Boden. »Aus!« rief der Tonmann.

»Tut mir leid«, sagte ein Kriminalbeamter. »Runtergerutscht.« Er hob die Waffe wieder auf.

»Also dann«, sagte der Tonmann, der vor seinen Geräten kniete. »Kamera fertig?«

»Läuft!« sagte der zweite Operateur. »Und Ton ab!« sagte der Tonmann. Sein Assistent trat vor eine der beiden Kameras, schlug eine mit Kreide beschriftete Klappe und rief laut: »Interview Herr Gold. Rolle drei, Take zwo.«

Er trat schnell zurück.

»Bitte weiter, Herr Gold«, sagte Daniel.

»Ich muß anders anfangen«, sagte der. »Damit Sie ein richtiges Bild kriegen. Sehen Sie: Im KZ Sachsenhausen entstanden die beiden größten Fälschungen des Dritten Reiches. Und zwar im Block einunddreißig und im Block neunzehn. Ich habe hier« – Gold hob ein Buch hoch, das er auf den Knien gehalten hatte – »die Erinnerungen eines Mannes, der sich als Autor Walter Hagen nennt! Müßte schon lange tot sein. Dieser Hagen arbeitete lange im SD, dem Staatssicherheitsdienst in dem von Himmler gegründeten Reichssicherheitshauptamt RSHA. Seinem Buch gab Höttl den Titel ›Unternehmen Bernhard‹ und den Untertitel ›Ein historischer Tatsachenbericht über die größte Geldfälschungsaktion aller Zeiten.‹ Das Buch ist im Verlag Welsermühl erschienen. Mein Exemplar habe ich neunzehnhundertsechsundfünfzig in München gekauft. Als Chef des SD hatte Himmler den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich eingesetzt. Von einem seiner Mitarbeiter namens Naujocks stammte der Plan, in riesigen Mengen falsche britische Pfundnoten herzustellen, sie über England aus Bombengeschwadern abregnen zu lassen und sie ins übrige Ausland zu bringen, um damit die britische Währung und Wirtschaft zu ruinieren. Diese Geldscheine wurden als Fünf-, Zehn-, Zwanzig-, Fünfzig-, Hundert-, Fünfhundert- und Tausend-Pfund-Noten von hervorragenden Fachleuten tatsächlich so perfekt nachgemacht, daß aus London, als die Schweizer Nationalbank eine Reihe solcher Noten zur Prüfung an die Bank von England schickte, prompt die Nachricht kam, die Noten seien unter allen Umständen echt.«

»Und waren alle in Block neunzehn des KZs Sachsenhausen gefälscht worden«, sagte Daniel.

»Nicht von Anfang an«, widersprach Gold. »Hagen beschreibt die ungeheuer mühevolle Arbeit der Spezialisten. Zuerst wurde jahrelang in einem abgesonderte Teil der Papierfabrik Spechthausen bei Eberswalde in der Nähe von Berlin gearbeitet. Anfang zweiundvierzig dann erschien Heydrich die Produktion in der Papierfabrik in Spechthausen zu wenig gesichert, und er verlegte sie in den Block neunzehn des KZs Sachsenhausen. Naujocks holte damals aus anderen KZs, aus Haftanstalten und der Berliner Unterwelt die besten Banknotenfälscher, Chemiker, Papier- und Druckspezialisten zusammen, die er kriegen konnte. Auch jüdische Bankfachleute, die schon in KZs waren, wurden nach Sachsenhausen überstellt. Dann zerstritt sich Heydrich mit Naujocks und erreichte, daß dieser an die Front mußte. Sein Nachfolger hieß Krüger. In Sachsenhausen kam der Betrieb groß ins Laufen. Neunzehnhundertdreiundvierzig wurden monatlich bis zu vierhunderttausend Noten hergestellt. Man sah aber dann davon ab, die kostbaren Fälschungen abzuregnen und brachte sie über neutrale Länder in Umlauf.«

Teddy Shimon flüsterte Daniel zu: »Er soll zu seiner Sache kommen!«

Daniel sagte: »Und was schreibt dieser Hagen über Ihren Block, Herr Gold? Block einunddreißig?«

»Kein einziges Wort. Er wußte nicht, was bei uns vorging, obwohl er doch beim SD war und beide Blocks sich im selben Lager befanden. Das mag Ihnen eine Vorstellung davon geben, wie geheim wir arbeiteten. Ich würde sagen: noch viel geheimer als die Pfundfälscher. Sie müssen sich das so vorstellen: Block neunzehn und Block einunddreißig waren absolut autonom. Eigene, schwer bewachte Lager im Lager. Nie kam einer von uns oder von den Männern im Block neunzehn mit einem fremden Häftling in Berührung. Wir hatten eigene Schlafräume, Kantinen, Bäder, Verpflegung. Über die Pfundfälscher konnte Hagen seinen Tatsachenbericht schreiben, und nach Kriegsende gab es auch eine amerikanischenglische Untersuchungskommission und sehr viel Aufregung. Über das, was wir in Block einunddreißig taten, hat niemals jemand ein Wort geschrieben. Es hat auch niemals ein Mensch einem anderen Menschen etwas darüber erzählt. Ich bin der erste, der den Mund aufmacht nach mehr als vierzig Jahren.«

»Und warum tun Sie das, Herr Gold?« fragte Daniel. »Weil ich der einzige bin, der überlebt hat. Und weil die

Wahrheit jetzt ans Licht muß«, sagte Gold still. »Welche Aufgabe hatten Sie in Block einunddreißig?« »Auch Fälschen. Alles, was mit Film zusammenhing. Die

normalen Häftlinge im Lager, die wußten natürlich, daß wir was Besonderes waren, da wir Zivil tragen durften, besseres Essen bekamen und so weiter. Gerüchteweise hieß es wohl, in neunzehn und einunddreißig sitzen Fälscher. Ja, aber was da gefälscht wurde, davon hatten die anderen Häftlinge keine Ahnung. Das wußte überhaupt nur eine Handvoll Leute im RSHA. Als ich ankam, traf ich auf Schnittmeister, Tonmeister, Beleuchter, Leute aus Kopierwerken, Vorführer. Einen Mann kannte ich von der UFA her, meinen Freund Peter Lammers, Tonmeister, Kommunist.«

»Und was fälschten Sie dort exakt?«

»Das wüste Ding kam erst um die Jahreswende dreiundvierzig/ vierundvierzig. Bis dahin fälschten wir Propagandafilme, Greuelfilme, Filme über militärische Pläne und militärische Operationen, die in die Hände der Alliierten gelangen sollten ...«

»Moment, Herr Gold!« sagte Daniel. »Zweifellos brauchten Sie zumindest für die Greuel- und Propagandafilme Sprecher und Kommentatoren.«

»Hatten wir natürlich auch. Und die mußten ihre Sprachen beherrschen. Ohne jeden Akzent. Für Französisch und Russisch gab es jüdische Ausländer, die nicht mehr rechtzeitig aus Deutschland rausgekommen waren. Ein amerikanischer Sprecher tat es freiwillig. Vielleicht haben Sie schon mal von Lord Haw-Haw gehört? Das war ein in Amerika geborener Ire namens William Joyce. ›Germany calling! Germany calling!‹ Mit diesen Worten begann der Großdeutsche Rundfunk während des Krieges seine englischen Sendungen. Na, der Sprecher war dieser William Joyce, den die Engländer Lord Haw-Haw nannten. Nach dem Krieg haben sie ihm den Prozeß gemacht und ihn gehenkt. Allerdings hat der Prozeß nicht die Frage beantwortet: War William Joyce ein wahnwitziger Idealist oder ein gewissenloser Verbrecher?«

»Aber Joyce arbeitete doch nicht für Block einunddreißig?« »I wo! Der wußte gar nichts von Block einunddreißig. Nein,

nein, unser Spezialist hieß Richard Clark. Gelernter Funk- und Wochenschaumann. Und auch von ihm wird man nie wissen, ob er ein fanatischer Verrückter war oder ein dreckiger Lump. Ein phantastischer Sprecher war er auf jeden Fall. Die Nazis behandelten ihn so gut wie Lord Haw-Haw.«

Harry Gold sprach nun mit geschlossenen Augen. Er konzentrierte sich auf das Kommende.

»Na ja, im Juni zweiundvierzig war Heydrich in Prag ermordet worden, nicht? Sein Nachfolger wurde Ernst Kaltenbrunner.« Golds Stimme blieb unverändert, aber in seinem Gesicht begannen kleine Muskeln zu zucken, während er sich erinnerte. Mächtiger und mächtiger wurde die Erinnerung an das, was er erlebt hatte. »Jetzt kommen wir zu Ihrem Film. Ich weiß alles noch ganz genau. Es war am sechsundzwanzigsten Dezember dreiundvierzig, dem zweiten Weihnachtsfeiertag. Da fuhren zwei Lastwagen der SS beim Block einunddreißig vor – und ein schwarzer Mercedes. Aus dem stieg ein Mann in Zivil. Er war sehr groß und hatte breit angewachsene Ohrläppchen. Wir wurden in den Speiseraum gerufen ...« Tiefer und tiefer glitten Golds Gedanken in die Vergangenheit ...

Die Häftlinge saßen an den Tischen der Kantine. Draußen fiel wäßriger Schnee in großen Flocken. Es war totenstill geworden. »Mein Name«, sagte der große Mann, »tut nichts zur Sache. Ich bin SS-Sturmbannführer und bringe Ihnen Material im Zusammenhang mit einer Gekados der höchsten Stufe.« Gekados hieß Geheime Kommandosache, das wußten alle im Raum. »Vom achtundzwanzigsten November bis zum ersten Dezember dieses Jahres fand in Teheran eine Konferenz statt: Stalin, Roosevelt und Churchill. Dabei könnten doch Stalin und Roosevelt sehr wohl ein Geheimabkommen geschlossen haben, in dem sich diese Hyänen vorsorglich die Welt aufteilen. Ausgearbeitet hätten ein solches Abkommen der politische Berater Roosevelts, Harry Hopkins, und der politische Berater Stalins, General Woroschilow. Wir sind in den Besitz einer Menge Filmmaterials gekommen – Wochenschauaufnahmen von amerikanischen Operateuren. Kodak-Film. Auch Aufnahmen von Hopkins und Woroschilow natürlich. Und von Roosevelt und Stalin. Man sieht sie sogar irgend etwas unterschreiben.«

»Aber wie ...« begann der Kommunist Peter Lammers und unterbrach sich selbst. »Ich bin ein Trottel. Entschuldigen Sie, Sturmbannführer! Der SD natürlich. Beste Agenten, die wir haben.«

Der SS-Mann sah ihn mit zusammengekniffenen Augen verärgert an.

»Wird sich Canaris freuen«, sagte Lammers schnell. »Sie reden zuviel«, sagte der SS-Mann. »Name?«

»Peter Lammers, Sturmbannführer.«

»Halten Sie Ihre gottverdammte Fresse, Lammers!« »Jawohl, Sturmbannführer.«

»Das Geheimprotokoll – ihr werdet es nicht glauben – haben wir auch«, sagte der große SS-Mann mit den angewachsenen Ohrläppchen. »Nicht auf Film selbstverständlich. Ist ein langes Protokoll. Soll von euch Brüdern mit dem Film zusammenmontiert werden. Ich bringe genaue Anweisungen mit, an welcher Stelle was zu kommen hat. Das Protokoll muß abgefilmt werden. Seite um Seite. Kodak-Rohfilm habt ihr genug hier. Der Vertrag wurde von einem Spezialisten in Mauthausen auf einer amerikanischen Schreibmaschine getippt, und zwar so, wie die Amerikaner schreiben. Auch alle Seiten haben das amerikanische Format. Um die absolute Richtigkeit braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Haben Völkerrechtler geprüft. In der Prinz-Albrecht-Straße. Es ist fehlerfrei. Der Urheber hat vor dem Krieg in Amerika an einer Universität gearbeitet. Erstklassig, das Geheimprotokoll, prima, primissima. Verflucht schlau, dieser Jude.«

»Der ist natürlich inzwischen hopsgegangen«, sagte Harry Gold.

»Lungenentzündung. Sie haben richtig vermutet, Herr ...« »Gold, Sturmbannführer. Harry Gold.«

»Auch ein schlauer Jude, wie?«

»Jawohl, Sturmbannführer. Werden wohl alle, die Ihnen jetzt diesen Film zusammenbasteln, an Lungenentzündung oder was anderem hopsgehen, rechne ich mir gerade aus.«

»Das konnten Sie sich schon ausrechnen, als Sie den ersten Greuelfilm fälschten, Gold. Doch kein so schlauer Jude, was?«

»Nein, ich fürcht’, nicht.«

Der SS-Mann wurde jovial: »Scheißen Sie sich nicht in die Hosen! Wie lange arbeiten Sie schon hier?«

»Fast zwei Jahre, Herr Sturmbannführer.«

»Drei Jahre«, sagte Lammers.

»Und ist es Ihnen denn nicht großartig gegangen in dieser Zeit?«

»Großartig«, sagte Gold.

»Würdet schon längst die Gänseblümchen nach oben puschen, wenn ihr nicht solche Profis wäret. Jetzt lebt ihr bereits zwei, drei Jahre länger, als euch zukommt. Wenn der Film erstklassig wird und wir wirklich was damit anfangen können, bleibt ihr am Leben, und es geht euch weiter großartig. Darauf habt ihr mein Ehrenwort.«

»Aber der, der das Protokoll entworfen hat ...«, begann Lammers.

»Den brauchten die Herren nicht mehr, Trottel«, sagte Gold zu ihm.

»Doch ein schlauer Jude«, sagte der SS-Mann. »So ist es, Lammers. Euch werden wir weiter brauchen. Wenn ihr tot seid, könnt ihr nicht fälschen. Jeder Tag, den solche wie ihr leben, ist ein geschenkter Tag. Müßt ihr euch immer vor Augen halten!«

»Hörst du, Peter?« sagte Gold. »Hörst du, was der Herr Sturmbannführer sagt? Sage ich dir nicht auch täglich, daß wir uns das immer vor Augen halten müssen – in tiefer Dankbarkeit. Und dafür so gut arbeiten, wie wir nur irgend können.«

»Ja, wie lange noch?« sagte Lammers trübe. »Wenn es Ihnen so nicht recht ist und Sie gleich sterben

wollen, müssen Sie es nur sagen«, meinte der große Mann mit den angewachsenen Ohrläppchen.

»Hat seinen schlechten Tag heute, Herr Sturmbannführer«, sagte Gold hastig. Und zu Lammers: »Reiß dich zusammen, blöde Sau! Sterben müssen wir alle einmal. Oder denkst du, du wirst ewig leben?«

»Sie gefallen mir, Gold«, sagte der SS-Mann. »Das ist der rechte Geist. Aus Ihnen hätte bei uns was werden können. Ein Jammer, daß Sie Jude sind.«

»Ich hab’s mir nicht aussuchen können, Herr Sturmbannführer. Und der Lammers auch nicht. Er ist ein Produkt von Umwelt und Erziehung. Im Elend großgeworden. Vater ohne Arbeit. Mutter tot. Wohnung: Nasses Kellerloch. Der Vater säuft.

Ist nicht mehr ganz dicht. Darum geht er zur KP. Da kriegt er ein bißchen Unterstützung. Rote Hilfe, nicht? Hätte er bei Ihnen auch gekriegt, andere Hilfe natürlich, klar, weiß ich doch. Aber ich sage ja: Suffkopp eben. Erzieht den Jungen als strammen Kommunisten. Was sollte der Kleine denn tun? Widersprechen? Hat er immer gleich ein paar in die Fresse gekriegt. Sage doch: Erziehung und Umgebung. So schön war das in dem seinen Kellerloch auch nicht.«

»Wenigstens Ratten hatten wir keine. War ihnen zu feucht bei uns«, sagte Lammers.

»Köstlich!« Der Sturmbannführer bekam einen Lachanfall. »Den Ratten war es zu feucht bei euch!« Er wurde ernst. »Also: Ihr habt bisher erstklassig gearbeitet. Dem Reich große Dienste erwiesen. Wir sind keine Gangster. Ihr wißt, es gibt Ehrenjuden. Auch Ehrenkommunisten. Schon mal was von Gnadenerlässen des Führers gehört? Natürlich dürft ihr nie das Maul aufmachen. Aber das tut ihr bestimmt nicht – weil euch sonst die eigenen Leute totschlagen. Kommt alles drauf an, wie jetzt der Film wird. Das kapiert ihr doch, daß dieser Film mit dem Geheimprotokoll eine unheimliche Wirkung haben wird, wenn ihr auf Draht seid. Kann sein, eine kriegsentscheidende.«

»Herr Sturmbannführer«, sagte Gold. »Sie kriegen einen Film, von dem wird die Welt reden!«

Diese Szene hatte plötzlich wieder vor Harry Gold gestanden, als er tiefer und tiefer in die Vergangenheit versank und vor der laufenden Kamera und im gleißenden Scheinwerferlicht einen kurzen Bericht über das erste Zusammentreffen mit dem Sturmbannführer gab.

Jetzt sagte er: »Viele sagen, ich bin ein schlechter Jud. Ich hätte mich niemals verbünden dürfen mit den Naziverbrechern. Meine ganze Verwandtschaft – nur nicht die Schwester – ist umgebracht worden. Okay, hätt’ ich also ein Held sein sollen und mich weigern, für die Mörder zu arbeiten. Hätten sie mich auch umgebracht. Ich bin kein Held. Ich bin ein Feigling. Darum leb’ ich noch ...«

Ein Flugzeug dröhnte über das Haus. Der Tonmann brach ab. Als der Lärm verklungen war, als eine Kamera und die Magnetaufzeichnung wieder liefen, sagte Daniel: »Und so haben Sie also diesen Film gefälscht, Herr Gold?«

»Ja«, sagte der. »War ein mächtiges Stück Arbeit. Auf was wir alles achten mußten! Die amerikanischen Cutter hatten damals eine andere Schnittmethode als wir in Deutschland. Ich kannte sie zum Glück. Was glauben Sie, was sich Peter Lammers mit dem Ton rumgequält hat.«

»Wieso?«

»Na, eine Sprecherstimme liest doch diesen Begleittext zu den Aufnahmen vor dem Geheimprotokoll, nicht? Die Amis hatten damals auch andere Tonapparaturen. Peter bastelte sich eine zusammen. Wir hatten ja amerikanische Wochenschauen und Peter damit einen Vergleich, wie der amerikanische Ton klang, wie die Sprecher drüben redeten. War ganz wichtig für Richard Clark, unseren Sprecher. Tagelang, wochenlang hat er geschuftet. Stand vor der Leinwand, auf der der montierte Film lief, und sprach und sprach, und immer wieder war es ihm nicht perfekt genug. Zuletzt gingen wir alle schon auf dem Zahnfleisch. Dann war Clark endlich zufrieden. Lammers auch. Ich muß sagen, mit Recht. So was von Perfektion hatte ich noch nie erlebt. Damals hatten wir Lichtton, nicht Magnetton wie heute. Jede Menge Macken! Trotzdem: Grandios, was Clark und Lammers da fertiggebracht haben. Es war eine Sauarbeit, vorher und nachher.«

»Was heißt vorher und nachher?«

»Na, zum Beispiel das Kopieren des Ganzen. Mußte doch alles zusammenpassen. Und dann auch wieder nicht. Das Geheimprotokoll sollte ja eingefügt wirken! Also andere Schwarzweißwerte. Haben die Jungs sich rumgeschlagen! Und die Fehler!«

»Was für Fehler?«

»Wir hätten ja auch eine tadellose Kopie liefern können, nicht?«

»Natürlich.«

»Das wäre aber Scheiße gewesen. Der Film kam ja angeblich aus Teheran, nicht? Primitive Arbeitsverhältnisse. Mußten wir also künstlich Kratzer und Tonsprünge und all das andere Zeug reinmachen, die winzigen Fehler, die so ein Film einfach haben mußte, wenn er nicht wie in Hollywood gedreht aussehen sollte. War vielleicht ein Theater! Jeder Kratzer wollte überlegt sein. Wie groß. Wo. Denn natürlich durfte es auch nicht zu viele Fehler geben. Na ja, Anfang März vierundvierzig waren wir dann mit der Arbeit fertig.«

»Und was geschah?«

»Der Sturmbannführer ohne Namen kam nach Sachsenhausen, dazu Kaltenbrunner, der Chef vom SD, und ein anderes hohes SD-Tier, Walter Schellenberg.«

»Woher wissen Sie, daß es die beiden waren? Stellten sie sich vor?«

»Keine Rede! Aber wir hatten ja viele Politische. Die und Lammers erkannten sie. Die SS-Bonzen sahen sich den Film an ...«

»Nur die drei?«

»Und Lammers und ich. Die SS-Bonzen waren begeistert. Sie bedankten sich bei allen. Kaltenbrunner schüttelte jedem einzelnen die Hand. Dann fuhren sie mit dem Film weg.«

»Wissen Sie, was mit ihm geschah?«

»Weiß ich nicht.«

»Sie haben nie mehr etwas von ihm gehört?« »Nie mehr, nein. Da muß was passiert sein.« »Passiert?«

»Mit dem Film. Sie haben ihn ja nicht herstellen lassen, um ihn in den Schrank zu legen. Die wollten damit doch die Völker aufwiegeln. Das haben sie nie getan. Kein Mensch hat jemals auch nur von diesem Film gehört – bis heute. Sehr komisch ...«

Daniel überlegte. Endlich sagte er: »Herr Gold, man hat Ihnen heute früh im Sender einen Film, der in unseren Besitz gelangt ist, vorgeführt. Ist dieser Film identisch mit dem, den Sie gefälscht haben?«

»Selbstverständlich.«

»Da sind Sie ganz sicher?«

»Hundertprozentig. Was soll ...«

»Warten Sie! Sie sagten, Sie und Ihre Kollegen hätten diesen Film im Auftrag des Himmlerschen SD gefälscht.«

»Ja, natürlich. Für das RSHA.«

»Und Sie sind ganz sicher, daß Sie da nicht getäuscht wurden?«

»Warum soll man uns getäuscht haben? Der SD hat ja im Block neunzehn auch die falschen Pfundnoten herstellen lassen. Ich weiß doch noch, für wen ich gearbeitet habe!«

»Was wissen Sie von Admiral Canaris?«

»Das war der Chef der militärischen Abwehr.« »Also auch eines Geheimdienstes.«

»Klar. Davon gab’s noch jede Menge. Die Geheime Feldpolizei zum Beispiel. Oder den Geheimdienst Ribbentrop.«

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