Ragai. Wie jung war er?«

»Achtzehn.«

»Wie alt?«

»Achtzehn Jahre! Ich habe mich selbst gewundert über seine Jugend. Aber Ross wußte schon, wen er mir da schickte. Dieser geheimnisvolle CX einundzwanzig sprach fließend Persisch, Englisch und Französisch. Er war superintelligent, trotz seiner Jugend ungeheuer belesen, gebildet und einfach über alles informiert. Er hatte glänzende Manieren. Er ließ sich überall einschleusen – als Sohn aus gutem Hause, als reicher Playboy, als Snob – und ebenso als Kellner. Er konnte nämlich hervorragend servieren.«

Die beiden Kameramänner wechselten Blicke. Der erste gab damit bekannt, daß seine Filmkassette nur noch wenige unbelichtete Meter enthielt. Nach dem bewährten System ließ der zweite nun seinen Apparat laufen. Der Kollege hatte anschließend Zeit, in aller Ruhe eine neue Kassette einzulegen.

»CX einundzwanzig kam ganz schnell zu Erfolg«, fuhr Chan Ragai fort. Seine Stimme wurde leiser, seine müden Augen schlossen sich halb. Während er berichtete, was geschehen war, wurden die Ereignisse und Gespräche noch einmal Wirklichkeit für ihn. »Schon in der Nacht vom achtundzwanzigsten zum neunundzwanzigsten November suchte er mich gegen zwei Uhr früh in meiner Wohnung auf, weil er, wie er sagte, eine Information von größter Wichtigkeit erhalten habe. Er war sehr ruhig und beherrscht. Um so erregter wurde ich ...«

»Es geht um folgendes, Chef«, sagt der schlanke, gutaussehende junge Mann mit dem Kürzel CX21. »Alle amerikanischen Presse- und Rundfunkleute und die Wochenschau-Kameramänner bleiben in der amerikanischen Gesandtschaft. Sie wissen, daß Roosevelt und sein großer Stab dagegen auf Drängen des sowjetischen Außenministers Molotow heute nachmittag in ein Gebäude auf dem Areal der sowjetischen Botschaft übersiedelt sind.«

»Ja«, sagt Chan Ragai. Er hatte schon geschlafen, als CX21 ihn anrief, nun sitzt er in Pyjama und Morgenrock, das Haar wirr, im Wohnzimmer auf einer Couch. »Aus Sicherheitsgründen, hörten unsere Leute. Die sowjetischen Sicherheitsbeamten sind angeblich einem deutschen Komplott auf die Spur gekommen. Teheran, sagen sie, ist das Hauptquartier für die ganze Spionage der Achse im Mittleren Osten, stand bis vor kurzem noch völlig unter deutscher Kontrolle, und es gibt haufenweise Sympathisanten der Deutschen in der Bevölkerung. Jetzt soll ein Attentat auf Roosevelt geplant sein. Schön wäre es. Zigarette?«

»Danke, nein, Chef.« Der braunhaarige CX21 mit den empfindsamen, dunklen Augen schüttelt den Kopf.

»Dann setzen Sie sich wenigstens!« Ragai zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch in die Luft. Die Zentralheizung in seinem Haus arbeitet. Es ist bitterkalt in Teheran. »Etwas Wahres ist natürlich dran an dem Gerede von deutschem Einfluß und auch von Sympathien für Deutschland. Aber leider – kann ich nur sagen – übertreiben die Russen maßlos. Die Großen Drei hätten sich doch gewiß eine andere Stadt für ihr Treffen ausgesucht, wenn sie sich hier wirklich in Gefahr befinden würden. Schließlich haben die Sicherheitsbeamten von drei Nationen die Stadt auf ihre Tauglichkeit hin geprüft – Wochen bevor die Delegationen eintrafen.«

»So ist es«, sagt CX21, der sich setzt und dabei die exakt gebügelten Hosenbeine hochzieht. Der Junge ist sehr gepflegt und trägt nun nicht mehr Kellnerkleidung, sondern einen blauen Anzug. »Selbstverständlich ist diese Geschichte mit dem Komplott nur ein Vorwand, den amerikanischen Präsidenten und seine Mitarbeiter auf sowjetisches Territorium und sehr wahrscheinlich in die unmittelbare Nähe sowjetischer Abhörgeräte zu bringen. Die Russen kennen die Angst der Amerikaner vor Attentaten; einige ihrer Präsidenten sind ja ermordet worden. Die Russen haben die daraus resultierende, leicht paranoide Grundeinstellung ihrer Verbündeten glänzend ausgenützt. Presse-, Funk- und Wochenschauleute der Amerikaner sind jetzt zwei Kilometer von der amerikanischen Delegation entfernt in der Gesandtschaft. Sie werden dort verpflegt. Man hat das einheimische Personal geteilt. Ich bin Gott sei Dank nach wie vor für die Leute in der Gesandtschaft zuständig.«

»Wieso Gott sei Dank?«

»Warten Sie, Chef, warten Sie! Ich mußte gar nichts tun. Es entwickelte sich alles ganz von selbst. Sehen Sie: Mir fiel schon gestern auf, daß zwei Kameraleute der Amerikaner den großen Verbrüderungsrummel aller anderen Korrespondenten nicht mitmachten. Sie waren vom ersten Moment an sonderbar isoliert – auf eigenen Wunsch, schien es. Sie essen an einem kleinen Tisch für zwei, sie reden kaum mit Kollegen, und auch ihre beiden Zimmer liegen etwas abseits in der Gesandtschaft. Der eine heißt William Mackenzie und kommt aus Kalifornien, der andere kommt aus New York und heißt Ernest Rosen. Ziemlich komisches Gespann, die beiden.«

»Wieso komisch?«

»Mackenzie ist vielleicht siebenundzwanzig, achtundzwanzig, Rosen mindestens vierzig. Rang von beiden: Corporal. Ich habe den Eindruck, daß sie sich Mühe geben müssen, um es miteinander auszuhalten. Rosen hat eine Frau, aber keine Kinder. Mackenzie eine große Familie mit drei Kindern. Rosen trinkt und raucht nicht. Mackenzie raucht wie ein Schlot, und er säuft. Man kann es nicht anders nennen, Chef. Als ich ihn vorhin verließ, war er komplett voll. Ich mußte ihn ausziehen und ins Bett bringen.«

»Sie waren bis jetzt in der Gesandtschaft?«

»Sage ich doch! Ich hatte ohnedies Spätdienst, und da hat mich dann Mackenzie noch zu sich raufgenommen.«

»Hören Sie, wenn man Sie entdeckt hätte ...« »Hat man aber nicht, Chef. Eine Menge Korrespondenten sind

betrunken in der amerikanischen Gesandtschaft heute nacht. Und aufgeregt. Wegen der angeblichen Attentatspläne. Bekamen die Korrespondenten natürlich mit. daß Hopkins alles dementierte und erklärte, nichts von diesen Gerüchten dürfe veröffentlicht werden, machte niemanden ruhiger. Und der tatsächliche Umzug heute, nein gestern nachmittag erst recht nicht. Wurde vorgestern schon viel getrunken. Die meisten Jungen waren blau. Mackenzie auch. Er bekam Krach mit seinem Kollegen Rosen – ich weiß nicht, warum –, und Rosen ließ ihn allein und ging auf sein Zimmer. Mackenzie blieb noch in der Mess Hall sitzen und quatschte mich an. Er wollte wissen, was ich von dem Komplott halte, ob es tatsächlich sehr viele deutsche Agenten in der Stadt gibt, ob ich aus Teheran stamme, ob ich mich hier auskenne, ob ich vielleicht auch weiß, wer für die Deutschen arbeitet und so weiter.«

»Ziemlich ungewöhnlich, wie?«

»Ja, Chef. Das fand ich auch. Aber betrunken, wie er war ... Eine fixe Idee hielt ihn gefangen. Vorgestern wußte ich noch nicht, welche. Heute weiß ich es.«

»Was für eine fixe Idee?« fragt Ragai. Sein schwarzes Haar glänzt im Licht eines Lüsters.

»Der Reihe nach, Chef! Der Reihe nach! Also, ich ging natürlich sofort wie eine Mutter auf Mackenzie ein und sagte ihm, daß ich hier geboren bin, und als er mein fabelhaftes Englisch bewunderte, da sagte ich ihm, daß ich vor dem Krieg ein Jahr in Amerika als Kellner gearbeitet habe, und zwar in Kalifornien, in Los Angeles. Na, und er ist in San Diego daheim, ganz in der Nähe, und das machte ihn noch zutraulicher und sentimentaler, und dann fragte ich ihn, warum er und sein Partner sich abseits von den anderen hielten, und er sagte, sie hätten eine ›top secret mission‹, über die er nicht reden dürfte, und ich drängte ihn natürlich auch nicht, sondern gab nur acht, daß er ordentlich trank. Er wurde weinerlich und nannte mich Kind und sagte, ich solle ihn Bill nennen, und ich mußte ein paar Gläser mit ihm trinken – na ja, es waren sehr viele Gäste in der Mess Hall, es ging sehr laut zu, keiner achtete auf uns, und ich sagte also Bill zu ihm, und er erzählte mir, daß er in der Scheiße sitzt, aber richtig, und daß er vor Sorgen nicht aus und ein weiß ...«

»Was für Sorgen? Wieso in der Scheiße?«

»Das sagte er mir nicht. Vorgestern sagte er es mir noch nicht. Vorgestern abend redete er nur so herum, und er fing wieder mit den deutschen Agenten an und daß ich doch den einen oder den anderen kennen müsse, und ich wiegte den Kopf und sagte na ja, na ja, ich höre natürlich dies und das und weiß eine Menge über viele Leute hier und habe Freunde. Aber dann kam ein Sicherheitsbeamter, der forderte Mackenzie auf, zu Bett zu gehen – vorgestern. Deshalb bat er mich auch gestern abend, auf sein Zimmer zu kommen.«

»Warum?«

»Damit wir ungestört reden konnten. Ich sagte schon, er war wieder besoffen, aber heute redete er nicht so herum, heute redete er Tacheles. Er sagte mir, daß er wahnsinnige Schulden hätte. Ein Vermögen beim Pferderennen verloren.«

»Wieviel?«

»Mehr als sechzigtausend Dollar.«

Ragai sagt: »Quatsch. Ein Besoffener quatscht. Die Army hat den Mann doch noch und noch gecheckt, wenn er wirklich in einer ›top secret mission‹ hier ist. Ein Mann, der solche Schulden hat, bedeutet doch ein Sicherheitsrisiko, Mensch! Er ist erpreßbar, er ist imstande, seine Mission für Geld zu verraten ...«

»Eben«, sagt CX21. »Was eben?«

»Eben das hat er getan.«

»Er hat seine Mission verraten? Ihnen?«

»Ja, Chef.«

»In dieser Nacht?«

»In dieser Nacht. Er hat noch viel mehr getan. Ich komme sofort darauf zurück. Ich wollte nur sagen: Natürlich wurde er durchleuchtet. Daraufhin sprach ich ihn auch sofort an. Er sagte, keiner weiß etwas von seinen furchtbaren Schulden – er hat es sehr geschickt angefangen, hat Wechsel unterschrieben, seine Gläubiger sitzen in Los Angeles, die Army hat nichts rausgefunden. Aber mein neuer Freund Bill hat auch einen Wechsel gefälscht und dazu zwei Schecks, und wenn das auffliegt und alle x-mal prolongierten anderen Wechsel fällig werden, dann geht Bill für mindestens zehn Jahre in den Knast. Na, ich sage, das täte mir ganz furchtbar leid, und wenn ich ihm doch nur helfen könnte, ich liebe die Amerikaner, seit ich drüben war, und da sagt er mir, ja, ich könnte ihm helfen, da ist er sicher, es ist nur, ob ich auch will. Ich frage ihn, woran er denkt, und er verrät mir diese›top secret mission‹.«

»Also, Moment mal, ja?« sagt Ragai. »Das ist doch wohl nicht Ihr werter Ernst.«

»Was, bitte?«

»Daß dieser Mackenzie Sie gestern abend bat, auf sein Zimmer zu kommen.«

»Natürlich ist das mein Ernst.«

»Hören Sie! Die Amerikaner fliegen zwei Kameraleute in einer ›top secret mission‹ hierher, und einer von ihnen kann Sie einfach so anquatschen und ausfragen und mit aufs Zimmer schleppen und sich bei Ihnen ausjammern – und Sie sind nicht umgehend von Sicherheitsleuten geschnappt und hochkantig rausgeschmissen worden? Das soll ich Ihnen glauben, Mensch?«

»Das müssen Sie mir glauben, Chef!«

»Verflucht, aber so was von Schlamperei gibt es doch nicht! Die Amerikaner sind doch keine Idioten! Die werden doch noch auf zwei so wichtige Männer aufpassen!«

»Das taten sie ja auch – zu Beginn. Dann kam dieses Gerücht von dem geplanten Attentat auf Roosevelt, und alles geriet in Panik. Chef, Sie können sich nicht vorstellen, wie es jetzt zugeht in der amerikanischen Gesandtschaft! Die scheißen sich einfach alle in die Hosen. Das ist eine einzige Hysterie und ein Herumgerenne und eine totale Kopflosigkeit. Die Sicherheitsleute können einem leid tun. Jede Minute ein neues Gerücht. Natürlich hätte Mackenzie unter normalen Umständen niemals so mit mir reden können. Aber bei diesem Tohuwabohu ... Glück ... wir haben einfach Glück, Chef!«

Ragai steht auf, drückt die Zigarette aus und beginnt im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Also«, sagt er.

»Also: Mackenzie und Rosen sind hier, um einen Film zu drehen, einen ganz besonderen Film. Nach langem Herumgerede kam Mackenzie damit raus. Es soll so eine Art Dokumentarfilm werden: die Ankunft der Delegationen, der Weg vom Flughafen in die Stadt, die Hauptpersonen, die Sitzungen und Treffen, die Arbeitsessen, alles nach einem genauen Plan. Die Ankunft und die ersten Sachen haben sie schon gedreht, sagte er, das Wichtigste kommt noch.«

»Das Wichtigste?«

»Besser, Sie setzen sich wieder, Chef, es kann Sie sonst leicht umhauen. Also, mein Freund Bill behauptet, daß die Amerikaner und die Russen entschlossen sind, hier in Teheran während der Konferenz ein beidseitiges Geheimabkommen zu treffen. Einen Vertrag zu schließen, von dem die Engländer nichts wissen dürfen. Diesen Vertrag wird angeblich Roosevelts Berater Harry Hopkins mit Stalins Berater General Woroschilow ausarbeiten, und Stalin und Roosevelt werden ihn dann unterzeichnen. Und das alles soll Bill mit Rosen filmen wie sich Hopkins und Woroschilow treffen, heimlich, wie sie den Vertrag ausarbeiten, wie er dann unterschrieben wird –, und, jetzt kommt es, Chef, und außerdem sollen sie den ganzen Vertrag abfilmen, Seite um Seite, ganz langsam, damit man jedes Wort lesen kann, einmal in englischer, einmal in russischer Sprache.«

»Warum das?«

»Warum was?«

»Warum den Vertrag abfilmen?«

»Das habe ich auch gefragt. Antwort: Dieser Vertrag muß unter allen Umständen geheim bleiben. Der jeweilige Originalvertrag soll deshalb nach der Ablichtung in Gegenwart der Unterzeichner verbrannt werden. Jede der Mächte erhält eine Filmkopie. Diese ist so zu verwahren, daß sie für alle Zeit gegen ein Bekanntwerden, insbesondere durch die Öffnung der Staatsarchive, gesichert ist. Und einen Film mit allen Beteiligten im Bild kann man nicht ableugnen, wenn auch der Partner so einen Film hat. Leuchtet ein, wie?«

»Verflucht, was ist das für ein Vertrag, Mensch? »Das weiß Bill natürlich nicht. Das haben sie ihm nicht gesagt. Aber er und Rosenwissen jedenfalls, daß es ein Geheimvertrag zwischen Rußland und Amerika sein muß, von dem die Engländer und niemand anderer etwas erfahren dürfen. Bill und auch Rosen sind davon überzeugt, daß die Amerikaner und Russen, die Mächtigsten auf der Welt, sich hier und in dem Vertrag darüber einigen wollen, wie sie nach dem Krieg die Welt unter sich aufteilen.«

»Das hat dieser Bill Ihrem Agenten gesagt? Nach zweitägiger Bekanntschaft?«

»Die Welt unter sich aufteilen – so hat es William Mackenzie tatsächlich formuliert?«

»Das ist doch undenkbar!«

»Sind Sie sicher, daß Ihr großartiger CX einundzwanzig das zu Ihnen gesagt hat? Sind Sie sicher, daß er kein doppeltes Spiel trieb, Herr Ragai?«

Mercedes und Daniel sprachen durcheinander. Mercedes war aufgesprungen.

Der alte, kranke Mann vor der Kamera nickte. Er sagte grimmig: »Sehr verständlich, Ihre Erregung. Habe ich erwartet. Ich war genauso erregt. Ich habe zu CX einundzwanzig gesagt: »Machen Sie keine blöden Witze mit mir, Mensch ...«

»... Das hat Ihnen Ihr besoffener Bill nie im Leben erzählt!« sagt Chan Ragai in der Nacht zum 29. November 1943 in seiner Wohnung in Teheran. Er sagt es aufgebracht und wütend. Und sehr laut.

»Okay, dann nicht. Dann vergessen Sie die Sache! Wiedersehen, Chef!« CX21 steht auf.

»Was ist los?« fragt Ragai.

»Ich gehe nach Hause. Ich lasse mich von Ihnen doch nicht anschreien. Machen Sie sich Ihren Dreck alleine!«

Ragai beschleicht ein unheimliches Gefühl. Und wenn der junge Mann die Wahrheit spricht? Er ist offensichtlich ein Schützling des allmächtigen Georg Ross. Wenn CX21 sich direkt an Ross wendet und beschwert ... Ragai sagt hastig: »Ich habe nicht geschrien.«

»Doch haben Sie geschrien!«

»Nein. Ich habe nur laut geredet. Vor Verblüffung. Seien Sie nicht so empfindlich! Sie müssen mich doch verstehen. Das ... das ist ungeheuerlich, wenn Ihr Amerikaner das wirklich gesagt hat. Finden Sie es denn nicht ungeheuerlich?«

»Natürlich finde ich es ungeheuerlich. Genauso wie Sie, Chef. Darum komme ich ja mitten in der Nacht zu Ihnen. Ich bin fassungslos. Ich bin überwältigt. Wir haben da den dicksten Brocken, das Phantastischste an der Hand, was es bislang in diesem Krieg gegeben hat. Ach was, in diesem Krieg! In diesem

Jahrhundert! In den letzten Jahrhunderten!« Jetzt redet CX21 sehr laut. Sein Gesicht läuft rot an. »Ich bin so außer mir wie Sie.

Aber genau das hat Bill gesagt. Genau das! Sie kennen ihn nicht. Sie kennen nicht das Ausmaß seiner Angst, wegen dieser Geldaffären ins Gefängnis zu kommen. Der Mann ist verzweifelt, absolut verzweifelt, zu allem fähig, zu jedem Verbrechen, jedem Verrat ... dazu fast sinnlos besoffen ... und dann, denken Sie bitte daran, sprach er mit mir, einem Mann, in den er alle seine Hoffnung gesetzt hat, nachdem ich ihm sagte, ich würde wohl einige wichtige deutsche Agenten in Teheran kennen ... gut kennen ... Noch einmal, Chef: Ich bin für diesen Bill, der vor Furcht nicht mehr klar denken kann, die letzte Hoffnung. Die allerletzte.«

»Setzen Sie sich endlich wieder! Was heißt das, die allerletzte Hoffnung?«

»Er hofft, daß deutsche Agenten ihm für eine Kopie dieses Films viel Geld bieten werden, wenn sie hören, was für ein Film das ist.«

»Das hat er gesagt?«

»Gesagt? Angefleht hat er mich, eine Verbindung herzustellen zu deutschen Agenten. Ich weiß gar nicht mehr, was für Versprechungen er mir im Suff gemacht hat, wenn ich es fertigbringe, daß deutsche Agenten ihm Geld geben für so eine Kopie. Er ist doch ganz stark in seiner Bewegungsfreiheit eingeengt. Er braucht einen Mittelsmann. Den hat er gefunden. Mich. Auf den Knien hat er vor mir gelegen und mich angefleht, ihm zu helfen, Chef. Auf den Knien!« CX21 atmet jetzt hastig. Er zieht seine Jacke aus. Er hat zu schwitzen begonnen. Er reißt den Knoten der Krawatte herunter, er öffnet den Kragenknopf des weißen Hemds.

»Und Sie haben gesagt, daß Sie ihm helfen werden.« »Selbstverständlich! Chef, diese Sache ist absolut gigantisch,

ich fühle es, ich spüre es, fast will ich sagen: Ich weiß es. Sie müssen sofort Kontakt mit Berlin aufnehmen und das weitergeben. Natürlich auch die Forderungen Bills.«

»Wie hoch sind die?«

»Sehr hoch – aber wenn er uns den Film liefert, und auf dem Film ist das drauf, was er verspricht, dann ist der Betrag, den er fordert, ein Witz.«

»Was fordert er?«

»Fünf Millionen Dollar.«

»Ganz hübsch.«

»Wenn wir eine Kopie dieses Films haben, können wir damit die Einigkeit der Alliierten sprengen. Die ganze Kriegslage können wir damit verändern, Chef! Jesus, verstehen Sie denn nicht?«

»Natürlich verstehe ich. Ich bin kein Idiot.« Jetzt ist auch Ragai sehr aufgeregt. »Und natürlich werde ich Berlin verständigen. Ribbentrop muß entscheiden.«

»Aber schnellstens! Bill will das Geld sofort. In den nächsten achtundvierzig Stunden muß das Geld auf einem Schweizer Konto liegen. Technisch ist das kein Problem. Wir haben unsere Leute in der Schweiz.«

»Er will das ganze Geld, bevor wir einen Meter Film haben?« »Ja, Chef. Das ganze Geld. Sofort. So weit müssen wir ihm

vertrauen, sagt er. Wenn er bei der Sache auffliegt, kostet ihn das sein Leben. Da hat er weiß Gott recht. Er nimmt ein wahnwitziges Risiko auf sich. Und wenn wir ihn bezahlt haben, haben wir ihn in der Hand, sagt er. Wir können ihn dann jederzeit hochgehen lassen, mit dem Geld auf dem Konto. Dieses Wahnsinnsgeschäft läuft überhaupt nur, wenn einer dem anderen vertraut. Das müssen Sie Berlin auch klarmachen. Nur dann!«

»Wie sieht das praktisch aus?« fragt Ragai, der so nervös ist, daß er sich die Finger versengt, als er eine neue Zigarette in Brand setzen will.

»Einfach, Chef. Einfach. Hier in Teheran gibt es ein ziemlich ordentliches Studio, in dem die einheimische Wochenschau produziert wird. Angeschlossen ein Kopierwerk. Auch Schneideräume sind da. Alles, was man braucht. Die beiden Exemplare dieses Films – das amerikanische und das russische – sollen nach dem Wunsch der Großen Zwei in Teheran hergestellt werden. Gleich, wenn alles Rohmaterial vorhanden ist. Unter amerikanischer und russischer Aufsicht natürlich. Der Film soll einen Kommentar bekommen. Amerikanische und sowjetische Wochenschausprecher sind da. Es ist abgemacht, sagt Bill, daß die beiden fertigen Exemplare direkt von hier aus in die Panzerschränke des Kremls und des Weißen Hauses gebracht werden.«

»Wie will Ihr Bill dann zu einer Kopie kommen?« »Den Film stellen natürlich nur amerikanische und russische

Spezialisten her. Cutter. Tonmeister. Männer im Kopierwerk. Bill sagt, er hat einen Freund, der wird die Endabnahme der amerikanischen Fassung vornehmen. Und dabei für Bill eine Kopie ziehen. Auch das eine absolut lebensgefährliche Sache,

aber der Freund hat zugesagt. Er nimmt das Risiko auf sich – für Geld natürlich. Keine Angst, Bill hat gesagt, diesen Mann bezahlt er . Ich weiß nicht, wieviel von den fünf Millionen er ihm gibt. Vielleicht die Hälfte, vielleicht weniger. Ich vermute weniger. Das wäre der finanzielle Teil. Nun noch der Liefertermin. Da müssen wir etwas warten.«

»Wie lange?«

»Vier Monate.«

» Wie lange?«

»Bis Ende März nächsten Jahres. Moment, Chef, Moment, lassen Sie mich reden! Natürlich wird die Kopie früher fertig sein. Bestimmt vor Weihnachten. Aber Bill sagt, er muß darauf bestehen, daß wir ihm diese Frist einräumen. Anders geht es nicht, sagt er. Wenn wir unsere Kopie schon vor Weihnachten bekämen und nach Berlin brächten, würde die Führung dort doch sofort aktiv werden, nicht?

»Ja, vermutlich ...«

»Eben. Und das ist weder für Bill noch für seinen Freund akzeptabel. Sie würden dann automatisch verdächtigt werden. Sie würden dann auffliegen. Zeit muß vergehen, sagt Bill. Er und sein Freund müssen längst ganz woanders eingesetzt sein. Vor allem muß Bill unauffällig seine finanziellen Verpflichtungen regeln und alle Spuren, die auf sie hinweisen, verwischen, und dazu braucht er Zeit. Er ist in der Army. Er kann nicht einfach Urlaub verlangen und in Kalifornien alles in Ordnung bringen. Da muß eben Zeit vergehen. Alles verständlich, finde ich.«

»Aber bis März! Wir sollen in den nächsten achtundvierzig Stunden zahlen – und dann vier Monate auf die Kopie warten! Das ist doch eine Zumutung!«

»Anders ist es nicht zu machen, Chef. So – oder gar nicht, sagt Bill. Take it or leave it. Natürlich fleht er, verzweifelt, wie er ist, bestimmt Gott an, daß wir auf seine Bedingungen eingehen. So verzweifelt ist er aber nicht, daß er sich selbst ans Messer liefert.« Es folgt Schweigen.

Dann fragt Ragai: »Und wenn Berlin darauf eingeht, wie bekommen wir dann Ende März die Kopie?«

»Von einem Freund, den sein Freund beim technischen Personal der Gesandtschaft hier hat. Der Mann ist Fahrer. Er wird wissen, wo die Kopie versteckt ist. Er wird sich mit mir in Verbindung setzen.«

»Mit Ihnen?«

»Natürlich mit mir. Ich konnte doch nicht gut Ihren Namen und Ihre Adresse angeben, Chef! Ich bin der Mann, der dann im März eine Verbindung zwischen Ihnen und diesem Fahrer herstellt.«

»Großer Gott, was für eine Geschichte!« Ragai raucht jetzt unablässig, er zündet eine Zigarette am Stummel der anderen an. »Auf der anderen Seite: Was für eine Chance!«

»Richtig, Chef. So eine Chance kommt nie wieder.« »Ich werde Berlin von allem unterrichten. Was riskieren wir

eigentlich? daß wir reingelegt werden und keine Kopie bekommen. Oder daß wir eine Fälschung bekommen. Dann können wir Ihren Bill und seinen Freund immer noch hochgehen lassen und dafür sorgen, daß sie beide hingerichtet werden.«

»Das sage ich doch die ganze Zeit, Chef! Bills Risiko ist viel größer als unseres! Was sind fünf Millionen Dollar für die Reichsregierung? Ein Klacks. Was könnte dieser Film für uns bedeuten? Alles!«

Ein neuer Hustenanfall, schlimmer als der erste, quälte den alten Mann vor der Kamera. Chan Ragai rang nach Luft, sein Körper krümmte sich wieder zusammen, die Haut des Gesichts war durchsichtig weiß geworden. Er hielt das Taschentuch vor den Mund.

»Aus!« sagte Daniel.

Kamera II, die gerade lief, wurde angehalten. »Pause!« sagte Daniel. »Wir machen jetzt eine Pause. Sie

haben sich überanstrengt. Sie haben zu lange gesprochen, Herr Ragai. Scheinwerfer auch aus!«

Sie erloschen.

Ragai hustete noch immer, trocken und hart. Jeder, der diesen Husten hörte, dachte dasselbe: Noch fünf Monate zu leben. Höchstens. Allerhöchstens. Mercedes war wieder bei dem alten Mann. Sie hielt das Glas, aus dem er trank, an seine Lippen. Ragais Hände zitterten zu stark. Er sah dankbar zu ihr auf. In seinen Augen standen Tränen, der Hustenanfall strengte ihn maßlos an.

»Wir können auch ein oder zwei Stunden unterbrechen«, sagte Daniel. »Wenn Sie sich hinlegen wollen, Herr Ragai ...«

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Weiter ... Ich will weiter ... sprechen ... Nur ... ein paar ... Minuten ...«

Tatsächlich hatte er sich nach einer Viertelstunde erholt. Die Scheinwerfer flammten wieder auf. Kamera II lief.

Ragai sagte: »Ich muß alles, was ich zu sagen habe, heute und jetzt sagen. Die Maschine ... Ich will die Maschine erreichen ... Ich will fort hier ... Ich will nach Hause ... nach Teheran ...«

»Ich glaube, Sie haben fast alles erzählt«, sagte Daniel. »Wir sind gleich fertig. Es hat also tadellos funktioniert, denn Ende März vierundvierzig traf Ihr geheimnisvoller Agent CX einundzwanzig mit der Filmkopie in Berlin ein, das wissen wir.«

»Ja«, sagte Ragai. »Es hat funktioniert. Ich setzte noch am neunundzwanzigsten November einen langen Funkspruch nach Berlin ab. Ross antwortete am gleichen Tag. Er hatte mit Ribbentrop gesprochen. Die fünf Millionen waren in der Schweiz einbezahlt worden auf das von William Mackenzie angegebene Konto ...«

»Unsere Reporter haben übrigens in San Diego einen Kameramann namens William Mackenzie gefunden, der nach Angabe von Bekannten damals in Teheran dabei war«, sagte Daniel. »Ja?« Ragai sah schnell auf. Seine müden Augen leuchteten plötzlich. »Sehen Sie! Und was sagt er?«

»Nichts, Herr Ragai. Er ist vor drei Monaten gestorben. Herzinfarkt.«

»Mein Gott!«

»Ja, großes Pech. Obwohl ...« Daniel brach ab. »Obwohl?« »Obwohl er natürlich niemals zugegeben hätte, fünf Millionen

Dollar von den Nazis bekommen und dafür die Kopie dieses Films geliefert zu haben.«

»Aber meine Aussage würde ihn schwerstens belasten.« »Ja, gewiß. Allerdings ...«

»Was, allerdings?« Ragai regte sich auf.

»Ruhig, bleiben Sie ruhig! Erlauben Sie mir eine Frage: Dieser Agent CX einundzwanzig – kann es sein, daß er ein doppeltes Spiel gespielt hat?«

»Ich verstehe nicht ...«

»Also ganz brutal: Kann es sein, daß CX einundzwanzig – ich habe gute Gründe, das zu fragen, Herr Ragai –, kann es sein, daß CX einundzwanzig von einem anderen deutschen Geheimdienst, beispielsweise von Kaltenbrunners SD, bestochen war und Ihnen Theater vorgespielt hat?«

»Das verstehe ich nun wirklich nicht, Herr Ross.« »Ich will es Ihnen erklären. Wir haben einen Zeugen, der

behauptet, den Film im Auftrag des SD mit von diesem geliefertem Rohmaterial, also Teheraner Aufnahmen und Filmteilen, zusammen mit anderen Häftlingen im Konzentrationslager Sachsenhausen gefälscht zu haben.«

»Das ist absolut unmöglich. Der Mann lügt.« »Warten Sie, Herr Ragai, warten Sie! Das alles ist reine

Theorie natürlich ... Aber wäre es möglich – ich weiß, es klingt phantastisch, doch was ist nicht phantastisch an dieser ganzen Affäre?, wäre es möglich, daß der SD Ihren Agenten bestochen hat, um zu erreichen, daß er diesen Film, den er von Mackenzie oder irgendeinem anderen Menschen in Teilen, aber ohne das abgefilmte Geheimprotokoll bekam, in Teheran zuerst SD-Leuten übergab? Diese konnten dann alle Teile nach Deutschland befördern und im Konzentrationslager Sachsenhausen unter Verwendung eines in Deutschland hergestellten Geheimprotokolls eine ungeheuerliche Fälschung herstellen lassen, wie dieser Zeuge behauptet ...«

»Völlig ausgeschlossen!«

»Bitte, unterbrechen Sie mich nicht, Herr Ragai! Ausgeschlossen ist das nicht. Theoretisch – als Gedankenspiel – wäre es durchaus möglich, daß es sich so verhielt. Sie konnten keine Ahnung davon haben, ja, Sie durften keine Ahnung davon haben. Es ist denkbar, Herr Ragai, es ist denkbar, daß der Film auf diese Weise gefälscht und dann nach Teheran

zurückgebracht wurde, wo man ihn Ihnen, Herr Ragai, wie zwischen CX einundzwanzig und diesem William Mackenzie besprochen, Ende März vierundvierzig als den angekündigten Film übergab. Der erwähnte Zeuge sagt, er und seine Mithäftlinge wären mit dem gefälschten Film Anfang März vierundvierzig fertig gewesen. Kaltenbrunner und zwei andere Männer kamen persönlich in das KZ – so der Zeuge –, sahen sich die Fälschung in einer Filmvorführung an, beglückwünschten die Häftlinge und fuhren mit der Fälschung davon. Es wäre also – Hypothese alles, alles Hypothese! – noch Zeit genug geblieben, den Film nach Teheran zurück zu befördern und Ihnen als gewünschte Kopie zu übergeben. Ich sage nicht, daß es so war, Herr Ragai. Ich sage nicht, daß CX einundzwanzig sich tatsächlich vom SD bestechen ließ. Ich sage nur, wir verfügen über einen Zeugen, der behauptet, den Film mit anderen Häftlingen gefälscht zu haben. Ich sage: Es wäre möglich, daß er die Wahrheit sagt. Es wäre möglich, daß alles so ablief, wie ich es eben skizzierte. Ich sage nicht, daß es so war. Ich frage: Hätte es nicht so sein können?«

Ragai schwieg.

»Herr Ragai! Bitte! Ich habe Sie etwas gefragt!« »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte der alte Mann.

»Theoretisch wäre so etwas – wenigstens zeitlich – möglich gewesen. Wie Sie sagen: Das ist reine Gedankenspielerei. Ich halte es für absolut ausgeschlossen, daß es so war. Ich erhielt von CX einundzwanzig die Filmkopie am siebenundzwanzigsten März. Das weiß ich noch genau. Ich weiß noch genau, daß CX einundzwanzig mit dieser Kopie am achtundzwanzigsten März über die neutrale Türkei nach Berlin flog. Und ich weiß genau, daß ich seine Ankunft nach Berlin funkte und auch, wo die Filmkopie von Georg Ross abzuholen war.«

»Nämlich wo?« fragte Daniel.

»Sie wissen es doch! Aber bitte: In der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs Zoo. Den Aufgabeschein, funkte ich, würde CX einundzwanzig in einem Kuvert an die Privatadresse von Georg Ross schicken. Da in Dahlem. Der Film lag in einem Koffer mit Nummernschlössern. Ich funkte auch die Nummern. Am einunddreißigsten März kam ein Funkspruch von Ross: Er hatte den Film selber im Bahnhof Zoo abgeholt und dankte. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

»Und Sie bleiben dabei: Was Ross da erhielt, war eine Kopie der echten amerikanischen Fassung, die in Teheran hergestellt wurde!«

»Jawohl, dabei bleibe ich. Dieser andere Zeuge lügt. Er muß seine Gründe haben, zu lügen. Er war im KZ, sagen Sie?«

»Ja.«

»Jude?«

»Ja.«

»Nun, dann ist sein Beweggrund zu lügen vielleicht der Wunsch oder der Auftrag, durch die Behauptung, der Film sei eine Fälschung, Amerika zu entlasten. Israel ist abhängig von Amerika. Hier hätten wir ein sehr starkes Motiv, nicht wahr?«

Daniel sagte: »Herr Ragai, ich bitte Sie dringend, nicht empfindlich zu reagieren: Khomeini und die iranischen Regierungsmitglieder hassen Amerika über alles. Liegt hier nicht ein ebenso starkes Motiv für die Behauptung, der Film sei keine Fälschung, sondern echt?«

Ragai nickte ungerührt. »Sie haben zwei Zeugen. Beide Zeugen haben sehr starke Motive. ›Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Handlung, wenn sich auch ein niedriges finden läßt‹, sagt Edward Gibbon.«

»Wer ist das?«

»Ein englischer Historiker aus dem achtzehnten Jahrhundert. Zwei Zeugen, ja. Einer von den beiden muß lügen. Suchen Sie es sich aus!«

»Herr Ragai«, sagte Daniel, »wir danken Ihnen für dieses Gespräch.« Er wartete ein paar Sekunden, dann rief er: »Schluß!« Ragais Aussage war zu Ende. Die Techniker begannen ihre Apparaturen abzubauen, sie öffneten Vorhänge

und Fenster, um die heiße, verbrauchte Luft durch frische zu ersetzen. Der alte Mann hatte sich auf seinem Sessel umgedreht und saß nun vor dem mit Unterlagen überhäuften Schreibtisch. Erschöpft, aber zufrieden betrachtete er im Garten hinter dem Haus die blühenden Krokusse und an den Zweigen der alten Bäume die Knospen junger Blätter.

Mercedes und Daniel traten zu ihm.

»Ich mache noch Tee für alle«, sagte Mercedes. »Für das Team, die Polizisten und uns. Trinken Sie auch Tee, Herr Ragai?«

»Gerne, Madame«, sagte der alte Mann. Mercedes ging in die Küche. Die Techniker sprachen leise miteinander, desgleichen die beiden Polizisten.

Chan Ragai betrachtete die kleine Silberplatte mit den Worten Bertrand Russells. Er las halblaut: »›Die Welt, in der wir leben, läßt sich als das Ergebnis von Wirrwarr und Zufall verstehen. Wenn sie jedoch das Ergebnis einer Absicht ist, muß es die Absicht eines Teufels gewesen sein. Ich halte den Zufall für eine weniger peinliche und zugleich plausiblere Erklärung.‹ ... Wunderbar!« sagte er. Er seufzte tief. Sein Blick glitt über etwa ein Dutzend verschiedene alte Fotografien, die einen Mann in verschiedenen Lebensaltern zeigten und die auf dem Schreibtisch lagen. Er neigte sich vor. Er griff nach einigen der Fotos. Seine Stimme war plötzlich heiser und atemlos: »Wer ist das?«

»Unser Intendant«, sagte Daniel, dem die Erregung des alten Mannes entging. »Herr von Karrelis. Feiert in zwei Monaten sein fünfzehnjähriges Dienstjubiläum. Ist dann dreimal fünf Jahre lang Intendant. Wir bereiten eine kleine Festschrift vor. Das heißt, ich soll sie vorbereiten. Um diese Aufnahmen hat ihn unsere Presseabteilung gebeten ... Weshalb? Kennen Sie ihn?«

»Ja«, sagte der alte Mann. Er hielt jetzt eine leicht vergilbte Fotografie in der zitternden Hand, die einen jungen, gutaussehenden Mann mit schmalem, sensiblem Gesicht, braunen Augen und schön geschwungenen Lippen zeigte. Der junge Mann saß auf einer Gartenbank. Er trug einen dunklen Anzug, hatte die Beine übereinandergeschlagen und blickte nachdenklich den Betrachter an.

»Was haben Sie, Herr Ragai?« Jetzt war Daniel alarmiert. »Das ist er«, sagte Chan Ragai. »Da bin ich absolut sicher, das ist er.«

»Ist wer?«

»Der Agent CX einundzwanzig«, sagte der alte Mann. Coram Fields ist der größte Kinderspielplatz von London. Am

Nachmittag des 23. März 1984 – die Sonne schien, Blumen blühten und die Luft war lind – spazierten zwei Männer zwischen den vielen kleinen Jungen und Mädchen hin und her, die durcheinanderrannten, auf bunten Stahlgerüsten turnten, über Rutschbahnen sausten, schrien und lachten. Sie hatten sich um 17 Uhr verabredet. In Daniels Wohnung beendete Chan Ragai gerade seine Aussage. Zwischen Frankfurt und London lag eine Stunde Zeitunterschied.

»Wann kommt der Wagen?« fragte Emanuel von Karrelis. Sein übersensibles schmales Gesicht war bleich, in den warmen braunen Augen lagen Schatten der Furcht. Er trug einen Kamelhaarmantel, einen braunen Anzug, braune Wildlederschuhe und einen braunen Hut.

»Um halb sechs«, antwortete der kleine, rundliche Anwalt Rogen Morley. »Seien Sie ganz ohne Sorge. Alles klappt wie am Schnürchen. War nicht in Frankfurt ein Lear-Jet bereit, nachdem Sie mich anriefen?«

»Natürlich, ja.«

»Als Sie in Heathrow landeten, war da nicht ein Kurier zur Stelle, der Sie hierher brachte und Ihr Gepäck schon nach Oval Green?«

»Gewiß doch.« Oval Green war ein amerikanischer Luftwaffenstützpunkt südlich der Hauptstadt. »Entschuldigen Sie, ich bin nervös.«

»Völlig verständlich, Herr von Karrelis, völlig verständlich. Ginge mir an Ihrer Stelle ebenso.« Morley war etwas außer Atem. Er trippelte neben dem großen Intendanten her. Von Zeit zu Zeit stießen Kinder mit ihnen zusammen. Morley strich dann jedesmal zärtlich über ihr Haar und hatte stets ein Scherzwort bereit. »Aber ruhig, ganz ruhig! Selbstverständlich stehen meine amerikanischen Bekannten zu ihrem Wort. Bei einem Mann, der ihnen derart wertvolle Dienste erwiesen hat! Klar, wir hätten einander auch erst in Oval Green treffen können, aber meine Bekannten wünschten das nicht. Hier, unter den Kindern, fallen wir keinem Menschen auf, es sind auch so viele Mütter und Väter da. Niemand sucht Sie in Coram Fields. Deshalb wurde dieser Spielplatz meiner Kanzlei vorgezogen für unsere letzte Besprechung.«

»Besprechung? Sie haben schon am Telefon dieses Wort benützt. Was gibt es noch zu besprechen?«

»Nun, Herr von Karrelis ...« Der kleine Anwalt wurde plötzlich abgelenkt. Er wies mit seiner rosigen Hand auf ein Haus, das vor ihnen am Rande des riesenhaften Spielgeländes lag. »Dieser Platz für Kinder ist nach Thomas Coram benannt, der siebzehnhundertfünfundvierzig hier ein bekanntes Findelheim gründete. Neunzehnhundertsechsundzwanzig hat man es abgerissen und an seiner Stelle, am Brunswick Square vierzig, ein kleines Museum errichtet, welches die Geschichte dieser Institution schildert. Wissen Sie, daß jenes Findelheim von einem Ihrer größten Komponisten sehr unterstützt wurde?«

»Nein. Ich frage, was es noch ...«

»Von Georg Friedrich Händel! Lieben Sie seine Musik auch so sehr? Oh, ich liebe einfach alles von ihm. Die Orgelkonzerte, die Concerti grossi, natürlich die Wasser- und die Feuerwerksmusik. Und die Oratorien!«

»Was gibt ...«

»In diesem kleinen Museum da vor uns wird auch eine Originalpartitur des ›Messias‹-Oratoriums aufbewahrt. Denken Sie doch! Händel leitete den Kinderchor des Findelheimes. Er lebte seit siebzehnhundertzwölf in London, nicht wahr. Wollen wir vielleicht einen Sprung – nein, ich sehe schon, Sie möchten lieber nicht. Obwohl es wirklich sehenswert ist. Aber ganz wie Sie wünschen ...«

»Mister Morley, was gibt es noch zu besprechen?« »Wie? Was meinen ... Ach so! Nun, Sie haben mir noch nicht

erzählt – am Telefon waren Sie in solcher Eile –, wie man Ihnen auf die Spur gekommen ist, lieber Herr von Karrelis ...«

Ein Transatlantikgespräch. »Vater!«

»Mercedes! Welche Freude! Wo bist du?«

»In Frankfurt. Auf der Hauptpost.«

»Du klingst ganz atemlos. Ist etwas ...«

»Ja.«

»Was?«

»Wir haben gerade Chan Ragai interviewt.« »Oh.« Pause. »Vater!«

»Ja.«

»Ich habe gesagt ...«

»Ich habe es gehört. Nun, und? Sagt er, der Film ist echt?« »Ja.«

»Na, bitte!«

»Er hat uns auch gesagt, wer Agent CX einundzwanzig ist.« Lange Pause.

» Vater!«

»Ja, ich bin da. Sehr überrascht. Wie konnte er das sagen?« »Es lagen Fotos von Karrelis auf Dannys Schreibtisch – für

eine Festschrift. Auch Jugendfotos. Chan Ragai hat ihn wiedererkannt – mit absoluter Sicherheit.«

»Hm.«

»Was heißt hm?«

»Was sagt Karrelis zu dieser Behauptung?« »Nichts! Er ist verschwunden.«

»Oh.«

»Vater, Karrelis wurde von dir nach Teheran geschickt, sagt Chan Ragai. Unter einem falschen Namen. Mit falschen Papieren. Er nannte sich Werner Kalmann. Du hast ihm das Kürzel CX einundzwanzig gegeben. So etwas kam vor, sagte Chan Ragai. In besonderen Fällen. Wenn es zum Beispiel der Chef des Dienstes wollte. Warum hast du es gewollt, Vater?«

»Ich ... Ich habe meine Aussage gemacht. Ausführlich. Für mich ist die Sache erledigt.«

»Aber nicht für uns. Was glaubst du, was es jetzt hier für einen Skandal geben wird? Wir müssen die Wahrheit wissen. Sag sie mir, Vater! Wenn du sie nicht sagst, werden wir auch deine Weigerung in die Dokumentation aufnehmen.«

»Hör mal, du kannst mit mir nicht so ...! Ich verbitte mir das.« »Ich bin sehr aufgeregt. Entschuldige! Und beantworte meine

Frage!«

Lange Pause. »Vater!«

»Ich kann nicht, Mercedes ...«

»Du mußt!«

Wieder eine Pause.

»Also gut ... Ich habe euch von Dora Holm erzählt ... der jungen Schauspielerin in Berlin, die ich so sehr liebte und die dann bei einem Luftangriff auf so schreckliche Weise ums Leben kam ... Du erinnerst dich, Mercedes? Dora Holm, sie spielte schon große Rollen bei der UFA ...«

»Ich erinnere mich, Vater.«

»Nun, siehst du ... Dora Holm war ihr Filmname ...« »Sie hieß in Wirklichkeit anders?«

»Ja.«

»Wie hieß sie in Wirklichkeit? Vater!«

»In Wirklichkeit ... in Wirklichkeit hieß sie Dora von Karrelis.«

»Und dieser CX einundzwanzig ...«

»... war ihr Bruder. Emanuel von Karrelis. Ich lernte ihn über Dora kennen ... Er war hyperintelligent ... genial. Ein Phänomen. Sprach mehrere Sprachen akzentfrei ... sogar Persisch. War als Kind ein paar Jahre im Iran ... mit seinem Vater, einem Ingenieur. War acht Jahre jünger als Dora ... Beim Militär hätten sie den sensiblen Jungen kaputtgemacht ... Dora liebte ihn abgöttisch ... Hatte furchtbare Angst um ihn ... Da nahm ich ihn in den Dienst Ribbentrop ... aus Liebe zu Dora ... Um Emanuel zu schützen ... Kannst du das verstehen, Mercedes?«

»Ja, ich kann es verstehen ... Aber es ist phantastisch, Vater. Absolut phantastisch. Der Intendant des Senders Frankfurt war einmal dein Agent in Teheran!«

»Und beschaffte mir den Film, ja, ja, ja.«

»Wer wußte damals davon? Ich meine, daß CX einundzwanzig von Karrelis hieß und als Agent arbeitete?«

»Nur zwei Männer im Amt und Dora.«

»Die Eltern nicht?«

»Die Eltern nicht. Er schrieb ihnen nach Hamburg, daß er Dolmetscher im Auswärtigen Amt sei. Auch Chan Ragai hatte keine Ahnung, keinen Verdacht, er wußte von nichts ...«

»Bis heute. Bis er Fotos von Karrelis sah. Er ist bereit, öffentlich zu erklären, daß das sein Agent CX einundzwanzig gewesen ist.«

»Dann soll er es doch öffentlich erklären! Was ändert das an dem Vorhandensein des Films? Ich habe meinen Schock jetzt überwunden. Ich finde das alles großartig. Da habt ihr ja jetzt den Kronzeugen für die Echtheit des Films!«

»Wen?«

»Von Karrelis, verflucht! Nehmt ihn vor die Kamera! Laßt ihn seine Geschichte erzählen! Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, so wie ich sie dir jetzt gesagt habe, Tochter.«

»Vater! Ich sage dir doch, er ist verschwunden.« »Das verstehe ich nicht ... Aber warum ... aber wann?« »Vor ein paar Stunden hat er den Sender verlassen, sagen sie

uns. Niemand weiß, mit welchem Ziel. Man kann annehmen, daß er längst nicht mehr in Deutschland ist.«

»Aber weshalb?«

»Er war der Verräter. Alles deutet darauf hin.« »Karrelis? Niemals!«

»Es steht schon so gut wie fest. Karrelis hat alle unsere Aktionen vorher der Gegenseite verraten. Danny und Colledo vermuteten es. Sie stellten ihm eine Falle. Er glaubte, wir würden Chan Ragai in Südfrankreich interviewen, der hat dort ein Haus in einem kleinen Dorf bei Cannes. Colledo flog auch mit einem Aufnahmeteam hinunter, um Karrelis ganz in Sicherheit zu wiegen. Ohne Zweifel hat Karrelis das seinen Freunden gemeldet, damit Chan Ragai umgebracht werden konnte da unten an der Riviera – wie die anderen umgebracht wurden, die Karrelis verraten hat. Aber diesmal waren Danny und Colledo schlauer. Heimlich ließen sie Chan Ragai nach Frankfurt kommen, in Dannys Wohnung, unter Bewachung. Und in Dannys Wohnung hat Chan Ragai soeben vor der Kamera sein Statement abgegeben. Der Intendant muß Verdacht geschöpft haben, daß wir ihm auf der Spur waren – wir wissen noch nicht, wie –, und da ist er geflohen, augenblicklich.«

»Unfaßbar. Ich ...«

»Der Kontakt zwischen ihm und dir ist nie abgerissen, wie?« »Doch. Nach Kriegsende. Einige Jahre. Dann hörte ich, daß

Emanuel beim Norddeutschen Rundfunk zu arbeiten begonnen hatte. Ich ließ ihm eine Nachricht zukommen – über Dritte. Er antwortete umgehend. Es ging ihm gut. Er hatte knapp vor Kriegsende Westdeutschland erreicht. Alle Verwandten tot ... Als es mit dem Fernsehen losging in Deutschland, hatte er seine Chance. Neunundsechzig wurde er Intendant des Senders Frankfurt. Ist zweimal wiedergewählt worden. Großer Gott, seine Vergangenheit wäre nie herausgekommen, wenn man diesen Chan Ragai umgelegt hätte, bevor er aussagen konnte. Es ist wirklich phantastisch.«

»Es wäre auch so herausgekommen, Vater. Ich sage dir doch, Colledo und Danny hatten Verdacht geschöpft.«

»Aber, um alles in der Welt, warum soll Karrelis der Verräter gewesen sein? Welchen Grund hatte er, Mercedes?«

»Vielleicht den gleichen wie du, Vater.«

»Was soll das heißen? Was hatte ich für einen Grund?« »Geld.«

»Das ist ... das ist ...«

»... die Wahrheit. Kein Grund, beleidigt zu sein. Du hast gewußt, daß Karrelis Intendant des Senders Frankfurt war, noch bevor du wußtest, wo Danny war, ob er noch lebte und wo, ja?«

»Ja.«

»Und als du das dann herausgefunden hast, kam dir alles sehr gelegen.«

»Sehr. Ich kann in demselben Ton mit dir reden wie du mit mir. Sehr gelegen kam es mir, Tochter. Ich brauchte einen Mittelsmann. Ich konnte doch nicht direkt mit Karrelis in Verbindung treten und ihm den Film geben. Es durfte doch nicht herauskommen, daß wir einander kannten. Niemand hätte sonst geglaubt, was jetzt durch die Aussage Chan Ragais fest steht nämlich, daß der Film echt ist.«

»Aber du hast mit Karrelis über den Film und seine Ausstrahlung und insbesondere seinen Ankauf gesprochen, bevor du mich losschicktest, um Danny zu dir zu bringen, wie?«

»Natürlich. Hätte ich mich an den mir unbekannten Intendanten eines anderen Senders wenden sollen?«

»Es kommt noch einmal ein Team zu dir. Du wirst vor der Kamera auch all das erzählen.«

»Niemals!«

»Dann werde ich es erzählen. Alles, was du mir jetzt gesagt hast, jedes Wort. Ist dir das lieber?«

»Du ... du erpreßt mich?«

»Natürlich. Wie soll ich anders mit dir umgehen? Das Team kommt schnellstens. Du hörst sehr bald wieder von mir. Leb wohl!«

»Mercedes! So warte doch! Mercedes ... Aufgehängt. Das muß man sich bieten lassen! Als ob man ein Verbrecher wäre!«

Ein kleiner Junge rannte auf dem Kinderspielplatz Coram Fields in Roger Morley hinein. »Hoppla, mein Sohn«, sagte der Anwalt. »Ich bin kein Punching-Ball, weißt du?« Er beeilte sich, mit Karrelis Schritt zu halten. »Wie man Ihnen auf die Spur

gekommen ist, wollen meine Bekannten noch wissen. Lassen Sie mich kurz rekapitulieren: Nachdem die Filmkopien bei Ihnen im Sender eingetroffen waren, haben Sie äußerst geschickt und umsichtig Kontakt mit der amerikanischen Botschaft in Bonn aufgenommen und angeboten, sich zu ihrer Verfügung zu stellen aus Gründen der Verantwortung für eine Ausstrahlung des Films, die plötzlich auf Ihren Schultern lag und die Sie nicht tragen wollten, und weil Sie – sehr zu Recht – der Meinung sind, daß eine solche Ausstrahlung, jedenfalls mit Zeugen, welche die Echtheit des Films beschwören, nur Unheil anrichten kann. Als Bezahlung Ihrer Dienste haben Sie einen – wenn ich so sagen darf – satten Betrag verlangt, den meine Bekannten Ihnen sogleich auf ein von Ihnen benanntes Konto in Toronto überwiesen haben.«

»Fünf Millionen Dollar«, sagte von Karrelis gekränkt. »Das nennen Sie einen satten Betrag – für mein enormes Risiko, für alles, was ich in dieser Sache getan und verhindert habe?«

»Verzeihen Sie die ungebührliche Bemerkung, Herr von Karrelis. Taktlos von mir. Sie haben recht: Das Risiko war enorm. Nun müssen Sie verschwinden. Ein neues Leben aufbauen. Natürlich brauchen Sie dafür Geld. Wirklich abscheulich, meine Bemerkung, wenn ich daran denke, daß Ihre Handlungsweise von so hohen ethischen Überlegungen bestimmt gewesen ist.« Ein Ball flog Morley gegen die Brust. Er warf ihn lachend einem kleinen Mädchen in einem roten Jogginganzug zurück, das die dünnen Arme gehoben hatte. »Niedliches Kind, wie? Nun müssen Sie für diese Überlegungen und Überzeugungen alles hinter sich lassen und weit, weit fort gehen. Sie haben mein aufrichtiges Mitgefühl, Herr von Karrelis.« Morley lüpfte seinen steifen Hut. »Und nun sagen Sie mir endlich, durch welchen teuflischen Zufall man Ihnen auf die Spur gekommen ist.«

»Es war kein Zufall, Mister Morley. Es war ein gründlich vorbereiteter Plan, mich zu stürzen. Colledo hat die Verantwortung dafür. Er haßt mich ...«

»Warum?«

Von Karrelis ging nicht auf die Frage ein. Er sprach weiter: »... und hat mich offenbar schon lange im Verdacht gehabt. Er und Daniel Ross. Ich habe Ihnen doch sofort, als unsere Rechercheure Chan Ragai da unten in Südfrankreich aufgestöbert hatten, mitgeteilt, daß Colledo ihn – unter sorgfältigster Bewachung durch französische Gendarmerie – in La Roquette sur Siagne interviewen wollte, nicht wahr?«

»Ja, Herr von Karrelis. Sie riefen sofort an. Zuverlässig wie immer. Daraufhin schickte ich unseren besten Mann nach La Roquette sur Siagne, nachdem ich ihm die Fotos zeigte, die Sie mir geschickt hatten, die Fotos von Chan Ragai. Damit er wußte, wie der Mann aussah, den er töten mußte, bevor eine Kamera an ihn herankam.«

»Weil klar war, daß er ganz bestimmt die Echtheit des Films beschwören würde«, sagte von Karrelis. Er dachte: Und weil er den Agenten CX einundzwanzig kannte. Ein lebender Chan Ragai bedeutete das Ende meiner Sicherheit. Das ist der wirkliche Grund, weshalb Ragai sterben sollte. Großer Gott, wenn Morley und seine Freunde wüßten, daß ich CX einundzwanzig war! Nicht auszudenken! Sie würden fragen und fragen und nie mehr lockerlassen: Habe ich wirklich den Film von dem Fahrer der amerikanischen Gesandtschaft in Teheran bekommen? Ist er also echt oder habe ich mit dem SD zusammengearbeitet und geholfen, eine Fälschung herzustellen? Was immer ich antworten würde – ich wäre ein toter Mann danach. Ich bin der einzige, der die Wahrheit über diesen Film weiß. Nur ein toter Chan Ragai hätte mir genützt. Ein lebender ist tödlich für mich. Darum mußte ich schnellstens weg aus Frankfurt. Darum! Aber das hat diesen Anwalt und seine Bekannten nicht zu kümmern. Jetzt heißt es schleunigst untertauchen. Es geht um jede Stunde. Laut sagte er: »Ich mußte weg aus Frankfurt, sobald ich erfuhr, daß Colledo und Ross mich hintergangen, daß sie mich im Verdacht hatten, der Verräter zu sein. Das ging aus ihrer Handlungsweise klar hervor. Wer weiß, was für Beweise sie nun präsentieren werden. Ich mußte weg. Ich mußte weg.«

»Ganz klar, Herr von Karrelis, ganz klar«, sagte Morley. Wenn du den wirklichen Grund kennen würdest, dachte der Intendant bebend. Ich muß verschwinden. Wann kommt endlich der verfluchte Wagen, der mich nach Oval Green bringt? »Was ich von Ihnen nur noch wissen muß: Wer brachte Sie darauf, daß dieses Komplott gegen Sie existierte? Wer sagte Ihnen, daß Chan Ragai nicht in La Roquette sur Siagne war, sondern nach Frankfurt gebracht wurde?«

Karrelis begann wie verrückt zu lachen. »Bitte!« sagte Morley.

»Ein Mädchen von der iranischen Fluggesellschaft«, sagte Karrelis, immer noch hysterisch lachend. »Ein Mädchen vom Flughafenschalter der IRANIAN AIR.«

»Verstehe ich nicht.«

»Das Mädchen rief im Sender an und verlangte Daniel Ross. Der war nicht da. Das Mädchen hatte eine wichtige Nachricht für ihn, sagte sie einer Telefonistin in unserer Zentrale. Die Telefonistin wollte sie mit Kleinhals verbinden, dem Chefredakteur. Der war nicht in seinem Büro. Die Ground-Hosteß drängte. Es sei wirklich dringend. Da verband die liebe, gute Telefonistin – Gott segne sie – das Mädchen mit meiner Sekretärin, weil es sich in der Zentrale herumgesprochen hatte, daß bei uns im Sender etwas Wichtiges lief. Nun ja, und so kam das Gespräch dann zu mir, und das Mädchen sagte, was so wichtig war.«

»Nämlich?«

»Nämlich, daß die Maschine nach Teheran, die heute abend fliegt, ausgebucht sei. Auf der Warteliste stünden sechs Menschen. Und Daniel Ross habe die Tickets für Herrn Chan Ragai und zwei Begleiter zwar gebucht, aber versprochen, noch mitzuteilen, ob Herr Chan Ragai tatsächlich mit dieser Maschine fliegen werde. Das Mädchen erzählte mir, Herr Ross habe gesagt, es hänge davon ab, ob Herr Ragai hier in Frankfurt mit seiner Arbeit rechtzeitig fertig wird. Die Reservierung war also noch offen. Und weil doch sechs Leute auf der Warteliste standen, wollte das Mädchen nun wissen, ob die drei Plätze gebraucht werden oder nicht.« Karrelis fügte hinzu: »Vermutlich wollte Ross das aus Sicherheitsgründen so lange wie möglich offenlassen.«

»Warum rief das Mädchen nicht bei Ross zu Hause an?« »Das hatte sie schon getan. Vermutlich war der Hörer

schlecht aufgelegt, meinte sie. Jedenfalls kam immer nur das Besetztzeichen. In Wahrheit wird Ross den Hörer abgehoben und eine einzelne Nummer gewählt haben, damit er für niemanden zu erreichen war, solange sich Chan Ragai bei ihm aufhielt – besonders nicht während des Interviews.«

»Vielleicht eine verrückte Geschichte! Und was sagten Sie dem Mädchen?«

»Ich sagte, ich würde mich bemühen, Herrn Ross schnellstens zu erreichen und ihn veranlassen, sie anzurufen. Warten Sie, es kommt noch verrückter! Natürlich konnte ich nach diesem Anruf zunächst eine Zeitlang keinen klaren Gedanken fassen.«

»Natürlich nicht.«

»Ich war in Panik. In meinem Kopf drehte sich alles. Und da, vielleicht fünf Minuten später, stellte die Telefonistin das Mädchen von den IRANIAN AIR noch einmal zu mir durch. Und das Mädchen sagte, Ross habe soeben angerufen und die Reservierung bestätigt. Chan Ragai und die beiden Begleiter fliegen also heute abend mit dieser Maschine. Irre, wie? Absolut irre! Wenn er das Mädchen ein paar Minuten früher angerufen hätte!« Karrelis begann wieder zu lachen. »Ich hätte nichts erfahren. Ich hätte nicht geahnt, was gegen mich im Gange ist. Ein paar Minuten! O Gott, o Gott, o Gott!«

»Schluß! « sagte der kleine Anwalt mit völlig unerwarteter Schärfe. »Hören Sie auf damit!«

Der Intendant sah ihn erschrocken an. Er verstummte. »Fehlt uns noch, daß Sie jetzt durchdrehen«, sagte Morley.

»Entschuldigen Sie meinen Ton! Aber daß das mit Chan Ragai schiefging, daß er nun die Echtheit des Films belegt, ist schon ... sehr unangenehm für meine Bekannten, sehr unangenehm, in der Tat. Und jetzt auch noch der Skandal, der durch Ihr Verschwinden ausgelöst wird. Wirklich kein Grund zum Lachen!«

»Was werden Ihre Bekannten tun?«

»Das weiß ich nicht. Ich bin nicht in meiner Kanzlei, wo sie mit mir sprechen könnten. Auch unser bester Mann vermag mich im Moment nicht zu erreichen. Er versucht es gewiß. Ich denke, Herr von Karrelis, meine Bekannten werden jetzt zu dem äußersten Mittel greifen, das ihnen noch zur Verfügung steht, um zu verhindern, daß dieser Film gesendet wird.«

»Was für ein äußerstes Mittel steht ihnen noch zur Verfügung?«

»Das braucht Sie nicht zu kümmern, Herr von Karrelis. Sie sind alle Sorgen los. Sie gibt es bald nicht mehr.«

Die beiden Männer kamen an einem Kreis von Kindern vorüber, in dessen Mitte ein Junge stand und mit dem Finger auf einen nach dem anderen deutete, während er folgende Worte als Abzählreim sprach:

»Humpty Dumpty sat an a wall. Humpty Dumpty had a great fall. All the King’s horses and all the King’s men Couldn’t put Humpty Dumpty together again.«

»Alice im Wunderland««, sagte Karrelis.

»Fast«, sagte Morley. »Humpty Dumpty kommt im zweiten Buch von Lewis Carroll vor, in ›Durch den Spiegel‹.«

Am Brunswick Square hatte ein gelber Lieferwagen gehalten. Die hinteren Türen des geschlossenen Lasters öffneten sich, und zwei Männer in grauen Flanellanzügen sprangen auf die Straße.

»Sie sind da«, sagte Morley.

»Gott sei Dank!« sagte von Karrelis. »Endlich!« Er verließ mit dem Anwalt den Spielplatz. Die Begrüßung der

vier Männer war kurz und förmlich.

»Wir müssen uns beeilen, Sir«, sagte einer der Männer im grauen Flanell. »Die Maschine ist startbereit. Man sagte uns, Sie wünschten, so schnell wie möglich abzufliegen.«

»Das stimmt«, sagte von Karrelis. »Was ist das für eine Maschine?«

»Ein B-zweiundfünfzig-Langstreckenbomber.« »Wir danken Ihnen für alles, was Sie für uns getan haben«,

sagte Morley. Er schüttelte Karrelis die Hand. »Ich danke auch Ihnen. Es tut mir leid, daß alles so

gekommen ist.«

»Nicht Ihre Schuld, Herr von Karrelis«, sagte Morley. »Der Mann hinter dem Steuer hupte. Er trug einen blauen

Overall und eine Schirmmütze. Der Abendverkehr war sehr dicht. Viele Autos schoben sich langsam über den Brunswick Square. Es war jetzt laut hier.

Der zweite Mann im Flanell sagte: »Kommen Sie bitte, Sir! Wir sind mitten in der Rush-Hour.«

Die Männer sprachen Englisch mit amerikanischem Akzent. »Gott schütze Sie!« sagte Morley zu Karrelis.

»Was ist mit Ihnen?« fragte der den ersten Mann im grauen Flanellanzug. »Kommen Sie nicht mit?«

»Nein, Sie werden von meinem Kollegen begleitet, Sir. Ich bringe Mister Morley neue Instruktionen. Wir haben viel zu besprechen. Gute Reise!«

»Danke«, sagte Karrelis. Mit dem zweiten Mann ging er zu dem geschlossenen Lieferwagen, dessen Laderaum auf jeder Seite ein kleines Fenster hatte. Der zweite Mann half Karrelis durch die geöffneten Türen in den Laderaum. Auch er stieg ein. Die Türen schlossen sich hinter ihm. Der Lieferwagen fuhr an. In der Guilford Street, die vor ihnen lag, steigerte sich der Verkehrslärm zu einem gewaltigen Brausen. Im Halbdunkel des Lieferwagens sah Karrelis einen dritten Mann, ebenfalls in grauem Flanell. Der nickte und bedeutete ihm, sich auf eine seitliche Bank zu setzen. Als Karrelis das getan hatte, zog der dritte Mann eine Pistole mit langem Lauf aus der Brusttasche, hielt sie Emanuel von Karrelis an die linke Schläfe und drückte ab. Die Explosion des Schusses war im Straßenlärm nicht zu hören. Karrelis kippte seitlich. Noch ehe Blut aus der Schußwunde den Wagen beschmutzen konnte, hatte der zweite Mann dem Intendanten eine große Plastiktüte über den Kopf gezogen, die er nun um den Hals des Toten festband. Der Lieferwagen fuhr in südlicher Richtung durch die Lumb’s Conduit Street weiter, der breiten Theobald Road entgegen.

»Und jetzt?« fragte der dritte Mann.

»Wie besprochen«, sagte der zweite. »Zu den Docks an der Themse. Dort warten wir bis zehn. Um zehn kommt Joey mit dem Betonfaß. Da ist kein Mensch mehr bei den Docks. In das Betonfaß mit dem Herrn, und das Betonfaß in die Themse.«

»Scheiße«, sagte der dritte Mann. »Kann ich also das Fußballspiel nicht sehen. Habe mich so gefreut darauf.«

»Kauf dir doch ein Videogerät wie ich! Einfach prima. Du stellst die Zeit ein, das Ding zeichnet auf, was du sehen willst, und du siehst es dir an, wenn du heimkommst.«

Roger Morley und der erste Mann im grauen Flanellanzug standen noch immer am Rande des Kinderspielplatzes.

»Wann passiert es?« fragte Morley. Er hatte dem Wagen nachgesehen.

»Es ist schon passiert«, sagte der Mann. »Man hat uns gesagt, wir müssen ihn gleich erledigen.«

»Er ruhe in Frieden!« sagte Morley ernst.

»Es mußte sein«, sagte der Mann im grauen Flanell. »Er wußte zu viel.«

»Oh, natürlich«, sagte Morley. »Nun, wie schrieb doch Chesterton: ›Der Mann, der zu viel wußte, weiß jetzt, was wert ist, gewußt zu werden!««

Am Abend des 27. März, einem Dienstag, saßen zwei Männer und zwei Frauen vor einem kalten Kamin unter dem Bildnis eines kleinen Mädchens. Conrad Colledo und seine zarte, kleine Frau Lisa mit dem blonden Haar und den blauen Augen hatten Daniel und Mercedes zum Essen in ihre Villa in der Siesmayerstraße am großen Grüneburgpark nahe dem Palmengarten eingeladen. Die alte Wiener Köchin Theres servierte und schnitt wieder das Fleisch für Lisa klein, die, wie Colledo Mercedes erzählt hatte, in einen Rasenmäher gestürzt war und sich dabei die Sehnen an beiden Handgelenken zerschnitten hatte. Das Essen war vorüber. Auch im Speisezimmer hingen wie im ganzen Haus Zeichnungen und Ölbilder des kleinen Mädchens, Colledos Tochter, die im Alter von nur dreizehn Jahren im Sommer 1983 gestorben war.

Natürlich kreiste das Gespräch um die Ereignisse der letzten Tage. Colledo hatte von seinen Erlebnissen an der Riviera und in La Roquette sur Siagne berichtet und Daniel von dem Interview mit Chan Ragai in Frankfurt. Der alte Mann war längst nach Teheran heimgekehrt. Colledo hatte inzwischen von der Sekretärin des Intendanten den Zwischenfall mit dem Anruf der IRANIAN AIR erfahren. Vor dem Kamin sprachen sie nun über Emanuel von Karrelis.

»Auf diesen Anruf hin ist er abgehauen«, sagte Colledo. »Er begriff schnell, wie stark wir ihn verdächtigten. daß es uns gelungen ist, die Aussage von Chan Ragai zu erhalten und daß es dank unserer Umsicht zu keinem Mordanschlag auf diesen kam, das bedeutete für Karrelis das Ende. Auch wenn er zu dem Zeitpunkt, zu dem er verschwand, noch nicht wissen konnte, daß Ragai ihn an Hand der Fotos als CX einundzwanzig wiedererkannt hat. Er mußte zumindest befürchten, von dem alten Mann entlarvt zu werden – auf die eine oder andere Weise. Er und dein Vater, Danny ... schon ein prächtiges Paar! Immer gewesen. Was war eigentlich in Buenos Aires los, Mercedes? Sie haben doch heute nachmittag mit Neumann telefoniert.« Neumann hieß der junge, ehrgeizige Redakteur, den Colledo mit einem Aufnahmeteam nach Argentinien geschickt hatte, um noch einmal Olivera zu besuchen und seine zusätzliche Aussage aufzunehmen.

»Alles gutgegangen«, sagte Mercedes. »Mein Stiefvater hat das zweite Interview gegeben und alles über seine Beziehung zu Karrelis erzählt, berichtete Neumann. Alles! Ich habe ihm freitags am Telefon aber auch mächtig angst gemacht. Ich habe gesagt, wenn er nicht redet, dann werde ich es tun – in der Dokumentation. Neumann sagt, mein Stiefvater habe die ganze Kumpanei auf das sentimentale Gleis seiner so großen Liebe zu der Schauspielerin Dora Holm geschoben. Wollte dem Bruder nur helfen und so weiter. Wollte nur Gutes tun. Ist natürlich völlig entsetzt darüber, daß Karrelis sich nun als der Verräter herausgestellt hat. Kann das immer noch nicht glauben. Muß es aber wohl – nach dem, was geschehen ist.«

»Könnt ihr euch noch erinnern, wie das war, als ich mit den beiden Kassetten von Buenos Aires im Sender ankam?« fragte Colledo. »Alle waren zuerst skeptisch, Brandt, der Justitiar, Kleinhals, der Chefredakteur – und von Karrelis! Der spielte seine Skepsis glänzend. Und wie elegant kriegte er dann den Bogen, alle für eine Ausstrahlung des Films zu gewinnen, indem er die große begleitende Dokumentation vorschlug!«

»Ob er damals schon vorhatte, alles zu verraten, damit Zeugen für die Echtheit des Films liquidiert werden konnten?« fragte Mercedes.

»Ganz gewiß«, sagte Daniel. »Daß er dabei politischen Motiven folgte, halte ich jedoch für ausgeschlossen. Karrelis hatte politisch an dem Film genausoviel Interesse wie mein Vater – nämlich überhaupt keines. Beiden ging es nur um Geld.«

»Richtig«, sagte Colledo.

Seine kleine, hübsche Frau fragte: »Wie geht es jetzt weiter, Conny?«

»Der Rundfunkrat hat beschlossen, daß bis zur Einsetzung eines neuen Intendanten Kleinhals den Sender leitet. Die Medien haben ihre Sensation, die Kollegen ihr Fressen, der Regierungssprecher redet von laufenden Ermittlungen, in die nicht eingegriffen werden darf. Der Mann hat’s auch nicht leicht. Was unsere Arbeit betrifft: Wir haben jetzt genügend Material. Der Film soll so schnell wie möglich fertiggestellt werden, damit wir ihn anderen Sendern anbieten können. Kleinhals verspricht sich eine Riesennachfrage.«

»Ich bin sehr glücklich darüber, daß wir schon so weit gekommen sind«, sagte Mercedes.

»Hör mal, Conny«, sagte seine Frau Lisa. »Danny und Mercedes sind doch unsere guten Freunde. Ich muß ihnen etwas erzählen.«

Colledo fuhr auf. »Bitte nicht, Lisa!«

»Doch, laß mich, Conny! Sie müssen es wissen!« Ihr Mann zuckte die Achseln.

»Letztes Jahr im Juni«, sagte Lisa leise, »gab es in New York diese internationale Konferenz für die verbesserte Zusammenarbeit der Fernsehanstalten. Sie begann am achten Juni und sollte zwei Wochen dauern. Es ging vor allem um den schnelleren und größeren Austausch von aktuellen Berichten über Weltereignisse und die Übertragung durch kommerzielle Satelliten. Conny mußte hin. Ich habe eine Schulfreundin in Kiel und sagte Conny, daß Hanni – so heißt sie – mit ihrem Verlobten eine Kreuzfahrt nach Schweden und Norwegen machen wolle und mich eingeladen habe. Hannis Verlobter besitzt eine wunderschöne große Hochseejacht mit drei Mann Besatzung. Ein reicher Mann. Ich sagte, ich würde gerne mitmachen – Conny mußte doch fort, und für Kathi war die Theres da. ›Natürlich‹, sagte Conny, ›mach die Kreuzfahrt mit und amüsier dich!‹ Am siebten Juni flog er nach New York ...«

Am 11. Juni 1983 kam Conrad Colledo gegen elf Uhr nachts in das Hotel REGENCY an der New Yorker Park Avenue zurück. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und war todmüde. Der Portier reichte ihm ein rotes Kuvert der Telefonzentrale. Colledo zog einen gefalteten Bogen Papier heraus. Er las: » 1 Uhr 32 p. m.: Mrs. Theres Poldinger aus Frankfurt am Main, Germany, ruft an. Bitte um Rückruf. Es ist sehr dringend.«

Colledo fuhr mit dem Lift in den zehnten Stock hinauf, rannte in sein Zimmer und wählte den Anschluß der Villa am Grüneburgpark. Hier ist es elf, in Europa schon fünf Uhr früh, dachte er. Was ist geschehen? Nach dem ersten Anläuten wurde in der Villa bereits der Hörer abgehoben. Die Stimme der alten Theres erklang: »Bei Colledo ...«

»Theres, hier ist ...«

Sie schrie auf: »Gott sei Dank! Endlich! Ich wart schon so lange ...«

»Was ist passiert, Theres?«

Er hörte sie schluchzen. »Kathi ...«

»Was ist mit Kathi?«

Über ein Weltmeer hinweg hörte er sie weinen, furchtbar weinen. »Theres!« schrie Colledo.

Theres konnte nur mit Mühe sprechen: »Das Unglück, gnä’ Herr, das große Unglück! Du lieber Gott im Himmel ... Meine kleine Kathi ...«

»Was ist mir ihr?« schrie Colledo.

»Gestern war alles noch in Ordnung, gnä’ Herr. In der Nacht hat sie Bauchweh gekriegt ... Ich hab geglaubt, es ist, weil sie Obst gegessen hat und Wasser getrunken ... aber in der Früh war das Bauchweh noch schlimmer ... und zu Mittag hat sie Fieber gekriegt. Fast neununddreißig, o Gott, o Gott ...«

»Theres!«

»Hab ich den Herrn Doktor Eglin gerufen ... Hat er gesagt, Blinddarmentzündung, sie muß ins Spital ... Die Rettung ist gekommen ... Sie haben die Kleine ins Clementine-Kinderkrankenhaus in der Theobald-Christ-Straße gebracht und sofort operiert ... Die Ärzte haben dann alle sehr ernste Gesichter gemacht ...« Colledo stöhnte. »Blinddarmdurchbruch, haben sie gesagt ... Unsere Kathi liegt jetzt auf der Intensivstation ... Es geht ihr schlecht, gnä’ Herr ...«

»Ich nehme die nächste Maschine!« rief Colledo. »Was ist mit meiner Frau? Haben Sie die erreicht?«

»Noch nicht ... ich versuch es dauernd ... über Seefunk ... Sie ist doch auf diesem Schiff, gnä’ Herr ...«

»Versuchen Sie es weiter, Theres! Ich komme, so schnell ich kann.«

Colledo legte auf. Er rief den Portier an. Dieser reservierte ihm einen Platz in einer Morgenmaschine. Um 19 Uhr traf Colledo in Frankfurt ein. Mit einem Taxi fuhr er sofort zum Clementine-Kinderkrankenhaus. Der Pförtner erklärte ihm den Weg. Auf einer Bank vor der Intensivstation der Chirurgie saß die alte Theres. Ihr Gesicht war weiß, die Augen vom vielen Weinen verschwollen und entzündet. Colledo umarmte sie. Die alte Frau stammelte: »Der Herr Professor hat gesagt ... ich soll beten ... Ich bet die ganze Zeit, gnä’ Herr, die ganze Zeit tu ich nix wie beten für meinen kleinen Liebling ...«

»Haben Sie meine Frau erreicht?«

»Noch immer nicht, gnä’ Herr ...«

»Aber das ist doch unmöglich!«

»Ja, ich verstehe es auch nicht Die Leute vom Seefunk sagen, die Jacht meldet sich nicht ...«

»So etwas gibt es doch nicht! Sie muß sich melden!« »Ja, hab ich auch gesagt ... Aber wenn sie sich doch nicht

melden tut, gnä’ Herr ...«

Aus einer Schleuse der Intensivstation trat ein älterer Mann mit grauem Haar und müden, dunklen Augen. Er trug einen Ärztekittel.

»Das ist der Herr Professor!« rief die Köchin. Colledo trat ihm in den Weg.

Der Arzt sah auf. »Ja, bitte? Oh, Sie sind Herr Colledo?« »Gerade gelandet. Wie sieht es aus, Herr Professor ...« »Goldberg.«

»Wie sieht es aus, Herr Professor Goldberg?« Der Arzt mit den müden Augen und den schweren Lidern

blickte Colledo schweigend an. Dann legte er ihm einen Arm um die Schulter und ging an seiner Seite den langen Gang hinunter. Vor einer Fensternische blieb er stehen.

»Ihrer kleinen Tochter geht es sehr schlecht, Herr Colledo. Ich sage Ihnen die Wahrheit.«

»Bitte! Alles andere hat keinen Sinn.«

»Eben. Also: Es ist nun leider eine schwere Peritonitis dazugekommen, eine Bauchfellentzündung.« Colledo fühlte plötzlich, wie er am ganzen Körper zu zittern begann. Er ballte die Hände zu Fäusten. Er preßte die Kiefer aufeinander. Das Zittern ließ sich nicht unter Kontrolle bringen. »Wir haben mehrere Drains zur Bauchhöhle gelegt, Herr Colledo. Wir spülen immer wieder, um sie sauber zu bekommen. Mit Antibiotica natürlich, massenhaft Antibiotica. Aber es hilft nichts. Die Kleine hat immer noch hohes Fieber. An die vierzig Grad ...«

»Darf ich zu ihr?« Der Arzt zögerte. »Bitte, Herr Professor! Ich bitte Sie, lassen Sie mich zu Kathi!« Fünf Minuten später trat Colledo in Schutzkleidung an das Bett seiner Tochter. Sie hing an vielen Schläuchen und einem Tropf. Ihr Gesicht erschien Colledo so klein, so klein. Kathi hatte die Augen geschlossen. Sie atmete mühsam. Er sprach sie an. Erst nach einer Weile öffnete sie die milchig trüben Augen. Jetzt ging ihr Atem rasselnd.

»Kathi! Ich bin es, Vati!«

»Tauben«, sagte das Kind, »so viele Tauben ... ganz viele Tauben ...« Die Augen schlossen sich wieder. Colledo blieb zehn Minuten neben dem Bett sitzen, dann hielt er es nicht mehr aus. Er verließ die Station und schickte Theres heim. Er blieb im Krankenhaus. Wieder und wieder versuchte er, über Seefunk Kontakt mit der Jacht »Jasmin II« zu bekommen – vergebens. »Jasmin II« antwortet nicht, sagte man ihm. Um neun Uhr abends rief Colledo in Kiel die Mutter der Schulfreundin seiner Frau an. Die Nummer hatte er durch die Auskunft erhalten. Frau Clara Leisen war außerordentlich verlegen, nachdem Colledo ihr berichtet hatte, was geschehen war und daß sich keine Verbindung zu der Jacht herstellen ließ, auf der seine Frau Lisa mit Frau Leisens Tochter Hanni und deren Verlobten irgendwo in der Ostsee kreuzte. Zuletzt sagte sie: »Herr Colledo, das Ganze ist schrecklich für mich. Was soll ich bloß tun?«

»Sie sollen mir die Wahrheit sagen«, sagte Colledo. »Irgend etwas stimmt doch nicht. Was ist es?«

Frau Leisen seufzte.

»Ihre Frau ist nicht mit Hanni unterwegs, Herr Colledo. Das hat sie Ihnen nur erzählt.«

»Sie ist nicht auf der Jacht?«

»Nein, Herr Colledo ... Ach, ist das schrecklich ...« »Wo ist sie dann? Frau Leisen, ich bitte Sie, mir zu sagen,

was Sie wissen! Unsere kleine Tochter liegt im Sterben. Ich muß erfahren, wo meine Frau ist. Bitte! Wenn Sie eine Ahnung haben, sagen Sie es mir! Ich flehe Sie an!«

Sehr leise kam die Stimme aus Kiel: »Ihre Frau ist auf Sylt, Herr Colledo.«

»Auf Sylt?«

»Aber wieso ...«

»Herr Colledo, ich weiß nicht, was ich sagen soll ... sagen darf ...«

»Die Wahrheit!« schrie er.

»Die Wahrheit ... Ihre Frau hat Hanni gebeten, ihr zu helfen ...«

»Zu helfen? Mir zu sagen, sie würde mit Ihrer Tochter und deren Verlobten zusammen sein?«

»Ja. Aber in Wirklichkeit ist Ihre Frau auf Sylt.« »Wo auf Sylt?«

»Das weiß ich nicht. Sie hat Hanni eine Telefonnummer gegeben, schon vor einem Jahr etwa ... für alle Fälle ... Die beiden sind alte Freundinnen ...«

»Haben Sie diese Nummer?«

»Ich ... Also wirklich ...«

»Haben Sie diese Nummer? Im Telefonverzeichnis Ihrer Tochter vielleicht?«

»Ja, da steht sie, Herr Colledo. Aber ich weiß nicht ...« »Geben Sie mir die Nummer, Frau Leisen! Unser Kind

stirbt!« Sie gab ihm die Nummer. Frau Leisen war sehr betrübt. Colledo wählte die Nummer auf Sylt. Das Signal ertönte lange, dann meldete sich eine Männerstimme, »Karrelis!«

Colledo wäre um ein Haar der Hörer aus der Hand geglitten. Er schwieg.

»Hallo!« rief die Stimme seines Intendanten. Er erkannte sie genau. »Hallo! Wer ist da? Melden Sie sich, verflucht! Zum Teufel, melden Sie sich!«

Conrad Colledo legte den Hörer auf.

Gegen sechs Uhr früh am folgenden Morgen begann das Leben Kathis zu verlöschen. Ihr Blutdruck sank, der Puls wurde immer schwächer. Sie atmete jetzt nur noch ganz kurz und flach. Colledo hatte die ganze Nacht an ihrem Bett gesessen. Auch Professor Goldberg war auf der Station geblieben. Nun stand er neben Colledo. Das erste Licht der Morgensonne schien in den Raum. Ein Computerschirm, auf dem grünleuchtende Zacken die Herztätigkeit Kathis anzeigten, war über dem Bett angebracht. Die Spur wurde immer unregelmäßiger. Colledo fühlte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Plötzlich schlug das Kind die Augen auf. In der letzten Minute ihres Lebens war Kathi wieder völlig klar. Sie lächelte, als sie Colledo sah.

»Vati!« Ihr Blick irrte umher. »Wo ist ...?« Den Satz sprach sie nicht zu Ende. Die Augen schlossen sich. Kathi lag reglos. Sie atmete nicht mehr. Ein sehr schwaches Zucken ging durch den Körper. Danach waren auch die wirren Zacken auf dem Monitor verschwunden. Dort verlief jetzt eine gerade Linie.

»Es ist vorüber«, sagte Goldberg. Er trat dicht neben Colledo und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir so leid für Sie. Wir haben getan, was wir konnten. Aber es war von Anfang an aussichtslos. Kommen Sie jetzt!«

»Ich möchte noch etwas bei ihr bleiben, bitte«, sagte Colledo. Goldberg nickte und verließ das Zimmer.

Colledo saß eine Viertelstunde am Bett seines toten Kindes und bemühte sich, ein letztes Mal in Gedanken mit ihm zu sprechen. Es war umsonst. Er hätte ebensogut von einer Statue Abschied nehmen können. Er erhob sich und ging fort. Als er in den Krankenhaushof mit seinen blühenden Blumen und Bäumen trat, glitt ein großer Wagen durch die Einfahrt und blieb dicht neben ihm stehen. Lisa und Karrelis sprangen ins Freie. Ihre Gesichter waren aschgrau.

»Conny!« Seine Frau lief auf ihn zu. Er wich zurück. Sie blieb stehen. »Conny, ich ... Frau Leisen hat angerufen ... gleich nach dir ... Wir sind sofort los ... Es war ein Privatflugzeug da ... Von Hamburg sind wir dann mit dem Wagen ...« Sie trat vor

und schlang die Arme um seinen Hals. »Bitte, verzeih mir!« rief sie verzweifelt.

Er packte ihre Hände und riß die Arme fort. »Lassen Sie mich alles erklären«, begann Karrelis. »Es ist

meine Schuld. Meine allein, ich habe ...«

Colledo machte eine Bewegung, als wolle er den Intendanten schlagen.

Der hob eine Hand.

»Kathi ist tot«, sagte Colledo mit einer Stimme, die ihm ganz fremd erschien. Er ließ die beiden stehen und ging zu seinem Wagen. Er ging, und bei jedem Schritt dröhnten die eigenen Worte in seinem Schädel: Kathi ist tot ... Kathi ist tot ...

Er fuhr nach Hause, sehr vorsichtig, denn ihm war sehr schwindlig.

Die weinende Theres empfing ihn. »Hab’s schon gehört, gnä’ Herr. Sie haben angerufen aus dem Spital. Müssen S’ noch einmal kommen wegen die Papiere. So viele Papiere ...« Colledo schritt schweigend an der alten Frau vorbei. Er ging in sein Schlafzimmer und legte sich angezogen auf das Bett. Ein Fenster stand offen. Auch hier fiel Sonnenlicht in den Raum, und in den Bäumen des Gartens sangen viele Vögel. Colledo lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und bewegte sich nicht. Später hörte er seine Frau kommen. Sie sprach kurz mit Theres. Dann hörte er, wie nebenan im Badezimmer Wasser in die Wanne eingelassen wurde. Er lag unbeweglich.

Nach einer halben Stunde vernahm er ein schwaches Stöhnen. Er sprang auf und wollte die Tür zum Badezimmer öffnen. Sie war verschlossen.

»Lisa!« schrie er.

Keine Antwort, nur das Stöhnen.

Er trat ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und warf sich mit einer Schulter gegen die Tür, die aufbrach. In der Wanne lag seine nackte Frau im dunkelroten Wasser. Lisas Augen waren weit geöffnet und ganz starr. Der Mund stand offen. In einer Hand hielt sie noch das Rasiermesser, mit dem sie sich tief in die Venen und Sehnen beider Handgelenke geschnitten hatte.

»Eine halbe Stunde später, und sie wäre tot gewesen«, sagte Mercedes neben Daniel im Wagen. Sie fuhren durch die nächtliche Stadt. Es war spät geworden bei den Colledos, halb zwei Uhr früh. Die Straßen lagen verlassen. Monoton blinkten an den Kreuzungen die Verkehrsampeln.

»Ja, sie hat großes Glück gehabt«, sagte Daniel. »Auch mit ihrem Mann«, sagte Mercedes. »Ein anständiger

Kerl ist Conny. Er hat ihr vergeben – sofort.« »Er liebt sie«, sagte Daniel. »Was blieb ihm übrig?« »Muß eine große Liebe sein.«

»O ja«, sagte Daniel. »Sehr groß.«

»Und trotzdem hat sie ihn betrogen – über ein Jahr lang. Verstehst du das?«

»Nein«, sagte Daniel. »Ich verstehe jetzt nur, warum Conny Karrelis so sehr haßt.«

»Eigentlich hätte er Lisa hassen müssen«, sagte Mercedes. »Sie hat ihn verraten und hintergangen. Karrelis hat nur seine Chance wahrgenommen.«

»Das stimmt«, sagte Daniel. »Aber wenn es sich um Liebe handelt, gibt es keine Logik mehr.«

»Was meinst du, warum Lisa uns unbedingt die ganze Geschichte erzählen wollte?«

»Als Freundschaftsbeweis, denke ich. Um zu zeigen, wie viel Vertrauen sie zu uns hat. Die beiden leben sehr zurückgezogen. Sicherlich hätten sie gerne gute Freunde.«

»Das warst du doch immer – ein guter Freund, Danny.« »Ja. Aber jetzt bist du dazugekommen. Wir vier – wir gehören

nun zusammen. Ich glaube, so hat das Lisa gemeint.« Daniel bog in die Sandhöfer Allee ein und parkte vor dem

Haus, in dem er wohnte. Hier war kein Mensch zu sehen. Er schaltete den Motor und die Scheinwerfer ab. Sie stiegen beide aus und gingen zum Eingang. Als sie nahe herangekommen waren, passierte alles sehr schnell. Ein großer, hagerer Mann sprang aus der dunklen Nische vor der Haustür und schlug Daniel mit dem Griff einer Pistole über den Schädel.

»Danny!« schrie Mercedes, die sah, wie er zu Boden stürzte. Im nächsten Moment preßte ihr der große Mann ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase. Äther, dachte sie. Der Mann hielt sie jetzt umklammert. Sie wand sich. Gleich darauf sackte sie ohnmächtig zusammen.

Wayne Hyde hob Mercedes auf und trug sie zu einem Wagen, der ein Stück weiter die Allee hinunter parkte. Er öffnete den rechten vorderen Schlag, ließ die Bewußtlose auf den Sitz gleiten und gurtete sie an. Er lief um den Wagen herum und kroch hinter das Steuer. Aus dem Handschuhfach nahm er eine flache silberne Dose. In ihr lag eine kleine Injektionsspritze. Flüssigkeit war aufgezogen. Mit einem alkoholgetränkten Stück Watte aus der Dose rieb Hyde eine Stelle am linken Unterarm von Mercedes ab. Dann stieß er die Nadel der Spritze in ihre Haut und drückte den Kolben nieder. Das hält sie eine Weile ruhig, unter Garantie, dachte er. Sekunden später fuhr er bereits. Nicht zu schnell, dachte Hyde. Ganz normal. Nur nicht auffallen! Hat ja prima geklappt. Ein bißchen lange habe ich warten müssen. Alles im Preis inbegriffen.

Daniels Schädel schmerzte so sehr, daß er glaubte, es nicht ertragen zu können. Ganz langsam kam er wieder zu sich. Er merkte, daß er auf dem Gehsteig lag, das Gesicht in einer Pfütze. Mühsam griff er mit der linken Hand an den Kopf. Auch sein Haar war naß. Er führte die Hand dicht vor die Augen. Im Licht einer Straßenlampe sah er, daß die Hand rot war. Blut. Sein Blut. Auch in der Pfütze, in der er lag, war sein Blut. Er stöhnte. Er versuchte aufzustehen und fiel sofort wieder hin. Beim vierten Versuch gab er es auf und kroch auf allen vieren zur Haustür. Mit unendlicher Mühe zog er sich an einer Wand hoch, bis er die Klingeltafel mit der Gegensprechanlage erreicht hatte. Er drückte auf alle Knöpfe. Nach einer Weile meldeten sich eine zornige Frauenstimme und zwei zornige Männerstimmen. Sie sprachen durcheinander.

»Was ist los?«

»Sauerei, fast zwei Uhr früh! Wer ist das?«

»Besoffen, wie?«

»Ross«, sagte Daniel. »Hilfe ...« Er hatte keine Kraft mehr, sackte wieder zusammen und verlor das Bewußtsein.

Als er zu sich kam, lag er auf einem schmalen weißen Tisch unter einer sehr hellen Lampe. Zwei junge Ärzte und eine Krankenschwester verbanden gerade seinen Kopf. Es roch stark nach Desinfektionsmitteln.

»Wo bin ich?«

»Unfallstation. Uniklinik«, sagte der erste Arzt. »Massel gehabt«, sagte der zweite. »Nur eine große

Platzwunde am Hinterkopf. Schon genäht.« Daniel stöhnte. »Ja, natürlich tut das weh. Wird noch eine Weile weh tun. Gebrochen ist nichts. Wir haben gründlich geröntgt. Wahrscheinlich nicht mal Gehirnerschütterung. «

»Glauben Sie, Sie können sprechen?« fragte ein Funkstreifenpolizist. Er war plötzlich in Daniels Blickfeld getreten.

»Sie ...« begann Daniel. Die Zunge kam ihm viel zu groß für seinen Mund vor. »Sie haben mich hierhergebracht ...«

»Ja, Herr Ross. Hausbewohner riefen die Polizei. Sagen Sie mir bitte, was passiert ist.«

Daniel begann mühsam zu reden.

Elf Minuten später wurde von der Frankfurter Polizei die Ringfahndung nach Mercedes Olivera ausgelöst.

Eine Stunde zuvor war Wayne Hyde mit der immer noch bewußtlosen Mercedes in die Tiefgarage eines der Hochhäuser in der sogenannten Nordweststadt hinabgefahren. Viele tausend Menschen wohnten in dieser gewaltigen Trabantensiedlung. Sie kannten einander kaum. Sie kümmerten sich nicht umeinander. Die Anlage wurde auch »Schlafstadt« genannt, weil die meisten Bewohner hier nur die Abend- und Nachtstunden verbrachten und tagsüber in der City arbeiteten.

Hyde lenkte den Wagen auf einen freien Parkplatz und stellte den Motor ab. Er öffnete die rechte Vordertür, gurtete Mercedes los und zog sie aus ihrem Sitz. Sie lallte leise. Gut so, dachte Hyde. Wenn mir jemand begegnet, lallt sie hoffentlich auch. Macht dann einen hübsch besoffenen Eindruck. Er arbeitete systematisch, ohne jede Eile oder Erregung. Nachdem er einen Arm von Mercedes um seine Schultern geschlungen hatte, schleppte er sie, deren Füße nachschleiften, durch eine Kellertür in einen langen, schmalen Gang mit fünf Aufzugtüren zu den verschiedenen Blocks des Hochhauses. Vor der Tür des mittleren Lifts blieb er stehen und holte die Kabine durch Knopfdruck herunter. In seinem Schulterhalfter steckte die 9-Millimeter-SIG/Sauer-Pistole, die sein Frankfurter Freund Heinz Erkner ihm wieder besorgt hatte, als er, aus London kommend, vor drei Tagen in Frankfurt eingetroffen war. Das Sterling-Mk-9-Gewehr hatte er im Kofferraum gelassen.

Der Lift kam an.

Hyde öffnete die Tür und schleppte Mercedes in die Kabine. Er fuhr zum vierzehnten Stock empor. Auf jeder Etage befanden sich drei Wohnungen. Mit leisem Summen hielt der Lift. Hyde trat, Mercedes’ Arm um seine Schultern geschlungen, auf den Vorplatz. Er nahm Schlüssel aus der Tasche und öffnete Schloß und Sicherheitsschloß der Wohnung rechts. In den beiden anderen Appartements war es still. Die Menschen hier schlafen längst, dachte Hyde.

Die Tür mit der Metallbuchstabennummer vierzehnnulldrei ging auf. Hyde keuchte jetzt. Mercedes war schwer. Er trat mit ihr in die dunkle Wohnung, die aus einem sehr großen und drei kleineren Zimmern, Bad sowie Küche bestand, und machte

überall Licht. Er hatte die Vorhänge zugezogen, als er zum letztenmal hier gewesen war. Die Schlüssel hatte ihm der Anwalt Morley in London gegeben. Es schien, daß er Schlüssel zu zahlreichen derartigen Wohnungen in verschiedenen Städten besaß. Bei der ersten Inspektion hatte Hyde alles kontrolliert. Es gab nur zwei Eisenbetten in einem der kleineren Zimmer, zwei Stühle und einen Tisch. Sonst waren die Räume leer. Er hatte in einem Supermarkt der Nordweststadt Lebensmittel gekauft und den Eisschrank und die Tiefkühltruhe in der Küche gefüllt. Er hatte Seife, Toilettenpapier, Zahnbürste und ähnliches gekauft, auch einen Eimer. Dazu erwarb er eine große Rolle breites Klebepflaster sowie eine Schere und eine Polaroid-Kamera. Hyde schleppte Mercedes, die jetzt lauter lallte, zu einem der beiden Eisenbetten, dessen Decken und Kissen frisch überzogen waren, und ließ sie daraufgleiten. Im nächsten Moment schlug Mercedes die Augen auf. Ihr Gesicht war weiß. Sie starrte Hyde an.

»Ich kenne Sie«, sagte Mercedes leise. »Ich habe Sie schon einmal gesehen ... in der Wohnung von Daniel Ross ... Sie heißen ... Corley ... Peter Corley ...«

»Maul halten!« sagte Hyde.

Er holte aus einer Tasche seines Dufflecoats einen kleinen Sony-Recorder, dann zog er den Mantel aus und warf ihn über einen der beiden Stühle. Den Recorder legte er auf den Tisch neben die Polaroid-Kamera.

»Wo bin ich?« fragte Mercedes. »Maul halten!« sagte Hyde. »Wo ist Herr Ross?«

»Halt dein Maul!«

Hyde nahm die große Rolle Klebepflaster vom Tisch. »Ruhig liegen, Mund zu!« befahl er. Danach zog er eine Bahn über Mercedes’ Mund. Er nahm die Schere vom Tisch, schnitt das Band ab und klebte eine zweite Bahn quer zur ersten. »So«, sagte er und erhob sich vom Bettrand. »Du wirst bald wieder reden können. Kleine Nachricht für Ross. Auf Kassette. Morgen

machen wir eine hübsche Aufnahme von dir mit der neuen BILD-Zeitung, so, daß man die Schlagzeile lesen kann. Tut mir leid, aber du mußt jetzt Handschellen kriegen. Am Bett festgemacht. Damit du auf keine blöden Ideen kommst.« Er ging zu dem Stuhl, über den er den Dufflecoat geworfen hatte, um ein Paar Handschellen aus der Innentasche zu nehmen. Dabei wandte er Mercedes den Rücken zu. Die Handschellen hatten sich im Futter der Tasche verhakt. Hyde zog und zerrte, bis der Stoff riß. Dann drehte er sich um und erstarrte mitten in der Bewegung. Auf dem Eisenbett wand sich Mercedes in grauenvollen Zuckungen. Sie hatte sich die Streifen vom Mund gerissen. Ihre Pupillen waren verdreht, das Gesicht lief violett an. Aus dem Mund quoll weißer Schaum. Der Körper bäumte sich auf. Plötzlich lag sie ganz still. Immer mehr Schaum quoll aus ihrem Mund. Ein kräftiger Geruch nach bitteren Mandeln verbreitete sich. Hyde sah Glassplitter auf den Lippen der jungen Frau. Er legte ein Ohr auf die Brust über ihrem Herzen. Er fühlte ihren Puls. Aber das alles tat er ohne Hoffnung. Er starrte die Tote an.

»O Jesus«, sagte Wayne Hyde. »Was für eine verfluchte Scheiße!«

Ein Telefongespräch.

»... Ich habe lange mit meinen Bekannten gesprochen, Doktor Herdegen. Wann ruft Mister Hyde Sie wieder an?«

»Um sechs Uhr früh, Mister Morley.«

»Gut. Sie sagen ihm, meine Bekannten wünschen, daß er so weiterarbeitet, als wäre nichts vorgefallen.«

»Das hat doch jetzt keinen Sinn mehr!«

»Wieso hat das keinen Sinn mehr, Doktor?« »Weil die Olivera tot ist. Er kann kein Foto von ihr machen,

keine Tonbandaufnahme, es ist doch alles viel zu schnell gegangen.«

»Er muß die Forderung trotzdem stellen.«

»Ohne ein Lebenszeichen von der Olivera werden sie auf nichts eingehen.«

»In letzter Konsequenz haben Sie recht. Aber was wir jetzt brauchen, ist Zeit. Sie können sicher sein, daß Ross und die andern die Verhandlungen keinesfalls sofort abbrechen – wenn Hyde es geschickt anfängt. Die haben doch keine Ahnung, daß die Olivera Selbstmord begangen hat. Woher hatte sie bloß die verfluchte Zyankalikapsel?«

»Hyde sagt, völlig unerklärlich. Hören Sie, Mister Morley, ich weiß, es steht mir nicht zu, Ihre Bekannten zu kritisieren, aber das ist doch Wahnsinn! Wie lange soll Hyde dieses Idiotenspiel spielen? Er muß sich doch jetzt auch noch vom letzten Hurensohn von einem Polizisten jagen lassen. Da läuft doch inzwischen eine Großfahndung.«

»Die wäre auf alle Fälle gelaufen. Das weiß Hyde. Sie müssen nicht an seiner Stelle Angst haben. Er hat keine. Und das ist kein Idiotenspiel, Doktor. Ich sagte, wir brauchen jetzt Zeit. Zeit, die Brüder weichzukochen, sie die Nerven verlieren zu lassen. Wenn dann noch jemand entführt wird – beispielsweise Frau Colledo –, dann werden sie nachgeben.«

»Sie wollen Hyde veranlassen, einen zweiten Menschen ...?« »Nun, selbstverständlich, Doktor. Colledo hängt genauso an

seiner Frau wie Ross an der Olivera. Hyde wird eben noch viel vorsichtiger sein beim zweitenmal. Das ist kein Vorwurf. Er konnte nicht ahnen, daß die Olivera ständig Gift mit sich herumtrug. Bei der Colledo wird er das als erstes kontrollieren.«

»Aber ...«

»Schluß jetzt! Ich habe genug von Ihrem ›Aber‹, Doktor. Sie geben Hyde den Befehl, weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Erzählen Sie ihm von der Colledo-Variante. Er bekommt schnellstens neue Instruktionen. Ende.«

Das Telefon auf Daniels Schreibtisch schrillte. Außer ihm waren mehrere Männer im Raum: Conrad Colledo,

der Chefredakteur Kleinhals, zwei Techniker der Polizei und ein älterer Kriminalkommissar namens Hollgand. Sofort, nachdem Daniel aus dem Krankenhaus heimgebracht worden war, hatten Techniker begonnen, eine Fangschaltung für seinen Telefonanschluß zu installieren. An den Apparat war auch ein großes Tonbandgerät angeschlossen, das alle Gespräche aufzeichnen sollte.

Das Telefon schrillte zum zweitenmal. Es war jetzt 6 Uhr 35 am 28. März 1984, einem Mittwoch. Der erste Techniker legte die

Hand auf den Hörer eines zweiten Telefons, das ebenfalls auf dem Schreibtisch stand.

»Vorsichtig«, sagte er und zählte. »Zwei, drei, eins – jetzt!« Gleichzeitig hoben er und Daniel ab. Im selben Moment schaltete sich auch das Tonbandgerät ein. Die Spulen kreisten. »Hallo?« sagte Daniel. Er litt unter starken Kopfschmerzen. Die Mittel, die man ihm gegeben hatte, halfen nicht.

»Wer ist ›hallo‹?« fragte eine metallisch verzerrte Männerstimme.

»Daniel Ross.«

»Herr Ross, Ihre Freundin befindet sich in unserer Gewalt. Sie bleibt es, bis der Vorsitzende des Rundfunkrates die schriftliche Erklärung abgegeben hat, daß der bewußte Film niemals ausgestrahlt werden wird und bis wir alle Unterlagen der Interviews mit Zeugen und all das Material in unserem Besitz haben, das wir Ihnen noch nennen werden.«

Der Techniker machte Daniel ein Zeichen: Weiterreden, das Gespräch fortsetzen, so lange wie möglich!

Daniel sagte: »Ich will mit Frau Olivera sprechen.« »Das ist ausgeschlossen.«

»Woher weiß ich, daß sie noch lebt?«

»Sie lebt. Es geht ihr gut. Sie müssen mir glauben! Sprechen Sie mit Ihren Freunden und dem Vorsitzenden des Rundfunkrates und bleiben Sie in der Nähe des Telefons!«

»Wir werden ...«

Klick. Der Anrufer hatte aufgelegt. Daniel fluchte. Der zweite Techniker stoppte das Band, ließ es zurücklaufen

und startete es wieder. Alle hörten den Dialog zwischen Daniel und dem Unbekannten.

Das zweite Telefon läutete.

Der erste Techniker hob ab. »Ja?«

»Zu kurz«, sagte eine Stimme. »Wir konnten nicht feststellen, woher der Anruf kam.«

»Er wird wieder anrufen«, sagte der erste Techniker. »Ja, sicherlich«, sagte sein Kollege in einer der großen

Telefonzentralen der Stadt Frankfurt am Main. »Ich muß mit dem Vorsitzenden sprechen«, sagte Kleinhals.

»Sind Sie wahnsinnig geworden?« fragte Colledo. »Wollen Sie auf eine Drohung hin ohne ein Lebenszeichen von Frau Olivera die Forderungen dieses Lumpen erfüllen?«

»Natürlich nicht!« sagte Kleinhals wütend. »Aber der Vorsitzende muß informiert sein darüber, was geschehen ist.«

»Nehmen Sie diesen Apparat«, sagte der erste Techniker. »Die Leitung von Herrn Ross bleibt frei.«

Daniel saß reglos.

Reglos hörte er dem Gespräch von Kleinhals zu. Der sagte, nachdem er wieder aufgelegt hatte: »Wir müssen den Kerl hinhalten, so lange es nur geht. Jetzt läuft die größte Fahndung, die es seit der Schleyer-Entführung gegeben hat. Und wenn es Tage dauert. Wir müssen ihn hinhalten. Lebenszeichen verlangen. Wenn wir die haben, über Einzelheiten sprechen. Ross muß dann zurückfragen. Und so weiter. Professor Klammer kommt schnellstens hierher.«

Professor Klammer war der Vorsitzende des Rundfunkrates. »Was machen wir jetzt?« fragte Colledo.

»Warten, bis der Hund wieder anruft«, sagte Kleinhals. »Kommen zwei Beamte«, sagte der Kommissar Hollgand, ein kleiner, stiller Mann mit Brille. »Bringen einen großen Thermosbehälter mit Kaffee und Sandwiches für alle. Schon veranlaßt. Wir werden verpflegt. Gearbeitet wird in drei Acht-Stunden-Schichten. Für Sie gilt das leider nicht, Herr Ross.«

»Ich werde mein Bett hierher schieben«, sagte der. Er fuhr plötzlich auf, stöhnte aber sofort, denn sein Schädel reagierte auf die schnelle Bewegung mit noch größerem Schmerz.

»Was hast du, Danny?«

»Das Tagebuch!«

Daniel ging schon in Richtung Schlafzimmer. »Was für ein Tagebuch?«

»Das von Mercedes. Sie führte eines. Und es ist mir eben etwas eingefallen ...« Er verschwand im Schlafzimmer und kehrte gleich darauf mit einem in rotes Leder gebundenen Band zurück. Dazu sagte er: »Mercedes hat mir einmal gesagt: ›Wenn mir etwas passieren sollte – wir haben ja erlebt, wozu diese Leute fähig sind –, wenn also etwas mit mir geschieht, dann sieh in meinem Tagebuch nach. Es liegt ein Brief für dich darin. Lies ihn! Aber nur dann!‹« Daniel blätterte in dem rotledernen Band. Ein Kuvert fiel zu Boden. Er hob es auf. Nun war es sehr still geworden.

Daniel öffnete den Umschlag. Mehrere Bogen Papier, bedeckt mit Mercedes Handschrift, waren darin. Daniel setzte sich und las.

Danny, mein geliebter Danny, wenn Du diese Worte liest, bin ich schon tot. Bitte, verzeih mir, was ich getan habe. Ich liebe Dich so sehr. Ich hätte so gerne glücklich mit Dir gelebt. Aber das ist nun unmöglich geworden. Du weißt, mit wem wir es zu tun haben. Du weißt, daß die Kreaturen dieser Leute – sie selber

machen sich nicht die Finger schmutzig – vor nichts zurückschrecken, um eine Ausstrahlung unseres Films zu verhindern. Von Anfang an war das so. Es wird immer ärger werden, je mehr Material wir zusammentragen. Der Gegenseite ist bekannt, wieviel wir besitzen. Dafür sorgt ein Verräter. Ich rechne täglich damit, entführt zu werden. Weil es bei uns nicht üblich ist, sofort ein Menschenleben zu opfern, wird man also versuchen, den Sender zu erpressen. Mein Leben gegen alles Material und eine bindende Zusage von höchster Stelle, den Film nie zu zeigen etwa. Ich weiß natürlich nicht genau, wie sie vorgehen werden.

Die Zerstörung der Welt droht. Wir haben den Beweis dafür. So gibt es vielleicht noch eine kleine Chance. Für alle Menschen. Darum bin ich fest entschlossen: Wenn man mich entführt, werde ich mich bei der ersten Gelegenheit vergiften. Giftkapseln habe ich von meinem Stiefvater. Er bekam sie einmal von Goebbels, Du erinnerst Dich. Der sagte ihm, daß das Gift in den zugeschmolzenen Kapseln sich nicht zersetzt. Ich trage das Gift ständig bei mir. Ich werde mich töten, damit man keine Gelegenheit hat, Dich oder Conny oder ganz einfach den Sender zu erpressen. Glaube also, wenn es zu meiner Entführung kommt, unter keinen Umständen irgendwelche Lügengeschichten, die sie dann erzählen werden, um ihr Ziel zu erreichen, denn ich werde dann gewiß bereits tot sein.

Sollte ich in einem solchen Fall noch gefunden werden, möchte ich nirgends aufgebahrt werden. An meinem Grab soll nicht gesprochen und nicht gebetet werden. Auch Musik, Blumen oder Kränze soll es nicht geben. Ich möchte, daß außer Dir, Liebster, und den Totengräbern niemand an meinem Grab steht. Beerdigt werden möchte ich auf einem Friedhof, der nahe dem Ort liegt, an dem Du lebst.

Du hast mich immer eine Fanatikerin genannt, Liebster. Nun, ich bin es. Laß uns hoffen, daß Du diesen Brief nie lesen mußt.

Ich umarme Dich in Liebe. Mercedes

Darunter stand ein Datum: 10. März 1984. Der Brief war vor mehr als zwei Wochen geschrieben worden.

Daniel reichte die Bogen Colledo. Dann stützte er den schmerzenden Kopf in beide Hände und begann zu weinen. Das Weinen schüttelte seinen Körper wie ein schwerer Krampf.

Zwei Stunden später traten in Wiesbaden Vertreter der verschiedenen bundesdeutschen Sicherheitsorganisationen im Gebäude des BKA zu einem Krisenstab zusammen. Die Anti-Terror-Gruppe GSG-9 wurde eingesetzt. Ihre Spezialisten wichen nun nicht mehr von der Seite der Gefährdeten, zu denen neben anderen Daniel Ross, Conrad Colledo, seine Frau Lisa, der Chefredakteur Kleinhals und dessen Familie gehörten. Alle verfügbaren Kräfte der Polizei und Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr suchten im ganzen Land nach Mercedes Olivera.

Ein Telefongespräch.

»Mister Morley, hier ist Herdegen. Hyde rief eben an. Die Bundesrepublik ist ...«

»In Alarmzustand. Wissen wir. Auch, daß alle in Frage kommenden Personen bewacht werden.«

»Unter diesen Umständen sieht Hyde keine Möglichkeit, Frau Colledo zu entführen.«

»Was heißt das: keine Möglichkeit? Es gibt immer eine Möglichkeit! Wir haben ihm inzwischen drei ausgezeichnete Leute zur Verfügung gestellt – oder? Verflucht, er wird hoch genug bezahlt für das, was er tut! Und er hat zu tun, was wir anordnen. Sagen Sie ihm das! Guten Tag, Doktor Herdegen!«

Es war 3 Uhr 41 früh am 29. März 1984, als das Telefon wieder schrillte. Daniel schlief in seinem Bett, das nun neben dem Schreibtisch mit den Apparaturen der Techniker stand. Eine andere Schicht tat Dienst. Colledo war anwesend. Er hatte in einem Sessel gedöst. Nun rüttelte er den Freund.

»Danny! Danny, wach auf!«

Daniel ächzte. Er setzte sich im Bett auf und legte eine Hand auf den Hörer seines Apparates. Ein Techniker legte die Hand auf den Hörer des zweiten Telefons und zählte laut von drei zurück. Gemeinsam hoben sie ab. Die Tonbandspulen begannen wieder zu kreisen.

Es erklang die metallisch verzerrte Stimme, die Daniel schon kannte: »Haben Sie mit Ihren Leuten gesprochen, Herr Ross?« Daniel rieb sich die brennenden Augen. Das Licht der Schreibtischlampe war grell, die Luft im Raum verbraucht und schlecht. »Ja«, sagte er mit belegter Stimme. Er räusperte sich.

»Und?«

»Hören Sie, das ist doch idiotisch! Welche Sicherheit haben Sie denn, daß nicht neue Kopien angefertigt wurden und der Film doch gesendet wird, auch wenn man Ihnen jetzt verspricht, ihn nicht zu senden, und alles Material aushändigt, damit Frau Olivera freigelassen wird?«

Jedes einzelne Wort bereitete Daniel Mühe. Aus seinen Augen rannen Tränen.

Die verzerrte Stimme: »So ist das auch nicht gedacht. Diese Entführung soll bloß zeigen, wozu wir fähig sind. Wenn Frau Olivera nach Erfüllung aller unserer Bedingungen freigelassen wird, ist sie nur eine Tote auf Urlaub. Im gleichen Augenblick,

in dem Sie die Arbeit am Film fortsetzen oder in Verbindung mit anderen Sendern treten – wir erfahren das sofort –, wird Frau Olivera sterben. Niemand und nichts kann sie dann retten.«

»Ich will ein Lebenszeichen von ihr!« schrie Daniel. »Ich will ihre Stimme hören!«

»Das geht nicht. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt. Sie müssen mir glauben, daß es ihr gutgeht – noch. Sie bittet Sie flehentlich, zu tun, was wir verlangen.«

»Ihre Stimme!« schrie Daniel außer sich. »Ich will ihre Stimme hören!«

Die Verbindung war unterbrochen.

Nach ein paar Minuten meldete sich ein Spezialist aus der Telefonzentrale. Wiederum hatte es sich als unmöglich erwiesen, festzustellen, woher der Anruf gekommen war.

Daniel stand abrupt auf und ging schnell in das Schlafzimmer. Er knipste das Licht an und öffnete eine Schublade. In ihr lag, was er suchte. Im Badezimmer füllte er ein Zahnputzglas mit kaltem Wasser und öffnete dann den Verschluß einer großen Packung Amadam, dem Mittel, auf das Sibylle ihn nach seiner Entwöhnungskur umgestellt hatte und von dem Mercedes ihm bislang morgens und abends je eine Tablette gegeben hatte. Nun ließ er elf Tabletten aus der Packung in die hohle Hand fallen, warf sie in den Mund und spülte sie mit dem Wasser hinunter. Er hatte am Telefon – nach langer Zeit zum erstenmal – das entsetzliche Gefühl gehabt, sterben zu müssen, wenn er nicht sofort sein Mittel nahm. Viel davon nahm. Er blieb eine Viertelstunde auf dem Wannenrand sitzen. Dann hatte er wieder genügend Kraft, um zu den anderen zurückzukehren.

Zwei Tage vergingen, ohne daß sich der Anrufer meldete. Zeitungen, das Fernsehen und der Rundfunk hatten unmittelbar nach dem Verschwinden von Mercedes sehr ausführlich über ihre Entführung berichtet, gewisse Boulevardblätter mit riesigen Auflagen ihrem Stil entsprechend grell sensationell. Radio- und Fernsehstationen gaben wiederholt die Beschreibung der Verschwundenen bekannt, und die Polizei bat alle Bürger um Hilfe bei der Suche nach ihr.

Der Regierungspressesprecher teilte verärgerten Journalisten lediglich mit, daß die Entführung der jungen Frau nach Ansicht von Experten im Zusammenhang mit den mysteriösen, noch immer unaufgeklärten zwei Morden der letzten Wochen stehe und daß er über Art und Ziele der kriminellen Vereinigung, die sich dahinter verberge, nichts sagen könne.

In Kommentaren und Attacken auf die Regierung stellten Presse-, Funk- und Fernsehleute daraufhin die abenteuerlichsten Vermutungen hinsichtlich der so im Dunkeln gehaltenen Vorgänge an – keine einzige kam der Wahrheit auch nur entfernt nahe.

Gleichzeitig durchsuchten viele Tausende von geduldigen, übermüdeten Soldaten, Polizisten und Angehörigen von Spezialeinheiten die Bundesrepublik – ein im Dschungel der großen Städte wohl von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Eine Belohnung von hunderttausend D-Mark für sachdienliche Hinweise zur Auffindung Mercedes Oliveras und ihrer Entführer wurde ausgeschrieben, woraufhin eine kaum mehr zu überblickende Zahl von angeblichen Beobachtungen einlief. Jedem einzelnen Hinweis mußte nachgegangen werden. Die ganze riesige zusätzliche Arbeit brachte nicht die kleinste Spur. Das BKA hatte die entsprechenden Organisationen aller europäischen Staaten gleich zu Beginn um Mitarbeit gebeten, kurze Zeit später war Interpol eingeschaltet worden. Flug- und Seehäfen wurden überwacht, Reisende in Autos und Fernzügen kontrolliert, Grenzstationen hatten Alarm. In dieser Zeit nahm Daniel große Mengen von Amadam zu sich, immer wenn seine Angstgefühle wiederkehrten.

Am Abend des 1. April, einem Sonntag, versammelten sich acht Männer in Daniels großem Arbeitszimmer: Professor Abel Klammer, der Vorsitzende des Rundfunkrates, Dr. Volker Brandt, der so jugendlich wirkende Justitiar des Senders Frankfurt, Hans Kleinhals, der Chefredakteur, und Conrad Colledo, ferner zwei Techniker und der Polizeikommissar, die gerade Schichtdienst hatten, sowie Daniel Ross.

Er war sehr blaß und trug einen dicken Kopfverband. Die Schmerzen hatten nachgelassen. Daniel machte einen gefaßten Eindruck. In der Wohnung, im Treppenhaus und rund um den Block hatten zahlreiche schwerbewaffnete Polizisten und Männer der GSG-9Anti-Terror-Gruppe Stellung bezogen. Die unablässige Bewachung sämtlicher mit der Produktion des Dokumentarfilms befaßten Personen und ihrer Angehörigen lief weiter.

Professor Abel Klammer, ein untersetzter, rotgesichtiger Mann von einundsechzig Jahren, sagte: »Ich war bei einem Treffen aller Mitglieder des Rundfunkrates und der Intendanten sämtlicher ARD-Stationen. Es ging um die Frage, ob der Sender Frankfurt die Produktion des Films fortsetzen, ihn ausländischen Stationen zum Kauf anbieten und ausstrahlen soll. Mit einer Gegenstimme ist die Versammlung zu dem Ergebnis gekommen, daß sie entschieden gegen jedes Zeichen von Erpreßbarkeit und für die Fortsetzung der Arbeit ist, wobei man natürlich sofort eine etwa andere Ansicht der unmittelbar mit der Sache Befaßten und des am schwersten Getroffenen respektieren wird. Die Frage, die ich Ihnen zu stellen habe, lautet daher: Sind auch Sie der Ansicht, daß wir in Kenntnis des Umstands, daß Frau Olivera mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits seit Tagen tot ist – verzeihen Sie, Herr Ross –, und allen weiteren möglichen Terroranschlägen zum Trotz die Ausstrahlung und den Verkauf des Films weiter betreiben sollen oder nicht? Ich habe die Aufgabe, jeden einzelnen von Ihnen zu fragen. Herr Kleinhals?«

Der Mann, der aussah wie ein ehrgeiziger Buchhalter, sagte: »Weiterarbeiten.«

»Herr Doktor Brandt?«

Der junge Justitiar – er erinnerte an einen Beatle und galt unter Kollegen als bester Mann seines Fachs im Lande – sagte: »Ja, ich bin für die Ausstrahlung.«

»Herr Colledo?«

Der Hauptabteilungsleiter Politik und Zeitgeschehen, der wie fast immer einen blauen Anzug, ein blaues Hemd und eine mit kleinen silbernen Elefanten bestickte schwarze Krawatte trug, sagte: »Wenn ich nur die geringste Hoffnung hätte, daß Frau Olivera noch am Leben ist, wenn ich nicht zu meinem Schmerz – durch Kenntnis ihres Briefes und ihres Charakters sowie die offensichtliche Unfähigkeit der Entführer, uns ein akustisches oder optisches Lebenszeichen von ihr zu geben – davon überzeugt wäre, daß Mercedes tot ist, würde ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln dafür kämpfen, den Forderungen der Entführer zu entsprechen und das Projekt abzubrechen. Wie die Dinge jedoch liegen, stimme auch ich dafür, den Film fertigzustellen und auszustrahlen.«

»Herr Ross?«

Daniel sagte: »Wir müssen unbedingt weitermachen – damit erfüllen wir nur den Wunsch von Frau Olivera.«

Der rotgesichtige, untersetzte Professor Klammer fragte Kleinhals: »Wann kann der Film fertiggestellt sein?«

»Wir haben nun noch einen Bericht über die letzten Ereignisse gedreht. Wenn wir uns beeilen, sollten wir in drei Wochen soweit sein, also um den zwanzigsten April herum. Zu diesem Zeitpunkt werden wir den fertigen Film anderen Sendern zum Kauf anbieten können. Diese Sender werden – das ist so üblich – die Bearbeitung in ihrer Landessprache übernehmen. Das heißt: Eine zweite Stimme wird über der Originalstimme liegen und übersetzen, was diese sagt. Natürlich wird diese zweite Stimme auch beim Protokolltext dolmetschen. Ich bin der Ansicht, daß der Film von allen Sendern am gleichen Tag ausgestrahlt werden sollte, um die größtmögliche Wirkung auf die Menschen in der ganzen Welt zu erzielen. Die Sowjetunion wird den Film bestimmt nicht kaufen. Die Ostblockstaaten werden das unter sowjetischem Druck auch nicht tun dürfen. Ein Teil der DDR kann uns empfangen. Das ist aber auch schon alles. Wir beabsichtigen deshalb, eine Radioversion der Dokumentation herzustellen und sie ebenfalls mit Texten in den einzelnen Landessprachen zu versehen. Ausgestrahlt können diese Adaptionen dann über den Deutschlandfunk werden. Er hat Relaisstationen in der ganzen Welt, so daß seine Sendungen jedes Land der Erde erreichen. Wir sind ganz sicher, daß wir zu einem Abschluß mit einer der großen amerikanischen Fernsehgesellschaften kommen werden, desgleichen mit dem chinesischen Staatsfernsehen. Wir erwarten sehr viele Interessenten. Die Verhandlungen mit ausländischen Intendanten müßten sofort aufgenommen werden.«

Eine Telefonnachricht.

»Mister Hyde, hier spricht Morley. Es ist elf Uhr dreiunddreißig, Freitag, sechster April. Meine Bekannten haben zur Kenntnis genommen, daß es Ihnen auch im Verein mit anderen unmöglich ist, erfolgreich eine weitere Entführung zu bewerkstelligen. Durch die Großfahndung ist Ihre Lage so prekär geworden, daß Sie dem Risiko, entdeckt zu werden, nicht länger ausgesetzt werden dürfen. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet. Meine Bekannten sprechen Ihnen ihren Dank aus. Ich ersuche Sie, Deutschland schnellstens zu verlassen. Ihre Mission ist beendet. Die zweite Hälfte des Honorars wurde bereits auf das Konto bei der Schweizer Bankgesellschaft in Zürich überwiesen. Damit sind unsere Beziehungen beendet. Meine Bekannten und ich wünschen Ihnen alles Gute. Sollten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt – jetzt oder in der Zukunft – in Schwierigkeiten mit Polizei oder Behörden geraten, werden weder meine Bekannten noch ich die geringste Ahnung haben, wer Sie sind. Sie würden sich dann vergeblich auf uns berufen und dürfen niemals damit rechnen, daß ich oder irgend jemand anderer Ihnen dann auch nur im geringsten hilft. So war das ja von Anfang an festgelegt. Leben Sie wohl, Mister Hyde! Gott schütze Sie! Das ist das Ende meiner letzten Nachricht für Sie.«

Zur Nordweststadt in Frankfurt gehört ein eigenes Polizeirevier.

Am Samstag, dem 7. April 1984, gegen 7 Uhr früh, erschien hier ein großer schlanker Mann von etwa vierzig Jahren. Er traf auf den Wachtmeister Josef Niedermoser, einen gebürtigen Münchner, der seit einem halben Jahr in Frankfurt Dienst tat, und wünschte ihm einen guten Morgen.

»Grüß Gott«, sagte Niedermoser, der gleichfalls groß, aber sehr kräftig war. Er hatte gerade den Bericht über einen Fall von Fahrerflucht in die Maschine getippt.

»Ich heiße Felix Zimmermann. Ich wohne hier am Gerhart-Hauptmann-Ring zwölf, Block C, vierzehnter Stock, Appartement vierzehnnulleins. Auf meinem Stockwerk gibt es noch zwei andere Wohnungen, vierzehnnullzwei und vierzehnnulldrei. Herr und Frau Esser von nullzwei sind vor drei Wochen verreist. Wir kennen sie flüchtig, meine Frau und ich. Wer in nulldrei wohnt, wissen wir nicht. Seit gestern kommt aus dieser Wohnung ein süßlicher Gestank. Heute ist er noch viel stärker. Meine Frau und ich haben nie gesehen, daß jemand in die Wohnung hineingegangen oder herausgekommen ist. Etwas stimmt da nicht. Vielleicht ist hier ein Mensch gestorben, und der Leichnam verwest. Meine Frau hat gesagt, daß ich Ihnen das unbedingt mitteilen muß, bevor ich in die Stadt fahre.«

Etwa eine Stunde später hielt ein Funkstreifenwagen vor dem Hochhaus Gerhart-Hauptmann-Ring zwölf in der Nordweststadt. Er parkte hinter einem Einsatzwagen der Feuerwehr. Aus dem Funkstreifenwagen stiegen Daniel Ross, die beiden Beamten, die ihn gerade bewachten, und – als einziger in Uniform – der Fahrer. Durch eine Gruppe von Neugierigen gingen die Männer zum Eingang des Hauses. Hier standen zwei weitere Uniformierte. Sie grüßten stumm. Daniel und sein Begleiter betraten eine sehr große und hohe Halle. Es gab fünf Aufzüge. Die Männer fuhren mit dem mittleren – Block C – in den vierzehnten Stock empor. Die Tür zur Wohnung vierzehnnulldrei war aufgebrochen worden. Die vier Männer begannen zu würgen. Der Gestank, der ihnen entgegenschlug, war sehr stark. Sie hielten sich Taschentücher vor den Mund und gingen in die Wohnung. Hier erwarteten sie drei Feuerwehrleute, die Gasmasken trugen. Alle Fenster der leeren Wohnung waren geöffnet. Ein Feuerwehrmann machte Daniel Zeichen, ihm zu folgen. Sie gingen durch ein großes Zimmer in ein kleineres, in dem ein Tisch, zwei Stühle und zwei Eisenbetten standen. Das eine war frisch überzogen. Auf dem anderen lag eine tote Frau. Ihr Gesicht war schwarz. Der Mund stand offen. Die Augen waren nur noch mit dunkler Flüssigkeit gefüllte Höhlen. Alle Männer sahen Daniel an, der zum Bett getreten war. Daniel nickte. Dann rannte er aus dem kleinen Raum in das nahe Badezimmer und übergab sich heftig.

Inzwischen bemühten sich andere Feuerwehrleute unten in der Halle, einen luftdicht verschließbaren, doppelwandigen Zinksarg in die Kabine des Lifts zu bringen, der zum Block C gehörte. Der Versuch erwies sich als aussichtslos. Die Kabine war zu klein. Als ungeeignet erwies sich auch die Feuertreppe hinter den Aufzügen. Sie war so schmal, daß die Männer den Sarg nicht um die engen Wendungen bringen konnten. Die Architekten dieses Hochhauses – und wohl aller anderen – hatten offensichtlich nicht daran gedacht, daß ein Mensch in einer der Wohnungen sterben könne. Zwei Wagen des Technischen Hilfswerks trafen ein. Zu diesem Zeitpunkt mußten zahlreiche Polizisten bereits eine Menschenmenge zurückdrängen, um die Fahrbahn freizuhalten. Ein Flaschenzug wurde an einem schweren Balken im Fenster des großen Zimmers im Appartement vierzehnnulldrei befestigt. Angeseilt glitt dann der Sarg in die Höhe. Mercedes’ Leichnam hatte sich bereits so zersetzt, daß es nur möglich war, ihn mitsamt dem besudelten Laken, auf dem er lag, in den Sarg zu heben. Als dieser, durch acht Schrauben fest verschlossen, dann an der Außenwand des Hochhauses wieder in die Tiefe gelassen wurde, war längst ein schwarzer Wagen der Städtischen Leichenbestattung eingetroffen. Feuerwehrmänner schoben den Sarg in ihn. Die Türen wurden verriegelt. Der Wagen fuhr sofort ab.

Um 15 Uhr klingelte nach langer Zeit wieder das Telefon auf Daniels Schreibtisch. In Abstimmung mit den beiden Technikern, die gerade ihre Schicht absaßen, hob Daniel den Hörer ab.

»Ross.«

»Danny, hier ist Sibylle«, meldete sich eine Frauenstimme. »Sibylle ...« Er fühlte, wie ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. »Einen Moment, bitte!« Zu den beiden Technikern und einem Kriminalkommissar sagte er: »Das ist ein privates Gespräch.«

Die drei nickten und gingen in die Diele hinaus. Sie schlossen die Tür hinter sich.

Daniel nahm wieder den Hörer. »Entschuldige! Diese Leitung hängt an einer Fangschaltung.«

»Mein Gott ... Danny, mein armer Danny, ich habe erst vor ein paar Minuten erfahren, was geschehen ist. Ich war in Belgrad auf einem Kongreß und bin eben zurückgekommen. Das ist ja furchtbar! Ich habe es im Radio gehört, aber nur ganz kurz ... Die arme Mercedes ...«

»Ja«, sagte Daniel. »Die arme Mercedes.« Vor ihm stand eine Tasse Tee. Während er sprach, holte er die Amadam-Packung, die er jetzt ständig bei sich trug, aus der Jackentasche und öffnete sie.

»Wann habt ihr sie gefunden?«

»Heute vormittag.« Er ließ die Tabletten auf die Schreibtischplatte gleiten. Die Angst war wieder in ihm hochgeschossen, die grauenvolle Angst.

»Wo? Kannst du es mir erzählen, Danny, bitte! Erzähle mir alles! Alles!«

Er erzählte ihr alles. Zwischen zwei Sätzen machte er eine längere Pause, als er neun Tabletten vom Schreibtisch nahm, in den Mund warf und mit Tee hinunterschluckte. Er bemerkte, daß seine Hände zitterten. Ihm war schwindlig und übel. Das kam

nun oft vor. Amadam half.

»Danny ...« Sibylles Stimme versagte. »Das ... das tut mir so leid für dich ... so schrecklich leid ...«

»Mir tut es auch leid.«

»Was ist los? Hast du zu viel Amadam genommen?« »Nein«, log er. »Wieso?«

»Du sprichst ein bißchen lallend. Du hast doch Amadam genommen, sag die Wahrheit!«

»Ich sage die Wahrheit«, log er.

»O Gott, Danny! Diese Schweine ... Diese elenden Schweine ... Das ist eine solche Gemeinheit ...«

»Ja«, sagte Daniel.

»Ich komme nach Frankfurt. Sofort.«

»Nein! Ich ... möchte allein sein. Versteh das, ja?« »Natürlich ... Natürlich verstehe ich ... Wann ist das

Begräbnis?«

»Montag vormittag. Sie haben die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht. Sie müssen eine Obduktion machen. Obwohl ganz klar ist, was passierte. Sie hat sich vergiftet.«

»Aber Montag komme ich zum Begräbnis.« »Bitte nicht, Sibylle«, sagte er. »Mercedes hat mir einen Brief

geschrieben ... hinterlassen, meine ich ... Sie wollte für den Fall ihres Todes keine Aufbahrung, keine Blumen, keinen Priester, keine Musik und keine Menschen am Grab – nur mich. Ich glaube, das müssen wir respektieren.«

»Freilich, Danny. Freilich. Ich ... ich ...«

»Ja, Sibylle?«

»Ich bin in Gedanken bei dir, mein Armer. Immer, Danny, immer. Ich liebe Werner wirklich. Aber nie kann ich unsere Zeit vergessen. Unsere wunderbare Zeit.«

»Ich auch nicht, Sibylle.«

»Es war eine so große Liebe. Und eine so große Liebe hört doch nie wirklich auf, nicht?«

»Nein, niemals wirklich.«

»Und darum – obwohl ich Werner so bewundere und mit ihm glücklich bin – werde ich ihn doch immer betrügen mit dir, Danny. Betrügen in Gedanken. Das ... das hast du gewußt, nicht wahr? Das hast du gespürt, wie?«

»Ja, Sibylle. Und du, du hast gespürt, daß es bei mir mit Mercedes genauso war, obwohl ich sie auch wirklich geliebt habe. Du wirst einfach niemals aus meinem Leben verschwinden.«

»Und du nicht aus meinem, Danny.«

»Und es ist alles nicht wahr«, sagte er laut.

»Bitte?« Ihre Stimme klang erschrocken. »Was soll das heißen, Danny?«

»Ach, Sibylle ... Du bist so lieb ... so bemüht, mir zu helfen ... Du willst, daß ich wenigstens noch einen Halt habe, wenn ich daran denke, wie das war mit uns beiden.«

»Na, aber es war doch wunderbar!«

»Gewiß, Sibylle ... ganz wunderbar war es ... Und es hat auch etwas gedauert, bis ich Mercedes lieben konnte, ohne immer noch wie in all den vielen Jahren an dich zu denken ... Endlich war es dann soweit ... Ich mußte nicht mehr an uns beide denken, Vergleiche ziehen, mich erinnern ... Ich konnte Mercedes lieben, wirklich und wahrhaftig ... so wie ich dich geliebt habe ... so wie du Werner liebst, sei ehrlich ... Wir dürfen nicht lügen, bloß damit es leichter wird für mich ... Es wird nicht leichter ... Du liebst Werner mit deinem ganzen Herzen, und ich habe Mercedes geliebt mit meinem ganzen Herzen ... Alles andere ist nur noch Erinnerung, Sibylle, nur noch eine Erinnerung, die wir beide haben.«

Sie schwieg lange. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme sehr leise. »Sei mir nicht böse, Danny ... Ich ... ich habe tatsächlich gedacht, es hilft dir, wenn ich so rede. Wir müssen bei der Wahrheit bleiben ... Du hast recht ... Wir kennen uns so lange ... Verzeih mir, was ich da versucht habe ... Es war wirklich nur, weil ...«

»Ja, Sibylle, ja ... Und ich danke dir auch ... Wir dürfen uns bloß nichts vormachen ... Es wäre so gemein gegen Mercedes ... und einfach nicht wahr! Ich umarme dich – fest, ganz fest.«

»Und ich dich, Danny.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ruf an, ruf bald an, bitte, ja?«

»Ja, bald«, sagte Daniel. Er legte den Hörer auf und ließ noch ein paar Tabletten aus der Packung gleiten. Ich brauche mehr, dachte er.

Am Vormittag des 9. April wurden ein abseits gelegener Sektor des Südfriedhofs und die Zufahrtswege von zwei Hundertschaften Bereitschaftspolizei abgesperrt. Nur drei Wagen des Fernsehsenders Frankfurt erhielten die Erlaubnis zu passieren. Auf ihren Dächern standen Männer mit Kameras, welche die Beisetzung von Mercedes filmten. Diese ging in großer Hast vor sich. Ein Wagen der Städtischen Leichenbestattung mit dem Sarg fuhr dicht an ein frisch geschaufeltes Grab heran. Es gab keine Musik, und es gab keine Blumen. Es wurden keine Reden gehalten und keine Gebete gesprochen. Zwischen zwei Kriminalbeamten stand Daniel am Rand des Grabes. Vier Angestellte des Bestattungsinstituts ließen den Sarg in die Grube gleiten, und Totengräber begannen sofort danach, das Grab zuzuschaufeln. Polizisten mit Maschinenpistolen standen in einem großen Kreis um die Trauerstätte.

Daniels Gesicht war weiß und völlig erstarrt. Die Sonne schien an diesem schönen Frühlingstag, in den Bäumen sangen viele Vögel. Daniel sah den Totengräbern eine Weile zu, dann drehte er sich um und ging, gefolgt von seinen Begleitern, den weiten Weg zu einem Funkstreifenwagen zurück. Er hatte

während der ganzen Zeit kein Wort gesprochen. In der Sandhöfer Allee angekommen, legte Daniel sich auf

das Bett, das nun wieder im Schlafzimmer stand. Die beiden Kriminalbeamten blieben im Arbeitszimmer. Daniel lag reglos und starrte die Decke an. Nach einer Weile war er eingeschlafen. Er erwachte gegen Mitternacht und fühlte sich schwach und benommen. Langsam ging er ins Arbeitszimmer. Die beiden Beschützer der Nachtschicht saßen vor der Bücherwand und spielten Karten. Sie wurden verlegen. Er machte ihnen ein Zeichen, sich nicht stören zu lassen, ging zum Schreibtisch – die Apparaturen für die Fangschaltung waren verschwunden – und rief seinen Vater in Buenos Aires an. Das tat er täglich um diese Zeit. Olivera meldete sich sofort. Seine Stimme bebte: »Hallo, Daniel?«

»Ja.«

»Was ... was ist geschehen?«

»Heute vormittag haben wir sie begraben. Auf dem Südfriedhof. Wie sie es sich gewünscht hat. Wenn auch nicht ganz so.« Olivera schwieg.

»Wann kommst du?« fragte Daniel. Keine Antwort. »Wann du kommst!«

»Überhaupt nicht ...«

»Was?«

»Du mußt mich verstehen, Daniel ... Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht kommen ... Es ist ausgeschlossen ... Ich bin viel zu verzweifelt ... und auch zu alt ... Die Reise brächte mich um ... Ich kann mich kaum im Haus bewegen ... Weißt du, es ist so, als

wäre ich gestorben und läge in einem Sarg und könnte ihn nie mehr verlassen ... Verstehst du das? Sag, daß du das verstehst, Daniel!«

»Du Scheißkerl«, sagte Daniel Ross.

Am Sonntag, dem 13. Mai 1984, in allen Fällen zur jeweils besten Abendsendezeit, wurde das erste Drittel des Dokumentarfilms »Die geteilte Welt – Fälschung oder Wahrheit?« in achtundfünfzig Ländern von Fernsehsendern auf fünf Kontinenten ausgestrahlt. Hinzu kamen die verschiedensprachigen Radiofassungen des Deutschlandfunks. Wochen davor war in den Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen sehr viel über diese Produktion geschrieben und gesprochen worden. Entsprechend groß war das Interesse der Menschen. Einer späteren Untersuchung zufolge saßen zu Beginn der Ausstrahlung fast neunhundert Millionen Menschen vor ihren Geräten: Weiße, Gelbe, Schwarze, Menschen aller Glaubensbekenntnisse, aller nur denkbaren Überzeugungen, Berufe und Einkommensverhältnisse. Vor flimmernden Bildschirmen und Radioapparaten saßen Multimillionäre und Familien, die unter der sogenannten Elendsgrenze lebten. Es saßen da Grubenarbeiter und Börsenmakler, Unternehmer der Schwerindustrie und Arbeitslose, Politiker und Huren, Priester und Mörder, die Krüppel oder Schwerbeschädigten aus einhundertsechsundfünfzig »kleinen Kriegen« nach 1945 und dem großen davor sowie Friedensnobelpreisträger, die nicht den kleinsten dieser Kriege hatten verhindern können. Es saßen da die Hinterbliebenen von Gefallenen und jene der Männer, Frauen und Kinder, welche unter Militär- und anderen Diktaturen zu Tode gefoltert, ertränkt, gehenkt, erschossen, erschlagen, verbrannt oder mittels Gift, elektrischem Strom, dem Beil sowie schweren Medikamenten aus dem Anwendungsgebiet der Psychiatrie hingerichtet worden waren; des weiteren Nonnen und Filmproduzenten, Generäle und Erdnußverkäufer, Atomphysiker und Versicherungsvertreter, Könige und Kanalräumer, Besitzer von Verlagskonzernen und Wasserträger, Rüstungsfabrikanten und Automechaniker, Schauspieler und Computerspezialisten, Süchtige, Olympiasieger, Dachdecker und Nachtclubsängerinnen, Gesunde und Kranke, alte und junge Menschen.

Der erste Teil der Dokumentation enthielt die Aussage Oliveras über die Herkunft des Streifens, das Statement von Mercedes sowie den alten Film mit dem Geheimprotokoll. Am nächsten und übernächsten Tag sollten zur gleichen Sendezeit der zweite und dritte Teil ausgestrahlt werden. Die Fortsetzungen bestanden aus den einander so widersprechenden Aussagen der Zeugen, der Aussage Daniel Ross’, Berichten über die Telefongespräche des Intendanten mit den amerikanischen und sowjetischen Diplomaten und über die Entlarvung des Intendanten, ferner aus Reportagen über die Ermordeten sowie die Entführung und das Ende Mercedes Oliveras samt den Bildern von der gespenstischen Beisetzung auf dem Frankfurter Südfriedhof – das alles mit verbindenden Kommentaren und gewissenhaften Erläuterungen in journalistisch einwandfreier Form, informativ und völlig wertfrei. Hier sind nur einige Aussprüche oder Reaktionen anläßlich der Ausstrahlung des ersten Teils festgehalten ...

In Kairo, Ägypten, sagt der Optiker Abdu Amarna zu seiner Frau Isis: »Man müßte die führenden Politiker der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vor ein internationales Tribunal stellen und hinrichten lassen. Sie sind schuld an allem Unglück in der Welt.«

Seine Frau Isis erwidert: »Rede keinen Unsinn, Abdu! So etwas wird niemals geschehen, und du weißt es. Sie sind so stark, und wir sind so schwach.«

In weiten Teilen Afrikas, besonders in Äthiopien, herrscht die größte Hungerkatastrophe der Geschichte. Hunderttausende sind schon gestorben, Millionen sollen folgen. Äthiopien besitzt fast keine Straßen. Ein Konvoi aus Zehn-Tonnen-Lastern fährt, vom Flugplatz der Hauptstadt Addis Abeba kommend, langsam über hartgetrocknete Erde von Schlagloch zu Schlagloch in Richtung Lalibela im Norden des Landes. Die Riesenwagen haben Mehl, Milchpulver und Medikamente für das Hungergebiet dort geladen. Sie sind seit vier Tagen unterwegs. In der Kanzel eines Lasters lauschen zwei Fahrer der Sendung, die, von einer Relaisstation des Deutschlandfunks in Afrika weitergegeben, unter krachenden Nebengeräuschen aus dem Autoradio kommt.

Der Mann am Steuer, Kalo Negesti, sagt: »Teilt euch die Welt! Werdet glücklich mit eueren Teilen! Hier interessiert das keinen. Hier werden bald alle verreckt sein. Dann könnt ihr uns gemeinsam verscharren! Ihr könnt uns auch liegen lassen!«

»Und was mich angeht, so könnt ihr verrecken wie die Menschen hier«, sagt der zweite Fahrer, der Ko Yahuma heißt.

In Mampawah, einer Hafenstadt des südchinesischen Meeres an der Westküste von Borneo, sagt Romang Timor, ehemals Kochlehrling, zu seiner Mutter Banda: »Wir haben nie einen Amerikaner oder einen Russen gesehen. Meinetwegen sollen die Banditen mit dieser Welt machen, was sie wollen. Man hat mich in Pontianak aus dem Hospital heimgeschickt, weil die Metastasen jetzt auch schon im Kehlkopf sind. In einem Monat bin ich tot.«

Romang Timor ist gerade einundzwanzig Jahre alt geworden. In Santiago de Chile sagt Taipal Chuzco, Detektiv in einem Supermarkt, zu seinen Brüdern: »Na und! Das ist ja eine Sendung für die Kinderstunde! Meine lieben Kleinen, stellt euch vor, da haben sich zwei die Welt geteilt! Wer dreht einen Film über die Verbrechen General Pinochets?«

In den Gebirgszügen des Hindukusch, der sich im Nordosten von Afghanistan fast achttausend Meter in den Himmel erhebt, hören Aufständische in ihrem fast unzugänglichen Felslager die Funkversion der Sendung aus einem erbeuteten sowjetischen Militärradio. Einer sagt: »Versteht ihr jetzt, warum die Amerikaner es hingenommen haben, daß wir von den Russen überfallen worden sind?«

»Die amerikanischen Politiker sind empört«, sagt ein anderer. »Die ganze Welt ist empört«, sagt der erste. »Helfen tut uns auch nicht ein einziger Mensch.«

In Eisenach, Deutsche Demokratische Republik, sagt der Dreher Karl Zschinschke, der mit seiner Frau unbotmäßigerweise das Westfernsehen eingeschaltet hat: »Darum haben die Scheiß-Amis keinen Finger gerührt, als sie die Mauer bauten, Emma.

Und sie haben uns nicht geholfen damals, als die Arbeiter aufstanden und die sowjetischen Panzer kamen am siebzehnten Juni dreiundfünfzig. Da ist dein Bruder erschossen worden in Berlin, vor dem Brandenburger Tor. Elf Jahre war er alt. Verflucht sollen sie sein, alle beide!«

»Dreh ab, Karl!« sagt seine Frau. »Und wenn es so ist! Es macht meinen Bruder nicht mehr lebendig.«

In Bielefeld in der Bundesrepublik Deutschland sagt der Chefbuchhalter Hermann Eipel zu Frau und drei Kindern: »Dieser Film ist eine alte Nazifälschung, ganz klar. Und ganz klar, wer diesen Hundedreck jetzt ausstrahlen läßt.«

»Wer?« fragt seine Frau.

»Die Grünen und die Friedensbewegung. Sie haben ihre Leute überall. Auch in den Sendern! Glaubt mir das!«

In Hamburg sagt der arbeitslose Werftarbeiter Kuddel Heinke zu seiner Frau Elfie: »Fälschung oder Wahrheit – da scheiß ich drauf. Es ist so. Und es wird sehr bald losgehen. Und dann geht unser Land als erstes in Klump mit all den Raketen, die in den Wäldern stehen.«

»Was willst du machen dagegen, Kuddel?« fragt seine Frau Elfie, die schwanger ist.

In Düsseldorf sagt die Frau des Reinigungsmittel-Herstellers Kort zu ihrem Mann: »Das ist ja unerträglich, Karl-Heinz! Was gibt es im ZDF?«

»›Willi wird das Kind schon schaukeln‹ mit Heinz Erhardt«, sagt ihr Millionärsgatte.

»Dann schalte um! Ich muß über Heinz Erhardt immer so furchtbar lachen.«

In Lille, Frankreich, sagt der alte Vater des Rechtsanwalts JeanPierre Quemard: »Ich traue es ihnen zu, Jean-Pierre. Ich traue es ihnen zu. Ich traue ihnen alles zu. Auch daß sie in Europa Atombomben werfen und Krieg führen. Es wäre dann der dritte Krieg in meinem Leben.«

»Wir brauchen keine Atombomben mehr, Vater«, sagt JeanPierre. »Wir erledigen uns jetzt sehr schnell selber.«

In Lewes in der Grafschaft Kent in England sagt der Lokomotivführer Jack Tompkins zu Frau und Kindern: »Natürlich sind die Amerikaner und Russen Verbrecher. Aber sie wären niemals solche Verbrecher ohne Hitler. Hitler war der größte Verbrecher, den es je gab. Durch ihn ist die Welt so geworden, wie sie heute ist. Ach, Orwell war ein Optimist.«

In Saint Georges, der Hauptstadt von Grenada, dem sehr kleinen südlichsten Inselstaat der Antillen, sagt der Zitrusfrüchte-Exporteur Pai Owan zu seiner Frau: »Ist dir jetzt klar, warum die Sowjets nur herumgequatscht haben, als die Amerikaner hier landeten?«

»Leise, Pai«, sagt seine Frau, »leise! Du bist aufgeregt. Und dann sprichst du immer so laut. Du weißt, wie dünn die Wände sind und wer nebenan wohnt.«

In Athen, Griechenland, sagt der Besitzer einer Sauna, Joannis Pagniatopulos, zu seiner Frau Melina: »Und wir sind Mitgliedstaat der NATO!«

Seine Frau antwortet: »Und wenn wir Mitgliedstaat des Warschauer Pakts wären – was würde das ändern? Die einen werden uns töten, und die andern werden uns töten. Gib mir noch Wein, Joannis!«

»Du bist schon betrunken.«

»Ja, und?« sagt Melina. »Ich will mich sinnlos betrinken. Absolut sinnlos.«

In Amsterdam, Holland, sagt die Witwe Marie de Vries zu ihrem Hund, dem einzigen Wesen, das noch zu ihr gehört: »Nein, ich kann es nicht glauben. So schlecht sind Menschen nicht! Aber ich habe Angst. Wenn sie es doch sind?«

In Sorano, einer sehr kleinen Stadt in Italien, sagt Andreo Furno zu seiner Familie: »Und wenn es so ist, ich sage bravo! Solange sie beide nur gleich stark bleiben, wird es niemals den Atomkrieg geben. Darum müssen beide natürlich immer weiter aufrüsten. Aber selbst wenn einer schwächer wird und der andere losschlägt- auf unser winziges Sorano sind keine Raketen gerichtet. Wäre doch schade um das viele Geld. Sorano – lächerlich! Und falls es die Deutschen erwischt – ihr Pech! Sie haben uns in den Krieg hineingezogen. Papa und Onkel Marco sind gefallen.«

»Und was passiert mit uns bei Nordwind?« fragt seine Frau. In Haifa, Israel, sagt Bob Bernstein zu seiner Frau Ruth: »Selbstverständlich ist das eine infame Fälschung. Und woher kommt sie natürlich? Aus Deutschland kommt sie natürlich. Sie haben alle deine Verwandten umgebracht, Ruth. Sie haben alle meine Verwandten umgebracht. Und nach wie vor ist das ein Naziland. Du siehst, welche Macht die Nazis noch haben.«

»Ja, es ist furchtbar«, sagt Ruth. »Und trotzdem habe ich oft solche Sehnsucht nach unserem Köln.«

In Managua, der Hauptstadt von Nicaragua, sagt der Volksschullehrer Jose Patuca zu seiner Frau: »Selbstverständlich hat der amerikanische Präsident den sowjetischen Präsidenten angerufen und ihm mitgeteilt, daß die CIA jetzt unsere Häfen verminen wird. Und bevor sie landen und unser Land überfallen, wird der amerikanische Präsident wieder seinen sowjetischen Kollegen anrufen, und der wird sagen, wenn ihr unbedingt müßt: bitte sehr. Sobald es in Polen soweit ist, werde ich Sie anrufen, Herr Präsident.«

In Beirut, der Hauptstadt des Staates Libanon, sagt der moslemische Teppichhändler Ali Ranpur, der in den Kämpfen der letzten Tage seine Frau, seine Tochter und sein Geschäft verloren hat, zu seiner Katze: »Wenn die verfluchten Schweine die Welt nur ordentlich geteilt hätten! Aber sie haben es schlampig getan oder gar nicht. Darum sind meine Frau und meine Tochter tot. Mich wird es sicher auch bald erwischen. Allah sei Dank nicht dich, meine Gute, Schöne! Katzen wittern Gefahr. Katzen können immer für sich selber sorgen.« daß Katzen immer für sich selber sorgen können, ist die ganze Hoffnung, die Ah Ranpur geblieben ist.

In Gdansk, dem ehemaligen Danzig, an der Ostsee in Polen sitzen der Handelsschiffskapitän Josef Kowalski und seine Frau vor dem Radioapparat, lauschen der Sprecherstimme und weinen. Und viele Menschen in Polen weinen wie der Kapitän Kowalski und seine Frau.

In Witebsk in der Sowjetunion sagt der Stahlwerkarbeiter Mihail Bogolow zu seiner Frau Elisaweta: »Vielleicht haben sie es wirklich getan, Elisaweta. Vielleicht müssen wir dankbar sein, wenn sie es getan haben. Dann wird auch Deutschland für immer geteilt bleiben und uns nie mehr überfallen können. Zwanzig Millionen Russen sind umgekommen, als uns die Deutschen überfielen.«

»Wie viele Millionen werden umkommen, wenn uns die Amerikaner überfallen?« fragt Elisaweta.

In Novgorod sagt Maria Rakunin zu ihrem Mann Maxim, einem ehemaligen Tischler, der mit ihr vor dem Radioapparat sitzt: »Jetzt weißt du, wofür du blind geschossen worden bist in Afghanistan.«

»Sie haben uns gar nicht gesagt, daß wir in Afghanistan waren, Liebste«, sagt er.

In Prag, Tschechoslowakei, sagt die Frau des Universitätsprofessors Josef Krb zu ihrem Mann: »Siebzehn Jahre alt war unser Sohn, als ein sowjetischer Panzer ihn zerquetscht hat, Josef. Siebzehn Jahre. Und dein Bruder ist damals verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Und ›Radio Freies Europa‹ hat ununterbrochen gesagt, wir sollen durchhalten, die Amerikaner kommen uns zu Hilfe.«

»Sind die Russen den Nordvietnamesen zu Hilfe gekommen?« fragt ihr Mann. »Das da ist ein alter Nazifilm. Gefälscht oder echt, egal. Das einzige Mal, daß die Nazis die Wahrheit sagen wollten.« In Keszthely am Plattensee in Ungarn sagt der Chemiker Clemens Karoly, der hier mit seiner Frau Urlaub macht: »Die Russen haben neunzehnhundertsechsundfünfzig den Amerikanern vorher gesagt, daß sie unseren Aufstand niederschlagen werden. Die Amerikaner haben gesagt: ›Bitte sehr, wir haben nichts dagegen.‹ Das steht historisch fest. Es steht auch fest, daß bei den Kämpfen in Budapest meine Schwester und mein Bruder erschossen worden sind. Verflucht sollen sie sein, Amerikaner und Russen!«

In Hiroshima, Japan, liegt der fünfundvierzigjährige Eiji Kimura im Saal eines Krankenhauses, in dem außer ihm noch sieben Männer in ihren Betten liegen. Als neunzehnhundertfünfundvierzig die Amerikaner über der Stadt die erste Atombombe abwarfen, gab es sechsundachtzigtausend Tote, einundsechzigtausend Verwundete und keine Stadt mehr. Inzwischen hat man sie wieder aufgebaut, und es existieren noch immer Überlebende der Katastrophe. Fast alle sind verstümmelt oder strahlenverseucht – wie Eiji Kimura und die sieben anderen Männer in seinem Saal. Eiji Kimura lebt seit neununddreißig Jahren nur in Krankenhäusern. Er leidet an einer schweren Blutkrankheit. Eiji Kimura sagt: »Die Atombombe, die die Amerikaner abwarfen, als ich sechs Jahre alt war, wird ›Baby-Bombe‹ genannt. Weil sie im Vergleich zur Zerstörungskraft heutiger Atomraketen ein Baby ist. Fünfundvierzig waren wir und die Amerikaner Feinde. Seit langem sind wir Verbündete. Was für ein Glück für Japan! Denn die Amerikaner haben die furchtbarsten Bomben. Und ich bin sicher, sie werden den Erstschlag führen.«

In Detroit, in den Vereinigten Staaten von Amerika, sagt der Kaufhauskettenkönig Jack M. Langley zu seiner Frau Katherine: »Verfluchte deutsche Schweine! Ich habe immer gesagt, traut ihnen nicht! Was haben unsere Idioten getan? Hochgepäppelt haben sie Westdeutschland. Das ist jetzt der Dank. Feine Verbündete haben wir! Mit dieser alten Nazifälschung versuchen sie, die Welt gegen uns aufzubringen. Und gegen die Sowjets. Gemeinsam haben wir Hitler besiegt!

»Das war einmal«, sagt seine Frau. »Heute sind die Sowjets unsere gefährlichsten Feinde.«

»Wir sind stärker als sie«, sagt Langley. »Sie wollen nur die ganze Welt und alle Menschen verwirren und unsicher machen.«

»Wer?«

»Die gottverfluchten deutschen Nazis«, sagt Langley. »Unsere feinen Verbündeten. Na ja, wenigstens kommen sie als erste dran, was immer sie tun. Wenigstens darin sind wir uns mit den Sowjets einig.«

In Philadelphia sagt die Frau des Flickschneiders Fainberg zu ihrem Mann: »Mojshe, Budd und Danny, unsere drei Söhne, sind umgekommen in Vietnam, Aaron.«

»Ja«, sagt er. »Für Freiheit und Demokratie. Weißt du, daß wir Nordvietnam nie den Krieg erklärt haben?«

»Und wenn wir’s getan hätten«, sagt seine Frau. »Wären unsere Söhne dann noch am Leben? Aaron, diese Welt ist schrecklich!«

»Was willst du?« fragt Aaron Fainberg. »Schön soll sie auch noch sein?«

In Chicago sagt eine alte Frau im elektrischen Rollstuhl zu ihrem Sohn: »Ich fürchte mich so, Junge.«

»Ja«, sagt Wayne Hyde, »ich mich auch. Aber solange wir uns noch haben, Ma!«

Am Tag nach der Ausstrahlung des ersten Filmteils gaben die Vereinigten Staaten und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken durch ihren Regierungssprecher und durch die staatliche Nachrichtenagentur TASS zwei kurze, gleichlautende Erklärungen ab. In ihnen hieß es, die beiden Staaten hätten weder auf der Teheraner Konferenz noch zu irgendeinem Zeitpunkt vorher oder nachher eine Vereinbarung geschlossen, wie sie das angebliche Geheimprotokoll in dem zur Zeit im Fernsehen von achtundfünfzig Staaten gezeigten Film »Die geteilte Welt – Fälschung oder Wahrheit?« auswies. Dieser in der Bundesrepublik Deutschland produzierte Streifen stelle eine eindeutige Fälschung dar, wobei der von einer Videokopie einmontierte Teil sehr wahrscheinlich noch eine Propagandafälschung der Nazis war. »Die geteilte Welt« sei hergestellt worden im Auftrag von außerordentlich gefährlichen und nach wie vor höchst aktiven faschistischen Gruppen mit dem Ziel, das unermüdliche Ringen der beiden Großmächte um die Erhaltung des Friedens und um die Koexistenz ihrer unterschiedlichen Gesellschaftssysteme zu stören. Der Vorfall zeige, mit welch großer Wachsamkeit friedliebende Menschen in der ganzen Welt die so schädlichen Aktivitäten faschistischer Kräfte, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, beobachten müßten. Diese Kräfte zu zerschlagen sei wichtigste Aufgabe aller Gutgesinnten.

Mit höchst unterschiedlichen Kommentaren reagierten die großen Tageszeitungen der Welt auf diese Erklärung. Aufrufe zu aktivem oder passivem Widerstand oder zum Boykott der beiden Großmächte fanden sich nirgends, schon gar nicht in der Bundesrepublik, wo die Schlagzeile des auflagestärksten Massenblattes am Tag nach der Ausstrahlung des ersten Teils lautete: LADY DI’s BABY IN GEFAHR – ENTFÜHRER!

Den am Montag gesendeten zweiten Teil sahen – internationalen Untersuchungen zufolge – nur noch knapp vierhundert Millionen anstelle der anfänglichen neunhundert, den dritten Teil bloß knapp hundert Millionen. Die durch Mondovision ausgestrahlte Übertragung des Fußballspiels Brasilien gegen Italien sahen dagegen rund sechshundert Millionen Menschen.

Am Nachmittag des 18. Mai, einem Freitag, saßen Daniel Ross und Conrad Colledo in dessen Dienstzimmer im Verwaltungsgebäude des Senders Frankfurt.

Colledo hatte dem Freund gerade einen Bericht über die Aufnahme des Films und die so radikal sinkende Sehbeteiligung gegeben. »Es ist also danebengegangen«, sagte Daniel. Er sprach mit etwas schwerer Zunge, denn er hatte viel Amadam genommen, wie er das seit der Entführung täglich tat.

»Total«, sagte Colledo. »Hätte ich nicht gedacht.« »Ich auch nicht.«

»Ich meine: Ich habe gedacht, er wird eine sehr geteilte Aufnahme finden, unser Film, das schon. Aber er wird auf sehr großes Interesse stoßen und eine riesige Diskussion auslösen. Das habe ich fest geglaubt. Ich habe mich geirrt.«

»Und wie!« sagte Colledo.

»Man kann also sagen, daß unsere ganze Arbeit umsonst gewesen ist.«

»Das kann man ohne Übertreibung sagen«, antwortete Colledo, stand auf und trat an eines der vier Statussymbol-Fenster seines Büros. Er blickte hinüber auf die in der Ferne im Sonnenschein blitzenden Millionen Fenster der großen Stadt Frankfurt am Main. Es war ein besonders schöner Tag.

»Mercedes ist ohne jeden Sinn gestorben«, sagte Daniel. »Ohne jeden Sinn«, sagte Colledo und sah auf die gleißende Riesenstadt zu seinen Füßen.

»Arme Mercedes«, sagte Daniel.

»Glückliche Mercedes«, sagte Colledo. »Stell dir vor, sie hätte diese Reaktion noch erlebt! Gerade sie. Es hätte ihr das Herz gebrochen.«

»Ja«, sagte Daniel, »das stimmt.«

»Sie starb, als es noch Hoffnung gab«, sagte Colledo. »Ja«, sagte sein Freund. »Mein Gott, was hat Mercedes für

ein großes Glück gehabt!«

Gleich darauf fuhr Colledo entsetzt herum, denn Daniel war plötzlich aufgesprungen und schrie wie ein Wahnsinniger: »Ohne Sinn gestorben ist also auch Herbert Kramer, der Bibliothekar in Koblenz! Ohne Sinn gestorben ist also auch Professor Kant in Berlin! Ohne Sinn! Ohne irgendeinen Sinn!«

»Danny, bitte ...« begann Colledo, doch Daniel ließ sich nicht unterbrechen. Er sprach weiter, nicht mehr so laut, aber voll Empörung und Leidenschaft, er ging mit großen Schritten im Zimmer hin und her dabei.

»Umsonst! Alles umsonst! Die Arbeit von so vielen, die ihr Leben riskiert haben. Umsonst! Verflucht noch mal, in was für einer Welt leben wir denn? Nichts und nichts als die Wahrheit haben wir den Menschen zeigen wollen. Warnen wollten wir sie. Die Menschen in der ganzen Welt. Die Politiker in der ganzen Welt. Sie sollten begreifen, daß es eins vor zwölf ist. Eins nach zwölf! daß ihr Geschwätz aufhören muß! daß ihre faulen Kompromisse aufhören müssen! Und die Feigheit und Dummheit und Gewissenlosigkeit! Und diese verbrecherische Lehre vom Gleichgewicht des Schreckens! Und dieses schwachsinnige Gelalle, daß es keinen Atomkrieg geben wird, weil es keinen Atomkrieg geben darf!«

»Herrgott, Danny! Das hilft doch alles nichts! Wir haben die Menschen falsch eingeschätzt.«

»Die Menschen!« schrie Daniel. Er schrie wieder. »Menschen sagst du? Viereinhalb Milliarden Arschlöcher, sage ich. Zu dämlich, um zu sehen! Zu dämlich, um zu hören! Lassen sich wieder und wieder und wieder abschlachten, seit es sie gibt. Lieber verrecken, als einmal denken, als einmal sich wehren. Zum Wahnsinnigwerden ist das!« Daniel blieb stehen. »Okay, können wir ihnen also nicht helfen. Kann ihnen keiner helfen. Diese beschissene Welt ist eben einfach nicht zu retten. Muß sie eben in die Luft fliegen. Und wenn schon! Was ist sie denn? Ein Staubkorn im All! Ein mieser Witz! Ein Furz in der Unendlichkeit!« Er sah Colledo an und sagte plötzlich ganz ruhig: »Und wir? Was sind wir alle miteinander, die gedacht haben, wir können etwas ändern? Die größten Idioten sind wir! Tote Idioten! Auf Abruf lebende Idioten! Egal! Idioten! Mit fünf Groschen Verstand, ach was, mit einem Groschen hätte jeder von uns von vornherein wissen müssen, daß alles vergebens und umsonst und sinnlos ist, und hätte um Himmels willen diesen Scheißfilm auch nicht mit der Feuerzange angerührt.« Er streckte einen Arm aus. »Idiot«, sagte er, »nimm eines Idioten Hand!«

Colledo zögerte.

»Nun nimm schon!« brüllte Daniel. »Ich muß gehen.« »Wohin?«

»Weiß ich nicht, wohin. Irgendwohin. Ich krieg’ hier keine Luft mehr. Idiot gibt einem Idioten also nicht die Hand. Kann man auch nichts machen. Überhaupt nichts kann man mehr machen. Jetzt wissen wir es wenigstens endlich.« Er stürzte aus dem Zimmer.

Colledo sah ihm einen Augenblick erstarrt nach, dann rannte er hinter dem Freund her auf den Gang hinaus. Der Gang war leer. An den Zahlen, die über der Lifttür aufleuchteten, konnte Conrad Colledo erkennen, daß der Aufzug nach unten glitt. Am Samstag, dem 19. Mai 1984, gegen 19 Uhr 30, ging Daniel Ross daran, sich in seiner Wohnung zu ebener Erde eines Hauses an

der stillen Sandhöfer Allee in Frankfurt am Main das Leben zu nehmen.

Auf dem Schreibtisch unter der Lampe mit dem grünen Schirm hatte er alles zusammengetragen, was er brauchte: ein Glas, eine Flasche Whisky, Eiswürfel in einem kleinen silbernen Kübel, mehrere belegte Brote auf einem Teller, vier Packungen Nembutal, die Schraubdeckelgläser geöffnet.

Das Schlafmittel hatte er sich in den Wochen zwischen der Beisetzung von Mercedes und der Ausstrahlung des Films auf die gleiche Weise wie schon einmal besorgt.

Dieser Samstag war schon sehr warm, im Garten blühten viele Blumen. Die Sonne versank gerade im Westen und färbte den Himmel leuchtend rot.

Daniel Ross spülte eine weitere Handvoll Nembutal-Kapseln – er hatte den Inhalt aller vier Gläser auf die Tischplatte geschüttet – mit einem großen Schluck Whisky hinunter und aß wieder ein paar Bissen Schinkenbrot, denn er mußte verhindern, daß ihm schlecht wurde und er das Nembutal erbrach. Er dachte an viele Menschen und Ereignisse der letzten drei Monate, aber nur sehr flüchtig und verwirrt, denn er war schon sehr betrunken, und das Nembutal begann bereits zu wirken. Schemenhaft glitt die Gestalt seines ältesten Freundes Fritz vorüber, der im Dezember des vergangenen Jahres im Berliner Martin-Luther-Krankenhaus gestorben war und gesagt hatte: »Zeit, daß ich abhau’.« Danach hatte sein Freund Fritz die Augen geschlossen und war tot gewesen.

Wieder schluckte Daniel Ross eine Handvoll Kapseln, trank Whisky nach und aß Schinkenbrot. Zeit, daß auch ich abhau’, dachte er. Und: Diesmal gibt es niemanden, der mich stören wird. Mercedes ist begraben, Conny und seine Frau machen Urlaub auf Capri, Kleinhals ist zu seiner Schwester nach Hamburg geflogen.

Daniel Ross war sehr ruhig und erfüllt von Frieden. Als er alle Kapseln geschluckt und alle Brote gegessen hatte, erhob er sich unsicher. Nun war er sehr betrunken. Er ging in Pantoffeln und Pyjama noch einmal zur Wohnungstür und sah nach dem Sicherheitsschloß und der Vorhängekette. Frau Glanzer, seine Haushälterin, kam erst Montag früh um neun Uhr. Daniel ging durch das Arbeitszimmer in das Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Jetzt wirst du sterben, dachte er, und niemand wird dich dabei stören. Freude überkam ihn nach langer Zeit endlich wieder. Jetzt wirst du schlafen, sagte er zu sich selbst, schlafen und nie mehr erwachen müssen. Er lächelte. Es gibt kein Leben nach dem Tod, dachte er, und es gibt keinen Gott. Nach meinem Tod, wenn mein Körper zerfallen ist, werde ich in jedem Baum und in jedem Blatt, in jeder Blume, im Wind und im Regen sein. Ebenso in den Bergen und in der Luft und in allen Flüssen und Meeren. Ich werde ein Teil des Weltalls sein, das immer da war, das niemals begonnen hat, das es nicht nötig hat, jemals zu beginnen, jemals zu enden, in aller Ewigkeit nicht. Ja, auch ein winziger Teil der Ewigkeit werde ich sein. Er hörte, verweht und leise, eine Frauenstimme, die sang, was wäre, wenn sie sich was wünschen dürfte. Er erinnerte sich an die Wärme, das goldene Licht und die Stille zu dem Zeitpunkt, an dem er das erste Mal fast gestorben war. Er entsann sich, daß es da keine Sorge mehr gab und keine Mühsal, keine Eile, keine Traurigkeit und keine Angst, nein, keine Angst. Und dann fielen ihm die Wolken ein, die er gesehen hatte, silbern und phantastisch geformt. Später sah er noch einmal eine von ihnen. Sie schwamm in einem leuchtendblauen Himmel, und er dachte: Auch diese Wolke bin ich nun, auch diese Wolke. Er betrachtete sie lange Zeit, und plötzlich erblickte er eine zweite Wolke, majestätisch und wunderbar, die langsam über unendliche Weiten schwamm, und eine große Glückseligkeit überkam ihn, als er die Wahrheit erkannte. Näher und näher glitten die beiden weißen Gebirge aneinander heran, und zuletzt wurde Daniel eins mit der Wolke, die Mercedes war.

Загрузка...