»Okay, buddy.«

»Halt’s mi fest, i scheiß mi an! Der oide Wayne in der Weanerstadt! Wohin fahrma?« Franz Loderer startete den Motor und schaltete die Scheibenwischer ein. Die Scheinwerfer leuchteten auf.

»Heiligenkreuz.«

»Wos?« Franz war verblüfft. »Wüllst du a paar geistliche Herrn umnieten?«

»Nein, wieso?«

»Dös is a Kloster, Burschi.«

»In der Nähe gibt’s ein Sanatorium.«

»Ah so.« Franz fuhr los. »Für wen arbeitst diesmoi? Für de Amis oda für de Russen?«

»Für beide«, sagte Wayne Hyde.

Daniel Ross träumt ...

Nackt liegt er neben der nackten Sibylle. Zum erstenmal haben sie sich geliebt. Es ist spät nachts. Er streichelt ihre kleinen, festen Brüste. Sie rauchen gemeinsam eine Zigarette. Das Bett ist groß und quadratisch. Tags ist es eine quadratische Couch. Vor dem Fenster des winzigen Zimmers flimmern in der Tiefe Millionen Lichter: die Lichter von Wien. Auf einem Tischchen stehen ein kleiner Fernsehapparat und ein kleiner Plattenspieler, der zu einer sehr kleinen Stereoanlage gehört. Er hat einen Dorn, auf den man zehn Platten stapeln kann.

Die beiden liegen da und hören leise, sentimentale Musik aus einer vergangenen Zeit. Willi Forst hat gerade ›Bel ami‹ gesungen. Sibylle sammelt alte Schellack-Platten. Die nächste fällt auf den sich drehenden Teller. Ein Klavier ertönt, ein klagendes Saxophon, Geigen. Die Musik hat den seltsam blechernen, scheinbar zu hohen Klang, den sie auf all diesen alten Platten hat. Das Arrangement ist ganz anders als in späteren Zeiten, etwas zu langsam, etwas scheppernd. Das Saxophon, die Geigen schweigen nun. Nur das Klavier begleitet eine helle, ganz junge, ach so wehmütige Frauenstimme, die singt: »Man hat uns nicht gefragt, als wir noch kein Gesicht, ob wir leben wollten oder lieber nicht. Jetzt gehe ich allein durch eine große Stadt und ich weiß nicht, ob sie mich lieb hat. Ich schaue in die Stuben durch Tür und Fensterglas, und ich warte, und ich warte auf etwas ... Wenn ich mir was wünschen dürfte, käm’ ich in Verlegenheit, was ich mir denn wünschen sollte, eine schlimme oder gute Zeit ...« Daniel horcht auf.

»Wer ist das? Wer singt da?«

»Ich weiß es nicht, Liebster.« Sibylles Finger streichen durch sein Haar, immer wieder. Sie läßt ihn an der Zigarette ziehen, dann streift sie die Aschenkrone an einem kleinen Teller ab, der neben ihr auf dem Bett steht.

»... Wenn ich mir was wünschen dürfte, möchte’ ich etwas glücklich sein«, singt die Kindfrau auf der alten Platte, »denn wenn ich gar zu glücklich wär’, hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein.« Das Saxophon setzt wieder ein, die Geigen kehren zurück. Dann ist das Lied zu Ende.

Schnell richtet Daniel sich auf und hält den Plattenspieler an. »Was willst du?«

»Sehen, wer da gesungen hat.«

Sie kniet nun. Nackt schmiegt sich ihr Körper an seinen. Er nimmt die Platte vom Teller.

»Seltsam«, sagt er.

»Was ist seltsam, Danny?« Ihre kleinen Brüste pressen sich gegen seinen Rücken.

»Der Aufkleber. Schau her! Völlig verkratzt. Auch der auf der anderen Seite ... Man kann kein Wort mehr entziffern. Nicht ein einziges. Bei allen deinen andern alten Platten sind die Aufkleber lesbar. Nur bei dieser nicht. Ich habe diese Platte auch noch nie gesehen, noch nie gehört. Wirklich seltsam. Ich habe gedacht, ich kenne alle.«

»Ich habe auch gedacht, ich kenne alles an dir«, sagt sie und läßt sich auf das Bett zurückfallen, die Arme weit ausgebreitet. Und er gleitet über sie, und wieder beginnt das Wunder, das wunderbare Wunder für sie beide in diesem Raum, der fast schon Sibylles ganze Wohnung ausmacht, diesem Raum, der so klein ist, daß nur zwei Menschen, die sich sehr lieben, in ihm gemeinsam leben können. Es gibt noch ein Badezimmer, eine Küche und einen Vorplatz, alles winzig.

Jahre später, 1973, wird das Gelände des Wiener Allgemeinen Krankenhauses für viele Jahre zu einer immer größeren, zuletzt riesigen Baugrube werden. Nacheinander reißt man alle alten Kliniken ab – zuerst das einstmals kaisergelb gestrichene, uralte und häßliche Gebäude der Psychiatrie. Jede Klinik wird durch eine neue, hypermoderne ersetzt. Diese Umgestaltung, die mit einer gigantischen Bestechungsaffäre, dem sogenannten AKH-Skandal, untrennbar verbunden bleibt, ist auch zur Stunde, da Daniel von Sibylles kleiner Wohnung träumt, noch nicht abgeschlossen.

Schon vor 1970 hat man nahe der Lazarettgasse zwei siebzehnstöckige mächtige Wohntürme für die Ärzte, Ärztinnen, Pfleger und Krankenschwestern des großen Klinikums errichtet. Auch Sibylle zog dort ein: im fünfzehnten Stock, ins Appartement fünfzehnnullacht.

Sie sind alle gleich winzig, diese Appartements, zwanzig Quadratmeter groß. Zwanzig Quadratmeter! In jedem ungeraden Stockwerk sind die Fußböden, die Vorhänge und die Bettbezüge blau, in jedem geraden gelb – wie die Mauern der endlosen Korridore, die von den Lifts ausgehen und in denen man leicht Platzangst bekommen kann. Eigentlich muß jeder normale Mensch verrückt werden in diesen genormten Zellen, wo die große quadratische Couch zum Grundinventar gehört. Unzählige Exemplare stehen in siebzehn Stockwerken jeweils genau an derselben Stelle.

In seinem Traum hört Daniel Sibylle sagen: »Als ich noch allein war, habe ich eine Zeitlang sehr schlecht geschlafen. Und in dieser Zeit mußte ich – es war teuflisch jede Nacht stundenlang darüber nachdenken, wo die vierzehn Leute unter mir ihren Kopf und ihre Füße haben.«

Ja, verrückt kann man werden in diesen unmenschlichen Wohnwaben! Jedes Jahr springen mindestens zwei Bewohner aus dem Fenster in die Tiefe. Aber auch eine Oase des Glücks, der Seligkeit und des Friedens kann eine solche Wabe werden wenn zwei sich lieben. Sich so sehr lieben wie Sibylle und Daniel, Daniel Ross, der erfolgreiche, suchtgefährdete Leiter des zum Sender Frankfurt gehörenden Südosteuropa-Studios. Natürlich hat die Zentrale auch Korrespondenten in den südosteuropäischen Hauptstädten, doch koordiniert wird ihre Arbeit von Wien aus. Eine geräumige Wohnung hat Daniel in der Grinzinger Allee, aber sooft er kann, schläft er bei Sibylle. Von ihren Eltern, die in Salzburg leben – der Vater ist ebenfalls Arzt –, hat sie einen antiken Sekretär bekommen. Mehr alte Möbel gingen nicht in den einen und einzigen Raum mit seinen weit weniger als zwanzig Quadratmetern. In Hängeregalen über dem Sekretär ist jede Menge Fachliteratur untergebracht. Auf dem Boden stapeln sich Taschenbücher zu Gebirgen; für normale Ausgaben fehlt der Platz. In Sperrholzregalen stehen sehr viele Langspielplatten und Sibylles Sammlung von Achtundsiebzigern. Tagsüber ist eine blaue Decke über die Schlafcouch gebreitet, eine Menge bunter Kissen liegt darauf. An der Wand hängt eine Reproduktion des Bildes »Jidl mitm Fiedl« von Sibylles und Daniels Lieblingsmaler Marc Chagall: Ein kleiner, buckliger Jude tanzt und musiziert da auf dem Schindeldach eines windschiefen Hauses, umgeben von Mond, Wolken, Sternen, Esel und Kuh, der Kirche und anderen schiefen Häusern armer Juden aus Chagalls »Schtetl« Liosno bei Witebsk.

Hier, in dieser Kammer, in der nur einer hinter dem anderen den Raum zwischen Couch und Sekretär passieren kann, findet Daniel Ross, ständig herumgejagt, ständig ruhelos, Ruhe. Hier ist er glücklich, so sehr glücklich mit Sibylle. Sie sehen fern. Sie hören Musik: Tschaikowskij und Mozart ebenso wie Gershwin und Louis Armstrong. Hier lesen sie einander aus den Taschenbuchausgaben ihrer bevorzugten Autoren vor: Hemingway, Steinbeck, Gary, Silone, Fallada, Graham Greene ...

Das alles, alles sah und hörte Daniel in seinem Traum, diesem Traum, den er in den letzten zwölf Jahren so oft geträumt hatte. Und ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, und Mercedes saß an seinem Bett und betrachtete ihn reglos – ernst und traurig. Sibylle kam herein und wechselte die fast leere Tropfflasche gegen eine volle aus, behutsam, vorsichtig. Daniel erwachte nicht, er spürte es nicht. Die Frauen sahen einander lange stumm an. Sie solle doch schlafen, flüsterte Sibylle Mercedes zu, aber diese schüttelte den Kopf. Sibylle nickte und ging wieder. Immer noch fiel draußen der Schnee, nur Daniels tiefer, regelmäßiger Atem war zu hören in der großen Stille, und weiter träumte er von Sibylle und sich und ihrer Liebe ....

Sie haben denselben Geschmack und dieselben Ansichten, Vorlieben und Interessen, und ihre Körper – ihre »Chemie«, sagt Sibylle – sind füreinander geschaffen, und wenn sie sich müdegeliebt haben, dann schlafen sie, einander umarmend und aneinandergeschmiegt, ein einziges Wesen, so scheint es, ein

einziger Mensch, vor allem Bösen beschützt von den sechsunddreißig Gerechten, die der große Martin Buber erwähnt in seiner Erzählung der chassidischen Legende: Auf unserer Welt gibt es, seit sie besteht, Gerechte und Ungerechte, manchmal mehr Gerechte, manchmal weniger. Immer aber und zu allen Zeiten gibt es mindestens sechsunddreißig von ihnen. Die muß es geben, denn sonst könnte diese Welt keinen Tag lang weiterexistieren, sonst würde sie untergehen in der eigenen Schuld ...

Und all das erlebte Daniel in seinem Traum, den er seit zwölf Jahren träumte, immer und immer wieder. Die Bilder und Worte wechselten, wie das in Träumen so ist.

Da ist die Dame, der das kleine Bellario-Kino gehört, das regelmäßig die alten, ganz alten Filme spielt, und sie fragen die Dame, ob sie weiß, wer »Wenn ich mir was wünschen dürfte« in welchem Film gesungen hat, denn dieses Lied ist seit jener

Nacht, da es zum erstenmal geschah, ihr Lied geworden, und die alte Dame erinnert sich daran, daß es in dem Film »Der Mann, der seinen Mörder sucht« gesungen worden ist, und daß da Heinz Rühmann mitspielte und Robert Siodmak Regie geführt und Friedrich Hollaender die Musik und den Text geschrieben hat, aber sie kann keine Kopie dieses Films von 1931, einem der ersten Tonfilme, mehr auftreiben, und so erfahren Sibylle und Daniel nie, wer ihr Lied singt auf der Schellackplatte mit dem zerkratzten Etikett.

Sie achten darauf, daß ihr Urlaub zusammenfällt, und sie fahren mit Daniels Opel Admiral, der dem Sender gehört, in die Normandie zu den Vogelstränden und dem tobenden Meer; sie fahren in die Camargue zu den wilden weißen Pferden; an die Riviera nach Vallauris, Antibes, Saint-Paulde-Vence; sie sehen die Originale der Bilder jener Maler, die dort gelebt haben – Bilder von Bonnard, Picasso, Calder, Kandinsky, Miro, Ubac und natürlich Chagall.

Sie fahren nach Jugoslawien. Sie fahren nach Rom und werfen Münzen in den Brunnen Fontana di Trevi, denn wer das tut, heißt es, wird wiederkommen. Oh, und wie sie miteinander lachen können! Wie herrlich ist das Lachen mit einem Menschen, der genau so fühlte wie man selbst.

1971, im Oktober, ein Jahr nachdem ihre Liebe begonnen hat, machen sich bei Daniel Nebenerscheinungen des Oxazepams bemerkbar, auf das Sibylle ihn von Valium umgestellt hat. Und das alles sah er, hörte er, erlebte er in seinem Traum- gleich jenem Schiffsjungen, der singt: »Ich seh’ Jerusalem und Madagaskar und Nord- und Südamerikiiieee!« Ja, das alles erlebte er noch einmal. Wie plötzlich seine Stimme heiser wurde und er zuletzt nur noch flüstern konnte, wie er an einem immer größeren, immer unwiderstehlicheren Schlafbedürfnis litt, und wie er eines Abends, als er mit Sibylle in einem Hotel verabredet war, die dunkel spiegelnde Glastür einer Telefonzelle mit der dunkel spiegelnden Glastür des Hoteleingangs verwechselte und voll Wucht gegen das Zellenglas prallte, weil seine Augen versagten ...

... Da nimmt Sibylle ihn liebevoll an der Hand und führt ihn zum Wagen, setzt sich hinter das Steuer und fährt sofort, noch an diesem Abend, in die Klinik, auf Station B 22 der Psychiatrie, wo er schon einmal gelegen hat, als sie ihm das Valium entzog. Er gibt sofort zu, daß er das Oxazepam in Überdosen genommen hat.

»Es ist ein so großartiges Mittel«, krächzt er. »Es hat mich zuerst immer munter gemacht, wenn ich müde war, und ich wollte doch nie müde sein bei dir. Ich habe es genommen, mehr und mehr, damit ich noch länger wach und glücklich sein kann. Glaubst du mir nicht?«

»Natürlich glaube ich dir, Danny.«

»Und du bist mir nicht böse?«

»Wie könnte ich das?«

»Aber du verachtest mich ...«

»Was ist das für ein Unsinn!«

»Weil ich so schwach bin ... so labil ... weil ich jeder Versuchung nachgebe ... weil ich überhaupt kein Halt bin für dich, wenn ich mich selber nicht halten kann ...«

»Du bist mein ganzer Halt, süßer Idiot«, sagt Sibylle und küßt ihn auf den Mund. Da liegt er schon im Bett und hängt am Tropf, und die Entgiftung hat begonnen.

Wie über zwölf Jahre später Mercedes, so sitzt in dieser Nacht im Oktober 1971 Sibylle neben Daniels Bett, bis er eingeschlafen ist – ein magerer Mann mit einem schmalen, grauen Jungengesicht und wirrem, blondem Haar, das schon anfängt, weiß zu werden. Sobald Sibylle ihn tief und regelmäßig atmen hört, verläßt sie den Raum. Aber sie bleibt in ihrem Dienstzimmer und kommt immer wieder zurück, um die Flaschen zu wechseln. Es war immer die Mutter, denkt sie. Es wird wohl immer die Mutter bleiben. Ich habe gedacht, ich würde die Stärkere sein. Ich habe mich geirrt. Lieber, guter, armer, armer Danny ...

Das Telefon läutete in Herdegens Zimmer.

Er lag auf einem Feldbett und rauchte. Nun hob er den Hörer ab und meldete sich.

»Der Pförtner, Herr Doktor. Ist gerade ein Wagen gekommen. Ein Herr will Sie sprechen. Er ist mit Ihnen verabredet, sagt er.«

»Geben Sie ihn mir.«

»Einen Moment, Herr Doktor.«

Eine andere Männerstimme ertönte: »Doktor Herdegen?« »Ja.«

»Wayne Hyde.«

»Das klappt ja wunderbar. Taxi?«

»Ein Freund hat mich hergefahren.«

»Warten Sie drei Minuten. Ich komme und hole Sie ab beim Tor.« Herdegen legte den Hörer auf, zog über den weißen Kittel einen dicken Mantel und eilte hinaus auf den Gang im ersten Stock. Mit dem Lift fuhr er in die Garage hinunter. Hier standen zahlreiche Autos. Herdegen setzte sich hinter das Steuer eines Landrovers. Der Wagen holperte über einen tiefverschneiten Weg des Parks. Im Licht der Scheinwerfer sah Herdegen, daß viele Aste unter der Last des Schnees abgebrochen waren. Er kam zum Tor. Hier wartete ein großer, hagerer Mann, der einen pelzgefütterten Dufflecoat trug. Der Mann hatte blondes, kurzgeschnittenes Haar, sehr helle Augen und das Gesicht eines Menschen, der sich viel im Freien aufhält. Er trug zwei große Kleidersäcke über der Schulter. Vor ihm stand eine Segeltuchtasche, neben ihm der kleine, dicke Pförtner, der gerade Dienst hatte.

Herdegen stoppte und stieg aus. Er begrüßte Hyde. Sie schüttelten einander die Hände. Dann verstauten sie das Gepäck in dem Rover. Hyde kletterte auf den Sitz neben Herdegen. Der wendete und fuhr zu dem großen modernen Klinikgebäude

zurück.

»Wo sind die beiden?«

»In ihrem Zimmer. Er schläft längst. War sehr erschöpft. Sie nicht. Sie ist zäh.«

»Ich weiß. War Landesjugendmeisterin im Achthundert-Meter-Kraulen und Tausend-Meter-Brustschwimmen. Große Reiterin. Preise für Tennis und Golf. Ich habe ihr Dossier gelesen.«

»Mich hat Mister Morley informiert über die beiden.« »Ziemliches Wrack, dieser Ross.«

»Ja, im Moment. Der ist aber bald wieder auf den Beinen. Wie sind Sie herausgekommen? Keinesfalls zu unterschätzen. Sie ist die Gefährlichere von beiden. Fanatikerin. Seit vielen Jahren in der internationalen Friedensbewegung.«

Hyde sagte: »Was wollen Sie, Doktor? Diese Friedensbewegungen hat es vor jedem Weltkrieg gegeben.«

Herdegen lachte herzlich.

Daniel träumt ...

Diesmal dauern Entziehungskur und Umstellung auf ein neues Mittel vier Wochen. Das neue Mittel heißt Nobilam.

Sibylle sagt: »Im Grund falsch und unverantwortlich, was ich tue. Ich dürfte dir gar kein Mittel geben.«

»Liebste, bitte, ich kann nicht ...«

»Ich weiß. Ich kenne dich, Danny. Du bist so abhängig geworden von den verfluchten Tranquilizern, daß man dir irgend etwas geben muß. Schlimm. Sehr schlimm. Wir werden es mit einem ganz langsamen Abbau und immer schwächeren Mitteln versuchen bei dir. Nobilam ist freilich ein relativ wirksames Mittel. Gerade deshalb ist die Gefahr groß, daß du es wieder mißbrauchst. Ewig kann das nicht so weitergehen. Ewig hält das kein Körper aus. Versprich mir, daß du wirklich nur die Menge nehmen wirst, die ich dir erlaubt habe!«

»Ich schwöre es. Bei unserer Liebe«, sagt er. Ach, dachte er in seinem Traum, bei unserer Liebe habe ich

geschworen ...

Ein paar Abende später erzählt er Sibylle in ihrem winzigen Appartement: »Werner Farmer ist in Wien. Ein alter Freund. Kunsthistoriker. Der netteste Kerl von der Welt, nein, also wirklich! Du mußt ihn kennen lernen! Darf ich ihn morgen Abend mitbringen?«

Sie wäre lieber mit ihm allein – wie immer –, aber natürlich sagt sie: »Klar, Danny.«

»Und ... Liebling ... würdest du für uns kochen? Du kochst doch so phantastisch! Ich habe vor Werner bereits angegeben damit.« Sie lacht. »Dann weiß ich schon, was es sein soll: Tafelspitz mit Spinat, Bratkartoffeln, Essigkren- und Schnittlauchsauce.«

Da lacht auch er und ist ganz selig und liebt sie so sehr, so sehr, und er umarmt und küßt sie.

»Tafelspitz. Natürlich! In Deutschland können sie doch keinen so guten machen. Ach, Sibylle, du bist fabelhaft, wirklich, ganz, ganz fabelhaft ...«

Es klopfte.

Ehe Sibylle »herein« sagen konnte, wurde die Tür ihres Arbeitszimmers geöffnet, und der große, leichenblasse Herdegen trat ein. Ihm folgte ein ebenso großer, hagerer Mann, der Flanellhosen, ein Tweed-Jackett und einen Rollkragenpullover trug.

Sibylle, die mit dem Rücken zur Tür im Dunkeln gesessen und in das nächtliche Schneetreiben hinausgestarrt hatte, fuhr auf ihrem Stuhl herum. Herdegen hatte gleich beim Eintreten die Deckenbeleuchtung eingeschaltet.

»Was soll das, Herr Herdegen?« Sibylle war erschrocken und erregt. »Sie klopfen und kommen sofort herein? Ich hätte schlafen können!«

»Sie haben mit Kollege Habeck den Nachtdienst getauscht, weil Sie sich selbst um Herrn Ross kümmern wollen.«

»Na und? Es war dunkel im Zimmer. Wenn ich mich ein wenig hingelegt hätte ...«

»Sie haben sich nicht hingelegt. Ich bedauere die Störung, Frau Primaria. Die Angelegenheit ist sehr dringend. Darf ich bekannt machen: Peter Corley. Mister Corley, das ist Frau Primaria Mannholz.«

»Hallo«, sagte Wayne Hyde und lächelte. Er hatte sehr große, gelbliche Zähne. »Fast Mitternacht. Tut mir wirklich leid, Frau Primaria. Wir stören nur ganz kurz.«

»Was wünschen Sie?«

»Daß Sie den Tresor öffnen.«

Sibylle war aufgestanden. Ihre Unterlippe zitterte, ihr Gesicht wurde plötzlich weiß.

»Den Tresor – wozu?«

»Sie wissen, wozu«, sagte Herdegen. »Ich habe keine Ahnung.«

»Frau Primaria, bitte!«

Wayne Hyde lächelte noch immer. »Sie haben heute abend einen neuen Patienten aufgenommen, Herrn Daniel Ross. Seine Begleiterin, Mercedes Olivera, hat zwei Videokassetten in dem Tresor deponiert. Ich brauche sie dringend. Also bitte, Frau Primaria!«

»Nein«, sagte Sibylle. Ihre Hände zitterten. Sie ballte sie zu Fäusten.

»Frau Primaria, ich habe Ihr Dossier gelesen. Natürlich werden Sie den Tresor öffnen«, sagte Wayne Hyde. Sein Lächeln war jetzt geradezu zärtlich.

»Das werde ich nicht tun.«

»Aber was ist denn los, Frau Primaria? In Ihrem Dossier steht, daß es eine Freude wäre, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Besonders lobend wird Ihre Kooperation erwähnt. Und ausgerechnet diesen kleinen Gefallen wollen Sie mir nicht erweisen?«

»Herr Ross ist ein sehr alter Freund. Er und Frau Olivera haben mir vertrauensvoll die Kassetten übergeben.«

»Gewiß, gewiß. Und Sie werden sie jetzt mir übergeben, Frau Primaria.«

»Nein, das werde ich nicht tun, Mister Corley.« »Ach ja, das werden Sie schon tun, Frau Primaria. muß ich

Sie wirklich an Ihren Bruder erinnern? Es ist mir peinlich.« »Hören Sie auf!« Plötzlich schrie Sibylle. »Soll das denn

immer so weitergehen? Soll ich immer weiter jede Gemeinheit mitmachen müssen?«

»Nicht solche Worte, Frau Primaria! Gemeinheit – tck, tck, tck. Aber weitergehen? Nun, natürlich soll das so weitergehen. Sie sind ja seit Jahren vollkommen einverstanden mit unserem Abkommen. Ich verstehe gar nicht, was Sie haben, wirklich nicht. Könnte es sein, daß Sie das Wiedersehen mit Ihrem alten Freund so aus der Fassung gebracht hat? Das täte mir leid. Aber nun machen Sie bitte kein weiteres Theater! Die Zeit drängt!« Wayne hatte das große gerahmte Farbfoto vom Schreibtisch genommen und betrachtete es. »Sieht gut aus, der Junge, wirklich ...«

»Stellen Sie sofort das Bild zurück!« schrie Sibylle. »Aber bitte sehr, Frau Primaria!« Hyde tat, wozu er lautstark

aufgefordert wurde. Plötzlich lächelte er nicht mehr. »So«, sagte er. »Schluß jetzt! Aufmachen, aber ein bißchen plötzlich!« Sibylle bewegte sich nicht.

»Frau Primaria, zum letztenmal, öffnen Sie!« Sibylle schüttelte den Kopf. Sie wollte etwas sagen. Ihre

Stimme versagte.

»Na schön.« Herdegen trat vor und nahm den Telefonhörer vom Apparat. Er wählte. Dann sprach er sofort: »Guten Abend. Hier ist Herdegen. Geben Sie mir Herrn Abad! Es ist dringend ... Ja, danke. Ich warte ...« Er sah Sibylle an. Die erwiderte

seinen Blick, am ganzen Körper bebend.

»Herr Abad? ... Ja, Herdegen. Ich muß Ihnen leider sagen, daß die Frau Primaria sich weigert ...«

Mit einem gräßlichen Ausdruck von Selbstaufgabe im Gesicht war Sibylle vor die Tresortür getreten und begann, den Konus im Zahlenkreis zu drehen.

»Moment«, sagte Herdegen in den Hörer. »Einen Moment, Herr Abad, bitte ...«

Sibylle hatte die Kombination eingestellt. Sie zog an dem großen, versilberten Rad. Die Panzertür öffnete sich, im Inneren des Tresors flammte Licht auf.

»Ich muß mich entschuldigen, Herr Abad. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Die Frau Primaria verhält sich so vernünftig wie immer ... Es tut mir leid, wenn ich gestört habe, aber... Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Abad ... Ja ... Ja ... Ja, ich werde es ausrichten. Gute Nacht!« Er legte auf und sagte zu Sibylle, die mit dem Rücken gegen das Fenster gesunken war: »Herzlichste Empfehlungen von Herrn Abad. Er dankt Ihnen.« Damit trat Herdegen in den Tresorraum und nahm den gelben Umschlag mit den beiden Videokassetten vom Regal. Er kam zurück und sagte: »Wirklich, Frau Primaria, Sie wissen doch, daß solche Szenen zu nichts führen! Sie regen sich nur völlig sinnlos auf. Das hätten wir gleich haben können. Kommen Sie, Mister Corley! Wir gehen zu mir hinauf.«

»Ich bitte noch einmal, die Störung zu entschuldigen«, sagte Wayne Hyde. Dann folgte er schnell dem bleichen Arzt. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Reglos lehnte Sibylle an der Fensterscheibe.

Nun lächelte Daniel plötzlich nicht mehr, bemerkte Mercedes, die an seinem Bett saß. Er träumte nicht mehr von Sibylle. Alles hatte sich plötzlich gedreht und gewandelt, und er sah ganz andere Bilder, erlebte ganz anderes Leben, wie das so ist in Träumen.

Leben mit Mutter. Damals, gleich nach dem Krieg. Trümmer, Ruinen, Kälte, Not. Das scheußliche Zimmer in der Wohnung der bösen, fremden Leute, bei denen man sie »eingewiesen« hat. Als Serviererin arbeitet Thea Ross in dem nahen amerikanischen Club im Clam-Gallas-Palais an der Währinger Straße, beim Chemischen Institut. Und da sind die Doughnuts.

Die Doughnuts!

An das Kleinste und Entfernteste erinnern wir uns im Traum. Wie oft hat Daniel schon von diesen Doughnuts geträumt! In Schmalz gebackene Teigkringel sind das. Immer erst gegen elf Uhr nachts kommt Mutter heim. Immer ist Daniel noch wach.

Und wartet auf Mutter voller Glückseligkeit, als wäre es Weihnachten, jede Nacht Weihnachten. Und so ist es auch. Denn Mutter bringt stets drei Doughnuts und eine Thermosflasche voll heißer Schokolade mit aus dem Club. Und dann beginnt jede Nacht Weihnachten für Daniel, den kleinen Jungen mit dem schmalen Gesicht, den großen Augen und dem mageren Körper. Doughnuts für ihn! Heiße Schokolade für ihn! Manchmal ein Stück Weißbrot mit Erdnußbutter darauf.

Herrje, ist er da selig in seinem harten Bett! Und Mutter erst, wenn sie über sein Haar streicht, todmüde, froh, die Schuhe von den geschwollenen Füßen streifen zu können. Dann muß sie immer lächeln. Und dieses Lächeln haben die Madonnen in den Kirchen, in die Daniel so oft geführt wird, weil Mutter so oft darum betet, daß sie eine andere Arbeit bekommt, eine, die leichter ist, und eine kleine eigene Wohnung. Bitte, lieber Gott, Vater ist tot, wir sind allein, wir haben nur einer den anderen! Daniel, ach, wie lieb ich dich habe. Ich dich auch, Mutter. Ich dich auch. So muß es im Himmel sein. Mutter und Doughnuts. Vielleicht noch Erdnußbutter. Und heiße Schokolade.

Die Zeit verrinnt schnell, kurz ist unser Leben. Schon geht Daniel ins Gymnasium. Und ist der Beste und lernt am eifrigsten, um Mutter Freude zu machen, Mutter, die stets traurig ist und traurig gewesen ist, seit er sich erinnern kann – auch als Vater noch lebte und aus dem Krieg auf Urlaub kam. Jetzt ist kein Krieg mehr. Langsam verschwinden die Trümmer. Dann haben sie die eigene Wohnung, in der Schopenhauerstraße, Parterre, Altbau. Egal, eine eigene Wohnung haben sie! Und Mutter hat andere Arbeit: in einem neuen Verlag. Lektorin für französische, englische und italienische Bücher ist sie da. Denn Mutter kann Sprachen, sie ist gebildet, und nun werden doch all die vielen, vielen Bücher gedruckt, die unter den Nazis verboten waren. Da geht Daniel nach der Schule einkaufen, und er macht auch die Wohnung sauber und spült das Geschirr ab, und erst dann erledigt er seine Hausaufgaben – wie der Anton in »Pünktchen und Anton« von Erich Kästner, der seine Mutter auch über alles geliebt hat.

Und wie Erich Kästner beginnt Daniel sehr früh zu schreiben. Die erste Kurzgeschichte wird zu seinem fünfzehnten Geburtstag gedruckt. Im NEUEN ÖSTERREICH. Sie transit ... Wie lange gibt es diese Zeitung schon nicht mehr! Hundertfünfzig Schilling Honorar bekommt Daniel. Ist Mutter da selig. Nicht über das Geld. Nein, über Daniel. So stolz ist sie auf den geliebten Sohn.

Und der schreibt immer weiter. Die Stories werden nun schon in Deutschland nachgedruckt. Viele sind es, viele. O wunderbare Zeit! Die neuen Bücher! Die neuen Filme! Die neuen Stücke! Daniel geht mit Mutter ins Kino, ins Theater. Andere Jungen in seinem Alter gehen mit ihrer Freundin. Freundin? Daniel will keine. Nur Mutter will er, die immer so gut zu ihm gewesen ist. Dann ist da natürlich doch eine Freundin. Erika heißt sie. Was tut Daniel, der zum erstenmal in ein Mädchen verliebt ist? Noch bevor er sie zum erstenmal geküßt hat, stellt er sie Mutter vor. Sie gefällt Mutter. Zum Glück. Wenn sie Mutter nicht gefallen hätte, wäre gleich wieder Schluß gewesen mit Erika.

Aber Mutter ist ja so klug, denkt er, und empfindet plötzlich Haß in seinem Traum. Sie weiß, daß die Zeit kommen wird, wo er seine Liebe teilen muß. Natürlich haßt sie Erika. Nicht als Erika. Als Konkurrenz. Ach, denkt er sofort darauf beschämt in seinem Traum, aber nach allem, was sie mitgemacht hat: Vater, der Krieg, die schwere Arbeit als Serviererin, wir beide allein. Sie ist doch ein armes Opfer. Opfer der Liebe, wir beide ...

Es dauert nicht lang mit Erika. Mutter hat so viel zu tun. Abends muß sie daheim noch Gutachten tippen. Ihre Augen werden immer schlechter. Da setzt sich Daniel dann hin, nachdem er das Rendezvous mit Erika abgesagt hat, und tippt nach Mutters Diktat, und sie streicht ihm wieder über das Haar. Mein guter Junge.

Natürlich läßt Erika sich das nicht gefallen. Sie sagt Daniel, daß sie einen anderen Freund gefunden hat und daß Schluß sei mit ihm. Ist Daniel da verzweifelt. Und Mutter auch. Um ihn zu trösten, fährt sie – man kann schon wieder reisen – mit ihm nach Elba. Jeden Nachmittag sitzen sie am Hafen von Portoferraio in ihrer Lieblingsbar – alle kleinen Café heißen in Italien Bar –,

und sie sind glücklich, so glücklich, Mutter und Daniel. Und die Schiffe gehen und kommen ...

Und andere Mädchen kommen. Mutter findet sie alle bezaubernd. Aber die Mädchen gehen auch alle wieder. Keine bleibt. Sehr oft ist Daniel froh darüber. Denn er vergleicht sie alle mit Mutter. Und da ist die eine zu eitel und die andere zu verspielt, und die dritte weiß nicht, wie das berühmte Buch heißt, das Marcel Proust geschrieben hat.

Daniels Geschichten haben ihn bekannt gemacht. Der Chefredakteur der amerikanischen Militärsendergruppe Rot-Weiß-Rot holt ihn. So kommt er zum Rundfunk. Hat seine eigene Sendung, bald schon. Schreibt, spricht, produziert selber. Wird als Korrespondent nach Hamburg geschickt. Mutter allein in Wien? Nein, jetzt verdient er genug. Sie muß mitkommen nach Hamburg. Bei ihm sein. Er wird Korrespondent in London. Natürlich zieht Mutter wieder mit. Ihre Augen sind nun schon sehr schlecht. Eine Operation beim besten Arzt hilft. Daniel gibt Mutter immer viel Geld. Sie braucht es gar nicht. Wird es aufheben für ihn, sagt sie, für ihren geliebten Daniel, wenn es dem einmal schlechtgeht.

In London trifft er Alice ... bezaubernd, älter als er, dreizehn Jahre älter. Was tut das? Sie heiraten. Mutter wird bei ihnen wohnen, das hat Daniel Alice gleich klargemacht. Er mietet eine schöne Wohnung in Mayfair. Da ist er schon Korrespondent beim Fernsehen. Beim Sender Frankfurt. Was für eine Karriere! Daniel Ross berichtet aus London ...

Nach einem halben Jahr stellt Alice ihn vor die Entscheidung: Entweder Mutter geht, oder sie geht. Große Szenen. Mutter bietet sofort an, wieder nach Wien zu ziehen. Das kommt nicht in Frage! Also geht Alice. Ein halbes Jahr später ist Daniel geschieden. Und so glücklich mit Mutter, so glücklich.

Er wird nach Rom versetzt. Nun ist er doch ein wenig vorsichtiger. Das alles, diese Herumreiserei, wird zu anstrengend für Mutter. Er kauft eine Wohnung in Wien, in Hietzing. Da soll Mutter leben und ihn oft in Rom besuchen. Mit dem Flugzeug ist das ein Katzensprung. Natürlich, sagt Mutter, du brauchst deine Freiheit. Ach, ist sie klug, ach, ist sie verständnisvoll.

In Rom trifft er Anna. Liebt. Wird geliebt. Mutter kommt zu Besuch und ist so nett zu Anna, so freundlich. Doch vor Weihnachten wird sie krank, und sie bittet Anna und Daniel, zu ihr nach Wien zu fliegen. Anna hat einen kleinen Sohn. Der muß natürlich in Rom Weihnachten feiern. Diesmal wird alles anders. Daniel steht auf Annas Seite. Zum erstenmal ist er am Heiligen Abend nicht bei Mutter. Er ruft sie an. Sie ist so verständnisvoll am Telefon. Aber gewiß doch, er kann unmöglich kommen. Sie macht ihm keine Vorwürfe. Aber er macht sich Vorwürfe. Und er macht Anna Vorwürfe.

Dieses Weihnachtsfest bringt das Ende seiner zweiten Liebe zu einer erwachsenen Frau. Mit dem kleinen Robertino, ihrem Sohn, verläßt Anna Daniel am ersten Feiertag. Er will sich besaufen, sinnlos besaufen. Aber er verträgt keinen Alkohol. Er erbricht alles. Totenübel ist ihm. Übernervös ist er, fahrig, zittrig.

Da – ein Mord!

Er muß mit seinem Team arbeiten. Er kann nicht ... Er kann nicht ... Ein Kameramann gibt ihm ein paar kleine Tabletten. »Nimm das! Es ist prima.«

»Was ist das?«

»Valium.« Valium!

O herrliches, gebenedeites Valium!

Vorbei das Zittern, vorbei der Schwindel. Daniel ist wieder ganz sicher. Er kann wieder arbeiten. Und wie er arbeitet in den nächsten Jahren! So gut wie noch nie. Immer unter Valium natürlich.

Er bekommt die Leitung des Wiener Südosteuropa-Studios übertragen. Nun ist er wieder bei Mutter, in derselben Stadt, in derselben Wohnung. Ein großer Kreis hat sich geschlossen. Jetzt braucht er keine Schuldgefühle mehr zu haben. Kein Valium mehr zu nehmen. Aber er muß es nehmen. Er braucht es. Er kann nicht leben ohne Valium.

»Mein Junge«, sagt Mutter, »mein guter, großer Junge!« Was für eine schöne Wohnung sie jetzt haben in der Grinzinger Allee! Da wird Mutter krank. Muß ins Hospital. Und er muß immer wieder fort – nach Prag, Budapest, Bukarest, Belgrad. Mehr Valium. Die Mutter wird immer kränker. Das große Erdbeben bei Neapel. Er muß hin. Verdreckt kommt er von den Dreharbeiten ins Hotel zurück. Ein Telegramm. Mutter ist tot. Und er war nicht bei ihr, als sie starb. Nicht bei ihr ...

Valium natürlich. Sehr viel Valium ...

Römische Göttin des Herdfeuers mit fünf Buchstaben. Nicht rauszukriegen. Buja, der Mann von der Friedhofschicht

im elektronischen Geräteraum hinter dem Dienstzimmer des Dr. Herdegen, mühte sich schon drei Minuten. Klein, untersetzt, mit spärlichem Haarkranz, saß er da und hatte ein Rätselheft vor sich liegen. Aus mehreren Lautsprechern drang das Rauschen offener Verbindungen. Versuchen wir es mal waagrecht, vielleicht kriegen wir da wenigstens einen Buchstaben. Also waagrecht: antiker Dreiruderer. Zum Kotzen!

Die Tür wurde geöffnet, Herdegen und ein Mann, den die Friedhofschicht nicht kannte, traten eilig ein.

»Abend, Buja!«

»Abend, Herr Doktor!«

»Nichts los, was?«

»Nein, nichts.«

»Geh mal raus, Buja!«

»Bitte?«

»Du sollst rausgehen. Wir müssen uns was anschauen. Setz dich in mein Zimmer!«

»Bitte sehr.« Der Mann, der Buja genannt wurde, stand auf, streckte sich, gähnte, streifte die Hosenträger hoch, griff nach der Jacke. Herdegen war mit dem Fremden bereits mitten im Raum. Er wandte sich einem Fernsehapparat und einem Videorecorder zu. Buja sah, daß er zwei Kassetten in der Hand hielt. »Wieso bist du überhaupt schon da?«

»Bin wegen dem Schnee früher von Wien weggefahren.« »Also raus! Und du läßt niemanden rein, klar?« »Klar.« Buja ärgerte sich über diesen kaltschnäuzigen Ton.

Wir sind hier nicht beim Bundesheer! Er nahm das Rätselheft mit. Scheißgöttin des Herdfeuers! Im Zimmer des Doktors steht ein vierundzwanzigbändiger Brockhaus. Da wollen wir mal...

Die Tür fiel zu hinter Buja.

Herdegen hatte den Apparat eingeschaltet, schob die erste Kassette in den spielbereiten Videorecorder und stellte mit der Fernsteuerung den Apparat auf einen anderen Kanal um. Wayne Hyde hatte sich gesetzt. Der Bildschirm flimmerte jetzt. Herdegen bediente den Startknopf des Recorders und setzte sich neben Hyde.

Ein paar Sekunden flackerte es auf der Scheibe noch, dann erschienen die Ziffern 3, 2, 1 und danach ein großes X. Plötzlich war da farbiger Film. Beide Männer lasen: WALT DISNEY PRESENTS THE BEST OF MICKEY MOUSE.

Übermütige Jazzmusik setzte ein. In der nächsten halben Stunde sahen Herdegen und Hyde sechs Mickymausfilme, sehr gute.

Herdegen stand auf, stoppte den Recorder, wechselte die erste gegen die zweite Kassette und ließ diese laufen.

3, 2, 1, ein großes X und folgende Schrift: WALT DISNEY PRESENTS: THE BEST OF DONALD DUCK. Wieder fröhlicher Jazz. Wieder sechs Zeichentrickfilme, diesmal über den weltberühmten Enterich, zuletzt einer, in dem Donald Duck Geburtstag feiert, denn diese Figur wurde gerade fünfzig Jahre alt. Herdegen schaltete die Apparate ab und steckte die Kassetten in ihre Schutzhüllen.

»Ich rufe London an«, sagte er.

»Gleich«, sagte Hyde. »Zuerst müssen die Kassetten zurück in den Tresor. Vielleicht will die Olivera sie plötzlich sehen. Frau Primaria hält doch den Mund, wie? Die tut doch, was Sie sagen?«

»Das haben Sie ja gesehen«, sagte Herdegen. »Weil nämlich ...«

»Ich weiß, warum«, sagte Wayne Hyde und ging schon voraus. Im Nebenzimmer saß der fast haarlose, dicke Buja von der Friedhofschicht.

Er blickte auf, als die beiden Männer erschienen. »Danke«, sagte Herdegen. »Kannst zurückgehen. Wir sind

gleich wieder da.« Er verließ hinter Wayne Hyde das Sprechzimmer. Buja zuckte mit den Achseln und stand auf. Was gab es? Dunkelrot im Gesicht war der Doktor. Sonst sah er doch immer aus wie ausgekotzt. »Vesta« hieß die römische Göttin des Herdfeuers mit fünf Buchstaben.

Und Daniel träumt, was er immer wieder träumt ... Werner Farmer, sein alter Freund, der sich gerade in Wien

aufhält, ist zu Besuch in das Zwergenappartement gekommen. Daniel wünscht, daß Sibylle ihn kennenlernt. Und stolz will er Werner Farmer zeigen, was für eine wunderbare Frau Sibylle ist. Da stehen sie in der winzigen Diele und können sich kaum bewegen. Sibylle muß in die Küche treten, und Werner bekommt das Papier nicht von dem Blumenstrauß, den er mitgebracht hat, und er und Sibylle sind recht still, Daniel aber lärmt glücklich und verliebt.

»Ist sie nicht großartig? Habe ich übertrieben?« »Danny, bitte«, sagt Sibylle.

»Ganz großartig ist die Dame«, sagt Werner und lächelt ein scheues, verlegenes Lächeln. Er verneigt sich. Größer als Daniel ist Werner Farmer, kräftiger, er hat ein breites Gesicht, eine hohe Stirn und schwarzes Haar. Er trägt eine Hornbrille, die Augen sind grün, und seine Haut großporig. Hatte eine schlimme Akne als junge, Daniel erinnert sich noch gut daran.

In dem Zwergenwohnzimmer hat Sibylle den Tisch festlich gedeckt, und in der Küche macht sie Drinks, trockene Martinis für

Werner Farmer und sich, Daniel, der Alkohol nicht verträgt, bekommt Schweppes-Tonic. Er redet am meisten, er möchte so gerne, daß Sibylle und Werner einander sofort sympathisch sind. Es ist eine Unterhaltung mit Pausen, denn Sibylle muß immer wieder in die Küche und nach dem Essen sehen, das auf dem Herd steht.

»Werner macht die tollsten Kunstbücher der Welt, Sibylle! Du kannst dir nicht vorstellen, wie phantastisch die sind! Herrliche Farbbände!«

»Natürlich maßlos übertrieben«, sagt Werner. Er ist wieder verlegen. Sibylle auch. Sie sehen einander kaum an.

Daniel bemerkt das nicht. Er schwärmt: »Aber ja doch, Sibylle!« Werner erklärt: »Das ist ein Riesenprojekt, an dem viele Menschen arbeiten. Und zwei Verlage: ein englischer und ein deutscher. Wäre zu teuer für einen Verlag allein. Hunderte von farbigen Abbildungen in jedem Band. Mit Zeichnungen und Karten. Ich bin nur für die kunstgeschichtlichen Texte verantwortlich – mit einigen englischen Kollegen. Das wird wirklich eine große Reihe. Einige Titel sind schon erschienen, zuletzt ›Die Renaissance‹.«

»Oh,›Die Renaissance‹!« Den Band kennt Sibylle. Vater hat ihn in Salzburg. »Sie sind es, der etwas so Wunderbares gemacht hat!«

»Ich sagte dir doch, Sibylle, er ist ein Genie, ein wirkliches Genie!«

»Bitte, Danny.« Farmer rückt an seiner Brille. »Ich freue mich natürlich, daß Ihnen der Band gefällt, Sibylle.«

»Woran arbeiten Sie jetzt, Herr Farmer?«

»An dem Band über die Zeit des Barocks.«

»Und Werner wird ein ganzes Jahr in Wien zu tun haben«, ruft Daniel. »Im Kunsthistorischen Museum, in der Albertina, in der Staatsbibliothek.«

»Immer ein paar Wochen«, erklärt Farmer. »Dann muß ich wieder zurück nach München. Da sitzt der deutsche Verlag.« Er wird noch verlegener. »Danny hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Wie Sie ihm geholfen haben. Sie sind eine großartige Ärztin.«

»Ach, du lieber Gott!« Auch Sibylle wird verlegener. »Erklären wir einander noch schnell für nobelpreiswürdig, und dann gibt’s was zu essen.«

»Zu essen!« Daniel schlägt seinem Freund auf die Schulter. »Der Tafelspitz, der jetzt kommt, der ist nobelpreiswürdig! So etwas hast du noch nie gegessen. So etwas kriegst du nur bei der Frau Dozentin. Beruflich – na schön, sie versteht etwas von Medizin, zugegeben. Aber als Köchin – Mensch, da hat sie mir schon ein paarmal das Leben gerettet. Ich habe bereits mehrere Tafelspitz-Entziehungskuren hinter mir. Werde immer neue brauchen. Bin hoffnungslos süchtig nach dem Zeug.«

Sibylle küßt ihn auf die Wange. »Verrückter!« »Natürlich bin ich ein Verrückter! Muß man doch werden bei

so einem Tafel ... ich meine: bei so einer Frau. Was, Werner?« »Ja, ich denke, das läßt sich wohl nicht vermeiden«, sagt

Werner. Und dann essen sie, und Daniel stöhnt vor Wohlbehagen. »Ist das nicht das Paradies hier – mit ihr?«

Farmer rückt wieder an seiner Brille. »Ja«, sagt er, »es ist das Paradies, Danny.«

»Er darf wiederkommen, Sibylle, ja? Immer, wenn er in Wien arbeitet, sehen wir uns!«

»Gerne«, sagt Sybille. Sie sieht Farmer nicht an dabei. »Und wir bringen ihn noch zur Bahn.«

»Zur Bahn – wieso?«

»Er muß heute nacht nach München zurück. Ich habe ihn vom Hotel abgeholt. Sein Koffer liegt im Wagen. Wir haben noch Zeit. Der Orient-Expreß geht erst um null Uhr fünfzehn.«

»Ich fahre gerne Schlafwagen«, sagt Farmer. »Man spart Zeit. Und ich schlafe gut.«

»Das wirst du erst sehen, ob du heute gut schläfst, so, wie du dir den Wanst vollgeschlagen hast!« ruft Daniel, und Sibylle protestiert. »Na, ich doch auch, Liebste! Werner wird ganz vorsichtig auf dem Rücken liegen müssen, damit ihm der Bauch nicht wegrollt.« Und Daniel lacht laut. Er ist glücklich, daß sein Freund nun weiß, was für einen kostbaren Menschenschatz er besitzt.

Um 23 Uhr 30 brechen sie auf. Sie fahren zum Westbahnhof. Dort besteht Daniel darauf, Werners Koffer zu tragen.

»Nein, nein, er ist sehr schwer. Es sind viele Bücher drin.« »Bücher, lächerlich!« Daniel wuchtet den großen Koffer aus

dem Wagen. Im nächsten Moment nennt er sich im stillen einen verfluchten Idioten. Der Koffer reißt ihn fast um. Einen schwereren hat Daniel noch nie getragen. Und dazu vollgefressen, wie ich bin, denkt er, während er schon die große Treppe hinaufschwankt, die zu den Geleisen führt. O Gott, o Gott, o Gott, haben wir da vielleicht einen Koffer! Und der Orient-Expreß ist endlos lang, und Werners Schlafwagen befindet sich natürlich an der Spitze des Zuges.

Sie gehen nebeneinander. Der Weg scheint kein Ende nehmen zu wollen. Ich bin ein Held, denkt Daniel. Ein idiotischer Heldenheld bin ich. Fast am Ende seiner Kräfte, erreicht er den Schlafwagen und wuchtet den verfluchten Koffer auch noch die Eisentreppe zum Gang hinauf. Er keucht. Das Hemd klebt ihm am Leib. Seitenstechen hat er. Aber er grinst.

»Tschüs, mein Alter! Wann kommst du wieder?« »Nächsten Donnerstag – für einen ganzen Monat.« »Hast du das gehört, Sibylle? Einen ganzen Monat! Da sehen

wir uns aber oft, was?`«

»Na klar«, sagt Sibylle.

Werner Farmer verabschiedet und bedankt sich. »Schön, Sie kennengelernt zu haben, Herr Farmer«, sagt

Sibylle. Sie schaut ihn wieder einmal nicht an dabei. Er klettert in den Waggon. Gleich darauf erscheint er am

Fenster seines Abteils. Er kann das Fenster nicht öffnen. Er winkt. Sie winken auch. Daniel lacht. Sibylle nicht. Minutenlang stehen sie so da, dann fährt der Zug ab. Daniel winkt, bis der Orient-Expreß in einem Gewirr von Geleisen und roten und weißen Lichtern verschwunden ist.

»Der war vielleicht begeistert von dir!« sagt Daniel. Sie gehen den Bahnsteig entlang.

»Meinst du?«

»Meine ich? Der hat dich doch mit den Augen verschlungen! Hast du das nicht bemerkt?«

»Nein, das habe ich nicht bemerkt. Hat er das wirklich getan?«

»Aber ja doch! Der ist völlig von den Socken! Und du? Wie gefällt er dir?«

»Oh«, sagt sie. »Gut«, sagt sie. Daniel lacht. »Ein Jahr hat er in Wien zu tun! Eine feine Zeit werden wir

haben, was?«

»Ja«, sagt sie, »sicherlich.«

Er packt ihre Hand und rennt plötzlich mit ihr los. »Was hast du denn, Danny? Danny!«

»Komm, fahren wir zurück zu unserem Turm!« sagt er. »Ich bin so furchtbar verliebt. Laß uns spielen, Sibylle, ja? Laß uns spielen ...«

Die Tür des Zimmers öffnete sich leise.

Mercedes, die an Daniels Bett saß, schreckte auf. Sibylle trat ein. Sie legte einen Finger auf die Lippen. Sie kam zum Bett. Aus einer Tasche ihres Ärztekittels nahm sie ein Blatt Papier und reichte es Mercedes.

Sibylle brachte auch eine neue Flasche und wechselte sie geschickt gegen die fast leere, die im Tropf hing, aus. Daniel spürte nichts, er schlief ganz tief und lächelte glücklich.

Mercedes war aufgestanden. Im Badezimmer brannte eine Lampe. Durch die halboffene Tür fiel ihr Lichtschein, in dem Mercedes folgende Worte erkennen konnte:

SCHNELL LESEN UND VERNICHTEN! ICH BIN ERPRESSBAR. SIE SIND HIER IN EINEM SPIONAGEZENTRUM. HERDEGEN UND EIN FREMDER MANN ZWANGEN MICH, DEN TRESOR ZU ÖFFNEN. SIE HABEN IHRE KASSETTEN HERAUSGENOMMEN UND NACH VIERZIG MINUTEN KOMMENTARLOS ZURÜCKGEBRACHT. WAS NUN GESCHIEHT, IST IHRE ENTSCHEIDUNG.

Während Mercedes las, sagte Sibylle leise: »Warum gehen Sie nicht ins Bett, Frau Olivera? Sie müssen doch todmüde sein!«

Und leise kam Sibylles Stimme aus einem der vielen Lautsprecher in dem fensterlosen Raum hinter Herdegens Dienstzimmer. Der kleine, untersetzte Techniker mit dem spärlichen Haarkranz, namens Buja, der jetzt die Friedhofschicht hatte, drehte an einem Regler, um die Stimmen lauter zu bekommen. Ab und zu knackte es in der Verbindung.

Die Stimme von Mercedes ertönte: »Ich bin überhaupt nicht müde. Ich will bei ihm wachen.«

Sibylles Stimme: »Sie brauchen sich keine Sorgen um Daniel zu machen. Alles geht in Ordnung. Ich komme immer wieder. Und auch die Nachtschwester schaut herein.«

Hinter Buja, der auf einem der Sessel mit den verstellbaren Rücklehnen vor der langen Abhörwand saß, standen Herdegen und Wayne Hyde.

»Die Mannholz hat alles auf einen Zettel geschrieben, also da schwöre ich«, sagte Herdegen.

»Hoffentlich«, antwortete Hyde. »Das ist genau, was wir jetzt wollen. Genau das, was sich Mister Morley eben am Telefon gewünscht hat. Ross und die Olivera sollen wissen, daß wir hinter ihnen her sind. Nur so werden sie schneller handeln. Vorsichtig, aber handeln. Man muß sie provozieren ...«

Auf den Bogen Papier schrieb Mercedes mit Kugelschreiber in krakeliger Schrift: IM TRESOR LIEGEN TRICKFILMKASSETTEN. DIE ECHTEN SIND IN SICHERHEIT. DANKE FÜR IHRE HILFE! Dazu sagte sie leise: »Ich kann einfach nicht schlafen, Frau Doktor. Ich bin zu überdreht. Und ich habe trotz allem solche Angst um Daniel.«

»Völlig unnötig«, sagte Sibylle leise, knipste ein Feuerzeug an, setzte den Bogen in Brand und ging mit ihm ins Badezimmer, wo sie die verkohlten Reste in die Muschel fallen ließ. Sie bedeutete Mercedes durch Gesten, später die Spülung zu betätigen. Währenddessen fuhr sie fort: »Er hat eine unglaublich gute Konstitution. Nächste Woche läuft er schon wieder herum, das verspreche ich Ihnen.«

»Danke!« flüsterte Mercedes.

Die beiden Frauen standen nun einander gegenüber. Sie sahen sich lange ernst an. Dann flüsterte Sibylle: »Bis später!« und verließ abrupt den Raum. Sie ging den in blaues Licht getauchten Gang hinunter.

Plötzlich war ihr, als habe sie keine Kraft mehr, überhaupt keine. Sie taumelte und erreichte gerade noch eine Bank. Auf diese sank sie, die Augen geschlossen. Hier verharrte sie lange reglos. Einmal stöhnte Sibylle. Sehr leise.

In seinem Dienstzimmer saß Herdegen nun am Schreibtisch. Er telefonierte mit London. Der Anwalt Roger Morley hatte zurückgerufen. Herdegen schaltete den Zerhacker ein. Auf der Schreibtischplatte hockte Wayne Hyde, die zweite Hörmuschel am Ohr.

»Ich habe Ihre Informationen weitergeleitet, Doktor. Folgendes soll ich Ihnen und Mister Hyde mitteilen: Kein Grund, entmutigt zu sein. Wir haben es eben nicht mit Idioten zu tun. Indessen ist die Sache höchst eilig. Sie muß schleunigst in Bewegung kommen. In heftige Bewegung. Was ist? Wollten Sie etwas sagen, Doktor?«

»Sie wird in Bewegung kommen, Mister Morley. Die Mannholz war eben im Krankenzimmer. Die Olivera wacht am Bett von Ross. Mister Hyde und ich sind ganz sicher, daß die Mannholz Ross’ Freundin schriftlich darüber informiert hat, daß wir sie gezwungen haben, den Tresor zu öffnen und uns die Kassetten zu geben. Und daß wir sie kommentarlos zurückgebracht haben.«

»Ich hoffte, so etwas würde geschehen – Sie erinnern sich. Nun weiter: Der Zusammenbruch von Ross in der Maschine war nicht gespielt und nicht vorherzusehen. In Frankfurt hatten die beiden keine Zeit mehr, die echten Kassetten in Sicherheit zu bringen. Sie wissen, daß in Sáo Paulo ein alter Priester dem dämlichen Leon mit dem Stock eins über den Kopf gab. Anschließend achtete Hochwürden auf die rote Tasche. Nun, unsere Leute in Frankfurt haben das gecheckt. Nach der Bordliste heißt der Priester Heinrich Sander. Um achtzehn Uhr dreißig sind unsere Freunde nach Wien weitergeflogen. Sander flog kurze Zeit später weiter – mit LUFTHANSA 328 nach Köln. Dort wurde er von zwei jüngeren Priestern erwartet. Ein Funktaxi hat die drei in das große Zisterzienserkloster an der Daverkusenstraße im Stadtteil Köln-Merkenich gebracht. Es steht eine Kirche daneben, sagte der Chauffeur. Die Andreaskirche.«

»Das haben Sie alles in einer einzigen Stunde herausbekommen?« staunte Herdegen.

»Wir beschäftigen nur Top-Leute, das wissen Sie, Doktor. Wie Sie beide. Wenn so etwas überhaupt funktioniert, dann funktioniert es schnell.«

»Aber wann könnte dieser Sander die Kassetten vertauscht haben? Und woher hatte er Disney-Kassetten?« fragte Herdegen. Hyde nickte zustimmend.

Morleys Stimme aus London: »Er flog schon von Buenos Aires an mit. Vielleicht nahm dort alles seinen Anfang. Sie sagen, die Disney-Kassetten haben Etiketten in spanischer Sprache. Vielleicht wurden sie lange vor dem Abflug gekauft und waren bereits in der roten Tasche. Und die echten waren im Gepäck von Sander. Es könnte so sein. Es muß nicht so sein. Vieles spricht dafür. Vor allem, daß Sander Priester ist. Denken Sie an die überwältigend große Rolle der Kirche in der Friedensbewegung! Denken Sie daran, daß die Olivera seit vielen Jahren in der internationalen Friedensbewegung tätig ist! Vielleicht war das alles genau abgesprochen. Ich sagte schon: Wir haben es hier nicht mit Idioten zu tun. Geben Sie mir einmal Mister Hyde!« Hyde nahm den anderen Hörer und meldete sich. Die beiden Männer begrüßten sich. Dann sagte Morley: »Sie haben alles gehört, ja?«

»Ja, Mister Morley.«

»Ross ist für die nächste Zeit aktionsunfähig. Instruktion für Sie – und den Doktor: Die beiden müssen getrennt werden, verstehen Sie? Die Olivera weiß, wo die echten Kassetten liegen. Es muß ja nicht der Priester gewesen sein, wir dürfen uns da nicht festbeißen. Aber es sieht danach aus. Wenn wir uns irren – irgendwo sind die Kassetten. Sie haben es jetzt bloß mit einer Frau zu tun. Sie werden mit einer Frau fertig werden, Mister Hyde, denke ich doch.«

»Denke ich auch.«

»Gewalt nur, wenn es wirklich nicht anders geht und wirklich sinnvoll ist.«

»Ich bin seit siebzehn Jahren in diesem Geschäft, Mister Morley. Ich weiß, was ich tue. Übrigens vielen Dank für die Geldüberweisung.«

»Oh, Sie haben sich schon in Zürich erkundigt?« »Noch von London aus. Keine Überweisung, und ich wäre

überhaupt nicht nach Frankfurt geflogen. Aber wie bringt man die Olivera dazu, Ross hier allein zu lassen?«

»Das werde ich Ihnen sagen.« Roger Morley sagte es ihm. Die Visite begann um neun.

Um halb zehn kam Sibylle, gefolgt von Herdegen, zwei weiteren Ärzten, zwei Ärztinnen und der Oberschwester zu Daniel. Er war gewaschen und rasiert und blickte Sibylle lächelnd entgegen. Mercedes saß neben ihm. Es schneite noch immer.

Sibylle sah kurz die Fieber-, Puls- und Blutdruckkurven an, welche mit verschiedenfarbigen Stiften auf einem großen Blatt am Fußende von Daniels Bett eingetragen waren.

»Alles normal. Mächtiger Appetit zum Frühstück, höre ich, und gut geschlafen.«

»Wie ein Toter, Sibylle.«

»Ich weiß. Ich war ein paarmal bei dir, du Verbrecher.« Sibylle sah blaß aus und erschöpft. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Sie erörterte kurz mit Herdegen die weitere Behandlung. Er war von außerordentlicher Höflichkeit, geradezu unterwürfig. Sibylle nannte der Oberschwester, einer dicken Frau mit Brille, welche alles notierte, die Medikation. »Und natürlich bleibt er am Tropf. Haben Sie alles, Magdalena?«

»Jawohl, Frau Primaria.«

»Streck mal die Arme aus!« sagte Sibylle. »Finger auseinander! Nicht spreizen, locker lassen! Jetzt mach die Augen zu!« Daniels Finger bebten heftig, dann zitterten sogar die Hände. »Hübsch, hübsch«, sagte Sibylle.

»Wird noch. hübscher werden, Frau Olivera. Erschrecken Sie nicht! Das ist ganz natürlich«, sagte Herdegen zu Mercedes, die ein blaues Kostüm trug. »Aber nicht mehr lange.« Er wandte sich an Sibylle. »Da war noch etwas, Frau Primaria ...«

(Im großen Abhörzimmer stand neben einem Techniker, der den untersetzten Buja, die Friedhofschicht, um acht Uhr früh abgelöst hatte, Wayne Hyde und nickte zufrieden. Die Konversation kam aus dem Lautsprecher.)

»Ach ja, richtig. Danke, Herr Kollege.« Sibylle sah Mercedes an. »Wir sprachen gerade darüber ...«

»Worüber, Frau Doktor?«

Sibylle lächelte schwach. »Nichts Schlimmes. Sie müssen sich wirklich keine Sorgen um unseren Patienten machen, Frau Olivera. Der kommt schon wieder auf die Beine. Und eben daran haben wir gedacht. Wenn er in fünf, sechs Tagen aufsteht, muß er bald an die frische Luft. Spazierengehen. Viel spazierengehen. Wie ich gestern sah, hat er nur leichte Sommerkleidung im Koffer. Natürlich – in Argentinien ist es jetzt heiß. Aber bei uns ... Er braucht feste Schuhe, warme Anzüge, einen Wintermantel und so weiter.«

»Das ist alles in Frankfurt«, sagte Daniel.

»Gewiß«, sagte Sibylle. Und zu Mercedes: »In den nächsten Tagen können Sie nicht viel für ihn tun. Da müssen wir uns noch kräftig um ihn kümmern. Sie sollten unter allen Umständen hier sein, wenn er entgiftet und auf ein neues Präparat umgestellt ist. Dann wird er Sie brauchen. Wir wollten Sie bitten, die Zwischenzeit auszunützen und nach Frankfurt zu fliegen. Holen Sie seine Wintersachen. Jetzt hätten Sie Zeit dazu.«

»Ja, das ist richtig.« Mercedes nickte. »Findest du nicht auch, Daniel?«

Der sah Sibylle an. Sie erwiderte seinen Blick ausdruckslos, denn sie fühlte, wie Herdegen sie beobachtete.

»Finde ich auch«, sagte er. »Such zusammen, was du für richtig hältst. Du hast dir ja wärmere Kleidung mitgebracht.« Mercedes fiel etwas ein. Sie sagte zu Sibylle: »Ich habe gehört, daß Daniel sich zwischen Entgiftung und Einstellung auf das neue Mittel nicht besonders wohl fühlen wird.«

»Er kann es aushalten. Er kennt diesen Zustand schon. So gut wie jetzt wird es ihm natürlich nicht gehen.«

»Dann möchte ich aber möglichst bald wieder bei ihm sein«, sagte Mercedes. »Ich glaube, ich fliege noch heute.«

»Ausgezeichnete Idee«, sagte Sibylle lächelnd. Herdegen beobachtete sie unausgesetzt.

»So bin ich vielleicht morgen schon zurück.« (»Na also«, sagte Wayne Hyde im Abhörraum zu dem

Techniker der Tagesschicht, der Schorsch genannt wurde.) »Es gehen mehrere Maschinen am Tag nach Frankfurt«, sagte

Sibylle. »Die Sekretärin wird Ihnen einen Flugplan zeigen und bei der Reservierung behilflich sein. Ihren Paß brauchen Sie ja auch.«

»Ein Pfleger bringt Sie im Wagen nach Schwechat und holt Sie selbstverständlich wieder ab, Frau Olivera«, sagte Herdegen. »Ich führe Sie zur Sekretärin«, sagte die dicke Oberschwester freundlich, »sobald die Visite vorüber ist.«

»Danke, liebe Oberschwester.«

»Seh dich später!« sagte Sibylle zu Daniel. »Ich muß ein paar Stunden schlafen. Tschüs! Auf Wiedersehen, Frau Olivera!« Sie verließ das Zimmer, gefolgt von ihrer Begleitung. Die Tür fiel zu. Mercedes und Daniel waren wieder allein. Sie blickte ihn lange stumm an. Dann flüsterte sie in sein Ohr: »Ist es noch so stark wie gestern?«

»Nein«, flüsterte er. »Bei weitem nicht mehr so stark, Mercedes.«

»Lügner«, sagte sie. »Geliebter Lügner.«

»Du mußt das verstehen, so plötzlich ... nach all der Zeit ...« »Ich verstehe es ja«, sagte sie, kaum hörbar. »Danke«, sagte er. »Es wird vorübergehen, Mercedes. Sie ist

auch sehr verwirrt – natürlich.«

»Natürlich«, sagte Mercedes.

Eine halbe Stunde später verließ Sibylle die Klinik und stapfte auf einem von Schnee freigeschaufelten Weg durch den Park zu einer nahen Villa. Sie trug jetzt Stiefel und einen Pelzmantel über ihrem Ärztekittel. Sie sperrte die Eingangstür auf. Durch Räume mit schönen antiken Möbeln, Madonnen, Bildern und Ikonen ging sie zu einem Arbeitszimmer, dessen Wände bis zur Decke von vollgestopften Bücherregalen verdeckt waren. Am Schreibtisch bei einem Fenster saß ein großer, kräftiger Mann. Er trug Flanellhosen und ein rotschwarz kariertes Holzhackerhemd, die Ärmel aufgekrempelt. Sein Gesicht war breit, die Stirn hoch, das Haar schwarz, die Haut grobporig. Der Mann hatte grüne Augen und trug eine schwere Hornbrille. Auf dem Schreibtisch lagen Bücher, Farbfotografien von Gemälden und Umbruchbogen eines großformatigen Buches. Der Mann tippte auf einer Maschine, als Sibylle den Raum betrat.

»Guten Morgen, Werner«, sagte sie, trat zu ihm und küßte ihn auf die Wange.

»Guten Morgen, mein Liebling. Wie geht es ihm?« »Alles okay«, sagte sie, um Ruhe und Gelassenheit bemüht.

»Ich lege mich jetzt hin. Ich bin sehr müde. Wie geht es bei dir?«

»Soso«, sagte Werner Farmer. Sie trat hinter ihn, legte beide Hände auf seine Schulter und las die letzten Zeilen, die er getippt hatte.

»... und diesen hellen oberen Stock ›streckte‹ Tiepolo noch, indem er gegen einen Wolkenhintergrund von blauem Himmel und weißen bauschigen Wolken ›Vier Kontinente huldigen Karl Philip von Greifenklau‹ malte – eine Phantasie, so sinnlos und so köstlich wie irgendeine, die er für die Häuser des dekadenten venezianischen Adels geschaffen hatte.«

Die Maschine der AUSTRIAN AIRLINES mit Mercedes an Bord erreichte Frankfurt am Main um 19 Uhr 30. In Frankfurt war es sehr kalt, darum schneite es nicht.

Mercedes ging in der Ankunfthalle zur automatischen Gepäckausgabe. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie im Besitz ihrer Sachen war: Sie brachte die Sommerkleidung Daniels zurück und einen weiteren kleineren Koffer mit Wäsche, einem zweiten Kostüm und ihren Toilettengegenständen. Im Taxi fuhr sie durch den tiefverschneiten Stadtwald. Aus dem Autoradio drangen Stimmen.

»Stört Sie das?« fragte der Chauffeur. »Von Erich Kästner. ›Die Acharner‹. Hat er gleich nach dem Krieg geschrieben. Für ein Münchner Kabarett.«

»Lassen Sie Ihr Radio ruhig an«, sagte Mercedes. »Ach, Radio«, sagte der Chauffeur. »So was würde kaum

noch im Radio gesendet werden, meine Dame. Das ist eine Kassette. Auf Kassette kann man’s noch kriegen. Ist gleich aus.« Der Chauffeur, ein älterer Mann, nickte zu den Worten, die nun ertönten ...

»... Schneidet das Korn, und hütet die Herde, indes der Planet um die Sonne rollt! Keltert den Wein, und striegelt die Pferde! Schön sein, schön sein könnte die Erde, wenn ihr nur wolltet, wenn ihr nur wollt! ...«

Der Wagen schlidderte. Unter dem Schnee war die Straße gefroren. Wie im Märchen, so verzaubert sahen die alten Bäume aus, die im Scheinwerferlicht auftauchten und in der Dunkelheit wieder verschwanden.

»... Reicht euch die Hände, seid eine Gemeinde! Frieden, Frieden hieße der Sieg. Glaubt nicht, ihr hättet Millionen Feinde! Euer einziger Feind heißt – Krieg! ...«

An dieser Stelle seufzte der Taxichauffeur.

»... Frieden, Frieden, helft, daß er werde! Tut, was euch freut, und nicht das, was ihr sollt. Schneidet das Korn und hütet die Herde! Keltert den Wein, und striegelt die Pferde! Schön sein, schön sein könnte die Erde, wenn ihr nur wolltet, wenn ihr nur wollt!«

Musik setzte ein.

Der Chauffeur fragte alarmiert: »Haben Sie etwas, meine Dame? Ist Ihnen nicht gut?«

»Ich muß weinen«, sagte Mercedes. Sie putzte sich die Nase. »Mir ist auch zum Heulen«, sagte der Taxichauffeur. »Aber was sollen wir machen? Der arme Erich Kästner. Sein Leben lang hat er gegen den Krieg geschrieben. Was hat er erreicht? Nichts hat er erreicht. Weil wir nichts tun können, wir Kleinen.«

»Es gibt viereinhalb Milliarden von uns Kleinen«, sagte Mercedes.

»Und viereinhalb Milliarden können nichts tun«, sagte der Chauffeur. Sie waren jetzt auf der Kennedyallee. Die Stadt kam näher. Mercedes sah sie nicht, sie sah nur, wie ihre Lichter den Himmel erhellten, über den dunkle Wolken zogen.

»Sie können etwas tun!« sagte Mercedes laut. »Ach, meine liebe Dame«, sagte der Taxichauffeur. »Einmal,

da habe ich das auch geglaubt – nach dem Krieg. Reden wir nicht davon!«

Als er dann in der Sandhöfer Allee vor dem Haus hielt, in dem Daniel wohnte, trug er ihr das Gepäck noch bis an die Wohnungstür. Mercedes gab ihm die Hand.

Er sah sie mit flackernden Augen an. »War eine schöne Zeit damals, als ich noch dran glaubte. Und so viele andere auch. Kommt nicht wieder.« Er ging schnell die wenigen Stufen zum Ausgang hinunter.

Mercedes schloß die Tür hinter sich, legte die Kette vor und trat in Daniels großes Arbeitszimmer, wo sie das Licht anschaltete. »Guten Abend«, sagte Wayne Hyde.

Er hatte seinen Dufflecoat ausgezogen und saß in einem tiefen Fauteuil, die Beine übereinandergeschlagen. Er trug einen braunen Anzug, ein weißes Hemd und eine braune Krawatte. In der Hand hielt er eine Pistole. Mercedes erstarrte mitten in der Bewegung. Sie schluckte krampfhaft, bekam aber kein Wort heraus. Hyde stand auf. »Hände vor!« Er untersuchte die Taschen ihres Pelzmantels, dann warf er ihn über den Stuhl beim Schreibtisch. Dort stand die Silbertafel mit dem eingravierten Ausspruch Bertrand Russells. DIE WELT, IN DER WIR LEBEN ... Keine zwei Wochen war es her, da hatte Mercedes diese Inschrift zum erstenmal gelesen. Ihr schien, als wäre es vor zwanzig Jahren gewesen.

»Umdrehen! Hände gegen die Wand! Beine breit!« Seine Stimme war brutal. Sie folgte. Er tastete ihren Körper nach Waffen ab: Brüste, Hüften, Schenkel.

»Okay. Setzen Sie sich da beim Schreibtisch, Hände auf die Knie!«

Er trat zurück. Sie sackte auf den Sessel. Jetzt konnte sie mühsam sprechen: »Wer ... sind Sie?«

»Der Name ist Corley. Peter Corley. Untersuchungen jeder Art. Nicht! Sie sollen ruhig sitzen, verflucht!« Er ließ den Sicherungshebel der Waffe zurückklicken. Es war eine 9-Millimeter-SIG/Sauer-Polizeipistole. Wayne Hyde hatte sie von seinem alten Freund Heinz Erkner bekommen, mit dem zusammen er 1971 in Sri Lanka für die indischen Regierungstruppen gegen Oppositionsgruppen der Tamilen und 1974 auf Zypern für griechische Zyprioten gegen türkische Zyprioten und türkische Einheiten gekämpft hatte. Wayne Hyde war schon mit der Mittagsmaschine in Frankfurt eingetroffen. Von Wien aus hatte er Heinz angerufen und ihm gesagt, was er brauchte: eine 9-Millimeter-SIG/Sauer und ein Gewehr der Marke Sterling Mk9 mit Zielfernrohr. Heinz war so pünktlich und zuverlässig gewesen wie Wayne Hydes österreichischer Söldnerfreund Franz Loderer, dessen Waffen Hyde in der Obhut Herdegens zurückgelassen hatte. Er mußte sich seine Depots erst aufbauen. Zum Glück besaß er viele Freunde. Heinz Erkner war ihm besonders dankbar. Hyde hatte ihm auf Zypern das Leben gerettet, als sie in einen Hinterhalt geraten waren. Zwei MG-Kugeln hatten Erkner in der Schulter getroffen. Unter Lebensgefahr und ständigem Beschuß durch die Türken war Hyde mit dem Freund auf dem Rücken bis zum Kieselsteinufer eines Flusses getaumelt. Dort konnte dann der griechische Hubschrauber landen, den Wayne Hyde über Funk angefordert hatte. Sie hatten sich darüber unterhalten, als sie einander nun wiedertrafen. Heinz ging es glänzend. Er besaß zwei Peep-Shows und drei Porno-Kinos, war fabelhaft angezogen, und die Waffen lagen im Kofferraum seines Mercedes 450. Nachdem Hyde einen Hertz-Wagen, Marke BMW, gemietet hatte, waren die Waffenfutterale im Kofferraum des grauen BMW gelandet. Der parkte jetzt vor den Universitätskliniken, ganz in der Nähe. Hyde hatte nur die 9-Millimeter-SIG/Sauer mitgenommen.

»Wie sind Sie hier hereingekommen?« fragte Mercedes. »Genau wie Sie hier reinkamen.«

»Was soll das heißen?«

»Küchenfenster eingeschlagen hinten im Garten und den Riegel geöffnet.«

»Woher wissen Sie, daß ich das getan habe?« »Sie sind dabei beobachtet worden. Jemand ist damals mit

Ihnen von Buenos Aires nach Zürich und Frankfurt geflogen. Und dann mit Ihnen und Ross zurück.«

»Wer hat Ihnen gesagt, daß ich heute hierherkommen werde?«

»Ich stelle die Fragen. Sie antworten. Wo sind die Filmkassetten?«

»Welche Filmkassetten?«

»Los, los, los, wo sind sie?« Sie schwieg.

Er hob die Hand.

Die Türklingel schrillte.

Im nächsten Moment spürte sie die Mündung der Pistole an der Schläfe.

»Keinen Laut!« flüsterte er.

Die Klingel begann wieder zu schrillen. Sie hörte nicht mehr auf.

»Mercedes!« rief eine Männerstimme.

Der Druck des Laufs gegen ihre Schläfe wurde fester. »Mercedes!« schrie der Mann vor der Tür. »Sie sind zu Hause. Ich habe Licht gesehen. Wenn Sie jetzt nicht antworten, weiß ich, daß jemand bei Ihnen ist und Sie bedroht.«

»Ruhig! Ganz ruhig!« flüsterte Hyde. Der Pistolenlauf schmerzte, so fest drückte er ihn gegen ihren Schädel.

»Ich habe ein Autotelefon. Ich rufe eine Funkstreife ...« Mit vier Schritten war Hyde bei der Wohnungstür, löste die

Kette, riß die Tür auf und sprang zur Seite.

»Kommen Sie rein!« sagte er. »Schnell!«

Ein schlanker, großer Mann von etwa fünfzig Jahren mit schwarzem Haar und grauen Augen in dem klugen Gesicht trat ein. Er trug keinen Mantel. Sein blauer Anzug war maßgeschneidert, ebenso das hellblaue Hemd. Auf die dunkle Krawatte waren viele sehr kleine, silberne Elefanten gestickt. Er hatte den Hemdkragen geöffnet und die Krawatte gelockert. Als er in der Diele stand, drückte Hyde die Tür hinter ihm ins Schloß. »Hände an die Wand, Beine breit!«

Hyde tastete auch den großen Mann sorgfältig nach Waffen ab. Er fand keine.

Dann winkte er mit der Pistole. »Da rein! Zu der Lady!« Sie traten beide in das Arbeitszimmer.

»Guten Abend, Mercedes«, sagte der Mann im blauen Anzug. »Tut mir leid. Es hat alles so lange gedauert. Rief denn meine Sekretärin nicht am Flughafen an? Da muß etwas schiefgelaufen sein. Sie sollten doch die Nachricht erhalten, daß ich noch zu tun hätte und, um Zeit zu sparen, gleich in die Wohnung kommen würde. Sie sollten hier auf mich warten.«

»Etwas schiefgelaufen, wie Sie sagen. Da war keine Nachricht für mich.«

»Na, dann war das ganz schön knapp«, sagte der große Mann und sah Hyde an. »Er will den Film, ja?«

»Ja«, sagte Mercedes.

»Was wissen Sie davon?« fragte Hyde. »Eine Menge.« »Wer sind Sie?«

»Ich heiße Conrad Colledo«, sagte der große Mann. »Und?«

»Und was?«

»Was ist Ihr Job?«

»Ich komme aus Königstein im Taunus.«

»Machen Sie’s kürzer!«

»In Königstein im Taunus stehen die Studios des Fernsehsenders Frankfurt. Ich bin dort Hauptabteilungsleiter für Politik und Zeitgeschehen.«

»Und wer hat die Kassetten?« fragte Wayne Hyde. »Ich«, sagte Conrad Colledo.

Um diese Zeit schläft Daniel schon wieder ...

15. Mai 1972. An jenem wahnwitzig heißen Tag kehrt er aus Rom zurück. Mußte dort sechs Wochen lang das Studio leiten. Der ständige Korrespondent lag mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus. Daniel hat noch aus Rom Sibylle angerufen – wie jeden Tag.

»Komm zu mir«, sagt Sibylle nun in seinem Traum. »Werner kommt auch. Er muß aber heute nacht noch nach München für ein paar Tage.«

»Na prima, da sind wir zwei allein!«

Daniel freut sich. Nach der Landung fährt er schnell in seine Wohnung an der Grinzinger Allee, läßt das Gepäck dort, badet, zieht sich um. Dann ist er bei Sibylle im Turm. Er umarmt und küßt sie immer wieder. Gott, ist er froh, wieder bei ihr zu sein! Werner Farmer sitzt schon da. Sieht blaß aus. Überarbeitet, denkt Daniel. Sie essen, und Daniel erzählt begeistert.

»Rom ist fabelhaft, Kinder! Italien ist fabelhaft. So etwas von Korruption! Einfach fabelhaft! Zig Regierungen haben sie gehabt seit dem Krieg. Irrsinnige Arbeitslosigkeit. Die Millionäre sitzen im Norden und werden entführt oder eingesperrt wegen Milliardenschiebungen. In keinem Land wird so geschoben. Einfach großartig! Die Armen – so was von arm habe ich noch nicht gesehen. Auf dem Land die Bauern. Im Süden die Menschen in den Städten. Müßten alle eigentlich längst verhungert sein bei dieser Inflation, bei dieser Mafia. Aber sie leben und singen und trinken Wein, weiß der Himmel, woher sie ihn kriegen. Diese Leute haben uns eingeladen – nicht mal in Bußland haben arme Menschen uns so bewirtet. Fabelhaft, einfach fabelhaft! Lauter gute katholische Kommunisten. Lauter Don

Camillos und Peppones. Sechsundfünfzig Millionen Don Camillos und Peppones. Mit Berlinguer, der gerade Generalsekretär der KPI geworden ist, habe ich mich viele Nächte lang unterhalten. Großer Mann! Gebildet, höflich, schüchtern bisweilen. Und meine zwei Schweizer Freunde! Nägeli und Bürgler! Von der Schweizer Garde! Habt ihr gewußt, daß die Schweizer Garde des Papstes wirklich aus Schweizern besteht? Ich nicht. Söldner sind das, richtige Söldner! Gibt es seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts! Als das mit den Ritterheeren nicht mehr so flutschte. Da nahmen die Mächtigen sich Schweizer Söldnertruppen. Das waren die mutigsten. Schweizer Söldner – immer die besten. Na ja, und da hat irgendein Papst – wird mir gleich einfallen, welcher – gesagt, das muß er auch haben. Seither gibt es die Guardia Svizzera Pontificia. Haben ein feines Leben. Viel Freizeit. Können saufen, Mädchen haben, alles. Natürlich auch Kommunisten sein. Bezahlt sie verdammt schlecht, der Heilige Vater. Aber die Pension! Als sie einmal besoffen waren, haben Nägeli und Bürgler mir erklärt, daß es Gott nicht gibt. Alles nur Theater. Habe ich Gott verteidigen müssen – ich, stellt euch das vor! Aber ich konnte mich mit Gott nicht durchsetzen. Fabelhafte Schweizer. Fabelhafte Stadt, Rom, also wirklich ...«

Daniel hört endlich auf und sieht mit vollem Mund – er hat die ganze Zeit beim Reden gegessen – von einem zum anderen. »Was ist denn mit euch los? Ihr seid ja so still. Und essen tut ihr auch kaum. Ist was passiert? Na los, los, sagt es Papi! Wird schon nicht so schlimm sein.«

»Doch«, sagt Werner Farmer und rückt an seiner Brille. »Doch, es ist so schlimm. Es ist so schlimm, wie es nur sein kann.«

»Verstehe kein Wort«, sagt Daniel. »Wenn ihr schon keinen Hunger habt, Sibylle, geliebtes Herz, würdest du mir noch eine Scheibedanke, der Allmächtige wird es dir lohnen. Also, was ist so schlimm, wie es nur sein kann?«

»Es ist aus, Danny«, sagt Sibylle und würgt an jedem Wort. »Was heißt aus?« Jetzt läßt er Messer und Gabel sinken. »Zwischen dir und mir. Es muß aus sein. Denn wir wollen dich nicht betrügen.«

»Was ist das?« fragt Daniel. »Ein Sketch? Ein englischer? Oder selbst gemacht? Eigens für mich? Zum Lachen? Ein Sketch zum Lachen?«

Sibylle schluchzt plötzlich.

Werner Farmer sagt: »Nicht zum Lachen. Verstehst du denn nicht, du dummer Hund? Wir lieben uns, Sibylle und ich. Wir wollen heiraten.«

Daniel lacht, daß ihm ein Stück Fleisch aus dem Mund auf den Teller fällt.

»Heiraten! O Gott, o Gott, o Gott!« Er ist leicht betrunken – Whisky unterwegs, er verträgt doch nichts. »Das muß ein englischer Sketch sein! Nur die Engländer können so etwas. Im Flugzeug habe ich mir die Cartoons aus dem neuesten PUNCH angesehen: Zwei Pandabären. Ihr wißt doch, die kleinen schwarzweißen, die bei uns dauernd sterben. Sagt der eine zum andern: ›Ich glaube nicht, daß dieses die richtige Welt ist, um Pandas großzuziehen!‹« Daniel lacht wieder. Dann sieht er die beiden an. Lange. Dann legt er Messer und Gabel fort. »Also kein Sketch«, sagt er. »Na ja. Aber ich verstehe das nicht. Bei meinen Anrufen, Liebste, jeden Abend, da war doch immer alles in Ordnung, gestern noch!«

»Nichts war in Ordnung, Danny«, schluchzt Sibylle. »Gib mir ein Taschentuch!«

»Natürlich, hier bitte!« Daniel reicht ihr eines. Sie schneuzt donnernd hinein. »Also schön«, sagt Daniel, »ihr liebt euch und werdet heiraten. Ausgezeichnete Idee, wirklich. Einer von den Schweizern von der Schweizer Garde hatte auch eine so große Liebe. Zu einem anderen Schweizer von der Schweizer Garde. Als er ganz besoffen war, hat er ...«

»Danny, bitte! Sei endlich ernst!« sagt Werner. »Moment mal, ja?« sagt Daniel. »Was soll denn das heißen,

sei endlich ernst? Meinst du vielleicht, daß ich besonders fröhlich bin? daß mich das, was ihr mir da eröffnet habt, grenzenlos amüsiert? Wenn ich nicht den Clown spiele, dann fange ich an zu heulen wie die arme Sibylle, du Arschloch! Herrje, habt ihr euch da eine fabelhafte Überraschung ausgedacht, Kinder! Hut ab! Aber was bedeutet, ihr wollt mich nicht betrügen? Was habt ihr denn die ganze Zeit getan? Willst du sagen, ihr wart noch nicht im Bett, Sibylle?«

»Jaha, das will ich sagen ... Du weißt ja nicht, wie wir uns hier herumgequält haben! Aus dem Weg gegangen sind wir einander. Wenn der eine angerufen hat, hat der andere nicht abgehoben. Aber das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Wir lieben uns, Danny, wir lieben uns ...« Sie sieht ihn mit tränenüberströmtem Gesicht an. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Werner auch nicht. Zuerst haben wir uns gar nicht gemocht. Und dann plötzlich ... Es ist mir ein Rätsel, Danny, ein vollkommenes Rätsel, aber es ist so: Ich liebe Werner, und er liebt mich – und ich liebe ihn mehr als dich, Danny, verzeih!«

»Verzeih, Blödsinn«, sagt Daniel. »Und was heißt Rätsel? Du willst Psychiaterin sein? Daß ich nicht lache, Rätsel! Liegt doch auf der Hand, daß es so kommen mußte. Da ist Werner. Ein mutiger Mann, den nichts umhaut. Der weiß, was er will. Der an was glaubt. Der was Schönes schafft ... Und da ist Danny. Glaubt an gar nichts. Ist nicht mutig. Ist feige und schafft nichts Schönes und kann nichts – das heißt, etwas kann er schon: Tabletten fressen!«

»Das ist nicht wahr, Danny!«

»Natürlich ist es wahr«, sagt er. »Man kann ihm geben, was man will, er treibt Mißbrauch damit, abusus, wie der Lateiner sagen würde, er sagt’s aber nicht ...«

»Danny!« ruft sie. »Hör auf, du machst alles noch schlimmer damit!«

»Kann ich das?« fragt er verwundert. »Noch schlimmer?« Er schiebt den Teller fort. »Es war großartig, wie immer, Liebste. Aber vielleicht doch keine Scheibe mehr. Also, meinen herzlichsten Glückwunsch natürlich! Und daß ihr immer glücklich bleibt. Immer! Nicht nur für so eine kurze Zeit wie wir beide.«

»Ich halte das nicht mehr aus«, sagt Werner. »Ich muß an die Luft.«

»Ich auch«, sagt Sibylle.

»Laßt ihr mich mitkommen?« fragt Daniel. jetzt ist auch er sehr ernst. »Bitte, laßt uns noch ein bißchen herumlaufen in der Stadt! Und dann fahren wir Werner zur Bahn, und ich bringe dich in den Turm zurück. Nicht herauf, hab keine Angst! Nur bis zum Eingang. Passiert soviel ...«

Und so gehen sie durch das dunkle Wien und sprechen kaum ein Wort. Einmal hängt Sibylle sich bei beiden Männern ein, aber sie läßt es gleich wieder sein. Sehr warm ist es in dieser Nacht. Endlich kehren sie in die Lazarettgasse zurück. Daniel hat seinen Opel Admiral Sibylle überlassen, als er nach Rom mußte. Er steht auf dem Parkplatz.

»Ist dein Koffer schon drin?« fragt Daniel. Werner nickt. Daniel fährt. Sibylle sitzt neben ihm.

Beim Westbahnhof will Werner dann nicht erlauben, daß Daniel seinen Koffer trägt. Daniel tritt einen Schritt zurück und schlägt Werner die Faust ins Gesicht, so fest er kann. Dann packt er den Koffer und geht damit los. Schon nach einer Minute, auf der großen Treppe, ist er in Schweiß gebadet. Er keucht wie eine Maschine. Das Herz klopft in seinen Ohren, seinen Augen, auf der Zunge. Er geht immer weiter. Und wenn ich verrecke, denkt er. Er schleppt Werners schweren Koffer den weiten Weg an den Waggons des Orient-Expreß entlang bis ganz nach vorn, so, wie er es immer getan hat. Er wuchtet den Koffer in den Flur des Waggons. Dann setzt er sich auf einen Gepäckkarren und wartet. Die beiden kommen lange Zeit nicht.

Als sie schließlich erscheinen, sagt Werner: »Wir können dir das nicht antun, Danny. Ich gebe meine Arbeit ab. Ich komme nicht mehr nach Wien.«

»Ihr habt ja eine Meise«, sagt Daniel und gleitet von dem Karren. »Ich bin es, der jetzt verschwindet. Heute nacht noch rufe ich Colledo in Frankfurt an, das ist mein Chef. Er soll mich zurück in den Sender holen. Tschüs, Werner, mach’s gut!« Er schüttelt dem Freund die Hand. Dessen Kinn ist mittlerweile angeschwollen. »Tut mir leid, daß ich dich geschlagen habe«, sagt Daniel. Und zu Sibylle: »Ich warte im Wagen auf dich ...«

Bis zwanzig Minuten nach Mitternacht sitzt er dann hinter dem Steuer. Ein alter Mann sammelt Zigarettenstummel vom Gehsteig auf. Daniel zählt die Stummel. Als er bei siebenunddreißig angelangt ist, setzt sich Sibylle neben ihn. Er startet den Wagen. Er fährt zum Allgemeinen Krankenhaus zurück. Vor dem Turm hält er und hilft Sibylle beim Aussteigen. An ihrer Seite geht er zu dem großen gläsernen Eingang und wartet, bis sie den Schlüssel in ihrer Manteltasche gefunden hat. Sie weint jetzt wieder. »Nicht«, sagt Daniel, »bitte, nicht weinen, Liebste! Es war sehr tapfer, wie ihr euch betragen habt. jetzt betrügt ihr mich nicht mehr, wenn ihr ins Bett geht.« Er nimmt ihren Kopf in beide Hände und küßt sie auf die Stirn. Danach schlägt er mit einem Finger ein Kreuz darüber.

»Was soll das?«

»Gott möge dich beschützen.«

»Du glaubst doch nicht an Ihn, mein armer Danny!« »Ich nicht, aber du. Nun sperr schon auf!«

»Danke«, sagt Sybille. »Danke, Danny! Ich werde dich nie vergessen.«

»Ich dich auch nicht, Liebling«, sagt er. »Und jetzt geh! Schnell! Bitte, geh schnell ...«

Sie sieht ihn noch einmal an, dann läuft sie ins Haus hinein. Die schwere Glastür schließt sich langsam. Daniel blickt Sibylle nach, bis sie um die Ecke stolpert, hinter der sich die Lifts befinden. Dann geht er zu seinem Wagen zurück.

»Als sein Vater ihm den Film gezeigt hatte, rief Daniel mich sofort an und erzählte mir davon. Daraufhin flog ich mit der ersten erreichbaren Maschine nach Buenos Aires«, sagte Conrad Colledo. »Sie sind ja über alles informiert, Mister Corley. Sie wissen natürlich auch, daß Daniel und ich seit einundzwanzig Jahren Freunde sind und sehr lange miteinander gearbeitet haben.«

»Wo sind Sie abgestiegen?« fragte Wayne Hyde. »Im NOGARO«. Colledo warf Hyde ein flaches

Streichholzheftchen zu. »Da steht die Telefonnummer drauf. Sie können sich erkundigen.«

»Nur auf einen Anruf von Ross hin sind Sie nach Argentinien geflogen?« Hyde spielte mit dem Heftchen.

»Ich habe Ihnen ja gesagt, wir arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Er besitzt mein unbedingtes Vertrauen. Als er mir erzählte, was er da hatte, flog ich natürlich sofort. Wären Sie nicht geflogen? Stecken Sie endlich die Pistole weg, das ist ja blödsinnig!« Hyde schob die Waffe in einen Schulterhalfter,

nachdem er sie wieder gesichert hatte.

»Und weiter?« fragte er.

»Wenig weiter. Als Daniel und Mercedes – Frau Olivera – dann nach Ezeiza fuhren – der Vater war dabei –, um nach Europa zurückzufliegen, war auch ich am Airport. Ich flog gleichfalls zurück.«

»In derselben Maschine?«

»In derselben Maschine.«

»Wie haben Sie das mit der Filmübergabe gemacht?« »Daniel nannte mir am Telefon die Kassettenmarke. Ich

kaufte zwei Kassetten Disney-Filme der gleichen Marke. Ich hatte eine rote Flugtasche der AEROLINEAS ARGENTINAS, Daniel auch. Beim Einchecken standen wir nebeneinander. Wir haben einfach die Flugtaschen vertauscht.«

»Diese Scheißkerle!«

»Wer?«

»Ross und Frau Olivera wurden beobachtet.« »Davon waren wir überzeugt. Es konnte wirklich kein

Mensch bemerken, daß wir die Taschen wechselten. Wir hatten sie schon vertauscht auf das Bord des Ticketschalters gestellt. Um es kurz zu machen, Mister Corley: Ich brachte die richtigen Kassetten also nach Frankfurt. Fuhr sofort damit hinauf nach Königstein. Was danach geschah, werde ich Ihnen natürlich nicht erzählen.« Es entstand eine Pause.

Hyde stand auf und ging zum Schreibtisch. »Was wollen Sie?« fragte Colledo. »Telefonieren, wenn Sie gestatten.« Hyde nahm den kleinen Decoder aus einer Tasche, hob den Hörer ab und wählte die Londoner Nummer von Morleys Anrufbeantworter. Nachdem die Stimme des Anwalts sich gemeldet hatte, hielt Hyde den Decoder an die Muschel und wartete, bis die drei Pfeiftöne den Beantworter präparierten. Morleys Stimme vom Band klang nervös: »Zweiundzwanzigster Februar vierundachtzig, achtzehn Uhr fünfzig mitteleuropäischer Zeit. Mister Hyde! Mister Hyde, wo immer Sie sind, was immer Sie tun oder zu tun beabsichtigen: Unternehmen Sie nichts! Ziehen Sie sich augenblicklich von allem zurück. Nehmen Sie sich ein Zimmer in einem Hotel und verlassen Sie es nicht, bevor Sie von mir neue Weisungen erhalten haben. Ich erfahre soeben, daß sich die zwei Filmkassetten im Besitz des Senders Frankfurt befinden. Ein Mann namens Conrad Colledo hat sie von Buenos Aires nach Deutschland gebracht. Damit ist die Lage vollkommen verändert. Meine Auftraggeber beraten über das weitere Vorgehen. Rufen Sie mich um dreiundzwanzig Uhr mitteleuropäischer Zeit wieder an. Ich hoffe, Ihnen dann schon mehr sagen zu können. Das ist alles. Ende.«

Wayne Hyde legte den Hörer zurück auf den Apparat, nahm den Dufflecoat von einem Fauteuil und verließ ohne ein einziges Wort, und ohne Mercedes oder Colledo auch nur noch einmal anzusehen, die Wohnung. Colledo ging zu einem Fenster, durch das er auf die Straße hinausblicken konnte. Er sah Hyde in einen grauen BMW einsteigen. Der BMW fuhr los. Colledo kehrte in das Arbeitszimmer zurück.

»Erzählen Sie mir, was inzwischen geschehen ist, Conrad«, sagte Mercedes. »Ich muß es wissen. Danny auch.«

Colledo setzte sich.

»Na ja, ich fuhr also mit den Kassetten zum Sender. Herr von Karrelis erwartete mich. Das ist der Intendant. Dann war noch Hans Kleinhals da, der Chefredakteur, dazu unser Justitiar und zwei Leute aus der Rechtsabteilung. Wir gingen in eine Vorführung und sahen uns den Film an. Zuerst waren alle ungeheuer skeptisch.«

»Wieso?«

»Wir hielten den Film natürlich für eine Fälschung.« »Er ist keine Fälschung! Er ist echt!« Mercedes fuhr auf.

»Bitte«, sagte Colledo. »Bitte, Mercedes. Sie sind davon überzeugt, daß er echt ist. Weil Sie Ihrem Stiefvater glauben. Natürlich auch, weil Sie so sehr wünschen, er möge echt sein. Die Männer im Sender sind abgebrüht. Sie haben schon die unglaublichsten Dinge erlebt, vor allem die von der Rechtsabteilung. Es gehört zu ihrem Beruf, mißtrauisch zu sein. Wenn dieser Film echt ist – er wäre die größte Sensation in der Geschichte des Fernsehens.«

»Das ist er auch! Das ist er auch!«

»Mercedes ...« Colledo machte eine hilflose Bewegung. »Sie wollen wissen, was geschah. Ich erzähle es Ihnen. Am negativsten äußerte sich zunächst Hans Kleinhals, der Chefredakteur. Er meinte, der Film gehöre überhaupt in die Abteilung Unterhaltung. Die Anwälte warnten. Dann erzählte ich alles über Herkunft und Geschichte des Films, was mir Danny in Buenos Aires am Telefon erzählt hat. Da wurden sie nachdenklicher. Karrelis hatte endlich einen Vorschlag, den alle akzeptierten.«

»Nämlich welchen?«

»Den Film in eine gewaltige Dokumentation einzubetten und ihn in mehreren Teilen auszustrahlen. Alles zu versuchen, um herauszufinden, ob er eine Fälschung ist oder nicht. Unsere besten Leute loszuschicken. Alle ihre Recherchen, alles, was sie an Beweisen oder Zeugen für oder gegen die Echtheit des Films finden, zu einem Bestandteil der Dokumentation zu machen. Und dieses ganze Dokumentationswerk dann mitsamt dem Film zu senden – egal, ob die Recherchen ergeben, daß er echt oder daß er gefälscht ist. Der Brocken, den wir da haben, ist einfach zu gewaltig, als daß man ihn so liegen lassen kann. Und auf diese Weise wird es nach allen gesetzlichen Bestimmungen möglich, den Film auszustrahlen – und eben wirklich Fernsehgeschichte zu machen. Danny ist selbstverständlich wieder bei uns. Die Diskussion dauerte bis zum Morgen. Es folgten Gespräche mit dem Kanzler in Bonn, mit dem Außenminister.«

»Warum das?«

»Weil wir fair sein wollen. Nach dem Grundgesetz und nach dem Rundfunkgesetz darf die Regierung keinerlei Einfluß auf die redaktionelle Arbeit der Sender, insbesondere auf den Nachrichtenapparat, nehmen. Das darf nur der Rundfunkrat der ARD.«

»Was ist das?«

»Die Abkürzung der ›Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands‹. Wir gehören zur Sendergruppe der ARD. Deshalb bat Karrelis den Vorsitzenden des Rundfunkrates noch nachts nach Königstein. Er zeigte ihm den Film. Danach wurde Kleinhals, der Chefredakteur, hinzugezogen. Die drei konferierten kurz. Dann gab der Vorsitzende des Rundfunkrats grünes Licht.«

»Und der Kanzler?« fragte Mercedes. »Und der Außenminister?«

»Karrelis ist heute vormittag nach Bonn geflogen. Er wurde von einer Maschine der Bundeswehr abgeholt. Karrelis hatte am Telefon angekündigt, daß es sich um eine Angelegenheit von weltweiter Bedeutung handelt. In Bonn berichtete er dann dem Kanzler und dem Außenminister.«

»Und?«

»Beide waren tief besorgt. Sie baten Karrelis, den Film noch zurückzuhalten. Sie wollten Verbindung mit dem amerikanischen Verbündeten und der Kremlführung aufnehmen. Wenn dieser Film echt ist, dann kann seine Ausstrahlung unübersehbare politische Folgen haben. Weltpolitische.«

»Er ist echt!«

»Ja, Mercedes, ja. Vielleicht. Vielleicht nicht«, sagte Colledo. »Wir werden das feststellen. Dazu brauchen wir Zeit. Also konnte der Intendant in Bonn versprechen, den Film noch zurückzuhalten. Mehr versprach er nicht. Natürlich hätten Kanzler und Außenminister den Film am liebsten beschlagnahmen lassen. Das wäre dann die letzte Amtshandlung von Außenminister und Kanzler gewesen, und das wußten sie.« Colledo sah Mercedes an. »All dies und was noch kam, dauerte so lange, daß ich es nicht mehr zum Flughafen schaffte.«

Mercedes nickte.

»Sie werden das auf irgendeine Weise Danny mitteilen können?«

»Ja. Was kam noch?« fragte Mercedes.

»Karrelis kehrte heute nachmittag zurück. Wir mußten gleich mit der Dokumentation beginnen, also allerhand aufbauen und den Intendanten schminken. Schließlich rief er die amerikanische und die sowjetische Botschaft in Bonn an. Beim amerikanischen Botschafter dauerte es nur knapp zwanzig Minuten, bis der Herr sich an den Apparat bemühte. Der Intendant hatte in der Zwischenzeit mit drei anderen Herren gesprochen, bis er endlich mit dem Botschafter sprechen konnte ...«

»Exzellenz, mein Name ist Emanuel von Karrelis. Ich bin Intendant des ...«

»Okay, okay«, sagte die Stimme des Botschafters in breitem Amerikanisch. »Das hat man mir schon mitgeteilt. Sie scheinen außerordentlich erregt zu sein, Herr von Karrelis. Wenn ich recht verstanden habe, geht es um einen Film, der in Ihren Besitz gelangt ist.«

»Ich bin außerordentlich erregt, Exzellenz. Das wären Sie auch, wenn Sie den Film gesehen hätten. Präzise gesagt: den Videofilm.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte der Botschafter.

»Natürlich nicht. Die drei Herren, mit denen ich vor Ihnen sprach, haben auch keine Ahnung. Ich meine das ganz im Ernst. Sie alle können gar keine Ahnung haben. Bescheid wissen nur Ihr Präsident und der Staatschef der Sowjetunion sowie deren engste Mitarbeiter. Ihre Herren riefen bei mir im Sender zurück, um sicher zu sein, daß sie nicht das Opfer einer Mystifikation waren. Erst danach erzählte ich ihnen, was für ein Film das ist. Man versprach, Sie zu unterrichten. Hat man das nicht getan, Exzellenz?«

»Doch.«

»Nun also.«

»Hören Sie, das Ganze ist reiner Wahnsinn. So einen Film gibt es nicht.«

»Ich habe ihn – und eine Kopie – hier im Sender, Exzellenz.« »Wahnsinn.«

»Ja, das sagten Sie schon. Ich schlage vor, Sie setzen sich umgehend mit Ihrem Präsidenten in Verbindung. Der deutsche Bundeskanzler hat es wahrscheinlich schon getan. Ihr Präsident wird Ihnen erklären können, um was für einen Film es sich

handelt und was auf dem Spiel steht. Moment, Exzellenz! Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen, das Sie bitte dem Präsidenten wiederholen wollen. Wir sind entschlossen, diesen Film zu senden ...«

»Ich glaube, wir beenden das Gespräch.«

»Das glaube ich nicht. Diesen Film zu senden, sage ich, sobald wir alle nur menschenmöglichen Recherchen hinsichtlich seiner Echtheit angestellt haben. Es geht hier nicht um die lächerlichen gefälschten Hitler-Tagebücher. Es geht hier – so oder so – um das riskanteste politische Objekt seit Kriegsende. Wir sind uns durchaus der ungeheueren Verantwortung bewußt, die nun auf uns lastet. Wir besitzen hervorragende Rechercheure. Sie werden Beweise und noch lebende Zeugen dafür finden, daß dieser Film echt oder eine Fälschung ist.«

»Natürlich ist er eine Fälschung.«

»Oh, Sie kennen ihn also doch?«

»Nach dem, was meine Leute mir berichtet haben. Allein die Idee eines solchen Films ist absurd.«

»Da muß ich Ihnen zustimmen, Exzellenz. Bitte, hören Sie jetzt gut zu: Sollte sich herausstellen, daß die Nazis – oder andere Interessenten – den Film gefälscht haben, werden wir ihn gleichfalls senden. Mit allen Zeugenaussagen und Beweisen, welche die Fälschung belegen. Wir werden auch bekanntgeben, woher wir den Film haben. Wir werden dem Zuschauer alle Begleitumstände zeigen, er wird wirklich alles sehen. Zum Beispiel mich, eben jetzt.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, Exzellenz, daß zwei Kameras mich hier aufnehmen, während ich mit Ihnen spreche. Auch unser Gespräch wurde von Anfang an mitgeschnitten. Wir werden jeden unserer Schritte dokumentieren können, wenn wir den Film ausstrahlen. Auf keinen Fall werden wir irgend etwas manipulieren. Dazu ist die Sache weiß Gott zu ernst. Wenn sich herausstellt, daß der Film eine Fälschung ist, kann das nur eine enorme Stützung der politischen und moralischen Macht Ihres Landes bedeuten.«

»Unverschämtheit!«

»Ich bin überzeugt, auch bei Ihnen läuft ein Tonbandgerät, das unser Gespräch aufzeichnet. So können Sie Washington das Band vorspielen. Ich komme jetzt nämlich zu einem besonders wichtigen Punkt: Ich könnte mir vorstellen, Exzellenz, daß Sie – ich meine natürlich für derartige Aktionen speziell ausgebildete Personen – nun versuchen werden, die Kassetten in Ihren Besitz zu bringen. Wenn es nicht anders geht, durch Mord und Terror. Aus dem Sender bekommen Sie die Kassetten freilich nicht einmal mit dem tollkühnsten Kommandounternehmen heraus. Es wäre jedoch möglich, daß jemand auf den Gedanken verfällt, einen oder mehrere der auf unserer Seite mit diesem Film Beschäftigten – Redakteure oder Rechercheure etwa – oder deren Angehörige als Geiseln zunehmen und eine Erpressung zu versuchen.«

»So, jetzt habe ich genug, ich lege auf.«

Karrelis sprach ohne Pause weiter: »Sie werden nicht auflegen, Exzellenz. Zu den besonders exponierten Personen in diesem Zusammenhang zählen Herr Eduardo Olivera in Buenos Aires, sein Sohn Daniel Ross, seine Stieftochter Mercedes Olivera, der Chefredakteur Hans Kleinhals, der Hauptabteilungsleiter Conrad Colledo und ich. Ich habe die Namen schon einem Ihrer Herren genannt, er hat sie aufgeschrieben ... Bitte, lassen Sie mich zu Ende sprechen, Exzellenz. Wie gesagt: Wir beabsichtigen, dieses Filmdokument erst nach genauester Prüfung und unter Bekanntgabe aller Prüfungsergebnisse zu senden. Sollte einem der soeben Genannten oder einem einzigen anderen Menschen, der mit diesem Film zu tun hat oder zu tun haben wird, in der Zwischenzeit etwas zustoßen – Entführung, Geiselnahme, Mord, Morddrohung-, dann werden wir, und ich bitte, nun auf meine Worte besonders zu achten, Exzellenz, den Film sofort ausstrahlen, ohne weitere Recherchen! Dafür aber mit ausführlichen Berichten darüber, was Sie getan haben, um eine Ausstrahlung zu verhindern. Sie verstehen, ja? Sie haben es auch auf Band. Der Film ist unser aller Lebensversicherung. Exzellenz, nehmen Sie bitte den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung entgegen!« Karrelis legte auf. Dann rief er die Sowjetbotschaft in Bonn an.

Nachdem er seinen Namen und seine Position genannt hatte, erfuhr er, daß der sowjetische Botschafter in Moskau war. Wie lange? Völlig unbestimmt. Der Intendant bat, mit seinem Stellvertreter verbunden zu werden.

»Bedauere, ist mitgeflogen zur Berichterstattung.« »Geben Sie mir den Ersten Sekretär.«

»Worum handelt es sich?«

»Das werde ich dem Ersten Sekretär sagen.« »Der Herr Erste Sekretär ist in einer Konferenz. Darf nicht

gestört werden.«

So ging das weiter. Karrelis gelang es schließlich, den Presseattache an den Apparat zu bekommen. Er begann – wieder in englischer Sprache – dasselbe zu berichten wie beim Gespräch mit dem amerikanischen Botschafter.

»Gibt keinen solchen Film«, erklärte der Presseattache anschließend.

»Ich habe ihn selbst gesehen.«

»Dann handelt es sich um eine amerikanische Fälschung.« Der Intendant ließ sich nicht beirren. Er empfahl dem

Attache, sich schnellstens mit Moskau in Verbindung zu setzen. »Amerikanische Infamie. Wir werden sofort eine internationale Pressekonferenz einberufen.«

»Ich bezweifle, daß Sie das tun werden, Herr Attache.« Karrelis wiederholte alles, was er dem amerikanischen Botschafter gesagt hatte. Eindringlich warnte er vor gewalttätigen Maßnahmen gegen jeden einzelnen der zahlreichen Menschen, die mit dem Film zu tun hatten, beziehungsweise deren Angehörige. »Wir würden dann sofort senden, ohne Recherchen abzuwarten. Aber wir würden im Detail schildern, auf welche Weise Sie versucht haben, eine Ausstrahlung zu verhindern. Herr Attache, ich bitte Sie, den Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung entgegenzunehmen!«

»Das geschah also heute am Spätnachmittag«, sagte Conrad Colledo. Er stand auf und ging zu einem kleinen Barschrank. »Gut, daß Danny ein paar Flaschen im Haus hat, auch wenn er selbst kaum trinkt«, sagte er. »Ich brauche jetzt einen Whisky.«

»Ich auch«, sagte Mercedes.

»Auch Whisky?«

»Ja. Pur. Mit Eis. Warten Sie, ich hole es.« Sie ging in die Küche und brachte bald darauf ein silbernes Eiskübelchen. Mit einer Silberzange ließ sie Eiswürfel in beide Gläser fallen. »Cheers!« sagte Colledo.

Sie tranken.

»Gott stehe; uns bei«, sagte Mercedes. »Wir haben uns mit den beiden größten Mächten der Welt angelegt.«

»Sie sind doch bereit, jedes Risiko auf sich zu nehmen, wenn es dem Frieden hilft, hat mir Danny erzählt.«

»Ja«, sagte Mercedes. »Aber Angst habe ich trotzdem.« »Die andern auch – wenn das ein Trost ist«, sagte Colledo

und trank wieder.

»Ja«, sagte Mercedes. »Jetzt haben alle Angst.« Wayne Hyde hatte sich ein Zimmer in einem Hotel der

Innenstadt genommen. Er packte seine Kleidersäcke aus und setzte sich auf das Bett. Dann wählte er eine lange Nummer, die mit den Zahlen 00 13 12 begann, der Vorwahl für Chicago.

Die dünne, zittrige Stimme einer alten Frau meldete sich, als die Verbindung zustande kam.

»Ja?«

»Hallo, Ma, hier ist Wayne.«

»Oh, Wayne!« Seine Mutter lachte selig. »Ich habe schon so gewartet! Du hast gesagt, du wirst heute anrufen.«

»Tue ich ja, Sweetheart! Ging nicht früher, leider. Wahnsinnig viel zu tun.«

»Wo bist du? Immer noch in Rom?«

»Immer noch, ja. Die Verhandlungen ziehen sich hin.« »Mein guter Junge, ach bin ich froh, deine Stimme zu hören!« »Du hörst sie zweimal die Woche, Ma.«

»Ja, gewiß. Aber du bist doch alles, was ich habe. Ich liebe dich so, Wayne.«

»Und ich dich. Du bist auch alles, was ich habe, Ma.« Er fuhr sich mit der Hand durch das sehr kurze blonde Haar.

»Danke für die Blumen!«

»Haben sie anständige geliefert?«

»Wunderschöne! Noch nie habe ich so herrliche Orchideen bekommen. Lauter Rispen! Du bist verrückt, Junge.«

»Total verrückt. Das habe ich schriftlich. Sie sind bestimmt okay, die Orchideen, Ma? Bei Überseeaufträgen weiß man ja nie.«

»Du nimmst doch immer dasselbe Geschäft hier, Schatz. Mister Kleene ist ein ehrlicher Mann. Er freut sich immer mit mir, wenn Blumen kommen. ›Sie haben einen wunderbaren Sohn, Mrs. Hyde‹, sagt er. ›Wie der Sie lieben muß!‹«

»Mister Kleene hat recht. Wie geht es dem Bein?« »Doktor Hailey sagt, es wird noch lange dauern, bis ich

aufstehen kann. Es war ein sehr komplizierter Bruch. Und in meinem Alter wachsen die Knochen einfach nicht mehr zusammen. Ich werde wohl nie mehr laufen können.«

»Das sagt der Arzt?«

»Das sage ich.«

»Sag das nie wieder! Was für ein Unsinn! Hailey ist der beste Mann, den wir in Chicago kriegen konnten. Natürlich wirst du wieder laufen können! Ich bete für dich, Ma, jede Nacht. Ehrlich. Jede Nacht bitte ich Gott, daß es schnell heilt, dein Bein.«

»Mein ein und alles. Ich bete auch für dich. daß du Erfolg hast und gesund bleibst.«

»Wir zwei«, sagte Hyde. »Was machst du gerade? Fernsehen? Es wird ja jetzt Abend bei euch, wie?«

»Ein Tanzturnier sehe ich. Du weißt doch, ich bin verrückt nach Tanzturnieren. Wie die Menschen schreiten und gleiten, wie sie sich drehen, wie schön ist das! Ich war doch auch einmal eine sehr gute Tänzerin, nicht? Und jetzt muß mir das mit dem Bein passieren. Ach, Liebster ...«

»Alles wird wieder gut. Ist die Krankenschwester okay?« »Großartig. Aber teuer. Du gibst so viel Geld für mich aus,

Wayne!«

»Für wen sonst?«

»Wenn die Bank dich nur nicht immer in der Welt herumschicken würde, Wayne.«

»Geht nicht anders, Ma. Das ist ein Top-Vertrauensposten, den ich da habe. Große Verantwortung.«

»Ja, gewiß. Ich bin auch sehr stolz auf dich. Aber es dauert manchmal so lange, bis du wieder bei mir bist. Wie lange wird es diesmal dauern?«

»Kann ich nicht sagen, Ma. Noch eine ganze Weile, fürchte ich. Aber wenn ich heimkomme, machen wir Ferien. Raus aus dem dreckigen Chicago. Wir fliegen nach Hawaii.«

»Du hast den Verstand verloren!«

»Wir fliegen nach Hawaii und wohnen im teuersten Hotel in der schönsten Suite und haben Sand und Sonne und blaues Meer – und einander.«

»Aber ich kann doch nicht laufen – mit meinem Bein.« »Kaufen wir einen elektrischen Rollstuhl. Die

Krankenschwester kommt mit. Keine Widerrede! Alles schon beschlossen. So, und jetzt muß ich Schluß machen, Ma. Ich umarme dich ganz innig. Paß auf dich auf, hörst du?«

»Und du auf dich, Darling. daß dir nichts passiert. Die Zeiten sind so furchtbar geworden. Überall Gangster und Totschläger. Bitte, sei vorsichtig. Auch mit Frauen. Es gibt so viele schlechte Frauen.«

»Für mich gibt es nur dich, und das weißt du. Großen, dicken Kuß, Ma! In drei oder vier Tagen rufe ich wieder an. Wieder gegen Abend. Leb wohl, Ma!«

Hyde legte auf, hob wieder ab und wählte eine Zahl. Es meldete sich der Etagenservice. Hyde nannte seine Zimmernummer.

»Bringen Sie mir ein Steak mit Pommes frites und grünen Bohnen«, sagte er. »Das Steak medium. Und eine Flasche Mineralwasser. Danke.«

Eine Viertelstunde später erschien ein Kellner mit einem Servierwagen und der Mahlzeit, die Hyde bestellt hatte. Er aß mit Genuß und trank ein Glas Wasser dazu. Zuletzt nahm er die Flasche und das Glas vom Wagen und stellte beides auf ein Tischchen. Den Wagen rollte er in den Gang hinaus. An die Klinke hängte er das Schild NICHT STÖREN. Es war genau 23 Uhr, als Hyde Roger Morleys Nummer in London wählte und die Blockierung des automatischen Beantworters mit Hilfe seines kleinen Decoders aufhob.

Die Stimme des Anwalts ertönte: »Zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig am zweiundzwanzigsten Februar vierundachtzig. Tut mir leid, Mister Hyde. Man berät noch. Unternehmen Sie nichts. Bleiben Sie, wo Sie sind! Rufen Sie mich um zwei Uhr früh mitteleuropäischer Zeit wieder an. Bis dahin weiß ich mehr. Alles Gute! Ende.« Das Band hielt mit einem leisen Schnappen. Hyde goß sich Wasser ein und nahm das Buch zur Hand, das auf dem Telefontischchen lag. Der Sessel war bequem. Das Licht einer Stehlampe fiel auf die Seiten. Er trank langsam. Er las langsam und aufmerksam:

»So reich bin ich, ein Wunderschlüssel kann / Mich führen zu dem lieblichsten Besitze. / Doch nur an seltnem Tag brech’ ich den Bann, / Damit nicht stumpf wird des Genusses Spitze ...«

Conrad Colledo half Mercedes beim Packen. Sie nahmen zwei Koffer, denn Daniels Winterkleidung war schwer und brauchte mehr Platz.

»Sie kommen mit mir und übernachten heute bei uns, Mercedes! Ich habe schon alles mit meiner Frau besprochen«, sagte Colledo. »Sonst hätte ich keine ruhige Minute.«

»Aber ich habe doch jetzt meine ›Lebensversicherung‹!« »Trotzdem«, sagte er. »Wir wissen nicht, was sie im ersten

Schreck tun ... Nein, bitte, widersprechen Sie nicht! Sie kommen mit!« Er trug das Gepäck zu seinem Wagen. Beim Fahren setzte er eine Brille auf. Es war ein gutes Stück Weg. Colledo wohnte in der Siesmayerstraße am großen Grüneburgpark neben dem Palmengarten. Das erzählte er Mercedes, als er startete. Und übergangslos: »Lisa – meine Frau – ist letzten Sommer im Garten unglücklich gestürzt. Direkt in die Messer eines Rasenmähers. Sehnen an beiden Handgelenken zerschnitten. Sechs Operationen. Man sieht kaum etwas. Aber vieles kann sie nicht mehr mit den Händen tun.«

Lisa Colledo war eine kleine, zarte Frau mit blondem Haar und blauen Augen. Sie begrüßte Mercedes herzlich. Ihre Hände waren eiskalt. Im Speisezimmer der modern eingerichteten Villa sah Mercedes einen gedeckten Tisch.

»Du hast gesagt, daß es wahrscheinlich spät wird, Conny. Theres hat Gulasch gekocht. Zwanzig Minuten, und wir können essen.«

Im ersten Stock gab es ein Gästeappartement mit Bad und Telefon. Mercedes duschte, dann zog sie das andere Kostüm an und ging wieder hinunter. Die Köchin Theres war eine Frau von gewiß sechzig Jahren, mit einem freundlichen Gesicht und einem prächtigen falschen Gebiß. Sie servierte und füllte Lisas Teller. Colledo schnitt ihr das Fleisch klein.

»Conny hat Ihnen schon erzählt, ja?« Lisa sah zuerst Mercedes an und dann auf ihre Hände. Mercedes nickte. »Es ist zu dumm. So viele Dinge sind noch möglich. Und andere, ganz einfache, nicht mehr. Ich könnte zum Beispiel durchaus Auto fahren. Ich kann es nicht, weil ich die Tür nicht aufkriege, wenn ich aussteigen will. Meine Schrift hat sich überhaupt nicht verändert. Professor Eichholz meint, es wird wieder ganz gut werden. Schmeckt Ihnen das Gulasch? Theres ist Wienerin. Es wird natürlich nie mehr gut. Ich kann nicht einmal Butter auf ein Brötchen schmieren«, sagte sie nun leise.

Colledo hatte Mercedes während der Fahrt erklärt, daß er seine Frau nicht über das informiert habe, was vorging. Es gebe nur besonders viel zu tun im Augenblick, und Mercedes sei eine Freundin Daniels aus Brasilien, eben in Frankfurt gelandet, um ihn zu besuchen. Er mache doch diese Entziehungskur in der Nähe von Wien.

»Morgen fliegt Mercedes weiter, Danny wird sich sehr freuen.«

»Danny!« Lisa lächelte, als nun die Rede auf ihn kam, und plötzlich hatte ihr Gesicht die Lieblichkeit eines jungen Mädchens. »Ein so alter Freund von uns! Ein so feiner Kerl! Mein Mann und er arbeiten seit einer Ewigkeit gut zusammen ...« Mercedes sah Colledo an. Der schloß kurz die Augen. Seine Frau wußte also auch nicht, daß Daniel entlassen und wieder angestellt worden war. Colledo schien alles von ihr fernzuhalten.

Die Wiener Köchin kam und ging. »Prima, das Gulasch, Theres.«

»Dank schön, gnä’ Herr. Gibt noch Sorbet. Ham gnä’ Herr doch so gern! Die Dame auch?«

»Besonders«, sagte Mercedes.

»No, das is aber fein!«

Nach dem Essen saßen sie noch eine halbe Stunde vor dem Kamin im Wohnzimmer. Mächtige Scheite brannten. An den Wänden der Räume hatte Mercedes zahlreiche Bilder gesehen – immer mit dem gleichen Motiv, einem kleinen Mädchen. Es spielte. Es schlief. Es lief. Über dem Kamin hing ein Portrait, auf dem das kleine Mädchen lachte. Lisa bemerkte Mercedes’ Blick.

»Wir hatten ein Kind«, sagte sie. »Es ist gestorben. Mit dreizehn Jahren. Im letzten Sommer.«

Colledo sagte: »Alle Bilder von Kathi hat meine Frau gemalt. Sie ist unerhört begabt.«

»Ja, wirklich«, sagte Mercedes.

»Ach nein«, wehrte Lisa ab. »Und jetzt könnte ich gar nicht mehr malen. Ich will auch nicht. Ich habe alle anderen Bilder vernichtet, als ... Kathi starb. Nur die von ihr habe ich aufgehoben.« Sie begann plötzlich zu weinen. Colledo legte einen Arm um ihre Schultern und redete tröstend auf sie ein.

»Es ist eine solche Gemeinheit!« sagte Lisa zu Mercedes. »Wie kann Er so etwas zulassen? Ein so gutes Kind. ›Mein Engerl‹, hat Theres sie immer genannt. Nein, es gibt Ihn nicht ...« Sie verbarg ihr Gesicht an Colledos Hals. Der sah Mercedes an, flehend war sein Blick.

Die Handgelenke zerschnitten. Von den Messern eines Rasenmähers. Nie und nimmer, dachte Mercedes. Nimmer und nie. Das war ein anderes Messer ...

Sie gingen bald schlafen.

»Wenn Sie jetzt Ihren Vater anrufen wollen«, sagte Colledo, schon bei der Treppe. »Drüben ist es erst halb acht.«

»Ja, danke«, sagte Mercedes.

Auch in ihrem Zimmer hing ein Portrait des kleinen Mädchens. Mercedes setzte sich auf das Bett, neben dem der Telefonapparat stand. Sie wählte die lange Nummer. Ihr Stiefvater meldete sich gleich.

»Olivers!«

»Vater, hier ist Mercedes.«

»Ich warte seit gestern.« Seine Stimme klang unruhig. »Etwas passiert?«

»Alles in Ordnung.«

Goldblondes Haar hatte das kleine Mädchen und blaue Augen. Auch auf diesem Bild lachte es.

»Wo ist Daniel?«

»Noch im Sender«, log Mercedes.

»Von wo sprichst du? Kann auch niemand mithören?« »Wir wohnen bei Freunden von ihm, niemand kann

mithören.« Das kleine Mädchen auf dem Bild hielt den Kopf hochgehoben. »Na und? Was ist? Mein Gott, nun rede doch schon!«

»Sie sind überwältigt. Sie werden den Film senden. Vorher müssen sie die Sache natürlich ganz genau prüfen – das hat dir schon Danny gesagt.«

»Jajaja. Und bezahlen sie den Preis?«

»Grundsätzlich sind sie dazu bereit.«

»Was heißt grundsätzlich?« Seine Stimme wurde laut. Über Tausende von Kilometern, über Urwälder und Steppen, über ein Weltmeer hinweg fühlte sie, wie er immer zorniger wurde, immer mehr die Fassung verlor.

»Vater ... Ich bitte dich ... Wir sind erst einen Tag hier. Das ist eine ungeheuere Summe, die du verlangst ... Das ist eine ungeheuere Sache, auf die sie sich einlassen ... Denk an den weltweiten Skandal! Sie müssen Nachforschungen anstellen, sie müssen sich absichern ...«

»Du weißt, was die Leute da in der Hand haben. Natürlich werden die andern nun alles versuchen, den Film als Fälschung hinzustellen ... Sie werden Zeugen bestechen, damit diese falsche Aussagen machen und lügen ...«

»Eben! Und um alle Zeugen für und wider die Echtheit zu finden, brauchen sie im Sender Zeit.«

»Wieviel Zeit?«

»Das weiß ich nicht ... Mein Gott, Vater! Sie haben das Material eben erst bekommen! Sie fangen gerade mit Recherchen an.«

»Und bevor die nicht abgeschlossen sind, zahlen sie nicht.« »Nein«, sagte Mercedes hart. So hatte sie ihren Vater noch nie

erlebt. Wollte er nicht wie sie mit dem Film die Menschen wachrütteln? Einen entsetzlichen neuen Krieg verhindern? Ging es ihm plötzlich nur um Geld? Mercedes war verblüfft und erschüttert. »Nein«, sagte sie nochmals, »vorher zahlen sie nicht.« Was war mit ihrem Vater geschehen?

Ein dunkelrotes Kleid trug das kleine Mädchen auf dem Bild. Am Telefon kam keine Antwort.

» Vater!«

»Ja.«

»Warum sagst du nichts?«

»Weil ... So habe ich das nicht mit Daniel verabredet. Also, sie zahlen erst, wenn sie ihre Untersuchungen beendet haben. Das kann einen Monat dauern, wie? Hörst du mich? Ich habe gesagt: Das kann einen Monat dauern, wie?«

»Ich weiß es nicht, Vater. Ja, vielleicht einen Monat ... Vielleicht auch länger ...«

»Länger?« Jetzt klang seine Stimme hysterisch. »Hör mal zu, Mercedes: Ein Monat ist das absolute Maximum, das ich ihnen gebe. Wenn sie in einem Monat noch nicht bezahlt haben – den ganzen Betrag –, dann können sie die Sache vergessen. Dann tue ich, was ich Daniel erklärt habe. Er soll es dir sagen. Er soll es

seinen Leuten sagen.«

»Du tust gar nichts, Vater! Bitte! Du bringst dich in Lebensgefahr – und eine Menge Menschen dazu. Ich flehe dich an!«

»Lebensgefahr! Ich kann nicht länger als einen Monat warten. Ich will nicht länger als einen Monat warten. Damit müssen sich die Herren abfinden. Ich rufe in drei Tagen an – wo erreiche ich euch?«

»Das weiß ich nicht, Vater. Wir werden jetzt dauernd unterwegs sein. Wir melden uns bei dir.«

»Meinetwegen. Aber wenn ich nicht die feste Zusage bekomme, daß der gesamte Betrag spätestens in einem Monat überwiesen wird, gehe ich eigene Wege.«

»Vater, ich bitte dich ...«

»Gehe ich eigene Wege!« brüllte er. Danach wurde seine Stimme wieder normal: »Gute Nacht, mein Kind!« Schon war die Verbindung unterbrochen.

Mercedes legte den Hörer auf und saß reglos da. Sie starrte das Portrait des kleinen Mädchens an, das auf dem Bild so herzlich lachte und im Leben so elend gestorben war.

Eigene Wege geht er, dachte Mercedes. Wohin führen die ihn? Kalt und klebrig hielt sie plötzlich wieder die Angst gepackt. Sie vergrub das Gesicht in den Händen.

Der Anwalt Roger Morley in London legte ebenfalls den Telefonhörer auf. Er hatte fast zwei Stunden mit verschiedenen Kontaktleuten gesprochen und machte einen erschöpften Eindruck. Jetzt lehnte sich der kleine Mann mit dem rosigen Gesicht, den Pausbacken, dem runden Mund, den Mäusezähnchen und dem wirren grauen Haar in dem bequemen Sessel seines Kanzleibüros zurück und faltete die Händchen über dem Spitzbauch. Es war 1 Uhr 10 morgens. In der Chancery Lane hupte ein Auto, lange und enervierend. Dann war es wieder still. Morley tupfte sich mit einem Seidentuch die Stirn trocken. Ich bin ein alter Mann, dachte er betrübt. Dann erhellte sich sein Gesicht. Tee! Was er jetzt brauchte, das waren ein paar Tassen guten Tees.

Schwungvoll erhob er sich und eilte mit trippelnden Schritten in die Kitchenette. Dort füllte er einen Kessel voll Wasser und stellte eine Herdplatte an. Nachdenklich betrachtete er die lange Reihe von bunten Blechdosen, die auf einem Bord über dem Herd standen. Was nehmen wir am besten? »Flowery Orange Tea«? »China Jasmin with Flowers«? O nein, wir nehmen einmal einen »Finest China Keemun«, blumigzart! Roger Morley bereitete das Getränk, das ihm Erleichterung von des Tages Plagen bringen sollte, mit der Versunkenheit eines großen Dirigenten. Er trug zusammen, was er brauchte. Auf einem Silbertablett brachte er alles zu seinem Schreibtisch. Zuerst legte er drei Stück Kandiszucker in die Tasse aus dünnem Chinaporzellan. Dann goß er sie halb voll Tee. Dann verdünnte er ihn mit heißem Wasser. Er wartete und sog den Duft des »Finest China Keemun« ein.

Endlich trank er. Das glückliche Lächeln eines Babys erhellte sein Gesicht.

Ach ja, so schmeckte das eben!

Nachdem er zwei Tassen getrunken hatte, fühlte er sich wieder frisch. Er bereitete eine dritte Tasse auf Vorrat, zog das Tischchen mit dem automatischen Anrufbeantworter heran, schaltete diesen ein, nahm ein kleines Mikrofon und begann zu sprechen. »Guten Abend, Mister Hyde. Oder guten Morgen, sollte ich besser sagen. Es ist ein Uhr fünfundzwanzig am dreiundzwanzigsten Februar neunzehnhundertvierundachtzig. Ich bin nun in der Lage, Ihnen neue Instruktionen zu geben.«

Ein Schluck Tee.

»Die Situation hat sich geändert, wie ich Ihnen schon mitteilte. Wichtigster Punkt: Die verantwortlichen Leute im Sender Frankfurt, die den Film nun haben, werden ihn – nach präzisen Recherchen – ausstrahlen, gleich, ob die Untersuchung ergibt, daß er eine Fälschung ist oder nicht. Es wird jedoch ohne Zweifel skrupellose Zeugen geben, die auf seine Echtheit pochen. Meine Bekannten wünschten zuerst – Sie erinnern sich –, daß der Film in ihren Besitz kommt und unter keinen Umständen ausgestrahlt wird. Diese Ideallösung ist nicht mehr zu erreichen. Es gilt nun, den Film wenigstens als die infame Fälschung erscheinen zu lassen, die er ist. Dabei wäre zu beachten, daß der Intendant des Senders meinen Bekannten gegenüber die Tatsache, daß er nun im Besitz der beiden Filmkopien ist, als ›Lebensversicherung‹ für alle an dem Projekt Beteiligten, natürlich insbesondere für Ross und die Olivera, bezeichnet hat.«

Etwas zu stark der Tee diesmal. Morley goß heißes Wasser nach. Er kostete. Jetzt war die Konzentration perfekt.

»Unter keinen Umständen, lieber Mister Hyde, in keiner Situation, wie auch immer sie beschaffen sein mag, dürfen Sie jetzt also Gewalt gegen die beiden Herrschaften anwenden. Hahaha. Ich liebe solche Volten. Sie auch? In der Tat hat sich an der Grundsituation nichts geändert: Wir haben es mit einem alten Nazischwein zu tun, das einen gefälschten Film an die Öffentlichkeit bringen und damit möglichst viel Geld verdienen will. Jene Zeugen, die nun behaupten werden, der Film sei echt, sind entweder auch Nazis und lügen deshalb bewußt und skrupellos, oder sie erhalten Geld, das ist klar. Dem einfachen Mann vor dem Fernsehschirm kann man das indessen nicht klarmachen. Ihn wird jede Aussage eines jeden Zeugen beeindrucken. Darum ist es – und jetzt hören Sie gut zu, Mister Hyde – von erstrangiger Bedeutung, diese verleumderischen Zeugen zu liquidieren und zwar noch bevor sie Gelegenheit haben, ihre Aussagen vor einer Kamera zu machen. Wir müssen an diese Lumpen deshalb früher oder wenigstens zur gleichen Zeit herankommen wie die Rechercheure des Senders. Das bedeutet für Sie, Ross und die Olivera ständig unter Observation zu halten. Natürlich werden die beiden nun auch Zeugen suchen. Sie, Mister Hyde, müssen eine Möglichkeit finden, synchron mit ihnen zu erfahren, ob ein solcher Zeuge die Wahrheit sagen will, also daß der Film gefälscht worden ist, oder ob er die Absicht hat, die Echtheit des Films zu belegen. Im ersten Fall ist es notwendig, stets dafür zu sorgen, daß der Zeuge seine Aussage vor der Kamera machen kann. Im zweiten Fall ist es Ihre Aufgabe, den Zeugen zu liquidieren, bevor eine Kamera an ihn herankommt.«

Ein Schluck Tee.

»Nun, lieber Mister Hyde, Sie können sich nicht um alle Menschen des Senders kümmern, die jetzt auf die Suche nach Zeugen und Beweisen geschickt werden. Aus diesem Grunde sind bereits zahlreiche weitere Profis angeworben worden. Sie bleiben natürlich der wichtigste Mann. Sie werden – nach den letzten Instruktionen – ausschließlich auf die Olivera und Ross angesetzt. Die beiden sind am gefährlichsten. Am allergefährlichsten ist die Olivera. Warum? Weil sie eine Fanatikerin ist, die alle Menschen der Welt – mit Ausnahme von etwa ›zweihundert verbrecherischen alten Männern‹ – und sich selber für Opfer hält. Wissen Sie, wer die Schlimmsten sind, Mister Hyde? Die Opfer, wenn sie zu Anklägern werden. Ich kann Ihnen in Bälde erklären, wie die Jagd losgehen soll. Ein Scenario wird gerade ausgearbeitet. Es hat zur Voraussetzung ...«

»... daß Sie nach Wien zurückkehren und in unmittelbarer Nähe der beiden zu Observierenden bleiben«, klang Roger Morleys Stimme an Hydes Ohr. Der hatte, wie erbeten, den Anwalt um zwei Uhr früh aus seinem Hotelzimmer in Frankfurt angerufen. Er saß, den Hörer in der Hand, unter der Lampe. Die Mineralwasserflasche hatte er ausgetrunken. »Weihen Sie Doktor Herdegen in alles ein. Er hat die Möglichkeit, Sie im Sanatorium unterzubringen. Natürlich darf die Olivera Sie jetzt weder bei Heiligenkreuz noch sonst irgendwo sehen, das ist klar.«

Ich muß Heinz die Waffen zurückgeben, bevor ich wieder nach Wien fliege, dachte Hyde. Und ich muß mich um die Buchungslisten kümmern, damit ich nicht in dieselbe Maschine gerate wie die Olivera.

»Ihre Arbeit und die Ihrer Kollegen, die allein oder zu zweit operieren, wird von hier aus koordiniert. Es wäre schädlich und gefährlich, wenn Sie einander kennen würden. Ich wiederhole: Zeugen für die Echtheit des Films sind sofort zu liquidieren. Umgekehrt brauchen wir dringendst Zeugen, die möglichst eindrucksvoll darlegen, daß der Film eine Fälschung darstellt und wie diese Fälschung entstanden ist. Der Film wird zwar auch dann gesendet werden, wenn alle Zeugen ›Fälschung!‹ rufen, wie man von seiten des Senders erfährt – in dem wir übrigens, und das ist sehr wichtig, lieber Mister Hyde, in dem wir übrigens, sage ich, Gott sei Dank einen zuverlässigen Vertrauensmann gefunden haben, der uns über alles informiert. Aber der Film wird – unberufen! – eine vollkommen andere Wirkung haben als beispielsweise die von der internationalen Friedensbewegung erhoffte. Er wird gerade diese Friedensbewegung als eine Gesellschaft von Leuten bloßstellen, die sich von schwärmerischen Phantasten zu gefährlichen Psychopathen entwickelt haben, welche vor keinem Betrug zurückschrecken und im Grunde die größte Gefahr für den Frieden bedeuten. Dies aufzuzeigen, lieber Mister Hyde, ist das Ziel, welches nun unbedingt erreicht werden muß. Eine große Aufgabe liegt vor Ihnen.«

Plötzlich hörte Hyde den Anwalt lachen und danach folgende Worte: »Entschuldigen Sie die ungebührliche Heiterkeit! Ich dachte gerade: Natürlich ist dieser Film eine Fälschung! Aber wenn er keine wäre, dann müßten wir alle den Amerikanern und den Sowjets auf Knien danken für dieses Geheimprotokoll, denn schließlich und endlich: Es hat seit neununddreißig Jahren keinen Weltkrieg mehr gegeben, nicht wahr?«

DRITTES BUCH

»Jetzt habe ich Ihnen also erklärt, zu welchem Zweck das Sanatorium Kingston eingerichtet worden ist und wie es funktioniert – und alle anderen Kingston-Sanatorien in Europa. Die Sowjets und die Amis wollen in dieser Zeit einfach solche Zentren haben, in denen sie gemeinsam wichtige Informationen kriegen«, sagte Josef Aigner, der grauhaarige, grauäugige Pfleger mit dem gutmütigen Gesicht und dem Körper eines Athleten. Er ging links von Daniel, Mercedes rechts von ihm. Das war am Vormittag des 5. März 1984.

Die drei Menschen überquerten langsam den verschneiten Hof des Stiftes Heiligenkreuz. Seit vier Tagen machte Daniel in Begleitung von Mercedes und wechselnden Pflegern solche Ausflüge in die immer noch winterliche Umgebung des Sanatoriums. Er hatte den Entzug und die Umstellung auf Amadam gut überstanden, zeigte enormen Appetit, schlief gut und kam unglaublich rasch wieder zu Kräften. An diesem vierten Ausflug nun nahm der Pfleger Josef Aigner teil. In den vergangenen fünfzehn Minuten hatte er Mercedes und Daniel das Geheimnis der seltsamen Klinik verraten.

»Warum erzählen Sie uns das, Herr Aigner?« fragte Daniel überwältigt.

»Josef, bittschön, Herr Ross, nicht Herr Aigner! Ich bin der Josef.«

»Also schön, Josef. Warum?«

»Weil die Frau Primaria mich darum gebeten hat«, antwortete der Koloß mit dem weichen Gemüt. »Sie hätte Ihnen das alles natürlich viel lieber selber erzählt, aber das geht nicht. Nie würde der Doktor Herdegen zulassen, daß sie mit Ihnen allein spricht, außerhalb vom Sanatorium. Oder daß sie gar spazierengeht mit Ihnen. Nein, nein, das ist ausgeschlossen. Die arme Frau Primaria ist eine richtige Gefangene. Ich bin der einzige hier, zu dem sie Vertrauen haben kann, denn ich und ihr Bruder sind in dieselbe Schule gegangen, und nachher war ich noch viele Jahre lang sein Freund. Aber das wissen die hier nicht, Gott sei Dank!«

»Sibylles Bruder!« sagte Daniel. »Ich habe ihn nie gesehen die ganze Zeit über in Wien. Aber gesprochen hat sie oft von ihm, so oft. Sie hing ganz außerordentlich an ihrem Bruder, kann ich mich erinnern.«

»Tut sie noch immer«, sagte Josef traurig. »Das ist ja das Unglück. So haben sie es leicht gehabt mit ihr.« Zwei Priester kamen über den gewaltigen Hof und gingen in der Nähe vorüber. Sofort wechselte Josef Thema und Tonfall. »Und hier, bittschön, wenn die Herrschaften die Dreifaltigkeitssäule betrachten wollen.« Er blieb vor einem aus Stein gemeißelten hohen Denkmal stehen, dessen Gestalten und Symbole dicke Schneehauben trugen. An der Spitze ragte ein großes goldenes Kreuz gegen die dunklen, tiefhängenden Wolken. »Ist siebzehnhundertneununddreißig erbaut worden. Grüß Gott, Hochwürden!« Die Priester zogen ihre schwarzen Hüte. »Eine ganz wunderschöne Säule«, sagte Josef. »So, und jetzt gehen wir hinüber zum Josephsbrunnen, der stammt aus dem gleichen Jahr. Kommen jeden Sommer viele Tausende Menschen her. Das Stift ist nämlich ein Wallfahrtsort, wissen Sie? Elfhundertachtundachtzig haben die geistlichen Herren von dem Babenberger Herzog Leopold dem Fünften eine Reliquie vom heiligen Kreuz erhalten. Ja, du lieber Gott, das ist alles viele Jahrhunderte alt. Was meinen Sie, wie im Sommer hier die Busse von den Reiseunternehmen parken! In Dreierreihen! Auch um diese Jahreszeit kommen Besucher.« Und übergangslos, da die beiden Priester sich entfernt hatten: »Die Frau Primaria kann sich wirklich verlassen auf mich, das weiß sie. Darum hat sie gesagt, ich soll Ihnen alles erzählen, wenn ich dran komm zum Begleiten beim Spazierengehen – alles über das Sanatorium und alles über sie. Die arme, gute Frau Primaria! Wir gehen am besten zuerst in die Stiftskirche. Der Doktor Herdegen hat um die Erlaubnis gebeten bei der Verwaltung hier, daß wir überall hindürfen zum Besichtigen. Das tut er oft, wenn er Patienten überhaupt aus dem Sanatorium hinausläßt ...« Sie hatten den Hof überquert und traten gegenüber den zweigeschossigen Arkaden in die große, alte Kirche ein. »Die Frau Primaria meint, Sie müssen alles wissen, damit Sie noch vorsichtiger sind.« Ihre Schritte hallten auf den ausgetretenen Steinplatten. Vor einem seitlichen Altar stand, ins Gebet vertieft, eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch. Sofort reagierte Josef: »Sehen Sie die Glasmalereien an den Fenstern, meine Herrschaften! Stammen aus dem Jahr dreizehnhundert ... daß ich also berichte: Neunzehnhundertsechsundsiebzig, vor acht Jahren, da hat die Frau Primaria noch am Allgemeinen Krankenhaus gearbeitet ... an der Psychiatrie, nicht?«

»Ja«, sagte Daniel. »Ich habe sie, als ich das erste Mal hier anrief, gefragt, wieso sie dort weggegangen ist. Sie wollte doch nie weggehen. Ich habe keine Antwort bekommen.«

»Jetzt werden Sie sie bekommen. Wie es die Frau Primaria gewünscht hat, daß ich Ihnen alles erzähl. Immer langsam weitergehen, die Herrschaften, so tun, wie wenn wir uns alles anschauen, sind noch ein paar Leute in der Kirche, sehe ich. Ja, also das war am achtzehnten Juni sechsundsiebzig. Da hat die Frau Primaria einen Anruf bekommen ...«

»Frau Dozentin Mannholz?« fragte die Männerstimme mit einem leichten slawischen Akzent.

»Ja.« Sibylle hatte auf einer elektrischen Schreibmaschine eine Krankengeschichte getippt, als das Telefon läutete. Heller Sonnenschein fiel in ihr Dienstzimmer. Es war hypermodern eingerichtet wie das ganze große Gebäude der neuen Psychiatrie. Man hatte sie nahe der Stelle errichtet, an welcher die alte Klinik abgerissen worden war. Alle anderen alten Bauten gab es noch. Die Psychiatrie war der erste Neubau.

»Mein Name ist Abad«, sagte die Männerstimme. »Ich bitte sehr um Entschuldigung für die Störung.«

»Sie stören nicht, Herr Abad. Worum handelt es sich?« »Ich – das heißt, meine Auftraggeber, hätten Ihnen ein

berufliches Angebot zu machen.«

»Ich bin seit Jahren hier an der Klinik, und ich will hier bleiben, Herr Abad.«

»Oh, aber Sie kennen das Angebot nicht, Frau Dozentin! Es ist absolut einmalig. Ich möchte Ihnen das nicht am Telefon erklären. Wann können wir uns treffen?«

Sibylle zögerte.

»Ich fürchte, das hat keinen Sinn, Herr Abad.« »Ganz bestimmt hat es Sinn«, sagte er eifrig. »Würden Sie

mir die Freude bereiten, mit mir zu Abend zu essen? Ich kenne Wien nicht sehr gut. Man sagt, das Restaurant im Donauturm wäre eine Attraktion. Und das Essen ausgezeichnet. Paßt es Ihnen gleich heute abend?«

Sibylle überlegte. Ihr Mann war für drei Tage nach Paris geflogen. Er hatte im Louvre zu tun.

»Einen Moment!« Mercedes unterbrach Josefs Bericht. Ihr Gesicht war plötzlich blaß. »Die Frau Doktor ist verheiratet?«

»No ja, freilich. Haben Sie das nicht gewußt, Frau Olivera?« »Nein, das habe ich nicht gewußt.« Mercedes sah Daniel an.

»Hast du es gewußt?«

Er nickte.

»Warum hast du es mir nie gesagt?«

»Wir haben noch nie ausführlich über Sibylle gesprochen, Mercedes«, sagte er lahm. »Sie hat neunzehnhundertdreiundsiebzig geheiratet. Einen alten Freund von mir. Ich habe die beiden miteinander bekannt gemacht.«

»Und wieso heißt sie dann noch immer Mannholz?« »Das war ihr Name als junge Ärztin. Unter diesem Namen

war sie bekannt. Sie wollte keinen Doppelnamen und behielt ihren bei. Ihr Mann, Doktor Werner Farmer, ist Kunsthistoriker.«

»Wo lebt er?«

»Na, hier natürlich, gnä’ Frau. Mit der Frau Primaria zusammen. In der Villa im Park. Sie haben doch die Villa gesehen, nicht?«

»Ja, die habe ich gesehen«, sagte Mercedes. Sie sah Daniel wieder lange an. Dann lächelte sie schwach und hängte sich bei ihm ein, während sie weitergingen und der Pfleger weitererzählte ...

Sibylle überlegte. Ihr Mann war für drei Tage nach Paris geflogen. Er hatte im Louvre zu tun.

»Heute abend ginge es«, sagte sie zögernd. »Darf ich Sie abholen – sagen wir um sieben?« Sibylle wohnte längst nicht mehr im Turm. Sie hatte mit Werner ein Haus in Sievering gemietet.

»Vielen Dank! Machen Sie sich keine Mühe! Ich habe einen Wagen.«

»Sehr schön. Dann darf ich einen Tisch bestellen im oberen Restaurant für – nun, sagen wir halb acht?«

»Halb acht, gut. Wie erkenne ich Sie, Herr Abad?« »Keine Sorge, Frau Dozentin. Ich kenne Sie.« »Wieso? Woher?«

»Oh, von vielen Fotografien. Wir sind einander auch ein paarmal begegnet.«

»Wo?«

»In der Klinik. Bei Ihren Vorlesungen im Großen Hörsaal.« »Ich kann mich wirklich nicht erinnern ...«

»Sie haben mich nicht gesehen, Frau Dozentin. Ich habe Sie sehr wohl gesehen. Ich erkläre Ihnen alles am Abend im Donauturm.«

Der Wiener Donauturm wurde als Wahrzeichen für die Internationale Gartenschau errichtet und 1964 in Betrieb genommen. Er ist mit 252 Metern das höchste Bauwerk der Stadt. Zwei Expreßlifte bringen die Besucher in 45 Sekunden 165 Meter hoch zum Zentralgeschoß. Der Turm hat zwei Aussichtsterrassen und zwei klimatisierte, drehbare Restaurants in 160 und 170 Meter Höhe. Die beiden Restaurants können mit einer Geschwindigkeit von 26,39 oder 52 Minuten pro Umdrehung rotieren.

Am Abend des 18. Juni 1976 saß die Dozentin Sibylle Mannholz hier einem auffallend kleinen, sorgenvoll aussehenden Mann gegenüber. Abad hatte eine zu große Nase und zu große Ohren für seinen zarten Kopf. Hinter einer sehr starken Brille konnte man nur schwer die Augen erkennen. Seine Stirn war zerfurcht, sein Haar schütter und straff nach hinten gekämmt. Abad trug eine große Perle im Krawattenknoten. Seine Hände glichen denen eines Pianisten. Er vermittelte einen zarten, zerbrechlichen Eindruck.

Während des Essens hatte er höfliche Bemerkungen über Sibylles Aussehen sowie ihre beruflichen Fähigkeiten gemacht und versichert, daß er ihren Mann und die Kunstbücher, an denen dieser mitarbeitete, sehr bewundere. Nun, bei Kaffee und Cognac, lehnte er sich vor, verschränkte die kleinen Finger und senkte die Stimme. Draußen glitt fast unmerklich das Lichtermeer der Innenstadt vorüber.

»Nun also, Frau Dozentin«, sagte der zwergenhafte Abad. »Kommen wir zur Sache! Haben Sie schon einmal von den Kingston-Sanatorien gehört?«

»Nein.«

»Nun ja, sie existieren noch nicht sehr lange, und man macht keine Reklame für sie. Ein amerikanischer Millionär namens Kingston hat sie gebaut, wie andere amerikanische Millionäre Hotelketten gebaut haben, in ganz Europa. Es sind psychiatrischneurologische Kliniken mit allem nur denkbaren Komfort und den modernsten und kostspieligsten Apparaten für komplizierte Untersuchungen. Nur erste Kapazitäten arbeiten in diesen Kliniken, das Personal ist gleichfalls hervorragend. Es gibt ein solches Sanatorium hier ganz in der Nähe – unweit dem Stift Heiligenkreuz. Sie kennen doch Heiligenkreuz? Dachte ich mir. Nun, im Auftrag der Verwaltung der Kingston-Sanatorien habe ich die Ehre, Ihnen die Leitung der Klinik bei Heiligenkreuz zu offerieren.«

Sibylle starrte den Zwerg an. Das Lichtermeer draußen war zurückgeblieben, da sich das Restaurant weitergedreht hatte. Mondschein fiel auf die Berge des Wienerwaldes.

»Warum offeriert man die Stelle mir, Herr Abad?« »Man nimmt nur erstklassige Spezialisten, ich sagte es schon.

Man hat Ihre Arbeit lange und genau beobachtet und ist zu der Ansicht gekommen, daß es in Wien niemanden gibt, der den Posten besser ausfüllen könnte als Sie.«

»Das ist sehr freundlich, Herr Abad, aber ...« Sie brach ab. »Aber?«

»Aber auch sehr ungewöhnlich.«

»Sie meinen: Weil Sie eine Frau sind? Ich bitte Sie, Frau Dozentin! Sie arbeiten doch im Allgemeinen Krankenhaus auch so selbständig wie Ihre männlichen Kollegen!«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Was dann?«

Nun neigte sich auch Sibylle vor.

»Herr Abad, Sie sind Ausländer, nicht wahr? Ich meine: Sie sprechen phantastisch Deutsch, aber da ist ein kleiner Akzent. Ein slawischer Akzent ...«

»Meine Eltern waren Russen, Frau Dozentin.« »Sehen Sie!«

»Sehe ich was, liebe Frau Dozentin?«

»Sie sind Russe, sagen Sie, und machen mir dieses Angebot im Namen einer amerikanischen Gesellschaft?«

»So ist es«, sagte Abad und lächelte traurig. »Und es besteht da durchaus kein Widerspruch. Diese Kingston-Sanatorien werden nämlich sowohl ...«

»Alle Wappensteine und Altarbilder, die Sie hier sehen, stammen von den großen Künstlern Rottmayr und Altomonte«, sagte der Pfleger Josef laut und schnell. Er unterbrach seinen Bericht, weil ihnen ein Mann und eine Frau durch das Kirchenschiff entgegenkamen. Der Mann hatte einen Reiseführer in den Händen, der offenbar eine Beschreibung der Kirche und des ganzen Stifts enthielt, denn er las seiner Begleiterin aus ihm vor. Sie blieben stehen und betrachteten ein Altarbild. Mercedes, Daniel und der Pfleger Josef gingen weiter. Als sie sich weit genug entfernt hatten, sagte Josef: »Na ja, und dann hat dieser Abad der Frau Primaria ganz offen erklärt, um was für Einrichtungen es sich bei diesen Kingston-Sanatorien handelt ...«

»Ärzte und Personal sind natürlich absolut ahnungslos. Ich kann Ihnen das ganz offen erklären, liebe Frau Dozentin«, sagte der kleine Mann und trank einen Schluck Cognac, »denn ich weiß, wie sehr Sie Ihren Bruder Eugen lieben.«

»Was hat mein Bruder Eugen damit zu tun?« »Oh, sehr viel, liebe Frau Dozentin. Er wird der

entscheidende Grund dafür sein, daß Sie unser Angebot annehmen.«

»Ich werde Ihr Angebot niemals annehmen, Herr Abad«, sagte Sibylle. »Hören Sie? Niemals! Mich entsetzt das, was Sie mir eben über Sinn und Arbeitsweise dieser Sanatorien erzählt haben. Nie im Leben möchte ich mit einer solchen Einrichtung etwas zu tun haben. Wenn ich geahnt hätte ...«

»Ihr geliebter Bruder Eugen arbeitet seit neun Jahren für den Bundesnachrichtendienst«, unterbrach Abad Sibylle, und seine Stimme war jetzt traurig. »Der BND hat seine Zentrale in Pullach bei München. Vor nicht ganz drei Jahren wurde Ihr Bruder in die Sowjetunion eingeschleust – äußerst geschickt eingeschleust – und war in Moskau als Korrespondent einer großen westdeutschen Zeitung – Sie wissen, welcher – tätig. Das stimmt, nicht wahr?«

Sibylle nickte stumm.

Jetzt sah man durch ihr Fenster den breiten Strom, der silbern leuchtete im Widerschein des Mondlichts.

»Sie haben in regelmäßigem Kontakt gestanden. Sie haben immer, all die Jahre, Angst um Ihren Bruder gehabt. Nun, jetzt hat er auch Angst.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß es dem sowjetischen Staatssicherheitsdienst nach so langer Zeit – Kompliment, Ihr Bruder ist ein kluger Kopf –, nach so langer Zeit, sage ich, gelungen ist, genügend Belastungsmaterial gegen Eugen Mannholz zusammenzutragen, um ihn als westdeutschen Agenten entlarven und vor Gericht stellen zu können. Die Verhandlung fand vor vier Wochen statt. Ihr Bruder wurde schuldig befunden und zum Tode verurteilt.«

»Der Kreuzgang, den wir nun besichtigen werden«, sagte Josef Aigner, seinen Bericht neuerlich unterbrechend, weil eine Gruppe von deutschen Touristen mit einer Fremdenführerin an ihnen vorüberzog, »entstand zwischen zwölfhundertzwanzig und zwölfhundertvierzig. Ich habe zu erwähnen vergessen, daß das Stift im siebzehnten Jahrhundert durch Angelo Canavale barocke Anbauten erhielt, wie den schönen Stiftshof, den wir gesehen haben, und seine Arkaden ...« Die Touristen waren weitergegangen. »Die arme Frau Primaria! Sie war vollkommen durcheinander. Sie liebt ihren Bruder wirklich sehr und hat wirklich stets in Angst gelebt. Eugen war schon während unserer Schulzeit ein ganz wilder Bub. Bei Kletterpartien auf der Rax hat er sich an Felshänge gewagt, vor denen uns andern schon vom Anschauen schlecht geworden ist. Dasselbe war es beim Turnen, beim Schwimmen und beim Motorradfahren. Wir haben immer gesagt, der Eugen hat keine Nerven. Was ihn faszinierte, war das Abenteuer, die Gefahr, schon in der Schule ...« Josef seufzte. »So ist er also dann später zum BND gegangen und nach Bußland. Dort haben sie ihn zuletzt enttarnt und zum Tod verurteilt. Und damit die Frau Primaria den Worten dieses Herrn Abad auch Glauben schenkte, breitete er eine Reihe von Fotografien vor ihr auf dem Tisch des Restaurants aus ...«

Sibylle nahm ein Foto nach dem anderen in die Hand. Ihr Gesicht war zu einer wächsernen Maske erstarrt. Die Bilder zeigten den vierundvierzigjährigen Eugen Mannholz in Sträflingskleidung auf einem Gefängnishof und, zivil angezogen, mit offenem Hemd, ohne Krawatte, stehend, vor den Richtern eines Militärgerichts. Das Restaurantfenster war nun den vielen Hochhäusern der Donaustadt am linken Ufer des Stroms mit ihren erleuchteten Fenstern zugewandt.

»Es tut mir aufrichtig leid«, sagte Abad und spielte mit dem perlengeschmückten Knoten seiner Krawatte. »Ich weiß, wie sehr Sie an Ihrem Bruder hängen – aber er hat seinen Beruf als Spion freiwillig gewählt. Er hat der Sowjetunion jahrelang großen Schaden zugefügt, so daß das Militärgericht nichts anderes tun konnte, als auf Todesstrafe durch Erhängen zu erkennen. Es gibt allerdings einen Ausweg ...«

Sibylle fuhr auf.

»Was haben Sie gesagt?«

Statt einer Antwort reichte ihr Abad ein Kuvert über den Tisch. Sibylle nahm einen zusammengelegten Bogen aus dem Umschlag. Als sie den Brief entfaltete, mußte sie ihn auf das Tischtuch legen, ihre Hände zitterten zu sehr. Die Schrift ihres Bruders! Ohne jeden Zweifel. Sibylle erkannte sie mit absoluter Sicherheit. Sie las:

Moskau, 20. Mai 1976

Liebste Sibylle, wenn Du diese Worte liest, wirst Du bereits wissen, was geschehen ist. Ich habe immer gewußt, was ich tue und was mir widerfahren wird, falls ich Pech habe. Ich habe mich für zu clever gehalten. Ich hatte nie Angst, sterben zu müssen. Nun, da ich verurteilt worden bin, kann ich kaum atmen, nichts mehr essen, nicht mehr schlafen. Ich will nicht sterben!

Sibylle stöhnte. Der Blick durchs Fenster fiel auf wüstes Überschwemmungsgebiet.

Vor einer Stunde waren zwei hohe Offiziere in meiner Zelle. Ich habe Papier und Bleistift und die Erlaubnis bekommen, Dir zu schreiben. Unter einer einzigen Bedingung sieht sich das Oberste Militärtribunal in der Lage, die Todesstrafe in eine Strafe von fünfundzwanzig Jahren Haft umzuwandeln: Du nimmst das Angebot an, welches der Überbringer dieses Briefes Dir macht. Ich weiß, was ich Dir damit antue, aber trotzdem bitte ich Dich: Akzeptiere das Angebot, damit sie mich leben lassen!

Wenn Du annimmst und man mit Deiner Arbeit zufrieden ist, werde ich auch die Erlaubnis erhalten, Dir alle acht Wochen einen Brief zu schreiben. Außerdem hat man mir Hafterleichterungen in Aussicht gestellt. Ja, es besteht für den Fall, daß Du hervorragend arbeitest, sogar die Möglichkeit einer Verkürzung der Haftzeit. Bitte tu, was der Mann, der Dir diesen Brief überbringt, von Dir verlangt! Der Termin für meine Hinrichtung ist schon festgelegt und wird nicht verschoben werden. Hilf mir!

Es umarmt Dich Dein Bruder Eugen.

Neben dem Namen sah Sibylle, halb blind vor Tränen, einen Rundstempel mit kyrillischen Buchstaben.

»Die Schrift im Stempel sagt: Militärzensurstelle einundzwanzig«, erläuterte der so kleine, sorgenvolle Herr Abad. »Trocknen Sie Ihre Augen! Nehmen Sie sich zusammen! Wir dürfen hier kein Aufsehen erregen. Los!« sagte er mit plötzlicher Schärfe. Sibylle nahm ein Taschentuch und tat, was er verlangt hatte. »Waren die Herrschaften zufrieden? Ist alles in Ordnung?« Ein höflicher Oberkellner stand plötzlich lächelnd vor ihrem Tisch. »Es war ganz ausgezeichnet«, sagte Abad. »Vielen Dank!«

»Wir haben zu danken, mein Herr«, sagte der Oberkellner. Er verneigte sich und ging lächelnd weiter. In einem anderen Sektor des Rundrestaurants hatten ein paar Frauen und Männer zu singen begonnen.

»Es wird ein Wein sein, und wir wern nimmer sein ...« »Nun?« fragte Abad.

Sibylle wollte antworten. Sie brachte keinen Ton aus der Kehle. »Frau Dozentin!« sagte Abad.

Sie antwortete nicht. Sie konnte nicht antworten, so sehr sie sich auch bemühte.

»Heute haben wir den achtzehnten«, sagte Abad. »In sieben Tagen ...«

»Hören Sie auf.« sagte Sibylle plötzlich sehr laut. »Leise!« mahnte Herr Abad. »Ganz leise!«

»... ’s wird schöne Madeln geb’n, und wir wern nimmer geb’n«, sang die vergnügte Gesellschaft. Durch das große Fenster konnte man jetzt im bleichen Mondlicht die alten Bäume, Tümpel, Sandbänke und Schrebergartenkolonien der

Lobau erblicken. Verloren blinkten dort wenige Lichter. »Also eine Erpressung«, sagte Sibylle. Sie und Abad sprachen

von nun an fast flüsternd.

»Bitte«, sagte Abad, »sagen Sie das nicht noch einmal! Sagen Sie das niemals wieder! Dies ist keine Erpressung. Dies ist die großherzige Bereitschaft sowjetischer Behörden, in einem Akt vollkommen unangebrachter Menschlichkeit Ihren Bruder zu begnadigen – falls Sie ebenfalls Bereitschaft zeigen.«

»Woher weiß ich, daß Eugen nicht trotzdem hingerichtet wird, auch wenn ich zusage? Wer garantiert mir das?«

»Das«, sagte Abad, »garantiere ich Ihnen namens und auftrags des Obersten Militärtribunals der Sowjetunion. Wenn Sie den Posten annehmen, wird man Ihrem Bruder gestatten, sofort einen ersten Brief zu schreiben. Andere werden folgen. Das ist doch eine weitere Garantie! Mehr Garantien kann kein Mensch verlangen.«

»Wann soll ich bei Heiligenkreuz anfangen?« frage Sibylle. Sie hatte zuvor ihr Glas mit einem großen Schluck geleert. »Meine Kündigungsfrist im Allgemeinen Krankenhaus beträgt ein halbes Jahr.«

»Man wird Sie gleich gehen lassen, wenn Sie sich zu verändern wünschen«, sagte Abad. »Das handhabt man überall großzügig. Sie sollen so schnell wie möglich anfangen.«

»Und mich für fünfundzwanzig Jahre verpflichten? Für fünfundzwanzig Jahre?«

»Vorsorglich ja«, sagte der zierliche Abad. »Es hängt alles von Ihnen beiden ab. Wie Ihr Bruder schreibt: Wenn man besonders zufrieden mit Ihnen beiden ist, kann die Haftzeit verkürzt werden. Sehr verkürzt unter Umständen. Es versteht

sich von selbst, daß Sie über unser Gespräch und über die wahren Gründe, aus denen Sie vom Allgemeinen Krankenhaus zum Sanatorium Kingston bei Heiligenkreuz wechseln, niemals mit einem Menschen sprechen werden – auch und vor allem nicht mit Ihrem Mann. Er ist Wissenschaftler. Sie führen eine vorbildliche, ruhige und großen Gesellschaften abholde« – Abad sagte tatsächlich ›abholde‹ – »Ehe. Ihr Mann kann überall arbeiten. Heiligenkreuz liegt nur dreißig Kilometer von Wien entfernt. Man wird Ihnen eine hübsche Villa im Park neben dem Sanatorium zur Verfügung stellen. Wir verbürgen uns dafür, daß Ihr Privatleben respektiert wird. Soll heißen, in Ihrem Heim werden sich keine Abhöranlagen befinden. Sie können natürlich Ihre Freunde einladen. Manchmal werden wir Sie bitten, einen Patienten einzuladen oder auch zwei. Dann allerdings wird Herr Doktor Herdegen, dessen Funktion ich Ihnen schon erklärt habe, anwesend sein, denn solche Patienten-Einladungen sind als Teil Ihres Dienstes aufzufassen. Sie erweisen sich immer wieder als nötig, weil man ...«

»... und in diesem sogenannten Brunnenhaus hier – Frühgotik – sehen Sie die ältesten Darstellungen von Babenbergern in Österreich.« Der Krankenpfleger Josef Aigner unterbrach seine leise Erzählung jäh, weil ein Priester ihnen entgegenkam. »Grüß Gott, Hochwürden!«

Der Geistliche nickte freundlich.

Josef setzte die Führung fort, während er weiter über das Gespräch berichtete, das Sibylle mit dem Mann namens Abad am Abend des 18. Juni 1976 im oberen Restaurant des Donauturms geführt hatte. »›Weil man private Auskünfte von Patienten in einer privaten Atmosphäre leichter bekommt‹, sagte Abad damals zur Frau Primaria.«

»Moment!« unterbrach Daniel Josef Aigners Erzählung. »Dieser Abad hat der Frau Primaria verboten, je auch nur mit einem Menschen über die wahren Hintergründe ihres Wechsels von Wien ins Sanatorium Kingston zu reden, ihren Mann eingeschlossen. Woher wissen Sie dann von der Sache?«

»Ich bin der einzige, dem sich die Frau Primaria anvertraut hat. Auf mich kann sie sich hundertprozentig verlassen. Ich bin doch mit dem Eugen in die Schule ...«

»Ja, das erzählten Sie schon«, sagte Daniel. »Sie hat zu Ihnen mehr Vertrauen als zu ihrem Mann?«

»Das natürlich nicht, Herr Ross.«

»Warum hat sie dann trotzdem nie mit ihrem Mann über diese Sache gesprochen?«

»Aber das ist doch wirklich leicht einzusehen, Herr Ross. Aus Liebe! Weil sie ihn nicht belasten will mit der Geschichte. Können Sie das nicht begreifen?«

»O doch«, sagte Mercedes, »das kann ich sehr gut begreifen. Andererseits hat sie nun Ihnen den Auftrag gegeben, uns zu informieren. Mich kennt sie überhaupt nicht. Und Herrn Ross hat sie zwölf Jahre lang nicht mehr gesehen.«

»Die Frau Primaria«, sagte Josef ernst, »ist sehr verzweifelt darüber, daß Sie, Herr Ross, und Sie, gnädige Frau, wie es der unglückliche Zufall gewollt hat, hier gelandet sind – noch dazu ganz offensichtlich in eine Geschichte verwickelt, an der allerhöchstes Interesse besteht. Die Frau Primaria hat zu mir gesagt, Sie müssen die Wahrheit kennen. Schnell. Zu Ihrem Schutz. Sie selbst kann Ihnen das alles nicht sagen. Man wird sie niemals mit Ihnen allein lassen. Im Sanatorium zu reden, ist unmöglich. Dort werden Sie abgehört. In der Villa ist immer Doktor Herdegen dabei. Sie hat schon daran gedacht, auf Kassette zu sprechen, aber das wäre auch viel zu riskant gewesen. Sie muß doch bei allem, was sie tut, an Eugen denken! Sie darf doch ihren Bruder nicht in Gefahr bringen. Muß immer vertrauenswürdiger werden, damit die Strafe herabgesetzt wird, wenn sie und Eugen sich weiter so großartig verhalten.« Josef sagte: »Sie muß unheimliches Vertrauen zu Ihnen haben, wenn sie mir sagt, ich soll Ihnen alles erzählen. Sie muß ganz sicher sein, daß Sie sie niemals verraten werden.«

»Das kann sie auch sein«, sagte Mercedes. »Wirklich eine großartige Frau, Danny.«

»Ja«, sagte er, »wirklich.« Mercedes drückte seinen Arm an den ihren. Sie standen noch immer vor den steinernen Gestalten der Babenberger. »Und Eugen geht es gut?«

»Es geht ihm gut«, sagte Josef. »Seit fünf Jahren darf er schon alle vier Wochen schreiben. Doktor Herdegen erhält die Briefe und gibt sie der Frau Primaria geöffnet. Und inzwischen darf Eugen längst lesen in der Freizeit, und er hat besseres Essen und alle möglichen Vergünstigungen, schreibt er. Die Frau Primaria er zählt es mir immer, wenn ein neuer Brief kommt. Sie verstehen die Frau Primaria, gelt? Das hat sie mir nämlich noch besonders aufgetragen.«

»Was?« fragte Daniel.

»Sie zu fragen, ob Sie verstehen können, daß sie die Leitung hier übernommen hat und alles mitmacht und tut, was man von ihr verlangt. Ob Sie das wirklich verstehen können, und ob Sie es auch recht finden.«

»Ich hätte genauso gehandelt«, erklärte Mercedes. »Du auch, Danny!«

»Natürlich«, sagte der. »Großer Gott, es ging um das Leben ihres Bruders. Selbstverständlich hat sie nichts anderes tun können. Sagen Sie ihr das, bitte!«

»Werde ich. Sofort. Oft fragt sie auch mich – nach all der Zeit. Es ist so schwer für sie. Nur mit mir kann sie reden. Das braucht jeder Mensch: einen anderen, wenigstens einen einzigen, mit dem er über alles reden kann ... So, also gehen wir weiter!« sagte Josef. »Wollen Sie jetzt in den Kapitelsaal oder gleich hinüber in die Gemäldegalerie?«

»Ein andermal«, bat Daniel. »Lassen Sie uns Schluß machen für heute! Ich bin müde.«

Er schlief sehr tief, ohne Träume.

Er hörte, wie jemand seinen Namen rief, und erwachte. Zunächst fühlte er sich sehr benommen, und er wußte nicht, wo er war. Durch Schlieren und Schleier sah er drei Menschen an seinem Bett.

»Danny!« Das war Sibylles Stimme. Schlieren und Schleier verschwanden, und da stand sie vor ihm, in ihrem Arztkittel, lächelnd.

»Hallo«, sagte er und lächelte gleichfalls. Er bemerkte, daß Licht brannte. »Wie spät ist es?«

»Acht Uhr vorbei. Du hast den ganzen Nachmittag geschlafen. Wie fühlst du dich?«

»Gut«, sagte er und setzte sich im Bett auf. »Was haben wir denn da? Abendvisite?«

»Die ist längst vorüber. Das ist eine ganz besondere Visite. Jemand will dir schon seit langem guten Tag sagen. Ich habe ihn mitgebracht.«

Jetzt endlich war er ganz klar. Er sah neben Sibylle Mercedes, und neben Mercedes stand Werner Farmer.

»Werner, mein Alter!« Daniel sprang aus dem Bett. Im Pyjama umarmte er seinen Freund. Sie schlugen einander auf die Schultern. Dann sahen sie sich an.

Er ist alt geworden, dachte Daniel. Er sieht überarbeitet aus. Er ist alt geworden, dachte Werner. Das Haar ganz weiß. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Nur zwölf Jahre, dachte Daniel. Und er hat sich so verändert. Ob er krank ist? Nein, er war immer ein Mann, der über seine Kräfte geschuftet hat. Wie ich. Wahrscheinlich denkt er dasselbe von mir. Wie kurz ist dieses Leben. Wie schnell ist es vorbei.

»Laß dich anschauen«, sagte Daniel. »Großartig siehst du aus!«

»Und du erst«, sagte Werner. »Sibylle hat dich wieder fein hingekriegt.«

»Hoch soll sie leben, die gute Sibylle«, sagte Daniel. »Die besonders gute Sibylle«, sagte Werner.

»Hört schon auf mit dem Quatsch!« Sibylle war rot geworden. Mercedes umarmte sie. »Danke«, sagte sie bewegt, »danke!«

»Jeder hat seinen Job«, murmelte Sibylle. »Man tut, was man kann.«

Mercedes sagte: »Ich möchte ... Entschuldigen Sie ... Darf ich Sie Sibylle nennen?«

»Natürlich, Mercedes!« Sie lachte. »Die Familie trifft sich wieder. Noch einer dazugekommen. Jetzt sind wir vier.«

»Mußt du aber für einen Esser mehr Tafelspitz kochen«, sagte Werner. Sie lachten alle.

Wir lachen alle, dachte Daniel, aber der einzige, dessen Lachen echt klingt, ist Werner. Der ahnungslose Werner. Ach, wie wunderbar, ahnungslos zu sein und nichts zu wissen. Nicht das, was Mercedes und ich wissen, nicht das, was Sibylle weiß und uns durch Josef hat mitteilen lassen. Einfach gar nichts wissen. »Und mehr Spinat und mehr Bratkartoffeln und mehr Essigkren- und Schnittlauchsauce«, sagte Daniel und strich Sibylle über das Haar.

»Was ist Tafelspitz?« fragte Mercedes. Und das war Grund für neue Heiterkeit. »Kann man nicht erklären«, sagte Daniel. »Muß man erleben. Köchin hätte sie werden sollen, die liebe Sibylle, nicht Ärztin.« Und wie würde man sie dann erpressen? dachte er.

»Ich mache ihn schon für uns alle«, sagte Sibylle. »Ich mache ihn schon. Und bald! Denn Daniel ist wieder in Ordnung und kann in zwei, drei Tagen losziehen. Wissen Sie, Mercedes, diese bei den Kerle haben sich auf die unverschämteste Weise bei mir eingeschlichen, als Daniel noch in Wien arbeitete, und mich arme, schwache Frau gezwungen, immer wieder zu kochen.«

»Gott, haben wir gefressen!« sagte Werner andächtig. »Was, Danny?«

»Abstoßend«, sagte Daniel. »Degoutant«, sagte Werner. »Rüpelhaft und widerwärtig«, sagte Daniel. »Arme, arme Sibylle! Und jetzt soll das wieder losgehen, hurra!«'

»Na, hurra!« sagte Herdegen, der neben Wayne Hyde hinter dem Techniker, welcher Schorsch genannt wurde, in dem fensterlosen Raum stand. Sie hörten die ganze Konversation am Lautsprecher mit. »Hurra, noch einmal«, sagte Herdegen. »Wird sogar noch mehr kochen müssen, die Frau Primaria. Was Morley vorschlug, wird nun fällig. Bei mir hat Damiani eisern den Mund gehalten. Jetzt könnte er reden.«

»Zeit wäre es«, sagte Hyde.

Der Anwalt Roger Morley hatte neun Tage zuvor, am 25. Februar, gegen Abend angerufen.

»Hallo, Doktor. Ist Hyde bei Ihnen? Hört er mit?« »Ja, Mister Morley.«

Die beiden hatten sich in Herdegens Dienstraum aufgehalten. Wayne Hyde hielt die zweite Hörmuschel ans Ohr ...

»Ich sagte Hyde vorgestern, als er noch in Frankfurt war, Sie würden in kürzester Zeit erfahren, wie die Jagd losgehen soll. Nun also: Sie haben im Sanatorium diesen Damiani, ehemals Völkerrechtsexperte im italienischen Außenministerium. Der Mann hat sich leider als totaler Flop erwiesen, nicht wahr, Doktor?«

»Absoluter Flop. Schwere Schizophrenie. Immer nur sein Streit mit Papst Alexander dem Sechsten, Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon über den Vertrag von Tordesillas, in dem Spanien und Portugal ihre überseeischen Interessengebiete abgrenzten. Ein Kurier hat Ihnen ja ein paar Kassetten von

Damianis Kämpfen mit den Stimmen, die ihn derart quälen, gebracht. Seit er hier ist, geht es um den gottverdammten Vertrag vom siebenten Juni vierzehnhundertvierundneunzig. Ich glaube, es ist vorgesehen, den Patienten in eine römische Klinik zu überweisen. Wir brauchen das Zimmer. Damiani ist für uns wertlos.«

»Das glauben Sie!« Morleys Stimme schwoll an. »Ich verstehe nicht ...« begann Herdegen, doch Morley

unterbrach ihn.

»Sie werden gleich verstehen. Meine Bekannten haben festgestellt: Von Anfang neunzehnhundertzweiundvierzig bis Mai vierundvierzig war Damiani in Berlin.«

»Damiani in Berlin?« wiederholte Herdegen verblüfft. »Davon steht kein Wort in seinem Lebenslauf. Das hat er mit keiner Silbe erwähnt. Ich habe mich weiß Gott wochenlang mit ihm unterhalten, aber niemals hat der Lump auch nur beiläufig davon gesprochen, daß er im Krieg in Berlin gewesen ist. Irren sich da Ihre Bekannten auch bestimmt nicht?«

»Bestimmt nicht. Sie haben es direkt von der italienischen Regierung.«

»Aber warum redet Damiani nie darüber? Was ist das? Eine Sperre? Eine Verdrängung?«

»Ihr Problem. Ich nenne Ihnen nur die Fakten. In Berlin arbeitete Damiani in der italienischen Botschaft. Kannte natürlich seine deutschen Kollegen. War äußerst beliebt. Als die Nazis den elenden Film fälschten, brauchten sie dazu natürlich einen Völkerrechtler, damit das Geheimprotokoll absolut echt wirkte – auch für Fachleute. Muß also ein deutscher Kollege von Damiani mit der Sache beschäftigt gewesen sein. Beginnen Sie zu verstehen?«

»Sie meinen, wenn man Damiani jetzt daraufhin befragt – natürlich nicht direkt, sondern subtil und völlig indirekt –, könnte es sein, daß man die Sperre durchbricht, und er erzählt, was er in Berlin erlebt hat?«

»Sie müssen alles versuchen, Doktor, hören Sie? Alles!« »Ihre Bekannten vermuten, daß Damiani der Mann nicht

unbekannt war, welcher damals Experte der Nazis gewesen ist, weil es sich bei dem Vertrag von Tordesillas und bei dem Geheimprotokoll um dieselbe Sache gehandelt hat?«

»Kluger Junge«, sagte Morley. »Ja, das vermuten meine Bekannten. Heißt besser: Das hoffen sie. Alles spricht dafür. Solche Spezialisten bilden immer einen engen Klüngel. Halten sich für gescheiter als alle anderen. Müssen einander immer beweisen, was für tolle Kerle sie sind. Ist in jedem Beruf so. Über Damiani könnten wir herausbekommen, wer da in Berlin auf das Geheimprotokoll angesetzt wurde. Wer es eventuell verfaßt oder nur geprüft hat, falls schon eines dagewesen ist.«

»Und wenn er es uns nicht erzählt, trotz allem? Er hat bisher auch nichts davon gesagt. Wenn er die Angelegenheit unbedingt weiter verdrängen will?«

»Sie haben Ross, nicht wahr? Dann muß er mit Damiani zusammengebracht werden – er und diese Olivera. Sie erzählen Damiani vorher, daß Ross’ Vater auch Völkerrechtler war, zum Beispiel. Und Ross keine Ahnung hat, was der Vater in Berlin tat und was aus ihm geworden ist. Das macht Ross noch heute verrückt und so weiter. Sind Sie Psychiater – oder ich? Wenn Damiani den Sachverständigen für das Protokoll gekannt hat, dann hat er auch Ross senior gekannt, wenigstens vom Hörensagen. Gänzlich neue Situation für Damiani, nicht wahr? Sehr leicht möglich, daß er dem jungen Ross erzählt, was er Ihnen nicht erzählen will. Die Unterhaltung darf dann natürlich nicht in der Klinik stattfinden.«

»Natürlich nicht. Privat und ganz zwanglos, wie wir das immer arrangieren in solchen Fällen«, sagte Herdegen.

»Sehr richtig. Sobald Ross wieder auf den Beinen ist«, hatte Roger Morley am Abend des 25. Februar gesagt. Das war neun Tage her.

In Daniels Zimmer verabschiedeten sich Sibylle und Werner. »Seht fern heute abend!« sagte Werner. »Sibylle und ich tun es auch. Du wirst ja jetzt, Gott behüte, ausgeschlafen haben, Danny. Zweiundzwanzig Uhr. Erstes Programm. Müßt ihr unbedingt sehen, diesen Film.«

»Wie heißt er?«

»›Die besten Jahre unseres Lebens.‹ Regie William Wyler. Die drei Soldaten, die aus dem Krieg nach Hause kommen, erinnerst du dich, Danny? Neunzehnhundertsechsundvierzig hat Wyler den Film gedreht. Sieben Oscars! Sibylle, du und ich, wir haben ihn ein Vierteljahrhundert später im Bellaria-Kino gesehen, diesem kleinen Kino, das immer die alten Filme zeigt.«

»Bellaria-Kino«, sagte Daniel verloren. »Bellaria-Kino – ja, natürlich erinnere ich mich! Wunderbarer Film. Aus einer wunderbaren Zeit. Hunger, Kälte, Trümmer, Ruinen in ganz Europa – und alle haben geglaubt, jetzt kommt eine neue, bessere Zeit, eine neue, bessere Welt. Ich war noch ein kleiner Junge damals. Aber mir hat es meine Mutter immer gesagt, und ich habe mich so gefreut auf diese neue, gute Welt. Alle Menschen waren arm, und alle hatten so große Hoffnung. «

»Als wir ihn dann sahen, den Film, da war es längst wieder vorbei mit der Hoffnung«, sagte Werner.

»Längst, ja«, sagte Daniel. Sein Blick traf sich mit dem von Mercedes.

»Darum wollen wir uns den Film heute auch unbedingt ansehen«, sagte Werner. »Und wir werden wieder sehr traurig sein – wie damals im Bellaria-Kino. Vor Zorn und vor Wut.«

»Und in Erinnerung an alle Menschen, die so große Hoffnung hatten«, sagte Sibylle.

»Sie waren weit weg, in Argentinien.« Werner hatte sich an Mercedes gewandt. »Sie können sich nicht vorstellen, wie das damals war, hier bei uns.«

»Nein«, sagte sie. »Das kann ich mir unmöglich vorstellen.« Sibylle und Werner verließen das Zimmer. Daniel nahm einen Morgenmantel, schlüpfte in Pantoffeln und ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Als er seinen Mund ausspülte, kam ihm Mercedes nach.

»Hast du Hunger? Du brauchst nur zu klingeln, hat die Nachtschwester gesagt. Dein Essen ist warmgestellt.«

»Nein, ich habe keinen Hunger«, sagte Daniel. Sie standen sehr nah beisammen, und sie sahen einander an, unentwegt.

»Aber du?« fragte Daniel.

»Ich habe auch keinen Hunger, Danny«, sagte Mercedes. Ihre Augen ließen ihn nicht los. Nun sprach keiner von beiden mehr. Sibylle kam plötzlich zurück. Sie hatten sie nicht klopfen gehört. Sofort drehte Daniel den Wasserhahn ganz auf. Der brausende Strahl verursachte viel Lärm. Sibylle nickte.

»Ich habe Werner schon hinüber in die Villa geschickt«, sagte sie halblaut, während sie Mercedes ein großes Kuvert gab. »Hier, das ist für euch!« Sie lief schnell fort. Die Zimmertür fiel hinter ihr zu.

Die beiden sahen, was in Sibylles Handschrift auf dem Kuvert stand:

ALLES GLÜCK DER WELT EUCH BEIDEN! SIBYLLE

Mercedes riß das Kuvert auf. Eine alte achtundsiebziger Platte glitt aus einer alten, vergilbten Schutzhülle. Die Platte war zerkratzt, die Etiketten fehlten.

»Das ist ...« Mercedes sprach nicht weiter. Sie sah Daniel fassungslos an.

»... die Platte, von der ich dir erzählt habe«, sagte Daniel. Sie sprachen leise, dicht beieinander stehend. »Das Lied, das Sibylle und ich hatten: ›Wenn ich mir was wünschen dürfte‹.«

»Aber wieso ...«

Das Wasser rauschte.

»Ich habe ihr erzählt, daß wir beide es schon zweimal gehört haben. Nun hat sie uns die Platte geschenkt. Nun ist es unser Lied ...«

»Bist du sicher, Danny?« fragte Mercedes.

»Ja, Mercedes«, sagte er. »Jetzt bin ich ganz sicher.« »Du mußt ganz sicher sein«, sagte sie. »Du darfst dir nichts

vormachen. Und mir auch nicht. Wenn du nicht sicher bist, mußt du es mir jetzt sagen. Es täte weh. Aber ich muß es jetzt wissen. Nicht später.«

»Glaubst du mir nicht?«

»Ich weiß nicht, Danny ... Ich weiß es nicht ... Sibylle benimmt sich so großartig ... Ich könnte dir unmöglich böse sein, wenn du es nicht fertigbrächtest, jemals für einen Menschen mehr zu empfinden als für sie.«

»Mercedes ...«

»Ja?«

»Ich war verwirrt, als ich Sibylle wiedersah, das weißt du. Und die Erinnerung war sehr stark. Aber das ist vorüber. Du bist es, die sich in diesen Tagen großartig benommen hat. Du bist so tapfer.«

»Gar nicht«, sagte sie. »Aber ich möchte es gerne sein.« Er nahm die Schellackplatte aus ihrer Hand und legte sie auf

einen Hocker. Dann küßte er sie, und sie preßten die Körper aneinander und umarmten sich wild, als wäre der eine des anderen letzter Halt auf Erden, der letzte.

Zu etwa diesem Zeitpunkt bewegte sich ein großer, hagerer Mann in Stiefeln, Cordsamthose und Anorak geräuschlos wie eine Katze durch die alten, hohen Bäume und das dichte Unterholz beim Rittersturz im verschneiten Koblenzer Stadtwald, nahe der Laubachstraße und dem Rheinufer. Hier gab es einen Parkplatz. Auch er war tief verschneit.

Der Mann im Anorak hatte ein knochiges Gesicht mit schmalen Lippen und sehr kalten Augen. Er schlich seit einer halben Stunde durch den Wald rund um den Rittersturz. Er mußte ganz sicher sein, daß er hier nicht von der Polizei erwartet wurde. Er hatte solche Situationen, bei denen es um seine Sicherheit und sein Leben ging, oft als Söldner in mancherlei Kriegen erlebt. Endlich war er zufrieden. Hier erwartete ihn keine Polizei. Kramer hatte Wort gehalten und war allein gekommen. Da stand sein schwarzer VW Golf, die Scheinwerfer auf Abblendlicht geschaltet, wie sie es am Telefon verabredet hatten. Ich kann es riskieren, dachte der Mann mit den kalten Augen. Er machte ein paar große Schritte bis zum Wagen und riß den rechten Schlag auf. Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schloß die Tür hinter sich. Der etwa dreißigjährige Mann am Steuer, der Herbert Kramer hieß, fuhr erschrocken auf. Er war sehr bleich. In der milchigen Finsternis leuchtete sein rundes Gesicht wie ein Miniaturmond. Die dicken Gläser seiner Brille funkelten.

»Tag«, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz. Kramer schwieg. Er zitterte, aber nicht vor Kälte. »Haben Sie es dabei?« fragte der Hagere. »Natürlich.« Kramer räusperte sich krampfhaft. »Wo ist es?«

»Auf dem Rücksitz.«

Der Hagere neigte sich nach hinten und hob einen Gegenstand hoch, der aussah wie ein großes Kontobuch. Er nahm eine starke Taschenlampe, legte das Buch auf die Knie und begann zu blättern. Die Seiten waren mit gleichmäßigen Schriftzügen bedeckt. Der Hagere hatte gefunden, was er suchte. Bedächtig las er die Stelle mehrere Male.

»Gut«, sagte er dann. »Gut, Herr Kramer.«

»Wo ist Lotti?« fragte der Mann, der Kramer hieß. Seine Hände schlugen gegen das Steuerrad. »Um der Liebe Christi willen, wo ist Lotti? Sie haben gesagt, wenn ich Ihnen den Band bringe, kriege ich sie sofort wieder.«

Der Hagere kurbelte das Fenster an seiner Seite herab, schaltete die starke Taschenlampe ein und beschrieb mit ihr drei kreisförmige Bewegungen. Kurze Zeit später kam, ohne Licht, ein großer Mercedes den Weg auf den Parkplatz zu gerollt. Er blieb in gleicher Höhe mit dem Golf, aber etwa acht Meter entfernt stehen. Der Mann am Steuer des Mercedes schaltete die Innenbeleuchtung des Wagens an, drehte sich um und sagte etwas. Gleich darauf tauchte am hinteren linken Fenster des Mercedes ein kleines Mädchen auf. Das kleine Mädchen trug eine Rotkäppchenmütze und ein Pelzmäntelchen. Es hatte riesengroße dunkle Augen und starrte zu dem Golf herüber.

»Gott sei Dank!« sagte Kramer. »Ich habe so furchtbare Angst gehabt, daß sie tot ist.«

»Sie wäre tot, wenn Sie die Polizei verständigt hätten«, sagte der Hagere. »Oder wenn Sie das da nicht mitgebracht hätten.« Er klopfte auf das große Buch. »Hupen Sie kurz!«

Kramer tat es.

Die Hupe des Mercedes ertönte gleichfalls für einen Moment. Dann trat der Mann am Steuer, ein untersetzter Bulle, ins Freie und öffnete den linken hinteren Wagenschlag. Er hob das kleine Mädchen heraus und sagte: »Lauf!«

Das kleine Mädchen lief, durch den hohen Schnee stolpernd, zu dem Golf. Auf dem Rücken trug es eine Schultasche. Es fiel, kam wieder auf die Beine und lief weiter. Der Mann mit den kalten Augen stieg aus.

»Danke«, sagte Kramer erstickt. »Danke, daß Sie Wort gehalten haben.«

»Ich halte immer Wort«, sagte der andere. Das große Buch hatte er nun unter dem linken Arm. Das kleine Mädchen sprang an dem Hageren vorbei in den Golf und umarmte Kramer. »Vati!« rief es. »Vati!«

»Ja, Lotti, mein Liebling.« Er preßte das Kind an sich. »Es war schrecklich, Vati ... ganz schrecklich ... Ich habe

mich so gefürchtet ...« Das kleine Mädchen begann zu schluchzen. Der Vater strich ihr ungeschickt über das schwarze Haar. Die rote Kappe war heruntergefallen.

»Nicht weinen, Lotti!« sagte er. »Nicht weinen! Bitte, weine nicht! Es ist ja alles gut.« Er sagte immer wieder dieselben Worte. Endlich sah er zu dem Hageren auf. »Ist jetzt Schluß?« fragte er. »Ja«, sagte der Hagere, »jetzt ist Schluß.« Er hatte plötzlich eine große Pistole in der rechten Hand. Blitzschnell setzte er die Mündung an Kramers rechte Schläfe und drückte ab. Die Kugel durchschlug den Schädel, riß bei der Austrittsstelle das halbe Gesicht weg und zerbrach dann noch die Fensterscheibe der linken Tür. Kramers Brille war fortgeflogen. Blut schoß aus seinem Kopf.

»Vati!« schrie Lotti entsetzt. Sie packte den rechten Arm des Vaters. Der Tote fiel über das Kind, das sofort voller Blut war.

Lotti kreischte. Sie versuchte, sich zu befreien. Blut floß in Strömen über sie.

Der Hagere rannte zu dem Mercedes und sprang neben den untersetzten Fahrer, welcher schon den Motor gestartet hatte. Der Wagen beschrieb eine verrückte Kreisbahn auf dem einsamen, verschneiten Parkplatz und glitt dann den Weg zur Laubachstraße hinauf. Nach kurzer Zeit bereits hörte man den Motor nicht mehr. Lotti hatte sich von der Last des toten Vaters befreit und taumelte aus dem Golf in den Schnee. Sie fiel wieder hin, stand auf und begann, außer sich vor Grauen, gellend zu schreien. Sie schrie unverständlich, sie schrie und schrie und schrie, und sie war voller Blut, und der Golf war voller Blut, und es kam immer neues Blut aus dem, was einmal der Kopf ihres Vaters gewesen war.

Am nächsten Vormittag um 10 Uhr, es war der 6. März 1984, fuhren zwei Wagen auf dem Peter-Altmeier-Ufer neben der Mosel in Richtung Deutsches Eck, wo die dreckigen Fluten der Mosel mit den noch dreckigeren des Rheins zusammenfließen. Die Wagen passierten die neue Moselbrücke und bogen vor der Eisenbahnbrücke, die beim Unterhafen den Strom überquert, auf den großen neuen Messeplatz ein. Hier blieben sie stehen.

Aus dem ersten Wagen stiegen Conrad Colledo, Hauptabteilungsleiter für Politik und Zeitgeschehen beim Fernsehsender Frankfurt, und ein etwa fünfundzwanzigjähriger blonder Mann. Den zweiten Wagen, einen großen Kombi, verließen vier Männer, die den Laderaum öffneten und Stative, Kabel, Scheinwerfer, Mikrofone, Kameras sowie einige Metallkoffer herausnahmen. Sie alle gingen an der Clemens-Brentano-Realschule und dem Stadtbad vorüber zum großen Gebäude der Dokumentationszentrale der Bundesrepublik Deutschland, das hinter der Balduinbrücke steht. In der Eingangshalle erhoben sich zwei Männer in Wintermänteln und traten Colledo und seinem Begleiter, die vorangegangen waren, in den Weg.

»Was ist los?« fragte Colledo. »Was wollen Sie?« »Kriminalpolizei, Mordkommission«, sagte der ältere der

beiden, eine Zigarette im Mundwinkel. Er zeigte seine Dienstmarke. »Ich bin Kommissar Bevensen, das ist mein Kollege, Kommissar Mack. Sie kommen sehr pünktlich, meine Herren.« Inzwischen waren auch die vier Techniker mit ihren Geräten in der kalten Halle erschienen.

»Woher wußten Sie, daß wir kommen?« fragte Colledo. Er trug wieder eine Elefantenkrawatte und einen maßgeschneiderten blauen Anzug, dazu diesmal ein blauweiß gestreiftes Hemd. »Es ist ein Verbrechen geschehen«, sagte der schlanke Kommissar Bevensen. Sein Haar war kurzgeschnitten und schimmerte silbern. »Ein Mensch wurde ermordet. Bitte, kommen Sie mit! Wir können hier nicht sprechen. Die Institutsleitung hat uns einen Raum zur Verfügung gestellt.«

Kurze Zeit später saßen alle in diesem Raum. Sie hatten die Mäntel ausgezogen. Es war zu warm. Colledo öffnete ein Fenster. Straßenlärm drang herein.

»Sie«, sagte Bevensen zu dem blonden, jungen Mann, der mit Colledo gekommen war, »sind Heinz Kling, nicht wahr?«

»Ja«, sagte der. »Woher ...«

»Wir führen diese Untersuchung schon seit gestern abend«, sagte Bevensen und zündete am Stummel seiner Zigarette eine neue an. »Wir wissen über Sie Bescheid, Herr Kling. Von den Angestellten des Archivs. Sie haben seit drei Tagen hier gearbeitet. Herbert Kramer, ein Bibliothekar, war Ihnen behilflich. Sie sind angestellt als Reporter beim Sender Frankfurt. Gestern vormittag scheinen Sie gefunden zu haben, was Sie suchten, denn Sie waren nach Aussage der Angestellten im großen Lesesaal sehr aufgeregt und telefonierten lange in der Zelle neben der Eingangshalle.«

»Herr Kling sprach mit mir. Übrigens: Mein Name ist Colledo. Sie haben recht, Herr Kommissar. Er hatte etwas sehr Wichtiges – für uns Wichtiges – gefunden. Dank der liebenswürdigen und geduldigen Hilfe von Herrn Kramer. Es ist doch um Himmels willen nicht etwa er, der ermordet wurde!«

»Doch«, sagte Bevensen, der so hastig rauchte, wie Colledo das noch nie gesehen hatte, »leider.«

Ein Stativ fiel mit viel Lärm vom Tisch. Einer der Techniker hob es auf und entschuldigte sich. Danach sprach lange Zeit niemand. Straßenlärm brandete immer wieder auf.

»Entsetzlich«, sagte Conrad Colledo schließlich. »Wie ist das passiert? Und wo?«

»Erlauben Sie!« Kommissar Mack, jünger und fülliger als Bevensen, hob kurz eine Hand. »Der Reihe nach, bitte! Wie wir erfahren haben, kam Herr Kling hierher in der Hoffnung, irgendwelche Dokumente zu entdecken, die den Geheimdienst des Naziaußenministers Ribbentrop betreffen. Er hatte Glück. Kramer fand heraus, daß dieses Zentrum die sogenannten Arbeitsjournale des Dienstes besitzt, einen Band pro Jahr von neunzehnhundertfünfunddreißig – da wurde der Dienst geschaffen – bis fünfundvierzig, nicht wahr, Herr Kling?«

»Ja, so ist es, Herr Kommissar.«

»Sie suchten drei Tage lang. Grund für Ihre Aufregung war dann eine Eintragung in das Arbeitsjournal des Jahrs neunzehnhundertvierundvierzig, sagt man uns.«

Der blonde Kling zögerte.

Statt seiner antwortete Colledo: »Das ist richtig, Herr Kommissar.« Bevensen drückte schon wieder einen Zigarettenstummel aus, nachdem er zuvor eine neue Zigarette an ihm entzündet hatte. Seine Fingernägel waren gelb von Nikotin.

»Wie lautete die Eintragung, Herr Kling?«

Der junge Mann sah Colledo hilfesuchend an. Dieser sagte: »Das ist eine absolut geheime Produktion, an der wir da arbeiten, meine Herren.«

»Es geht um Mord, Herr Colledo«, sagte Mack. Er sah Colledo aggressiv an. Wieder entstand eine Pause.

»Das überschreitet meine Kompetenzen«, sagte Colledo schließlich. »Ich muß mit dem Intendanten telefonieren.«

»Tun Sie das, Herr Colledo. Tun Sie das. Wie gesagt, neben der Halle gibt es eine Telefonzelle. Haben Sie genügend Kleingeld? Das ist ein Ferngespräch. Hier, bitte!« Mack überreichte Colledo ein Kuvert mit Fünf-Mark-Stücken.

»Danke! Es wird eine Weile dauern.«

»Wir haben Zeit«, sagte Bevensen.

Sie saßen da und sahen einander nicht an, und niemand sprach, und von der Straße her kam das Brausen des Verkehrs, und allen war heiß, obwohl das Fenster nun offen war. Dann stand der junge Kameramann auf. Er sagte: »Ich muß pissen.« Als er wiederkam, sagte er: »Im Archiv haben sie mir gesagt, dieser Kramer war verheiratet und hatte ein Kind. Ein kleines Mädchen.«

»Das stimmt«, sagte Mack mit unbewegtem Gesicht. Der Kameramann wurde wütend. »Schauen Sie mich nicht so

an! Wir haben ihn nicht umgebracht!«

»Wenn Herr Kling hier nicht aufgetaucht wäre, wäre Kramer noch am Leben«, sagte Mack.

»Hören Sie mal, Herr Kommissar, wir können uns nicht aussuchen, wo man uns hinschickt. Wir ...«

»Laß, Karl«, sagte der blonde Kling. »Herr Mack hat ganz recht.« Er schlug kraftlos auf die Tischplatte. »Scheiße, verfluchte!« sagte er. Dann sprach wieder niemand mehr.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Colledo zurückkehrte. Er sah irritiert und unzufrieden aus.

»Entschuldigen Sie die lange Zeit, die ich brauchte, meine Herren. Ich habe mit dem Intendanten gesprochen. Der mußte erst mit der Rechtsabteilung sprechen. Dann mit dem Kanzler. Dieser mit dem Innenminister. Dieser mit dem Bundeskriminalamt.« Colledo sah die vier Techniker an. »Tut mir leid, Jungs, aber ihr müßt raus. Wartet im Wagen! Ich habe die Erlaubnis und den Auftrag, die Herren von der Mordkommission vollkommen einzuweihen. Das Bundeskriminalamt und die Polizei sämtlicher Bundesländer arbeiten ab sofort mit dem Sender zusammen. Das BKA besteht jedoch darauf, daß nur jene Personen informiert werden, welche die ganze Wahrheit wissen müssen. Das geschieht zu eurer eigenen Sicherheit.«

»Klar«, sagte der Kameramann. »Also raus mit uns, Kollegen!« Die vier verließen den Raum.

Bevensen zündete sich eine neue Zigarette am Rest der letzten an.

»Nun?« fragte er.

Colledo begann zu sprechen. Als er eine Viertelstunde später verstummte, stand Mack auf und schloß das Fenster.

»Der Krach macht mich noch wahnsinnig«, behauptete er. »Und ich drehe diese verfluchten Heizkörper ab. Das ist ja eine wüste Geschichte. Großer Gott im Himmel! Da kommt jetzt etwas auf uns zu. Der Mord an Kramer war ein erster, kleiner Anfang. Jetzt erzähle den Herren, was wir bisher herausgekriegt haben, Tom.«

Bevensen nickte. »Also, folgendes ist passiert: Nachdem Sie, Herr Kling, gestern so aufgeregt ans Telefon gestürzt sind, hat jemand gegen ein Uhr dreißig Frau Kramer in der Moltkestraße angerufen. Sie haben so gegen zehn telefoniert, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe Herrn Colledo von meinem Fund berichtet. Um im Dokumentationszentrum zu filmen, war natürlich die Zustimmung des Direktors nötig. Der brauchte die des Innenministers. Schließlich hatten wir alles. Wir verabredeten, daß ich hier noch einmal im Hotel übernachten sollte. Heute vormittag wollte Herr Colledo mit einem Aufnahmeteam kommen. Das wissen Sie ja schon.« Die Beamten nickten. »Jemand hat Frau Kramer angerufen? Dreieinhalb Stunden nachdem ich telefonierte?«

»Ja.«

»Wer?«

»Das wissen wir nicht.«

»Was wollte er?«

»Er sagte Frau Kramer, daß ihre kleine Tochter Lotti entführt worden sei. Auf dem Heimweg von der Schule. Jemand muß Sie, Herr Kling, die ganze Zeit über, die Sie im Dokumentationszentrum arbeiteten, beobachtet haben. Genau beobachtet. Ist Ihnen niemand aufgefallen?«

»Nein.«

»Sie sind Reporter. Sie sind es gewöhnt, daß man Sie verfolgt oder beobachtet?«

»Ja.«

»Aber Sie haben in den drei Tagen nichts bemerkt.« »Nein. Ich habe aufgepaßt. Aber bemerkt habe ich nicht das

geringste.«

»Wieso brauchten Sie eigentlich drei Tage?« »Weil ich alle elf Bände des Arbeitsjournals von

fünfunddreißig bis fünfundvierzig durchackern mußte.« »Haben Sie mehrere Eintragungen gefunden, die für Sie von

Interesse waren?«

»Nein, nur eine einzige.«

»Im Jahrgang vierundvierzig.«

»Ja, Herr Kommissar.«

»Profis«, sagte Bevensen.

»Das fürchte ich«, sagte Colledo. »Und weiter?« »Der Anrufer sagte Frau Kramer, sie solle sofort ihren Mann

hier im Dokumentationszentrum anrufen und ihm sagen, daß er das Arbeitsjournal des Ribbentrop-Dienstes für das Jahr vierundvierzig entwenden und mitnehmen müsse. Falls er das nicht tue und nicht bereit sei, diesen Band später – er werde noch erfahren, wo und wann – einem Mann auszuhändigen, dann habe er keine Chance, seine kleine Tochter lebend wiederzusehen. Auch nicht, wenn er oder seine Frau die Polizei einschalteten. Die beiden waren in solcher Panik, daß sie uns prompt nicht verständigten.«

»Und daß Kramer das Journal für vierundvierzig mitnahm«, sagte Colledo.

„Ja«, sagte Bevensen. »In seiner Aktentasche. Kein Mensch merkte etwas. Kontrolliert wird hier nicht.«

„Man kann ihm keinen Vorwurf machen«, sagte Mack. »Sie waren beide außer sich vor Angst um das Kind, sagte uns Frau Kramer.«

»Wo ist sie?«

»Im Sankt-Josef-Krankenhaus. Schwerer Schock. Das kleine Mädchen auch. Auch Schock. Wir haben nur fünf Minuten mit der Mutter und fünf Minuten mit Lotti sprechen können.« Bevensen nahm eine neue Zigarette. Er machte einen überarbeiteten und nervösen Eindruck. Seine Finger zitterten leicht. »Der Mann am Telefon hatte gesagt, die Eltern müßten zu Hause bleiben und weitere Anweisungen abwarten. Na, sie warteten bis Viertel vor sechs. Dann rief ein anderer Mann an und sagte, Kramer solle seinen VW Golf nehmen und mit dem Journal in das Restaurant HAFNER in der Görtzstraße kommen. Kramer verlangte ein Lebenszeichen von seiner Tochter, und da hörte er dann Lotti weinen und sagen, daß sie Angst habe und daß er tun solle, was die Onkel sagten, dann dürfe sie wieder nach Hause.«

»Moment mal«, sagte der junge Kling. »Ich komme vor vier Tagen abends in Koblenz an. Am nächsten Morgen gehe ich in das Dokumentationszentrum. Drei Tage später habe ich gefunden, was ich suche und telefonierte mit Herrn Colledo. Und schon dreieinhalb Stunden später ruft ein Mann bei Frau Kramer an und sagt, ihre Tochter ist entführt worden. Das ist doch praktisch unmöglich.«

»Das ist praktisch natürlich sehr wohl möglich«, sagte Bevensen. »Nämlich wie?«

»Haben Sie Ihren Besuch im Dokumentationszentrum nicht vorher angemeldet?«

»Doch.«

»Wann?«

Kling sagte unsicher: »Vor vier Tagen. Da rief ich vom Sender aus an.«

»Mit wem haben Sie gesprochen?«

Kling wurde rot vor Verlegenheit. »Mit Herrn Kramer. Man hat mich mit ihm verbunden.«

»Dann hatten die Kerle drei Tage Zeit, alles über die Familie Kramer herauszufinden: wo das Kind zur Schule ging, welchen Weg es nahm, alles. Kramer hat die Kollegen informiert, daß jemand vom Fernsehen kommen würde. Das sprach sich herum.

Wir können also sicher sein, daß Sie bereits erwartet wurden. Die Brüder wissen – müssen wissen –, daß alle Archive und zeitgeschichtlichen Institute jetzt von Ihren Rechercheuren in dieser Sache aufgesucht werden. So ist es doch, Herr Colledo?«

»Ja«, sagte der. »So ist es. Wir haben überall Rechercheure hingeschickt. Nicht nur in Deutschland. Auch nach Amerika, England und Frankreich. Nach Rußland ging es nicht. Aber es ist doch unmöglich, daß sie alle beschattet werden! So viele Leute können die doch nicht haben!«

»Warum nicht?« fragte Bevensen. »Warum sollen die nicht genauso viele Leute eingesetzt haben wie Sie? Vielleicht noch mehr?«

»Das stimmt«, sagte Colledo.

»Es gibt natürlich noch eine andere Möglichkeit«, sagte Mack. »Nämlich welche?«

»Nämlich die, daß Sie einen Verräter im Sender haben, der die Kerle über alles, was vorgeht, auf dem laufenden hält.«

»Erlauben Sie!« Colledo war aufgesprungen. »Ich habe nur die besten und zuverlässigsten Leute eingeweiht. Dazu gehören der Intendant, der Chefredakteur und die Männer der Rechtsabteilung. Wollen Sie unterstellen, daß ...«

»Regen Sie sich ab, Herr Colledo!« Mack winkte mit der Hand ab. »Ich will gar nichts unterstellen. Ich habe nur gesagt, das wäre auch eine Möglichkeit. Eine Telefonistin würde genügen ...«

»Ausgeschlossen«, sagte Colledo. »Für die im Sender lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Wie Sie meinen«, sagte Mack. »Sie haben Ihre Erfahrungen, wir haben unsere.«

»Vermutlich haben die Entführer Kramer eine Tonbandaufnahme mit Lottis Stimme vorgespielt«, fuhr Bevensen fort, »denn sie antwortete nicht auf seine Fragen. Das wissen wir von Frau Kramer. Er fuhr also los zu diesem Restaurant in der Görtzstraße. Dort saß er bis etwa neunzehn Uhr. Um diese Zeit läutete das Telefon, und er wurde verlangt. Das hat uns ein Kellner erzählt, der sich daran genau erinnert. Ohne Zweifel bekam Kramer nun den Auftrag, zu einem anderen Ort zu fahren. Wir wissen nicht, wo er noch überall hingeschickt wurde. Die wollten ganz sicher sein, daß er nicht doch die Polizei verständigt hatte und von ihr beschattet wurde. Vermutlich jagten sie ihn durch die ganze Stadt.«

»Und wo ... passierte es schließlich?« fragte Kling. »Im Stadtwald«, sagte Mack. Er sprach immer gereizt und

wütend. Vielleicht hat er Magengeschwüre oder Krach mit seiner Alten, dachte Colledo.

»Übergab man ihm dort das Kind?«

»Ja. Lotti hat uns bei der Aufklärung sehr geholfen – soweit sie es in ihrem Zustand konnte. Das arme Wurm«, sagte Bevensen. »Es waren zwei Männer. Sie hatten sie zuerst in einen Keller gesperrt. Hände gebunden. Knebel im Mund. Dann, abends, sind sie mit ihr losgefahren. Einen weiten Weg. Zum Stadtwald. Dann ist einer der beiden Männer ausgestiegen, sagt sie. Der andere hat etwa eine halbe Stunde auf der Straße gewartet. Endlich ist er zum Parkplatz gefahren. Da stand der VW Golf. Lotti hat ihn gesehen. Ihren Vater am Steuer. Den anderen Mann neben ihm. Der Mann in ihrem Wagen hat die Innenbeleuchtung eingeschaltet, damit der Vater Lotti auch sehen konnte. Dann hat der Mann gesagt: ›Lauf!‹ Lotti ist zum Golf gelaufen. Der zweite Mann ist ausgestiegen. Er hatte ein großes Buch in der Hand, sagt Lotti. Sie ist in den Wagen gesprungen und hat den Vater umarmt. Gleich darauf gab es einen Knall. Der Vater ist zuerst über das Steuer und dann über Lotti gefallen. Der Mann, der bei ihm war, hat ihm in die rechte Schläfe geschossen. Die Kugel durchschlug den Schädel und die Scheibe der linken Tür. Unsere Leute haben sie in einem Baumstamm gefunden. Kaliber neun Millimeter. Lotti hat zuerst nur geschrien, dann ist sie zur Laubachstraße gelaufen. Der erste Wagen, der vorbeikam, gehörte einem gewissen Ingenieur Kreuzer. Peter Kreuzer. Er hielt natürlich und hörte das Gestammel der armen Kleinen, fuhr zum Tatort, sah die ganze grausige Schweinerei und raste mit Lotti in das Altenheim Drei-Kaiser-Weg, und von dort rief er die Polizei an. jetzt wissen Sie alles von uns. Und wir wissen alles von Ihnen«, sagte Bevensen. »Nur zwei Dinge nicht.«

»Nämlich welche?« fragte Colledo.

»Nämlich erstens, was Sie jetzt mit Herrn Kling zu tun gedenken. Sollen wir ihn in Schutzhaft nehmen?«

»Warum?« fragte Kling.

»Na, Sie sind doch als nächster fällig«, sagte Bevensen. »Ein richtiges Wunder, daß es Sie noch nicht erwischt hat. Kaum zu fassen. Sie wissen doch, wie die Eintragung im Arbeitsjournal lautete. Sie kann man noch immer für die Dokumentation filmen

und aussagen lassen.«

»Das werden wir auch tun«, sagte Colledo. »Und Sie vergessen, daß unser Intendant gedroht hat, den Film sofort auszustrahlen, ohne jede Dokumentation, ohne Recherchen, falls einem einzigen Menschen, der mit der Sache beschäftigt ist, oder einem seiner Angehörigen etwas zustößt. Wir haben alle unsere›Lebensversicherung‹.«

»Natürlich«, sagte Bevensen. »Dumm von mir.« »Nur Kramer hatte keine«, sagte Mack bitter. »Und

zweitens?« fragte Colledo.

»Zweitens«, sagte Bevensen, »wissen wir noch nicht, wie die Eintragung im Arbeitsjournal für das Jahr vierundvierzig lautete. Wie lautete sie, Herr Kling?«

Der Reporter sah Colledo an. Dieser nickte. Kling sagte: »Herr Colledo hat Ihnen erzählt, daß dieser

Eduardo Olivera in Buenos Aires, der früher einmal Georg Ross hieß und der Vater von Daniel Ross ist, behauptet, ein Agent, den er nur unter der Bezeichnung CX einundzwanzig kannte, sei mit dem Film, um den sich alles dreht, Ende März vierundvierzig in der ehemaligen Reichshauptstadt angekommen, ja?«

»Ja«, sagte Bevensen.

»Gut«, sagte Kling. »Die Eintragung im Arbeitsjournal für den einunddreißigsten März neunzehnhundertvierundvierzig lautete: ›Aus Teheran trifft CX einundzwanzig mit wichtigstem Material in Berlin ein. Chef Mittlerer Osten informiert Reichsmin. von Ribbentrop. Dieser ruft sofort Reichsmin. Goebbels und Reichsführer Himmler ins AA. Material zu Geheimer Reichssache Stufe I erklärt. Deshalb keine weitere Erwähnung in Arbeitsjournal.‹«

»Am schlimmsten ist der Papst«, sagte der italienische Völkerrechtler Professor Umberto Damiani klagend zu Mercedes. »Die Streitereien mit Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien sind auch schon schlimm genug. Aber die Beleidigungen Alexanders des Sechsten werden unerträglich. Ein Borgia. Und was für einer! Du liebe Güte! Seiner Verbindung mit Vanozza Cattanei entstammen die berüchtigten Kinder Cesare, Francisco, Giovanni und Lucrezia ... Ich brauche nicht weiterzusprechen. Eine dem Vater würdige Brut, weiß Gott! Kriege, Raubzüge, Giftmorde, Blutschande, na, Sie wissen es ja. Nein, dieser Alexander bringt mich noch um. Und das meine ich wörtlich, verehrte Signora. Ich lebe in ständiger Todesangst.«

Professor Damiani war zweiundsiebzig Jahre alt, groß und schlank. Er besaß das dramatische Temperament des Südländers, seine Hände waren dauernd in Bewegung, wenn er sprach. Er hatte schwarze Augen und schwarzes, dichtes Kraushaar, an den Schläfen ganz ergraut. Olivenfarben war die samtene Gesichtshaut. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine silberne Krawatte. Mit übergeschlagenen Beinen – weiße Socken zu schwarzen Slippers – thronte er auf einem Sessel im großen Wohnzimmer der Villa, welche Sibylle mit ihrem Mann bewohnte. Es war halb zehn Uhr abends. Draußen tobte ein Sturm. Um einen Tisch saßen außer dem Italiener Mercedes, Daniel, Herdegen, Sibylle und Werner Farmer. Das Abendessen war vorüber. Eine Haushälterin hatte serviert, zubereitet worden war die Mahlzeit – Tafelspitz mit Beilagen – jedoch von Sibylle. Daniel und Werner hatten mit Begeisterung und voll gefühlsseliger Erinnerungen gegessen, die anderen nur mit Begeisterung, auch Herdegen. Sibylle war mit Komplimenten überschüttet worden, Damiam hatte ihr die Hand geküßt. Nun, nach dem Essen, hatte Daniel den Professor in ein Gespräch verwickelt. Er war nicht überrascht darüber, wie der Geisteskranke von seinem Lebensproblem sprach, nämlich geordnet, vernünftig und völlig normal. Sibylle hatte Daniel das vorher gesagt: »Solange es um sein Arbeitsgebiet geht, wirst du überhaupt nicht merken, daß Damiani schizophren ist. Nur sobald er dieses Gebiet verläßt ...«

In der Tat hatte, was Damiani in eigentümlicher Wortwahl und Sprechweise während des Essens von sich gegeben hatte, wirr und abstrus geklungen. Nun aber war er beim Thema. Nun hatte sich sein Betragen völlig verändert.

»... Todesangst, jawohl, gnädige Frau.«

»Aber ich verstehe nicht ... Was werfen diese Leute Ihnen denn vor?« fragte Mercedes.

»Ach!« Damiani warf die Arme in die Luft. »Ich habe vor vierzehn Jahren ein wissenschaftliches Buch veröffentlicht ...«

»Das in Fachkreisen der ganzen Welt eine Sensation war«, sagte Herdegen.

»Ach, ja also, man war so gütig, meiner Arbeit einige Aufmerksamkeit zu schenken.« Jetzt zierte sich Damiani. Es schien, als schauspielere er unentwegt. »Die Arbeit fand Interesse und Widerspruch bei meinen internationalen Kollegen, weil sie sich sehr ausführlich mit einer Streitfrage befaßt, deren Wurzeln schon im Alten Testament zu finden sind, vornehmlich in den Psalmen, in denen, wie Sie wissen – ich rede jetzt außerordentlich populärwissenschaftlich –, davon die Rede ist, daß diese Welt von Jahwe, also Gott, geschaffen und daher Sein Eigentum ist, nicht wahr, und daß Ihm daher ein jeder untertan zu sein hat.« Damiani hob die Stimme und zitierte: »›Alle Könige sollen ihre Knie beugen vor Ihm.‹ Nun, und daraus haben dann einige Päpste, Seine Stellvertreter auf Erden, nicht wahr, die Schlußfolgerung gezogen, sie besäßen das gleiche Recht, diese Erde als ihr Eigentum zu betrachten und nach Gutdünken mit ihr zu verfahren. Sehen Sie, meine Herrschaften, das war durch viele Jahrhunderte eines der heikelsten Probleme, die es für die damalige Völkerrechtskunde gab, nicht wahr? Und mein Buch ›unter caetera divinae‹ setzt sich mit diesem Problem auseinander.«

»Was heißt ›unter caetera divinae‹?« fragte Mercedes. Sie versuchte zu übersetzen: »›Unter anderem ...‹«

»Sie haben recht, Signora, völlig recht. Indessen sind diese drei Worte unverständlich, da sie den Anfang eines Satzes bilden, und zwar des ersten Satzes der Bulle von Papst Alexander dem Sechsten, gerichtet an die ›katholischen Könige‹ Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien sowie an Johann den Zweiten von Portugal. Die spanischen Herrscher hatten sich an den Papst gewandt, um von ihm in ihrer Interessensphäre gegenüber dem Rivalen auf der Iberischen Halbinsel, Portugal also, bestätigt und beschützt zu werden ...« Damianis Worte überstürzten sich nun fast. »Nun, und in jener Bulle Alexanders des Sechsten vom vierten Mai vierzehnhundertdreiundneunzig heißt es nach einer pompösen allgemeinen Einleitung dann eben: ›Unter den anderen der göttlichen Majestät‹ – da haben Sie das ›inter caetera divinae‹, liebste Signorina, das ›majestatis‹ ist schon weggelassen –, unter den anderen der göttlichen Majestät wohlgefälligen und Unserem Herzen erwünschten Werken ist das wichtigste, daß der katholische Glaube und die christliche Religion in unserer Zeit verherrlicht und überall verbreitet werden und so weiter und so weiter, als Begründung und Rechtfertigung für das, was Alexander der Sechste mit dieser Bulle de facto getan hat.«

»Und was hat er getan?« fragte Daniel.

»Ah!« sagte Damiani. »Er hat eine Demarkationslinie festgesetzt, um die Entdeckungen der Portugiesen und der Spanier zu trennen. Diese Linie verlief hundert Meilen westlich der Azoren von Pol zu Pol. Alles Land ostwärts davon sollte den Portugiesen gehören, alles westlich davon den Spaniern. Am siebenten Juni des Folgejahres verständigten sich Spanier und Portugiesen im Vertrag von Tordesillas dann direkt miteinander. Der Vertrag ließ die Demarkationslinie durch einen Punkt dreihundertsiebzig Meilen westlich der Kapverden gehen, das heißt, die Grenze wurde zugunsten Portugals nach Westen verschoben, und zwar von achtunddreißig Grad West, wie in der Bulle, auf sechsundvierzig Grad dreißig Minuten West.«

»Mit anderen Worten: Dieser Papst hat es Portugal und Spanien, den damaligen Supermächten, gestattet, die Welt unter sich aufzuteilen«, sagte Daniel.

»Genau das, Signore«, sagte Damiani. »Die beiden haben sich die Welt geteilt!«

Dieses Gespräch fand am Abend des 8. März 1984, einem Donnerstag, statt.

Zwei Tage zuvor, am 6. März, hatte Daniel auf seinem täglichen Spaziergang – diesmal mit einem unbekannten Pfleger – von einem Gasthaus in Heiligenkreuz aus mit Conrad Colledo telefoniert und alles über den Mord an Herbert Kramer, dem Bibliothekar im Dokumentationszentrum der Bundesrepublik in Koblenz, erfahren.

Colledo war zornig gewesen. »Da sind meiner Ansicht nach jetzt ein Haufen Killer von dem Typ unterwegs, den Mercedes und ich in deiner Wohnung kennengelernt haben. Peter Corley nannte er sich. Heißt natürlich nie im Leben so. Ich habe das Gefühl, daß er sich ganz in eurer Nähe aufhält. Scheint auf euch beide angesetzt worden zu sein. Seid bloß vorsichtig! Die Polizei meint, das ist erst der Anfang, der kleine Anfang von etwas Größerem.« Colledo fluchte. »Eintragung in das Arbeitsjournal von Ribbentrops Dienst! Wenn das kein Beweis gewesen wäre! Jetzt ist der Beweis weg und Kramer tot. Elende Scheiße!«

»Wenn die Nazis den Film gefälscht und dabei wirklich an alles gedacht haben, dann könnten sie, um die Sache wasserdicht zu machen, natürlich auch die Eintragung ins Journal gefälscht haben. In Wirklichkeit muß dann an dem Tag gar kein Agent aus Teheran eingetroffen sein.«

»Die Schweine, die den armen Kerl in Koblenz erschießen und das Journal verschwinden ließen, wollen aber doch gerade den Nachweis erbringen, daß der Film eine Fälschung ist! Mach mich nicht verrückt, Danny!« rief Colledo.

»Nur eine Idee. Bestimmt war die Eintragung echt. Hör mal, die können einfach nicht alle Beweise für die Echtheit des Films auf diese Art verschwinden lassen!«

»Warum nicht?« Colledo regte sich auf. »Siehst ja, wie das funktioniert! Wenn sie genügend Killer haben, Skrupel haben sie bestimmt nicht. Doch offensichtlich alles Geld der Welt.«

»Aber sie können nicht alle Zeugen umbringen, die sagen, daß der Film echt ist.«

»Und warum nicht?«

Daniel sagte: »Wenn sie wirklich nur solche Zeugen am Leben lassen, die sagen oder gefälschte Beweise dafür liefern, daß der Film eine Fälschung ist, wir aber dann in unserer Dokumentation von den verschwundenen Beweisen für die Echtheit und vom Tod einer Reihe von Menschen berichten, wird das einen sehr, sehr üblen Eindruck machen.«

»Nämlich welchen?«

»Frage! Nämlich den, daß hier von mächtigen Herren Mörder gedungen wurden, die alle unbequemen Zeugen beseitigten, damit nur solche übrigblieben, die den Film für eine Propagandalüge der Nazis erklären.«

»Da bin ich nicht deiner Ansicht«, sagte Colledo. In der eiskalten Telefonzelle des Gasthauses roch es nach Essen und Urin. Die Zelle lag auf einem finsteren Gang halbwegs zwischen der Küche und den Toiletten. Daniel, der oft von hier aus mit Colledo telefonierte, bekam den Gestank nicht mehr aus der Nase. Selbst im Freien glaubte er ihn wahrzunehmen. »Wir können dann zwar so etwas behaupten in unserer Dokumentation, wir können es aber nie beweisen. Diese Leute sind schlau, Danny, sehr schlau. Sie werden nicht alle gefährlichen Zeugen erschießen. Mal wird es wie Selbstmord aussehen, mal wie ein Unglücksfall. Wie die Dinge liegen, haben sie sich offenbar für diese Methode entschieden, um den Film zu entwerten. Und – seien wir uns klar darüber, Danny, machen wir uns nichts vor – entwertet wird der Film natürlich enorm, wenn wir nur Zeugen präsentieren können und Beweise, welche die Behauptung unterstützen, es handle sich um eine Fälschung. Nein, nein, die haben sich alles überlegt. Es ist ihre einzig mögliche Antwort auf unsere Herausforderung. Und ganz bestimmt, davon sind auch Polizei und BKA überzeugt, haben sie ein phantastisch funktionierendes Netz aufgezogen. Mit viel, viel mehr Geld und Menschen, als es uns je möglich wäre. Ich kann mir vorstellen, daß gewisse Leute im Sanatorium von dem Mord an Kramer vor uns Bescheid wußten.«

Das stimmte. Der Anwalt Morley hatte Herdegen nachts, zwei Stunden nach der Tat, angerufen und ihn und Wayne Hyde informiert. »Erster Erfolg. Ein wichtiges Originaldokument für die Echtheit des Films ist in unserem Besitz. Ich meine natürlich: ein von den Nazis gefälschtes Originaldokument. Die dachten an alles. Sogar an die Eintragung in das Arbeitsjournal des Ribbentrop-Dienstes. Na, dieses Journal kann der Sender vergessen!«

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