20

»Inzwischen haben die Wächter die Dächer bestimmt abgesucht«, sagte Harold, »so daß wir uns wieder hinaufwagen können.«

»Und wohin wollen wir?«

»Dorthin, wo sich die Tarns befinden.«

»Wahrscheinlich auf dem höchsten Dach des höchsten Gebäudes hier.«

»Das wäre die Burg.«

Ich mußte ihm recht geben. In den Privathäusern reicher Goreaner ist die Burg gewöhnlich ein hoher, meist runder Steinturm, der für eine Verteidigung eingerichtet ist und Wasser und Nahrungsmittelvorräte enthält. Es ist fast unmöglich einen solchen Turm von außen in Brand zu schießen, und die runde Form lenkt oft die Katapultschüsse der Belagerer ab.

Das Erklimmen des Baumes machte uns große Mühe, da sich Hereena wie ein Larl wehrte. Schließlich erreichten wir aber den Wipfel von dem aus ich mit einem Sprung die Mauerkrone erreichte. Ich glitt ab und mußte mich anstrengen, vermochte mich aber schließlich hochzustemmen.

»Achtung!« rief Harold.

Ich wollte eben nach dem Grund seiner Warnung fragen, als ich einen unterdrückten Entsetzensschrei vernahm.

Im nächsten Augenblick bemerkte ich, daß Harold das Mädchen in meine Richtung geworfen hatte. Ich vermochte sie eben noch aufzufangen. Sie war von Kopf bis Fuß in Angstschweiß gebadet und zitterte vor Entsetzen. Auf der Mauer hockend, das Mädchen mit der Hand haltend, damit sie nicht hinabstürzte, so wartete ich bis auch Harold den Baum heraufkam und herübersprang. Er glitt ebenfalls aus, aber unsere Hände trafen sich und er wurde sicher in die Höhe gezogen.

»Vorsicht«, sagte ich und versuchte meine Stimme nicht allzu triumphierend klingen zu lassen.

»Ganz richtig«, sagte Harold atemlos, »wie ich eben schon sagte.«

Ich überlegte, ob ich ihn nicht von der Mauer stoßen sollte, aber ich dachte an die Höhe und daß ich ihm damit den Hals oder das Rückgrat brechen würde, und an die Komplikationen, die das für unseren Fluchtplan haben könnte.

»Komm!« sagte er, warf sich Hereena über die Schulter wie einen Boskschinken und wanderte auf der Mauer entlang. Glücklicherweise erreichten wir bald ein leicht zugängliches flaches Dach und stiegen hinauf. Harold legte Hereena ab und blieb mit untergeschlagenen Beinen eine Minute lang sitzen. Er atmete heftig. Über uns in der Dunkelheit hörten wir das Schlagen von Tarnflügeln und sahen einen der gewaltigen Vögel am Himmel entlangziehen. Wenige Sekunden später war ein Flattern zu vernehmen, als das Tier ganz in der Nähe zur Landung ansetzte. Daraufhin marschierten wir weiter, wobei Harold seine Beute diesmal unter dem Arm trug, und schlichen uns vorsichtig von Dach zu Dach, bis wir vor uns wie einen dunklen Zylinder die Burg aufragen sahen. Der Turm war etwa zwanzig Meter von anderen Gebäuden des Saphrarschen Anwesens entfernt, aber wir entdeckten sofort eine aus Seilen und Sprossen bestehende Hängebrücke, die von einer offenen Tür des Burgturms zu einer Veranda unter uns führte. Die Brücke, eher nur ein Steg, schwankte leicht im Wind und gewährte Zugang zum Turm von dem Gebäude aus, auf dessen Dach wir uns befanden. Tatsächlich war dies der einzige Zugang, weil es im Erdgeschoß einer goreanischen Burg keine Türöffnungen gibt. Die ersten zwanzig Meter des Turms bestanden wahrscheinlich aus solidem Gestein, um die Bastion gegen den Einsatz von Rammböcken zu schützen. Der Turm selbst war etwa fünfzig Meter hoch und hatte einen Durchmesser von fünfzehn Metern. Er wies zahlreiche Schießscharten auf, die für Bogenschützen gedacht waren. Die Turmspitze, die sich mit Aufspießpfeilern und Tarnnetzen bewehren ließ, lag nun frei und ungeschützt, um den Start und die Landung von Tarnkämpfern zu ermöglichen.

Von dem Dach, auf dem wir lagen, hörten wir zuweilen einen Mann über die Hängebrücke eilen. Dann brüllte jemand. Ab und zu landete oder startete auch ein Tarn vom Dach der Burg.

Als wir sicher waren, daß sich mindestens zwei Tarns auf der Turmspitze befinden mußten, sprang ich vom Dach und landete auf der schmalen Brücke, wobei ich mühsam das Gleichgewicht wahren mußte, weil sie unter meinen Füßen wild hin und her zu schwingen begann. Sofort hörte ich einen Schrei aus dem Haus hinter mir. »Da ist einer!«

»Beeil dich!« rief ich Harold zu.

Er warf mir Hereena herab, ich fing sie auf. Dabei erhaschte ich einen kurzen Blick auf den wilden, entsetzten Ausdruck ihrer Augen und hörte ihr ersticktes flehen. Da landete auch schon Harold neben mir auf der Brücke und ergriff das Handseil, um nicht abzustürzen.

Ein Wächter, mit einer Armbrust bewaffnet, erschien in der Tür des Gebäudes; er war deutlich als Silhouette zu erkennen. Er hatte einen Pfeil aufgelegt, die Sehne gespannt und hob die Waffe an die Schulter. Neben mir zuckte Harolds Arm zurück, und der Mann erstarrte plötzlich, dann gaben seine Knie langsam unter ihm nach, und er stürzte auf die Veranda. Eine Quiva ragte aus seiner Brust. Klappernd fiel die Armbrust neben ihm zu Boden.

»Los!« sagte ich zu Harold.

Ich hörte nun die eiligen Schritte weiterer Männer.

Zwei weitere Armbrustschützen erschienen auf einem nahegelegenen Dach und begannen wild zu gestikulieren.

»Ich sehe sie!« rief einer.

Harold eilte über die Brücke, Hereena auf den Armen. Im nächsten Augenblick verschwand er in der Burg.

Zwei Schwertkämpfer hasteten nun aus dem Gebäude, sprangen über den gefallenen Armbrustschützen und eilten auf die Brücke. Ich ließ mich in den Kampf verwickeln, tötete einen und verwundete den zweiten schwer. Ein Pfeil von einem der Schützen auf dem Dach bohrte sich durch das Holz der Brücke zu meinen Füßen — kaum fünfzehn Zentimeter von mir entfernt.

Hastig zog ich mich auf der Brücke zurück, und ein zweiter Pfeil zischte an mir vorbei, prallte funkensprühend gegen den Steinturm hinter mir.

Dann sah ich mehrere Wächter auf die Brücke zueilen. Ich hatte vielleicht noch elf oder zwölf Sekunden Zeit, ehe die Armbrustschützen wieder geladen hatten. Also wandte ich mich um und begann wie wild auf die Seile einzuhacken, die die schwankende Brücke am Turm festhielten.

Von drinnen hörte ich die verblüffte Stimme eines Wächters, der wissen wollte, wer Harold war.

»Ist das denn nicht klar?« brüllte Harold ihn an. »Du siehst doch, ich habe das Mädchen!«

»Welches Mädchen?« fragte der Wächter.

»Ein Mädchen aus den Vergnügungsgärten Saphrars, du Idiot!« schrie Harold.

»Aber warum solltest du so ein Mädchen herbringen?« wollte der Wächter wissen.

»Du bist blöd, nicht wahr?« sagte Harold aufgebracht. »Hier — nimm sie mal!«

»Also gut«, sagte der Wächter.

Dann hörte ich den kurzen dumpfen Laut eines Faustschlags. Die Brücke begann hin und her zu zucken, begann sich abzusenken; mehrere Männer von der andere Seite liefen auf mich zu. Dann ertönte ein lauter Entsetzensschrei, als ein Seil durchgeschnitten war und sich der Boden der Brücke plötzlich drehte und mehrere Wächter in die Tiefe schleuderte.

Ein Pfeil prallte vom Boden vor meinen Füßen ab und schwirrte weiter ins Gebäude. Wieder hieb ich zu, und auch das zweite Seil riß, die Brücke sackte ab und schlug gegen die gegenüberliegende Hausmauer. Lautes Scheppern begleitete den Zusammenbruch, Schreie gellten, und gleich darauf schlugen tief unten zwischen Häuserwand und Turm die Wächter auf den Steinboden. Ich sprang durch die Öffnung in die Burg und ließ die schwere Holztür hinter mir zufallen. Im gleichen Augenblick traf ein Armbrustpfeil die Tür, durchbohrte das Holz und ragte noch fast zehn Zentimeter auf der Innenseite heraus. Schließlich legte ich die beiden schweren Riegel vor, die die Tür uneinnehmbar machten, auch wenn sich die Belagerer von draußen mit Leitern daran zu schaffen machen sollten.

Der Raum, in dem ich mich befand, enthielt einen bewußtlosen Wächter — doch von Harold und Hereena war nichts mehr zu sehen. Ich stieg über eine Holzleiter in das nächste Stockwerk, das ebenfalls leer war, und dann in die folgende Etage und weiter. Schließlich erreichte ich den Raum unter dem Dach des Burgturms und fand hier Harold, der schweratmend auf der untersten Sprosse der letzten Leiter saß. Hereena lag zu seinen Füßen.

»Ich habe auf dich gewartet«, keuchte Harold.

»Machen wir weiter«, sagte ich, »damit die Tarns nicht vom Dach verscheucht werden und wir hier isoliert sind.«

»Das ist genau mein Plan«, bemerkte Harold, »aber solltest du mir nicht lieber erst beibringen, wie man einen Tarn lenkt?«

Ich hörte Hereena entsetzt aufstöhnen, und sie begann sich wild hin und her zu werfen, versuchte die Tücher abzustreifen, mit denen sie geknebelt und gefesselt war.

»Gewöhnlich dauert es Jahre«, sagte ich, »bis man ein richtiger Tarnreiter ist.«

»Das ist ja alles ganz schön und gut«, erwiderte Harold, »aber kannst du mir nicht ein paar Tips geben, die mir in kürzerer Zeit ein Grundwissen vermitteln?«

»Komm aufs Dach!« rief ich.

Ich kletterte vor Harold die Leiter hinauf und stieß die Falltür auf, die ins Freie führte. Auf dem Dach befanden sich fünf Tarns.

Ein Wächter näherte sich eben der Falltür. Der andere gab nacheinander die Tarns frei.

Noch halb auf der Leiter, wollte ich den Wächter schon angreifen, doch Harold hielt mich zurück und steckte den Kopf durch die Öffnung.

»Laßt ihn in Ruhe!« rief er dem Wächter zu. »Das ist Tarl Cabot aus Ko-ro-ba, du Narr!«

»Wer ist denn Tarl Cabot aus Ko-ro-ba?« fragte der Wächter verblüfft.

»Ich!« erwiderte ich, ohne zu wissen, was ich sonst hätte sagen sollen.

»Hier ist das Mädchen«, sagte Harold. »Hier, nimm sie!«

Der Wächter stieß sein Schwert wieder in die Scheide zurück und fragte: »Was ist da unten eigentlich los? Wer seid ihr?«

»Stell jetzt keine Fragen!« sagte Harold heftig. »Hier ist das Mädchen — halt sie fest!«

Der Wächter zuckte die Achseln, und als er Hereena von Harold übernahm, kniff ich die Augen zusammen, denn der Junge streckte den Mann mit einem Schlag ins Reich der Träume, der auch einen Bosk gefällt hätte. Ehe sie mit dem Bewußtlosen zu Boden sank, brachte Harold seine Hereena wieder an sich. Dann stieß er den Mann durch die Falltür ins nächste Stockwerk hinab.

Der zweite Wächter war auf der anderen Seite des Dachs mit einer Tarnfessel beschäftigt. Er hatte bereits zwei Vögel freigelassen, indem er sie mit einem Tarnstab vom Dach trieb.

»Du da!« brüllte Harold. »Laß noch einen Tarn frei!«

»Gut«, sagte der Mann. Er ließ einen weiteren Vogel frei, der mit gewaltigen Flügelschlägen vom Dach aufstieg.

»Komm her!« befahl ihm Harold.

Der Wächter kam über das Dach gelaufen. »Wo ist Kuruus?« fragte er.

»Unten«, informierte ihn Harold.

»Wer seid ihr?« wollte der Wächter wissen. »Was geht hier vor?«

»Ich bin Harold von den Tuchuks«, erwiderte Harold.

»Was tut ihr hier?« fragte der Wächter verblüfft.

»Bist du nicht Ho-Bar?« wolle Harold wissen. Das war ein weitverbreiteter Name in Ar, von wo die Tarnsöldner kamen.

»Ich kenne keinen Ho-Bar«, sagte der Mann. »Ist das ein Turianer?«

Ich hatte gehofft, Ho-Bar hier zu finden«, sagte Harold, »aber vielleicht kannst du uns auch helfen.«

»Ich will’s versuchen.«

»Hier«, sagte Harold, »nimm mal das Mädchen.«

Hereena schüttelte heftig den Kopf, versuchte dem Wächter ein Zeichen zu geben, brachte aber nur ein gurgelndes Stöhnen zustande.

»Was soll ich denn mit ihr?« fragte der Wächter.

»Sie halten«, erwiderte Harold.

»Na gut.«

Wieder schloß ich die Augen, und nach einer Sekunde war es vorbei. Harold hatte das Mädchen wieder über die Schulter und näherte sich furchtlos den Tarns.

Zwei der großen Vögel befanden sich noch auf dem Dach, großartige Exemplare, bösartig, wachsam, nervös.

Harold ließ Hereena zu Boden sinken und trat vor den ersten Tarn hin.

Ich schloß die Augen, als er dem Vogel gebieterisch auf den Schnabel schlug.

»Ich bin Harold von den Tuchuks«, sagte er. »Ich bin ein erfahrener Tarnreiter — ich habe schon über tausend Tarns geritten — ich habe mehr Zeit im Tarnsattel verbracht als die meisten Männer auf den Füßen — ich wurde auf dem Tarnrücken gezeugt — ich wurde im Tarnsattel geboren — ich esse Tarns — du mußt mich fürchten! Ich bin Harold von den Tuchuks!«

Der Vogel, wenn er solcher Gefühle überhaupt fähig war, schaute ihn mit geneigtem Kopf verblüfft an. Ich rechnete jeden Augenblick damit, daß er Harold mit dem Schnabel zu Boden fegte, in zwei Teile zerbiß und die Stücke verzehrte. Aber der Vogel schien viel zu verwirrt zu sein, schien nicht zu wissen, wie er sich bei einem solchen Menschen verhalten sollte.

Harold wandte sich um und fragte mich: »Wie reitet man nun einen Tarn?«

»Steig in den Sattel«, befahl ich.

»Ja!« erwiderte er und stieg hinauf, wobei er eine der Seilsprossen am Sattel verpaßte und mit dem Bein durchrutschte. Schließlich hatte ich ihn im Sattel festgebunden und erklärte ihm hastig die Lenkung mittels Sattelring und den sechs Zügeln. Als ich Hereena zu ihm hinaufhob, stöhnte das arme Mädchen vor Entsetzen. Offensichtlich hatte sie Angst vor einem Tarn. Andererseits schien Harold mit sich ziemlich zufrieden zu sein und band das Mädchen mit breitem Grinsen vor sich fest. Ohne zu warten, stieß er einen lauten Schrei aus und zog am ersten Zügel. Der Tarn bewegte sich nicht, sondern drehte sich nur um und musterte ihn mit skeptischem und tadelndem Blick.

»Was ist los?« fragte Harold.

»Der Tarn trägt noch seine Fußfesseln«, sagte ich.

Ich beugte mich hinab und öffnete die Fußfessel. Sofort begannen die riesigen Flügel des Vogels zu schlagen, und er sprang in den Himmel »Aii!« hörte ich Harold schreien und konnte mir gut vorstellen, was er gerade für ein Gefühl im Magen haben mußte.

Mit hastigen Bewegungen löste ich die Fußfessel des anderen Tarn, sprang in den Sattel und legte den breiten Sicherheitsgurt um. Dann zog ich am ersten Zügel und steuerte meinen Vogel neben Harolds Tarn, der etwas hilflos über dem Gebäude kreiste.

»Laß die Zügel los!« brüllte ich hinüber. »Dein Vogel folgt dann dem meinen!«

»Ausgezeichnet!« hörte ich ihn fröhlich rufen.

Und im nächsten Augenblick rasten wir über Turia dahin. Ich beschrieb einen großen Bogen, betrachtete noch einmal die Fackeln und Lichter im Hause Saphrars unter uns und steuerte dann meinen Vogel auf die Prärie hinaus in die Richtung, in der die Wagen der Tuchuks standen.

Ich freute mich, daß uns die Flucht aus dem Hause Saphrars gelungen war, aber ich wußte auch, daß ich in die Stadt zurückkehren mußte — denn ich hatte mein Ziel nicht erreicht — die goldene Kugel. Sie lag noch immer in der Festung des mächtigen Kaufmanns.

Ich mußte das Ei an mich bringen, ehe der graue Mann, von dem Saphrar abhing, die goldene Kugel in seinen Besitz bringen und sie vernichten oder fortschaffen konnte.

Als wir so über die Prärie dahinflogen, fragte ich mich wieder einmal, wieso Kamchak die Wagen und Bosks von Turia abzog — wieso er die Belagerung so schnell aufgab.

In der Morgendämmerung sahen wir dann die Wagen unter uns und in der Ferne eine riesige Boskherde. Schon brannten Feuer überall, schon herrschte lebhaftes Treiben im Lager der Tuchuks, das Kochen, die Oberprüfung der Wagen, das Anschirren der Zugbosks. Heute früh sollten die Wagen abfahren, sollten Turia zurücklassen. Die Gefahr eines Beschusses mißachtend, landete ich meinen Vogel mitten im Lager.

Загрузка...