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Natürlich war das alles ein abgekartetes Spiel der Tuchuks gewesen.

Man gibt vor, eine Stadt ernsthaft zu belagern, verbringt damit mehrere Tage oder sogar Wochen; dann gibt man anscheinend die Belagerung auf und zieht sich langsam zurück, entfernt sich in aller Ruhe mit Wagen und Bosks — in diesem Fall vier Tage lang. Schließlich, wenn Bosks und Wagen aus der unmittelbaren Gefahrenzone sind, kehrt man im Schütze der Dunkelheit in einem Gewaltmarsch zur Stadt zurück und unternimmt einen Überraschungsangriff.

Es hatte alles bestens geklappt. Ein Großteil Turias stand in Flammen. Bestimmte Hundertschaften, vorher schon mit genauen Befehlen versehen, hatten sich sofort in den Besitz der Brunnen, Kornspeicher und öffentlicher Gebäude gesetzt — einschließlich des Palasts von Administrator Phanius Turmus. Der Ubar und Kamras, sein höchster Offizier, waren sofort gefangennommen worden — auch hier hatten für je eine Hundertschaft ausdrückliche Befehle bestanden. Die meisten Mitglieder des Hohen Rates von Turia lagen in Tuchukketten. Die Stadt war weitgehend ohne Führung, obwohl hier und dort noch mutige Turianer einzelne Straßen abgeriegelt hatten und Widerstand leisteten. Das große Anwesen Saphrars war jedoch nicht gefallen. Es war gut geschützt durch seine hohen Mauern und die zahlreichen Wächter; ebensowenig war der hohe Turm genommen worden, der die Tarnkäfige und Unterkünfte Ha-Keels des Söldners beherbergte.

Kamchak hatte im Palast des Phanius Turmus Quartier bezogen, der einigermaßen unbeschädigt geblieben war.

Nachdem die Tuchuks in die Stadt eingefallen waren, bestand Harold darauf, das junge Mädchen, das er unter dem Wagen kennengelernt hatte, nach Hause zu begleiten. Ich ging mit, machte aber unterwegs an einem Brunnen halt, um mein Bäckergewand abzulegen und mir die schwarze Farbe aus dem Haar zu waschen, denn ich hatte keine Lust, als turianischer Bürger angesehen und etwa von einem Tuchuk versehentlich angegriffen zu werden. Zum erstenmal mochte mir mein rotes Haar nützlich sein, das vielen Tuchuks bekannt sein mußte.

Als ich mich nach dem Bad aufrichtete, rief Harold verblüfft: »Also, du bist es ja selbst — Tarl Cabot aus Ko-ro-ba!«

»Du wirst es nicht für möglich halten«, erwiderte ich.

Nachdem wir das Mädchen zu Hause abgeliefert hatten, machten wir uns auf den Weg zum Hause Saphrars, wo ich mich persönlich davon überzeugte, daß im Augenblick nichts weiter zu tun war. Das Anwesen wurde von mindestens fünfzehn Hundertschaften belagert. Der Angriff hatte noch nicht begonnen. Zweifellos lagen bereits Felsbrocken und behauene Mauersteine innerhalb der Befestigungen bereit. Von den Dächern strömte der Geruch von Tharlarionöl, das bereitgestellt wurde, um es brennend auf die Sturmtruppen zu gießen, die die Mauern untergraben oder sie mit Leitern bezwingen wollten. Von Zeit zu Zeit kam es zu Schußwechseln mit Armbrüsten und Kurzbögen. Etwas machte mir Sorgen. Die Mauern des Anwesens drängten unsere Bogenschützen so weit vom Burgturm Saphrars zurück, daß dort Tarns relativ gefahrlos landen und starten konnten. Wenn es Saphrar wollte, konnte er auf dem Rücken eines Tarns entfliehen. Bis jetzt wußte er wahrscheinlich noch gar nicht, wie schlimm die Lage war. Zweifellos verfügte er über ausreichend Wasser und Nahrungsmittel, um einer längeren Belagerung standzuhalten, aber ich vermutete, daß er nicht ausharren, sondern fliehen würde, wenn er den Zeitpunkt für gekommen erachtete — aber im Augenblick schien er noch nichts zu befürchten.

Darauf wollte ich mich zum Palast des Phanius Turmus begeben, wo Kamchak sein Hauptquartier eingerichtet hatte, um ihm meine Dienste anzubieten. Harold aber bestand darauf, daß wir noch etwas in der Stadt herumgingen und uns über die verschiedenen turianischen Widerstandsnester informierten.

»Warum?« fragte ich.

»Wir sind das unserer Stellung schuldig«, sagte er.

»Oh«, bemerkte ich.

Endlich war es Abend, und wir drängten uns durch die turianischen Straßen, an denen hier und da noch Häuser brannten.

Wir erreichten ein hohes, von Mauern umgebenes Gebäude und wanderten daran entlang. Von drinnen war lautes Rufen und das Weinen von Frauen zu hören.

»Was ist das?« fragte ich.

»Der Palast des Phanius Turmus.«

»Da haben Frauen geweint.«

»Turianische Frauen«, sagte Harold achselzuckend. Dann fügte er hinzu: »Die schönsten Schätze der Stadt liegen hinter diesen Mauern.«

Ich war verblüfft, als die vier Tuchukwächter am Eingang des Palastes dreimal mit den Lanzen gegen ihre Schilde schlugen — ein unerwarteter Gruß. Beim Kommandanten einer Zehnerschaft, wird die Lanze nur einmal geschlagen, beim Kommandanten einer Hundertschaft zweimal, nur beim Befehlshaber über eine Tausendschaft erfolgt der dreifache Gruß.

»Passiert, Kommandanten«, sagte der Offizier der Wache, und die Männer gaben uns den Weg frei.

Natürlich wollte ich von Harold wissen, was das bedeutete. Ich hatte damit gerechnet, daß man uns verhören und uns allenfalls nach vielen Beteuerungen in den Palast lassen würde.

»Es bedeutet«, sagte Harold und sah sich im Hof um, »daß du den Rang des Kommandanten einer Tausendschaft bekleidest.«

»Das begreife ich nicht«, sagte ich. »Ein Geschenk Kamchaks«, sagte Harold. »Ich selbst habe das vorgeschlagen angesichts deines mutigen, wenn auch etwas ungegeschickten Eingreifens am Tor.«

»Vielen Dank«, sagte ich.

»Natürlich habe ich für mich denselben Rang vorgeschlagen«, sagte Harold, »da immerhin ich es war, der das Ganze eingefädelt hat.«

»Natürlich«, versicherte ich.

»Du hast natürlich nicht wirklich eine Tausendschaft unter dir«, sagte Harold.

»Trotzdem ist der Rang nicht zu verachten«, sagte ich. »Warum hast du mir nicht eher davon berichtet?«

»Ich hielt es nicht für wichtig«, sagte der junge Mann, und ich überlegte, ob ich ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern versetzen sollte. »Korobaner mögen so etwas natürlich wichtig nehmen«, bemerkte Harold.

Wir erreichten eine Ecke des Außenhofs, in der ein riesiger Haufen Teller und Schalen aus kostbarem Metall lag; dazu Kästen voll Juwelen, Halsbänder und Armreifen, Kisten mit Münzen und zahlreiche Silber- und Goldbarren, die jeweils ihr Gewicht eingraviert trugen. Der Palast des Ubar ist zugleich die Münzanstalt der Stadt, wo die Münzen von Hand geprägt werden.

Weiter hinten entdeckte ich riesige Stoffballen — hauptsächlich Seide. Ein weiterer Haufen bestand aus Waffen, Sätteln und kostbaren Geschirren.

»Als Kommandant«, sagte Harold, »kannst du dir nehmen, was dir gefällt.«

Ich nickte.

Wir betraten einen zweiten Hof, einen Innenhof zwischen Palast und Außenmauer.

Hier entdeckten wir eine lange Kette turianischer Frauen, die aneinandergefesselt waren. Von hier mußten die Schreie gekommen sein, die ich auf der Straße gehört hatte. Einige Frauen klagten leise vor sich hin, andere waren wie erstarrt von den Schrecken, die sie durchgemacht hatten.

»Du bist Kommandant einer Tausendschaft«, sagte Harold. »Wenn dir eines der Mädchen gefällt, sag dem Wächter Bescheid, und er reserviert es für dich.«

»Nein«, sagte ich, »gehen wir zu Kamchak.«

In diesem Augenblick gab es Aufregung am Tor, und zwei Tuchuks schleppten ein Mädchen herein, das sich verzweifelt wehrte.

Es war Dina!

Ein lachender Tuchuk zerrte das Mädchen vorbei.

»Eine Schönheit, Kommandant«, sagte er.

Plötzlich gab Dina ihre Gegenwehr auf, warf den Kopf in den Nacken und sah mich erstaunt an. Sie hatte nicht erwartet, mich hier zu sehen.

»Sie kommt nicht an die Kette«, befahl ich. »Sie ist als freie Frau und mit Respekt zu behandeln. Bringt sie nach Hause zurück und bewacht sie, solange wir in der Stadt sind.«

Die beiden Männer waren verblüfft, aber die Disziplin bei den Tuchuks ist vorzüglich.

»Jawohl, Kommandant«, erwiderten sie und ließen das Mädchen frei.

Dina sah mich dankbar an.

»Du bist in Sicherheit«, sagte ich.

»Aber meine Stadt brennt«, sagte sie.

»Das tut mir leid«, erwiderte ich, wandte mich schnell ab und betrat den Palast des Phanius Turmus.

Ich wußte, daß während der Besatzung der Tuchuks keine Frau in ihrem Heim sicherer sein würde als die schöne Dina, Angehörige der Kaste der Bäcker.

Ich eilte die Stufen hinauf, gefolgt von Harold, und erreichte die marmorne Vorhalle des Palastes. Hier waren die Kaiila untergebracht.

Tuchuks wiesen uns den Weg und wir erreichten schließlich den Thronsaal Phanius Turmus’, wo zu meiner Überraschung ein Bankett im Gange war. An eine Ende des Saals saß Kamchak auf dem Thron des turianischen Administrators. Er trug eine purpurne Robe über seinem schwarzen Lederwams, und Schild und Lanze lehnten in Reichweite neben ihm. Er starrte düster vor sich hin. An den niedrigen Tischen, wahrscheinlich aus den verschiedenen Stadtteilen zusammengeholt, saßen zahlreiche Tuchukoffiziere und auch einige Männer ohne Rang. Ihnen leisteten befreite Tuchuksklavinnen Gesellschaft. Alle lachten und tranken. Nur Kamchak wirkte bedrückt. In seiner Nähe saßen an den Ehrenplätzen Würdenträger der Stadt in ihrer feinsten Kleidung. Unter ihnen entdeckte ich Kamras, den Ersten Kämpfer Turias, und neben ihm einen dicken Mann, bei dem es sich nur um Phanius Turmus persönlich handeln konnte. Hinter jedem Mann stand ein Tuchukwächter mit gezogener Quiva.

Kamchak wandte sich an seine Opfer. »Eßt«, befahl er.

Vor den Gefangenen standen Schalen mit herrlich zubereiteten Gerichten aus den Küchen des Ubar, sowie kostbare Krüge mit turianischem Wein, kleine Schalen mit Gewürzen und Zuckersorten.

Nackte turianische Sklavenmädchen bedienten bei Tisch. Musiker spielten hinter einem Vorhang.

Gehorsam begannen die Turianer zu essen, wobei sie ab und zu verstohlene Blicke über die Schulter warfen.

»Seid willkommen, Kommandanten«, sagte Kamchak und bedeutete uns, an seiner Tafel Platz zu nehmen.

»Ich habe nicht erwartet, dich in Turia zu sehen«, sagte ich.

»Das ging den Turianern ebenso«, bemerkte Harold und griff zu.

Aber Kamchak starrte nur niedergeschlagen auf den Teppich vor dem Thron, der mit Flecken übersät war. Er schien nicht wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Dieses Mahl hätte ein Triumph für ihn sein müssen — aber er schien sich nicht zu freuen.

»Der Ubar der Tuchuks macht keinen glücklichen Eindruck«, sagte ich.

Kamchak hob den Kopf und musterte mich.

»Die Stadt brennt«, sagte ich.

»Laß sie doch brennen«, sagte Kamchak. »Ich will sie nicht.«

»Was willst du dann?«

»Das Blut Saphrars«, erwiderte er.

»All dies dient nur der Rache für Kutaituchik?«

»Um Kutaituchik zu rächen«, sagte Kamchak, »würde ich tausend Städte anzünden.«

»Wieso das?«

»Er war mein Vater«, sagte Kamchak und wandte sich ab.

Während des Essens kamen von Zeit zu Zeit Boten aus den verschiedenen Stadtteilen und sogar von den fernen Wagen, die einen Siebenstundenritt entfernt warteten. Neue Gerichte wurden aufgetragen, und auch die Würdenträger Turias mußten essen und trinken. Einige von ihnen begannen bald zu weinen und zu jammern. Drei turianische Mädchen führten Tänze vor, die Gesellschaft wurde ausgelassen. Als das Fest seinem Höhepunkt entgegenstrebte, eilte ein weiterer Bote in den Saal.

Der Ubar der Tuchuks lauschte mit unbewegtem Gesicht und stand auf. Er deutete auf die turianischen Gefangenen. »Bringt sie fort«, sagte er. »Legt sie in Ketten und laßt sie arbeiten.« Phanius Turmus und Kamras und die anderen wurden von ihren Tuchukwächtern fortgezerrt. Die Tuchuks sahen Kamchak an. Die Musiker hatten zu spielen aufgehört.

»Das Fest ist vorbei«, sagte Kamchak.

Die Gäste zogen sich schweigend zurück.

Kamchak stand vor dem Thron Phanius Turmus’, die purpurne Robe des Ubar über der Schulter, und betrachtete die umgestürzten Tische, das beschmutzte Geschirr, die Überreste des Banketts. Nur er, Harold und ich befanden uns noch in dem riesigen Saal.

»Was ist los?« fragte ich.

»Unsere Wagen und Herden werden angegriffen.«

»Von wem?« fragte Harold erregt.

»Von den Paravaci«, sagte Kamchak grimmig.

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