Erster Teil ERSTE SCHATTEN

Erstes Kapitel Nach der Überschwemmung (1957) 1

Der Schrecken, der weitere 28 Jahre kein Ende nehmen sollte - wenn er überhaupt je ein Ende nahm - begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen vom Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb.

Das Boot schwankte, hatte Schlagseite und richtete sich wieder auf, brachte heldenhaft manch bedrohlichen Strudel hinter sich und schwamm immer weiter die Witcham Street hinab, auf die vom Wind gerüttelte Verkehrsampel an der Kreuzung Witcham- und Jackson Street zu. Die Verkehrsampel war an jenem grauen Nachmittag im Jahre 1957 außer Betrieb, und alle Häuser waren dunkel; das Hochwasser hatte am Vortage einen Stromausfall verursacht, der noch nicht wieder behoben war.

Ein kleiner Junge in gelbem Regenmantel und roten Überschuhen rannte fröhlich neben dem Papierboot her. Der Regen (nach viertägigen unaufhörlichen Wolkenbrüchen ließ er nun allmählich etwas nach) trommelte auf seine Kapuze - ein angenehmes Geräusch. Der Junge hieß George Denbrough und war sechs Jahre alt. Sein Bruder William, der in der ganzen Nachbarschaft und in der Fairmount-Schule allgemein nur unter dem Namen Stotter-Bill bekannt war (sogar bei den Lehrern, die ihn natürlich nie so anredeten), war zu Hause und erholte sich gerade von einer schweren Grippe. In jenem Herbst 1957 - 28 Jahre, bevor die kleine Stadt Derry im Zentrum Maines wieder eine Überschwemmung erlebte - war Stotter-Bill Denbrough zehn Jahre alt.

George rannte neben dem Boot her, das Bill - im Bett sitzend, mehrere Kissen im Rücken - für ihn gemacht hatte. Das letzte Viertel der Witcham Street war mit orangefarbenen Sägeböcken abgesperrt. Dahinter war die Straße überflutet, weil die Gullys mit Zweigen, Steinen und riesigen Haufen zusammenklebender welker Blätter verstopft waren. Am zweiten Tag der wolkenbruchartigen Niederschläge hatte das Wasser fingerbreite Risse im Asphalt erzeugt, und am dritten Tag waren gegen Mittag große Bruchstücke Asphalt den Hügel hinabgetrieben, bis über die Kreuzung hinweg. Es war gelungen, die Jackson Street für den Verkehr freizuhalten, aber die Witcham Street war bis zur Stadtmitte unpassierbar. Aber nun war nach allgemeiner Meinung das Schlimmste überstanden. Der Pegel des Kendus-keag River war knapp unterhalb der Höhe der natürlichen Ufer und der betonierten Kanalmauern in der Innenstadt stehengeblieben, und im Augenblick war eine Gruppe von Männern - darunter auch Zack Denbrough, Georges und Stotter-Bills Vater - damit beschäftigt, die Sandsäcke wegzuräumen, die sie am Vortag angsterfüllt entlang des Flusses aufgestapelt hatten, als es so aussah, als würde er unweigerlich über die Ufer treten und die Stadt überfluten. Das war seit 1932 nicht mehr vorgekommen, aber es gab noch genügend Menschen, die sich an die Überschwemmung von 1932 erinnern konnten und die übrigen Bewohner von Derry mit ihren Erzählungen in Angst und Schrecken versetzten. Damals waren bei der Hochwasserkatastrophe über zwanzig Menschen ums Leben gekommen. Einer davon war später 25 Meilen stromabwärts aufgefunden worden. Die Fische hatten diesem Ärmsten die Augen, drei Finger, den Penis und den größten Teil des linken Fußes abgefressen. Seine Hände - oder was davon noch übrig gewesen war - hatten das Lenkrad eines Fords umklammert.

Aber nun sank der Pegel des Kenduskeags langsam wieder, und wenn der neue Staudamm stromaufwärts in Bangor erst einmal fertiggestellt sein würde, dürfte der Fluß aufhören, eine ständige Bedrohung darzustellen. Das behauptete zumindest Zack Denbrough, der für >Bangor Hydroelec-tric< arbeitete.

George blieb am Rande eines tiefen Risses stehen, der sich diagonal durch den Teer der Witcham Street zog, und er lachte laut auf - der Klang der kindlichen ausgelassenen Fröhlichkeit erhellte einen Augenblick lang diesen grauen Nachmittag -, als das Wassersein Papierboot nach rechts in die Miniatur-Stromschnellen der schmalen Vertiefung riß. Es trieb so schnell auf die andere Seite der Witcham Street zu, daß George rennen mußte, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Unter seinen Überschuhen spritzte Wasser hervor, und ihre Schnallen klapperten fröhlich, während George Denbrough in seinen merkwürdigen Tod rannte. Er war in diesem Moment ganz erfüllt von Liebe zu seinem Bruder Bill... von Liebe und leichtem Bedauern, daß Bill nicht bei ihm war und dies hier nicht sehen konnte. Natürlich konnte er ihm alles erzählen, wenn er nach Hause kam, aber er konnte es ihm nicht bildhaft vor Augen führen, so wie Bill das fertigbringen würde, wenn er an seiner Stelle wäre. Bill konnte so etwas ganz fantastisch - deshalb bekam er in seinen Zeugnissen im Lesen und Schreiben auch immer die besten Noten, deshalb waren die Lehrer so begeistert von seinen Aufsätzen.

Das Boot schnellte durch die Vertiefung, und obwohl es in Wirklichkeit nur aus der Anzeigenseite der >Derry Daily News< bestand, stellte George sich vor, es wäre ein Torpedoboot wie die in >Hell in the Pacific«, einem Film mit John Wayne, den er mit Bill im Kino in der Innenstadt bei einer Samstagsmatinee gesehen hatte, kurz bevor Bill krank geworden war. Schmutziges Wasser schäumte um den Bug, während das Boot durch den Riß im Teer trieb, und dann erreichte es den Rinnstein auf der anderen Straßenseite. Einen Augenblick sah es so aus, als ob die neue starke Strömung, die gegen seine rechte Seite prallte, es zum Kentern bringen würde, aber es richtete sich wieder auf und drehte nach links - und erneut rannte George lachend nebenher, während unter seinen Überschuhen hervor das Wasser hochspritzte und der heftige Oktoberwind an den fast kahlen Bäumen rüttelte, die durch den furchtbaren Sturm der Vortage ihr buntes Blätterkleid verloren hatten.

Im Bett sitzend, die Wangen immer noch vom Fieber gerötet (aber es sank jetzt wie der Kenduskeag), hatte Bill das Boot gefaltet und dann zu George, der schon danach greifen wollte gesagt: »U-und jetzt h-h-hol mir das P-P-Paraffin.«

»Was ist das? Und wo ist es?«

»Es steht auf dem Regal im Keller«, hatte Bill gesagt. »In einer Schachtel mit der A-Aufschrift >G-G-G-Gulf<. Und bring auch ein Messer und eine Schüssel mit. Und Streichhölzer.«

George hatte sich auf den Weg gemacht, um diese Sachen zu holen. Er hörte im oberen Stockwerk seine Mutter Klavier spielen, während der Regen an diesem verhangenen Vormittag gegen die Fensterscheiben klopfte -es waren beruhigende Geräusche. Er ging nicht gern die schmale Kellertreppe hinunter, weil er sich immer vorstellte, daß da unten im Dunkeln etr was lauerte. Er öffnete nicht einmal gern die Tür, um das Licht einzuschalten, weil er immer das Gefühl hatte - er wußte, daß es dumm war -, daß in dem Moment, in dem er seine Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte, etwas nach ihm greifen würde... irgendeine schreckliche Tatze mit Klauen... und ihn in die Dunkelheit hinabzerren würde.

Es war dumm, das wußte er; es gab nichts Derartiges - Bill hatte ihm das versichert und Mom und Dad ebenfalls, obwohl ihre Worte für ihn weniger Gewicht hatten -, aber trotzdem wurde er die Vorstellung nicht los. In jenen endlos scheinenden Sekunden, wenn er nach dem Lichtschalter tastete, glaubte er immer wieder, der Kellergeruch - jener säuerlich-bittere Geruch von Lehmboden und verschimmeltem Gemüse - sei der Eigengeruch des Ungeheuers, irgendeiner unvorstellbaren Kreatur, die dort unten im Dunkeln lauerte und Appetit auf das Fleisch kleiner Jungen hatte.

An diesem Vormittag hatte er die Tür geöffnet, den Kellergeruch wahrgenommen und wie immer nur einen Arm in die Dunkelheit hinein ausgestreckt, um das Licht einzuschalten, während er mit fest zusammengekniffenen Augen, verzerrtem Mund und heraushängender Zungenspitze vor der Türschwelle stand. Komisch? Natürlich war es komisch. Schau dich doch nur mal an, Georgie! Georgie hat Angst vor der Dunkelheit! Die Klänge des Klaviers aus dem Morgenzimmer - wie seine Mutter es nannte -im ersten Stock schienen aus weiter Ferne zu kommen - so wie das Stimmengewirr und Gelächter aus einem überfüllten Strand im Sommer einem erschöpften Schwimmer, der verzweifelt gegen die Strömung ankämpft, weit entfernt und völlig fremd und sinnlos vorkommen muß.

Seine Finger fanden den Schalter und knipsten ihn an.

Kein Licht.

O verdammt! Der Stromausfall!

George zog seinen Arm so schnell zurück, als hätte er in einen Korb gegriffen und den glitschigen, geschmeidigen Körper einer Schlange unter seinen Fingern gespürt. Er wich einige Schritte von der geöffneten Tür zurück und blieb mit laut pochendem Herzen stehen. Kein Strom. Was nun? Sollte er Bill erklären, er könne das Paraffin nicht holen, weil kein Licht da sei und er Angst habe, daß etwas ihn auf der Kellertreppe schnappen

könnte, daß etwas ihn unter der Treppe hervor am Knöchel packen könnte? Daß er Angst habe, in der Dunkelheit dort unten, wo es nach altem Lehm und schimmligem Gemüse roch, plötzlich gelbe Augen aufleuchten zu sehen? Bill würde sagen: »Führ dich nicht auf wie ein Baby, Georgie... willst du nun dieses Boot haben oder nicht?«

Als hätte Bill seine Gedanken gelesen, rief er genau in diesem Augenblick: »B-B-Bist du da d-draußen g-g-gestorben, Georgie?«

»Nein, ich hol's gerade«, rief George zurück. Er rieb sich die Arme und hoffte, daß dadurch die Gänsehaut verschwinden würde. »Ich hab' nur schnell einen Schluck Wasser getrunken.«

Und er ging die vier Stufen zum Kellerregal hinunter; sein Herz war ein warmer, pochender Klumpen in seiner Kehle, seine Nackenhaare sträubten sich, seine Augen brannten, seine Hände waren eiskalt. Er war überzeugt davon, daß die Kellertür gleich zufallen und damit auch das Licht aus der Küche verschwinden würde und daß er es dann hören würde, etwas noch viel Schlimmeres als in hundert Horrorfilmen, ein tiefes kehliges Knurren in den alptraumhaften Sekunden, bevor es sich auf ihn stürzen und ihm die Gedärme aus dem Leib reißen würde.

Der Geruch war heute schlimmer denn je, wegen der Überschwemmung. Ihr Haus stand ziemlich weit oben an der Witcham Street, und deshalb waren sie verhältnismäßig gut davongekommen, aber durch die alten Steinfundamente war Wasser in den Keller gesickert und hatte sich mit dem Dreck vermischt. Der Gestank war so unangenehm, daß George versuchte, möglichst flach zu atmen.

Er stöberte in dem Zeug auf dem Regal herum - alte Dosen, Schuhcreme und Schuhputzlumpen, eine zerbrochene Petroleumlampe, eine Menge leerer >Windex<-Flaschen, ein alter Behälter Autowachs. Und da war sie schließlich - die Schachtel mit der Aufschrift >Gulf<.

George packte sie und rannte so schnell er konnte die Treppe hinauf. Ihm war plötzlich eingefallen, daß sein Hemdzipfel heraushing, und er war überzeugt davon, daß ihm das zum Verhängnis werden würde: das Wesen im Keller würde ihn daran packen, wenn er schon fast draußen war, es würde ihn zurückzerren und...

Er warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen, die Paraffinschachtel mit der Hand umklammernd, Stirn und Unterarme schweißbedeckt.

Das Klavier verstummte, und die Stimme seiner Mutter ertönte von oben: »Georgie, kannst du die Tür nicht noch etwas lauter zuschlagen? Vielleicht schaffst du es, im Eßzimmer einige Teller zu zerbrechen.«

»Entschuldige, Mom«, rief George.

»Georgie, du Nichtsnutz!« schrie Bill aus seinem Krankenzimmer.

George kicherte vor sich hin. Seine Angst war von ihm abgefallen wie von einem Mann, der aus einem Alptraum hochfährt und seinen Körper betastet, um sich zu vergewissern, daß nichts passiert ist, und der gleich darauf zu vergessen beginnt, was ihn gerade noch so schrecklich geängstigt hat... und der nach dem Frühstück nicht einmal mehr sagen könnte, worum es in seinem Traum eigentlich gegangen war.

George holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Tischschublade, ein

Messer aus dem Besteckkasten (die scharfe Messerkante hielt er von sich weg, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte) und eine kleine Schüssel aus dem Geschirrschrank im Eßzimmer. Dann kehrte er in Bills Zimmer zurück.

»Du bist doch ein A-loch, Georgie«, sagte Bill freundschaftlich und räumte einen Teil der Krankenutensilien auf seinem Nachttischchen beiseite: ein leeres Glas, einen Wasserkrug, Bücher, eine kleine blaue Flasche Wick Vaporub. Auch das alte Philco-Radio stand da; es spielte leise irgendein Lied von Little Richard... so leise, daß Little Richard einen Großteil seines mitreißenden Elans einbüßte. Aber ihre Mutter, die bis zum dreiundzwanzigsten Lebensjahr klassische Musik - Hauptfach Klavier - studiert hatte, haßte Rock and Roll: sie war nicht einfach dagegen, sie haßte ihn regelrecht.

»Ich bin kein A-loch«, sagte George, setzte sich auf die Bettkante und stellte seine Sachen auf dem Nachttisch ab.

. »Aber sicher bist du eins«, sagte Bill. »Nichts weiter als ein großes braunes A-loch.«

George kicherte, und gleich darauf kicherte auch Bill. Es folgte eine Unterhaltung im Flüsterton, von jener Art, wie nur kleine Jungen sie so sehr lieben: wer das größte A-loch sei, wer das braunste A-loch sei usw. Schließlich verwendete Bill eines der verbotenen Wörter; er erklärte, George sei ein großes braunes, beschissenes A-loch, und dann mußten beide laut lachen, und Bills Gelächter ging in einen Hustenanfall über. Als er allmählich abklang (Bills Gesicht war so dunkelrot angelaufen, daß George ihn besorgt betrachtete), verstummte das Klavier über ihnen wieder, und beide Jungen blickten zur Decke und warteten ab, ob man Schritte zur Tür hören oder ob das Klavier wieder erklingen würde. Bill erstickte den Husten hinter seiner vor den Mund gehaltenen Hand, schenkte sich dann ein großes Glas Wasser ein und trank es in einem Zug aus.

Wieder erklang das Klavier - Bills Mutter spielte >Für Elise<. Stotter-Bill vergaß dieses Stück nie, und noch nach Jahren überzogen sich seine Arme und sein Rücken mit einer Gänsehaut, wenn er es zufällig hörte; er bekam lautes Herzklopfen und erinnerte sich: Meine Mutter spielte dieses Stück an dem Tag, als Georgie starb.

Nachdem der Hustenanfall endgültig vorbei war, öffnete Bill die Paraffinschachtel und zog einen wachsartigen Würfel heraus. George sah ihm interessiert zu, schwieg aber. Bill mochte es nicht, wenn er auf ihn einredete, während er mit etwas beschäftigt war, aber George wußte aus Erfahrung, daß Bill ihm meistens ganz von allein erklärte, was er machte, wenn er den Mund hielt.

Bill schnitt ein kleines Stück von dem Paraffinwürfel ab, warf es in die Schüssel, zündete ein Streichholz an und legte es auf das Paraffin. Die beiden Jungen betrachteten die kleine gelbe Flamme, während der vom Wind gepeitschte Regen gegen die Fensterscheiben schlug.

»Ich muß das Boot wasserdicht machen, sonst wird es sofort naß und sinkt«, sagte BilL Wenn er mit George zusammen war, stotterte er nur ganz leicht oder überhaupt nicht, aber in der Schule war es manchmal so schlimm, daß er nicht mehr reden konnte und seine Mitschüler verlegen zur Seite schauten, während er sich an seiner Bank festhielt, sein Gesicht rot anlief, bis es fast die Farbe seiner Haare hatte, und er die Augen zudrückte und sich abmühte, das Wort herauszubringen. Mom sagte, der Unfall sei daran schuld; mit drei Jahren war Bill von einem Auto angefahren worden. George hatte aber manchmal das Gefühl, daß sein Vater von dieser Erklärung nicht hundertprozentig überzeugt war, obwohl er nie Einwände dagegen erhob.

Das Stückchen Paraffin in der Schüssel war inzwischen fast völlig geschmolzen. Die Streichholzflamme versank in der Flüssigkeit und erlosch. Bill tauchte seinen Finger ein, stieß einen leisen Zischlaut aus und lächelte George zu. »Heiß«, sagte er und begann das Paraffin auf die Seiten des Papierboots zu streichen, wo es rasch zu einem hauchdünnen milchigen Überzug erstarrte.

»Darf ich auch mal?« fragte George.

»Okay. Paß nur auf, daß nichts auf die Bettwäsche kommt, sonst bringt Mom dich um.«

George tauchte seinen Finger in das heiße Paraffin und verteilte es auf einer Bootseite.

»Nicht so viel, du A-loch!« rief Bill. »Willst du, daß es sinkt?«

»Tut mir leid.«

»Schon gut. Du darfst nur ganz leicht drüberfahren.«

George beendete seine Seite und nahm das Boot dann vorsichtig in die Hand. Es fühlte sich ein bißchen schwerer an als zuvor, aber nicht viel. »Ich werd' jetzt rausgehen und es schwimmen lassen«, sagte er.

»Jaa.« Bill sah plötzlich müde und ziemlich unglücklich aus.

»Ich wollte, du könntest mitkommen«, sagte George zögernd. »Eigentlich ist es ja dein Boot.«

»Zieh deine Regenklamotten an«, erwiderte Bill. »Sonst wirst du noch krank wie ich. Aber vermutlich hast du dich ohnehin schon bei mir angesteckt.«

»Danke, Billy. Es ist ein tolles Boot.« Und dann tat er etwas, das er seit Jahren nicht mehr getan hatte: er beugte sich vor und küßte seinen Bruder auf die Wange.

»Jetzt hast du dich hundertprozentig angesteckt, du A-loch«, sagte Bill, aber er schien sich trotzdem zu freuen. Er lächelte George zu. »Und räum dieses ganze Zeug wieder weg.«

»Klar.« Er durchquerte das Zimmer mit der Schüssel, dem Messer und der Paraffinschachtel, auf die er behutsam sein Boot gelegt hatte.

»G-G-Georgie?«

Er drehte sich nach seinem Bruder um.

»Sei vorsichtig.«

»Na klar«, sagte George und runzelte ein wenig die Stirn. So etwas sagt normalerweise eine Mutter, nicht aber ein großer Bruder. Es war ebenso seltsam wie der Kuß, den er Bill gegeben hatte. »Klar paß' ich auf.«

Er ging hinaus, und Bill sah seinen Bruder nie mehr lebendig wieder.

George hatte seinen Regenmantel und seine Überschuhe angezogen - und hier war er nun und folgte auf der rechten Seite der Witcham Street seinem Boot. Er rannte schnell, aber das Wasser floß noch schneller, und sein Boot gewann einen Vorsprung. Er hörte, wie das Plätschern des Wassers in ein leichtes Brausen überging, und plötzlich sah er, daß das Wasser im Rinnstein, das jetzt zu einem schmalen Sturzbach geworden war, auf dem sein Boot tanzte und vorwärtsschnellte, etwa 50 Yards hügelabwärts einen Strudel bildete und in einen Gully hineinströmte. Gerade verschwand ein ziemlich großer Ast mit nasser schwarzer, glänzender Rinde im Rachen dieses Gullys.

»Oh, so 'ne Scheiße!« schrie er aufgeregt.

Er rannte noch schneller, und um ein Haar hätte er das Boot eingeholt. Aber dann glitt er aus und fiel hin; er schürfte sich ein Knie auf und schrie kurz vor Schmerz. Aus seiner neuen Perspektive - auf dem Pflaster liegend

- sah er, wie sein Boot in einen Strudel geriet, sich zweimal um die eigene Achse drehte und im Gully verschwand.

»Verdammte Scheiße!« schrie er und schlug mit der Faust aufs Pflaster. Auch das tat weh, und er weinte leise vor sich hin. Wie dumm von ihm, das Boot auf diese Weise zu verlieren!

Er stand auf, ging zum Gully, kniete sich hin und blickte in das dunkle hohe Loch im Rinnstein hinab. Das Wasser stürzte mit einem dumpfen Geräusch in jene Dunkelheit hinunter, einem irgendwie unheimlichen Geräusch und...

»Huh!« entfuhr es ihm plötzlich, und er wich zurück, wie von einer Tarantel gestochen.

Dort drinnen waren gelbe Augen: Augen wie jene, vor denen er sich im Keller immer gefürchtet, die er in Wirklichkeit aber nie gesehen hatte. Ein Tier, schoß es ihm völlig zusammenhanglos durch den Kopf, es ist nur irgendein Tier, das dort unten gefangen ist, weiter nichts, vielleicht die Katze der Symes...

Er wollte wegrennen - in ein-zwei Sekunden, sobald sein Gehirn den plötzlichen Schock dieser gelben leuchtenden Augen verarbeitet hatte, würde er wegrennen. Er spürte den groben Schotterbelag unter seinen Fingern und die Kälte des Wassers. Er wollte gerade aufstehen und weggehen, als eine Stimme, eine ganz vernünftige und sehr angenehme Stimme, ihn aus dem Gully anrief.

»Hallo, Georgie«, sagte diese Stimme.

George zwinkerte mit den Augen und schaute dann wieder hin. Er konnte zuerst nicht so recht glauben, was er sah; es war wie im Märchen oder wie in Filmen, wo Tiere reden und tanzen konnten. Wäre er zehn Jahre älter gewesen, so hätte er es auf keinen Fall geglaubt, aber er war nicht sechzehn; er war erst sechs.

In dem dunklen Loch nur schlecht erkennbar, war es doch ohne jeden Zweifel ein Clown, den er dort unten sah. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Bozo, der bis vor einem Jahr im Fernsehen aufgetreten war; sein Gesicht war weiß, auf beiden Seiten seines kahlen Schädels standen lustige rote

Haarbüschel ab, und über seinen Mund war ein breites Clown-Grinsen gemalt. In einer Hand hielt er eine Traube Luftballons wie prächtiges reifes Obst. In der anderen Hand hatte er Georgies Boot.

»Möchtest du dein Boot wiederhaben, Georgie?« fragte der Clown und lächelte.

George erwiderte das Lächeln. Er konnte einfach nicht anders; es war unwiderstehlich. »O ja«, rief er.

Der Clown lachte. »Und wie war's mit einem Ballon?«

Auch George lachte. »Na ja... das war schon toll.«

Er streckte die Hand aus, zog sie aber rasch wieder zurück. »Ich soll von Fremden nichts annehmen«, erklärte er. »Das sagt mein Dad immer.«

»Sehr vernünftig«, lobte der Clown im Gully lächelnd. Wie konnte ich nur glauben, daß seine Augen gelb sind? fragte sich George. Sie sind doch strahlend blau, wie Moms Augen... und Bills. »Wirklich sehr vernünftig. Ich stelle mich also vor: Bob Gray, auch bekannt als Pennywise, der tanzende Clown. Und du bist George Denbrough. So, jetzt kennen wir einander. Ich bin für dich kein Fremder mehr, und du bist für mich kein Fremder mehr. Stimmt's oder hab' ich recht?«

George kicherte. »Ich glaube schon.« Er streckte wieder die Hand aus... und zog sie wieder zurück. »Wie bist du denn dort runtergekommen?«

»Der Sturm hat mich einfach weggeblasen«, sagte Pennywise, der tanzende Clown. »Er hat den ganzen Zirkus weggeblasen. Kannst du den Zirkus riechen, Georgie?«

George beugte sich etwas vor. Ein Geruch nach Erdnüssen, heißen gerösteten Erdnüssen stieg ihm in die Nase - und nach Essig von der weißen Sorte, wie man ihn durch ein Loch im Deckel über die Pommes frites gießt. Er nahm den Duft von Zuckerwatte und den schwachen, aber durchdringenden Gestank vom Kot wilder Tiere wahr. Doch durch all diese verschiedenen Gerüche drang dennoch der Gestank der Wasserfluten und des Gullys: naß und modrig, so. als ob dort unten in der Dunkelheit irgend etwas verweste. Es roch wie in ihrem Keller. Trotzdem übten die Zirkusgerüche auf George eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.

»Ja«, sagte er. »Ich kann ihn riechen.«

»Willst du dein Boot, Georgie?« flüsterte Pennywise und hielt es lächelnd hoch. Er trug ein bauschiges Seidenkostüm mit großen dicken orangefarbenen Knöpfen und große weiße weite Handschuhe.

»Na klar«, sagte George und blickte in den Gully hinab.

»Willst du einen Ballon? Ich habe rote und grüne und gelbe und blaue...«

»Fliegen sie?«

»Fliegen, o ja, sie fliegen, sie schweben... und es gibt Zuckerwatte...«

Georgie streckte seinen Arm aus.

Der Clown packte ihn am Arm.

Und George sah, wie das Gesicht des Clowns sich veränderte.

Was er sah, war so fürchterlich, daß seine schlimmsten Fantasievorstellungen von dem Wesen im Keller dagegen nur süße Träume waren; was er sah, brachte ihn schlagartig um den Verstand.

»Sie schweben«, kreischte das Etwas im Gully mit kichernder Stimme. Es hielt Georges Arm fest, und George wurde in Richtung jener schrecklichen

Dunkelheit gezogen, wo das Wasser schäumte und toste und heulte, und er begann irre in den weißen Herbsthimmel emporzubrüllen. Er schrie in den Regen hinein, und überall auf der Witcham Street stürzten die Leute ans Fenster oder auf ihre Terrassen.

»Sie fliegen, sie schweben, Georgie, und du wirst hier unten mit mir schweben, wir werden zusammen schweben...«

Georges Schulter prallte gegen den zementierten Bordstein, und Dave Gardener, der an diesem Tag wegen der Überschwemmung nicht zur Arbeit gegangen war, sah nur einen kleinen Jungen in gelbem Regenmantel, der schreiend und zuckend im Rinnstein lag; das schmutzige Wasser überflutete sein Gesicht und dämpfte seine Schreie etwas.

Georgie schrie und schrie. Seine Hand umklammerte plötzlich etwas, das eine lustige Gumminase, aber ebensogut auch etwas unvergleichlich Schlimmeres sein konnte.

. »Alles schwebt hier unten«, flüsterte die kichernde modrige Stimme, und plötzlich war da ein rasender Schmerz - und dann wußte George nichts mehr.

Als Dave Gardener, der in Keys Schuhgeschäft in der Innenstadt arbeitete (das Schuhgeschäft war wie alle übrigen Läden in der Merit Street überschwemmt worden), bei dem kleinen schlaffen Körper im Rinnstein anlangte, war George schon tot. Gardener packte ihn hinten am Regenmantel und zog ihn auf die Straße, drehte ihn um... und dann begann er selbst laut zu schreien. Die linke Seite von Georgies gelbem Regenmantel war jetzt grellrot. Dünne Blutfäden flössen die Witcham Street hinab. Georgies linker Arm war nicht mehr da. Ein fürchterlich helles Knochenstück ragte an der Schulter zwischen den zerrissenen blutigen Fetzen des Regenmantels hervor.

Georgies leblose Augen starrten in den weißen Himmel empor, und während Dave auf die anderen Menschen zutaumelte, die jetzt angerannt kamen, sammelte sich Regen in seinen Augen.

4

Irgendwo in der Tiefe, in Gullys, deren Fassungsvermögen fast erschöpft war (niemand hätte sich dort unten aufhalten können, erklärte später der Bezirkssheriff einem Reporter der >Derry News< mit einer solchen Wut, daß sie schon an Schmerz grenzte; selbst Herkules in höchsteigener Person wäre von der heftigen Strömung mitgerissen worden), raste Georges Boot aus Zeitungspapier durch dunkle Gewölbe und Betonkanäle, in denen das Wasser toste. Eine Zeitlang schwamm es neben einem toten Küken dahin, dessen gelbliche Krällchen nach oben, zur tropfenden Decke hin, wiesen; dann wurde das Küken nach links geschwemmt, und Georges Boot trieb weiter geradeaus.

Eine Stunde später, als Georges Mutter im Medizinischen Zentrum von Derry eine Beruhigungsspritze bekam, als Stotter-Bill leichenblaß und wie betäubt in seinem Bett saß und seinen Vater im Wohnzimmer heiser schluchzen hörte, schoß das Boot aus einem Betonrohr hervor und raste mit

hoher Geschwindigkeit einen namenlosen Bach hinab. Als es zwanzig Minuten später in den schäumenden Kenduskeag geriet, zeigten sich am Himmel die ersten blauen Streifen. Der Sturm war vorüber.

Das Boot schwankte und neigte sich zur Seite, und ab und zu schwappte Wasser hinein, aber es sank nicht; die beiden Jungen hatten es wirklich ausgezeichnet abgedichtet. Ich weiß nicht, wo es schließlich strandete; vielleicht strandete es auch überhaupt nicht; vielleicht erreichte es das Meer wie ein Zauberboot im Märchen. Mit Sicherheit kann ich nur sagen, daß es noch auf den Wellen tanzte, als es die Stadtgrenzen von Derry im Bundesstaat Maine passierte, und dort entschwindet es für immer aus dieser Geschichte.

Zweites Kapitel Nach dem Festival (1984) 1

Adrian hatte - so berichtete sein schluchzender Freund später der Polizei - den Hut aufgehabt, weil er ihn in der Wurfbude auf dem Jahrmarktsgelände im Bassey Park gewonnen hatte, genau sechs Tage vor seinem Tod, und weil er stolz darauf gewesen war.

»Er trug ihn, weil er diese beschissene kleine Stadt liebte!« schrie dieser Freund, Don Hagarty, die Polizeibeamten an.

»Na, na - mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise«, sagte Harold Gardener - er war der Sohn von Dave Gardener. Als sein Vater den leblosen einarmigen Körper George Denbroughs entdeckt hatte, war Harold fünf Jahre alt gewesen. An diesem Tag nun, knapp 27 Jahre später, war er 32, und seine Haare lichteten sich schon. Harold Gardener erkannte die Echtheit von Don Ha-gartys Kummer und Schmerz, aber es war ihm dennoch unmöglich, sie ernst zu nehmen. Der gramgebeugte Mann - wenn man ihn überhaupt einen Mann nennen konnte - hatte seinen Mund mit Lippenstift geschminkt und trug Satinhosen, die so eng waren, daß sein Penis sich überdeutlich abzeichnete. Kummer hin oder her, Schmerz hin oder her - er war schließlich doch nur ein Schwuler. Ebenso wie sein Freund, der verstorbene Adrian Mellon.

»Gehen wir alles noch einmal von vorne durch«, sagte Haralds Kollege Jeffrey Reeves. »Ihr beide seid also aus dem >Falcon< gekommen und in Richtung Kanal gegangen. Und was dann?«

»Wie oft soll ich es euch Idioten denn noch erzählen?« schrie Hagarty. »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn in den Kanal geworfen! Sie waren einfach wieder einmal auf dem Power-Trip!« Don Hagarty begann wieder zu weinen.

»Noch einmal von vorne«, wiederholte Reeves geduldig. »Ihr seid aus dem >Falcon< gekommen. Und was dann?«

2

In einem Zimmer etwas weiter den Korridor entlang verhörten zwei andere Polizeibeamte den siebzehnjährigen Steve Dubay; eine Etage höher wurde John >Webby< Garton, 18 Jahre alt, von zwei weiteren Polizeibeamten vernommen; und im Büro des Polizeichefs im vierten Stock beschäftigten sich Inspektor Andrew Peck und Tom Boutillier, der Assistent des Staatsanwalts, mit dem fünfzehnjährigen Christopher Unwin. Unwin, der verblichene Jeans, ein schmutziges T-Shirt und klobige Schnürstiefel trug, weinte vor sich hin. Peck und Boutillier hatten sich ihn vorgenommen, weil er - wie sie sofort richtig erkannt hatten - das schwächste Glied in der Kette war. »Gehen wir alles noch einmal von vorne durch«, sagte Boutillier in

diesem Büro genau zur selben Zeit wie Jeffrey Reeves zwei Stockwerke tiefer.

»Wir hatten nicht vor, ihn umzubringen«, plärrte Unwin. »Es war der Hut... Wir konnten einfach nicht glauben, daß er diesen Hut immer noch aufhatte, wissen Sie, nach allem, was Webby ihm beim erstenmal gesagt hatte. Und wir wollten ihm wohl Angst einjagen.«

»Für das, was er am Nachmittag des 17. Juli zu John Garton gesagt hatte?« warf Inspektor Peck ein.

»Ja, zu Webby.« Unwin brach wieder in Tränen aus. »Aber wir versuchten, ihn zu retten, als wir sahen, daß er in ernsthaften Schwierigkeiten war... zumindest ich und Stevie Dubay versuchten es... wir hatten nicht die Absicht, ihn umzubringen!«

»Nun komm schon, Chris, halt uns nicht zum Narren«, sagte Boutillier. »Ihr habt den Schwulen in den Kanal geworfen.«

»Ja, aber...«

»Und ihr drei seid hergekommen, um ein Geständnis abzulegen. Der Inspektor und ich wissen das zu schätzen, nicht wahr, Andy?«

»Na klar. Man muß schon ein ganzer Mann sein, um für seine Taten einzustehen, Chris.«

»Also, mach diesen positiven Eindruck jetzt nicht durch Lügen wieder zunichte! Ihr habt doch beschlossen, ihn in den Kanal zu werfen, sobald ihr ihn und seinen Freund aus dem >Falcon< kommen saht, stimmt's?«

»Nein!« protestierte Chris Unwin heftig.

Boutillier holte eine Schachtel Marlboro aus seiner Hemdtasche und schob sich eine Zigarette in den Mund. Dann hielt er Unwin die Packung hin. »Zigarette?«

Unwin nahm eine. Sein Mund zitterte so stark, daß Boutillier Schwierigkeiten hatte, ihm Feuer zu geben.

»Aber sobald ihr gesehen habt, daß er jenen Hut aufhatte?« fragte Peck.

Unwin zog heftig an der Zigarette, senkte den Kopf, so daß sein fettiges Haar ihm in die Augen fiel, und stieß den Rauch durch die Nase aus, die mit Mitessern übersät war.

»Ja«, flüsterte er kaum hörbar.

Boutillier beugte sich vor. Seine braunen Augen funkelten. Sein Gesicht glich dem eines Raubtiers, aber seine Stimme war sanft und freundlich. »Was, Chris?«

»Ich habe >ja< gesagt. Ich glaub' schon, daß wir ihn reinwerfen wollten. Aber wir wollten ihn nicht umbringen.« Er hob den Kopf und sah sie mit angstverzerrtem Gesicht an, offensichtlich noch immer völlig außerstande, die tiefgreifende Veränderung zu erfassen, die sein Leben erfahren hatte, seit er am Vorabend um halb acht von daheim weggegangen war, um mit zwei Freunden den letzten Abend des Kanal-Festivals von Derry auszukosten. »Wir wollten ihn wirklich nicht umbringen!« wiederholte er. »Und jener Kerl unter der Brücke... ich weiß immer noch nicht, wer das war.«

»Was war das für ein Kerl?« fragte Peck, doch ohne großes Interesse. Sie hatten auch diesen Teil der Geschichte schon gehört, aber keiner von beiden glaubte daran - Männer, die unter Mordanklage standen, tischten fast

immer früher oder später einen mysteriösen Unbekannten auf. Boutillier hatte sogar einen Namen für dieses Phänomen: er bezeichnete es als >Das Syndrom des Einarmigen<, nach der alten Fernsehserie >The Fugitive<.

»Der Kerl im Clownskostüm«, sagte Chris Unwin und schauderte.

Der Kerl mit den Ballons.«

3

Das Kanal-Festival vom 15. bis 21. Juli war ein Riesenerfolg; darin stimmen die meisten Einwohner Derrys überein. Es hob die allgemeine Stim-Imung und das Image der Stadt... und es war eine äußerst einträgliche Sache. Das eine Woche dauernde Festival wurde zum hundertsten Jahrestag der Eröffnung des Kanals abgehalten, der durch die Mitte der In-Ihenstadt führte. Es war der Kanal gewesen, der den Holzhandel in Derry den Jahren 1884 bis 1910 erst so richtig lukrativ gemacht hatte; es war der Kanal gewesen, der zu Derrys Aufschwung geführt hatte.

Die Stadt wurde von Ost nach West und von Nord nach Süd herausgeputzt. Schlaglöcher, die nach Aussage mancher Einwohner zehn Jahre lang nicht ausgebessert worden waren, wurden sorgfältig mit Teer gefüllt fund glattgewalzt. Die städtischen Gebäude wurden im Innern aufpoliert und außen neu gestrichen. Die schlimmsten Schmierereien im Bassey

- darunter sehr viele wohldurchdachte und kaltblütige Diskriminie-ungen von Homosexuellen wie bringt alle schwulen um und aids ist DIE STRAFE GOTTES, IHR zu HÖLLE VERDAMMTEN HOMOS! - wurden von den Bänken und von den Holzwänden der schmalen überdachten Überführung über den Kanal - der sogenannten >Kußbrücke< - entfernt.

Ein Stadtmuseum wurde in drei leerstehenden Ladenlokalen der In-nenenstadt eingerichtet, und Michael Hanion, ein ortsansässiger Bibliothekar und Amateurhistoriker, besorgte die Exponate. Die ältesten Familien der Stadt stellten großzügig ihre Schätze zur Verfügung, und im Laufe der Festwoche bezahlten fast 40000 Besucher bereitwillig einen Vierteldollar, um Speisekarten der Speisehäuser um 1890, Äxte und andere Utensilien der Holzfäller um 1880, Kinderspielzeug aus den 2oer Jahren des 20. Jahrhunderts sowie über 2000 Fotos und neue Filmrollen über das Leben der letzten hundert Jahre in Derry zu sehen.

Das Museum stand unter der Schirmherrschaft des Frauenvereins von Derry, der gegen einige der von Hanion vorgeschlagenen Exponate (wie den berüchtigten >Landstreicher-Stuhl<) und Fotos (beispielsweise jene von der Brady-Bande nach der berüchtigten Schießerei) sein Veto einlegte. Aber alle stimmten darin überein, daß es ein großer Erfolg war, und an jenen blutrünstigen alten Geschichten hatte ohnehin niemand Interesse. Es war doch viel besser, das Positive zu betonen und das Negative unter den Teppich zu kehren.

Es gab ein riesiges gestreiftes Bierzelt im Fairmount Park, und jeden Abend spielten dort Musikkapellen. Im Bassey Park gab es einen Rummelplatz mit Karussells und Buden. Ein Sonder-Straßenbahnwagen machte jede volle Stunde eine Rundfahrt durch die historischen Stadt-

teile und endete bei diesem liebenswerten und einträglichen Vergnügungspark.

Und hier gewann Adrian Mellon jenen Hut, der zu seinem Tod führte -einen Pappzylinder mit Blume und der Aufschrift ichderry auf dem Band.

4

»Ich bin müde«, sagte John >Webby< Garton. Wie seine beiden Freunde, so imitierte auch er in seiner Kleidung unbewußt Bruce Springsteen, obwohl er, wenn man ihn gefragt hätte, sich eher als Fan härterer Gruppen wie Def Leppard, Twisted Sisters oder Judas Priest bezeichnet hätte. Die Ärmel seines sauberen blauen T-Shirts waren herausgerissen und enthüllten seine muskulösen Arme. Sein dichtes braunes Haar fiel ihm über ein Auge - dies in Anlehnung nicht an Springsteen, sondern eher an John Cougar. Er hatte blaue Tätowierungen auf den Armen - geheimnisvolle Symbole, die aussahen, als hätte ein Kind sie gemalt. »Ich will nicht mehr reden.«

»Erzähl uns nur noch mal, was am Dienstagnachmittag auf dem Rummelplatz passiert ist«, sagte Paul Hughes. Hughes war müde und empört und angewidert von dieser ganzen schmutzigen Geschichte. Er dachte immer und immer wieder, daß das Kanal-Festival mit einem Finale ausgeklungen war, über das jeder irgendwie Bescheid wußte, welches aber niemand auf das Tagesprogramm zu setzen gewagt hatte, das dann folgendermaßen ausgesehen hätte:

Samstag, 21 Uhr: Letztes Konzert. Ausführende: Derry High School Band und Barber Shop Mello-Men Samstag, 22 Uhr: Riesenfeuerwerk

Sonntag, 1 Uhr: Der Ritualmord an Adrian Mellon beendet offiziell das Kanal-Festival.

»Zum Teufel mit dem Rummelplatz!« erwiderte Webby.

»Wir wollen nur wissen, was du zu ihm gesagt hast und was er zu dir gesagt hat.«

»O Gott!« Webby verdrehte die Augen.

»Nun mach schon, Webby«, sagte Hughes' Kollege.

Webby Garton rollte mit den Augen und fing noch einmal von vorne an.

5

Garton sah die beiden, Mellon und Hagarty, dahinschlendern. Sie hatten einander die Arme um die Taillen gelegt und kicherten wie zwei junge Mädchen. Zuerst dachte Garton, es wären Mädchen. Dann erkannte er Mellon, über den er schon Bescheid wußte. Gerade als er hinschaute, wandte Mellon sein Gesicht Hagarty zu... und sie küßten sich flüchtig. .

»O Mann, ich muß gleich kotzen!« rief Webby angewidert.

Chris Unwin und Steve Dubay waren bei ihm. Als Webby sie auf Mellon aufmerksam machte, sagte Steve, er glaube, der andere Schwule sei Don

Sowieso; er habe gehört, daß der Kerl einmal einen trampenden Jungen von der High School in seinem Auto mitgenommen und dann versucht hätte, ihn unzüchtig zu berühren.

Mellon und Hagarty kamen den drei Jungen entgegen; sie waren auf dem Weg von der Wurfbude zum Ausgang des Rummelplatzes. Webby Garton würde den Polizeibeamten Hughes und Conley später erklären, er habe sich in seiner >Bürgerehre< verletzt gefühlt, weil der gottverdammte Schwule einen Hut mit der Aufschrift ichderry! getragen habe. Dieser Hut war ein albernes Ding - eine Zylinderimitation aus Pappe, auf der eine große Blume befestigt war, die in alle Richtungen wippte. Die Albernheit des Hutes verletzte Webbys Bürgerehre noch mehr.

Als Mellon und Hagarty, die Arme immer noch umeinander gelegt, an den Burschen vorbeikamen, brüllte Webby Garton plötzlich: »Ich sollte dich deinen Hut _fressen lassen, du verdammter Arschficker!«

Mellon drehte sich nach Garton um, klimperte kokett mit den Augen und sagte: »Wenn du etwas essen möchtest, Süßer, kann ich etwas viel Schmackhafteres als meinen Hut vorschlagen.«

Daraufhin beschloß Webby, dem Homo die Fresse zu polieren, seiner Visage ein völlig neues Aussehen zu verleihen. Niemand durfte ungestraft andeuten, er wäre ein Schwanzlutscher. Niemand.

Er ging drohend auf Mellon zu. Hagarty versuchte beunruhigt, seinen Freund Mellon weiterzuziehen, aber dieser blieb lächelnd stehen. Garton erzählte den Polizeibeamten später, er sei ziemlich sicher, daß Mellon von irgendwas ganz schön high gewesen sei. Das stimme, gab Hagarty zu, als die Polizeibeamten Gardener und Reeves ihm diese Frage stellten. Mellon sei high gewesen von zwei gebackenen Honigpfannkuchen, von der Rummelplatzatmosphäre, vom Gewinn des Hutes gleich beim ersten Wurf, vom ganzen Tag. Und deshalb habe er auch überhaupt nicht begriffen, daß Webby Garton eine echte Gefahr darstellte.

»Aber so war Adrian nun einmal«, sagte Don und wischte sich mit einem Papiertuch die Augen ab, wobei er seinen glitzernden Lidschatten verschmierte. »Von Schutztarnung verstand er nichts. Er war einer jener einfältigen Menschen, die glauben, daß letztlich alles wirklich ein gutes Ende nimmt.«

Vermutlich wäre Mellon schon zu diesem Zeitpunkt schwer verletzt worden, wenn Garton nicht plötzlich eine leichte Berührung am Ellbogen gespürt hätte. Es war ein Polizeiknüppel. Er drehte sich um und sah Frank Da-kin, einen Polizisten von Derry.

»Immer mit der Ruhe, mein Freund«, sagte Dakin zu Garton. »Laß diese kleinen Homos in Ruhe und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Mach dir hier auf dem Rummelplatz ein paar schöne Stunden.«

»Haben Sie gehört, wie er mich genannt hat?« fragte Garton hitzig. Unwin und Dubay sahen Ärger voraus und versuchten, ihn zum Weitergehen zu bewegen, aber er schüttelte sie wütend ab, und sie begriffen, daß sie seine Fäuste zu spüren bekommen würden, wenn sie ihn nicht in Ruhe ließen. Seine Männlichkeit war beleidigt worden, und das schrie nach Rache. Niemand durfte ihn ungestraft einen Schwanzlutscher nennen. Niemand.

»Ich glaube nicht, daß er dich irgendwas genannt hat«, erwiderte Dakin.

»Und außerdem hast du ihn, wenn ich mich nicht irre, zuerst angequatscht. Und jetzt mach, daß du weiterkommst, Junge. Ich habe keine Lust, es noch einmal zu wiederholen.«

»Er hat mich einen Schwulen genannt!«

»Na und - hast du Angst, du könntest wirklich einer sein?« fragte Dakin, scheinbar aufrichtig interessiert, und Garton bekam vor Wut einen hochroten Kopf.

Während dieses Wortwechsels versuchte Hagarty verzweifelt, Adrian Mellon vom Schauplatz des Geschehens wegzuziehen. Endlich bewegte sich Mellon von der Stelle.

»Wiedersehn, Liebling!« rief er noch keck über die Schulter hinweg.

»Halt die Klappe, Zuckerarsch«, sagte Dakin. »Verschwinde von hier.«

Garton wollte sich auf Mellon stürzen, und Dakin packte ihn am Arm.

»Ich kann dich einlochen, mein Freund«, sagte er, »und so, wie du dich hier aufführst, wäre das vielleicht gar keine schlechte Idee.«

»Wenn ich dich nächstes Mal sehe, geht's dir an den Kragen!« brüllte Garton dem sich entfernenden Paar nach, und Köpfe drehten sich verwundert um und starrten ihn an. »Und wenn du dann wieder diesen Hut aufhast, bring' ich dich um! Diese Stadt braucht keine Schwulen wie dich!«

Ohne sich umzudrehen, winkte Mellon mit den Fingern seiner linken Hand - die Nägel waren kirschrot lackiert - und wackelte beim Gehen besonders mit den Hüften. Garton versuchte wieder, ihm nachzustürzen.

»Noch ein Wort oder eine Bewegung, und ich sperr' dich ein«, sagte Dakin ruhig. »Verlaß dich drauf, mein Freund. Ich meine, was ich sage.«

»Nun komm schon, Webby!« rief Chris Unwin unbehaglich. »Beruhige dich.«

»Mögen Sie etwa solche Kerle?« fragte Webby den Polizisten und ignorierte Chris und Steve vollständig. »Häh?«

»Was die Homos angeht, so bin ich neutral«, erwiderte Dakin. »Woran mir wirklich was liegt, ist Ruhe und Ordnung, und du verstößt gegen das, was ich mag, Pizza-Gesicht. Willst du dich jetzt etwa mit mir anlegen oder was ist?«

»Komm endlich, Webby«, sagte Steve Dubay ruhig. »Holen wir uns lieber ein paar Hot Dogs.«

Webby zog mit übertriebenem Kraftaufwand sein Hemd zurecht, strich sich die Haare aus der Stirn und entfernte sich. Dakin, der am Morgen nach Adrian Mellons Tod ebenfalls eine Aussage machte, erklärte: »Als er mit seinen Freunden endlich abzog, hörte ich ihn sagen: »Wenn ich ihn nächstes Mal sehe, wird's ihm ordentlich an den Kragen gehen!<«

6

»Bitte, ich muß noch einmal mit meiner Mutter reden«, sagte Steve Dubay zum dritten Mal. »Ich muß sie dazu bringen, daß sie meinen Stiefvater beruhigt, sonst ist die Hölle los, wenn ich heimkomme.«

»Bald kannst du anrufen«, erklärte der Polizeibeamte Charles Avarino. Er wußte genauso gut wie sein Kollege Barney Morrison, daß Steve Dubay zu-

mindest in dieser Nacht - vermutlich auch in vielen folgenden Nächten -nicht nach Hause gehen konnte. Dem Jungen schien noch immer nicht klarzusein, in welchen Schwierigkeiten er steckte, und Avarino war keineswegs überrascht, als er später erfuhr, daß Dubay mit 16 Jahren die Schule verlassen hatte. Zu dieser Zeit war er immer noch auf der Water Street Junior High School gewesen. Er hatte einen IQ von 68, wie bei einem Test festgestellt worden war, als er zum dritten Mal die siebte Klasse besuchte.

»Erzähl uns vorher, was passiert ist, als ihr gesehen habt, wie Mellon aus dem >Falcon< kam«, forderte Morrison ihn auf.

»Nein, lieber nicht.«

»Und warum nicht?« fragte Avarino.

»Ich hab' vermutlich ohnehin schon zuviel gequatscht.«

»Dazu bist du doch hergekommen«, sagte Avarino. »Oder etwa nicht?«

»Naja... doch... aber...«

»Hör zu«, erklärte Morrison freundlich, setzte sich neben Dubay und gab ihm eine Zigarette. »Glaubst du, daß ich und Chick Schwule mögen?«

»Ich weiß nicht...«

»Sehen wir etwa so aus, als würden wir Schwule mögen?«

»Nein, aber...«

»Wir sind deine Freunde, Steve«, sagte Morrison freundlich. »Und glaub mir, du und Chris und Webby, ihr braucht jetzt dringend alle Freunde, die ihr nur kriegen könnt. Morgen wird nämlich jedermann in der Stadt eure Köpfe fordern.«

Steve Dubays Gesicht nahm einen leicht beunruhigten Ausdruck an. Avarino, der die Gedanken dieses feigen Schwachkopfs fast lesen konnte, ahnte, daß er wieder an seinen Stiefvater dachte. Und obwohl Avarino alles andere als ein Freund von Derrys kleiner Homo-Kommunität war - wie jedem anderen Polizeibeamten dieser Stadt, so wäre es auch ihm am liebsten gewesen, wenn das >Falcon< für immer geschlossen worden wäre -, so hätte er doch liebend gern Dubay heimgefahren und ihm höchstpersönlich die Arme festgehalten, während Dubays Stiefvater ihn grün und blau schlug. Avarino liebte Schwule nicht, aber das bedeutete noch lange nicht, daß er der Meinung war, man sollte sie quälen und umbringen. Mellon war einem brutalen Mord zum Opfer gefallen. Als man ihn unter der Kanalbrücke hervorgeholt hatte, stand in seinen glasigen Augen ein Ausdruck grenzenlosen Entsetzens. Und dieser Bursche hier hatte absolut keine Ahnung, wozu er Beihilfe geleistet hatte.

»Wir wollten ihm nichts zuleide tun«, wiederholte Steve. Dieser Floskel bediente er sich jedesmal, sobald er etwas verwirrt oder beunruhigt war.

»Genau deshalb solltest du uns reinen Wein einschenken«, sagte Avarino eifrig. »Erzähl uns die ganze Wahrheit, dann wird die Sache vielleicht nur halb so schlimm ausgehen. Hab' ich recht, Barney?«

»Na klar doch«, stimmte Morrison mit Nachdruck zu.

»Also noch einmal, wie war das?« redete Avarino herzlich auf Steve ein. »Erzähl's uns, dann laß' ich dich auch anrufen, obwohl eigentlich nur ein einziges Gespräch erlaubt ist.«

»Na ja...«, murmelte Steve und begann langsam zu erzählen.

Als das >Falcon< im Jahre 1973 eröffnet wurde, dachte Eimer Curtie, daß seine Kundschaft hauptsächlich aus Leuten bestehen würde, die mit dem Bus unterwegs waren - der Busbahnhof war gleich nebenan und wurde von drei verschiedenen Gesellschaften angesteuert: Trailways, Greyhound und Aroostook County. Er hatte allerdings nicht bedacht, daß ein hoher Prozentsatz der Busreisenden aus Frauen oder Familien mit kleinen Kindern bestand. Von den anderen führten viele ihre Flaschen in braunen Tüten mit sich und stiegen überhaupt nie aus dem Bus aus. Und jene, die ausstiegen -meistens Soldaten oder Seeleute -, wollten auch nur auf die schnelle ein oder zwei Bier trinken - zu mehr war bei einem Zwischenaufenthalt von zehn Minuten auch gar keine Zeit.

Als Curtie dies Anfang 1977 endlich erkannte, war es schon zu spät: er steckte bis zum Hals in Schulden, und er sah auch keine Möglichkeit, aus den roten Zahlen wieder herauszukommen. In seiner Verzweiflung dachte er sogar daran, das >Falcon< niederzubrennen, um die Versicherungssumme zu kassieren, aber er befürchtete, geschnappt zu werden, wenn er nicht einen Profi dazu anheuerte... und er hatte keine Ahnung, wo man einen professionellen Brandstifter auftreiben konnte.

Im Februar jenes Jahres beschloß er, noch bis zum 4. Juli durchzuhalten. Wenn die Lage sich bis dahin nicht gebessert haben würde, wollte er einfach nebenan einen Greyhound besteigen und sehen, wie es unten in Florida bestellt war.

Aber in den folgenden sechs Monaten begann zu seiner großen Überraschung der geschäftliche Aufschwung der Bar, die im Innern schwarz und goldfarben gestrichen und mit ausgestopften Vögeln dekoriert war (Eimer Curties Bruder hatte als Hobby Tiere - und speziell Vögel - ausgestopft, und nach seinem Tod hatte Eimer das ganze Zeug geerbt). Anstatt wie bisher pro Nacht etwa 60 Biere zu zapfen und höchstens 20 Drinks einzuschenken, kam Eimer nun auf 80 Biere und 100 Drinks... auf 120... manchmal sogar auf 160.

Seine Kundschaft war jung, höflich und fast ausschließlich männlichen Geschlechts. Viele kleideten sich auffallend, aber in jenen Jahren gehörte auffallende Kleidung noch fast zur Norm, und Eimer Curtie begriff erst so gegen 1981, daß die überwältigende Mehrzahl seiner Gäste homosexuell war. Wenn er das den Einwohnern Derrys erklärt hätte, hätten sie gelacht und gesagt, er halte sie wohl für von gestern - aber es stimmte tatsächlich. Wie der betrogene Ehemann, so wußte auch er praktisch erst als letzter Bescheid ... und als er es dann endlich erkannte, war es ihm egal. Die Bar florierte, und obwohl es in Derry noch vier weitere Bars gab, die Gewinne machten, so war das >Falcon< doch die einzige, die nicht regelmäßig von randalierenden Gästen verwüstet wurde. Zum einen gab es hier keine Kämpfe um Frauen, und außerdem schienen diese homosexuellen Männer irgendwie gelernt zu haben, miteinander auszukommen, was ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossen nicht fertigbrachten.

Sobald Curtie die sexuellen Neigungen seiner Stammkunden erst einmal durchschaut hatte, schnappte er überall Gruselgeschichten über das >Falcon< auf - diese Gerüchte kursierten schon seit Jahren, aber bis 1981 hatte Curtie sie einfach nicht gehört. Er stellte fest, daß diese Gruselmärchen am begierigsten von Männern erzählt wurden, die keine zehn Pferde in die Bar bringen könnten, aus Angst, daß ihnen dort alle Armmuskeln verdorren würden oder so was Ähnliches. Aber sie schienen über sämtliche dunkle Vergnügungen bestens informiert zu sein.

Den Gerüchten zufolge konnte man dort jede Nacht Männer eng aneinandergeschmiegt tanzen und direkt auf dem Tanzboden ihre Schwänze aneinanderreiben sehen; man konnte Männer sehen, die sich an der Bar leidenschaftlich küßten und sich gegenseitig in den Toiletten wichsten. Und angeblich sollte es auch ein Hinterzimmer geben, wohin man gehen konnte, wenn man masochistische Gelüste hatte- dort sollte sich ein großer alter Kerl in Naziuniform aufhalten, der mit ausgestrecktem Arm einen strammen Hitlergruß leistete und überglücklich war, jemandem eine entsprechende Behandlung angedeihen zu lassen.

In Wirklichkeit stimmte nichts von alldem. Wenn durstige Reisende vom

Busbahnhof auf ein Bier oder einen Highball hereinkamen, fiel ihnen im >Falcon< überhaupt nichts Ungewöhnliches auf - sicher, es waren sehr viele Männer anwesend, aber das war in Tausenden von Arbeiterkneipen und Bars im ganzen Lande nicht anders. Die Stammgäste waren homosexuell, aber das war kein Synonym für dumm. Wenn sie Lust auf kleinere Ausschweifungen verspürten, fuhren sie nach Portland. Wenn sie Lust auf ausgefallene Ausschweifungen verspürten, fuhren sie nach Boston oder New York. In solchen Städten tauschten Männer vielleicht manchmal in der Öffentlichkeit leidenschaftliche Küsse oder zeigten auf anderweitige Weise ihre Gefühle; in solchen Städten konnte man in allen möglichen Arten von Hinterzimmern alles mögliche erleben. Aber Derry war klein, Derry war provinziell, und Derrys kleine Gemeinschaft von Homosexuellen wußte genau, daß sie ständig von Adleraugen beobachtet und beschattet wurde. >Scheiß nicht dorthin, wo du ißt<, heißt ein altes Sprichwort, und dem ließe sich für derartige kleine Enklaven hinzufügen: >Errege kein Aufsehen, wo du trinkst<.

Don Hagarty war schon seit zwei Jahren Stammgast im >Falcon<, als er sich eines Abends im März 1984 erstmals mit Adrian Mellon dort sehen ließ. Bis dahin hatte Hagarty eher Abwechslung gesucht und war seltener als ein halbes Dutzend Mal mit demselben Partner aufgetaucht. Aber Ende April war es sogar Eimer Curtie, der sich sehr wenig um solche Dinge kümmerte, klar, daß Hagarty und Mellon fest miteinander befreundet waren.

Hagarty war technischer Zeichner in einem Ingenieurbüro in Bangor. Adrian Mellon war freischaffender Schriftsteller, der überall, wo es nur möglich war, veröffentlichte - in Fluglinien-Zeitschriften, Sexmagazinen, Zeitschriften mit >Bekenntnissen<, in regionalen Zeitungen und Sonntagsbeilagen. Er arbeitete an einem Roman, aber vermutlich nicht allzu ernsthaft - er arbeitete schon seit seinem dritten Collegejahr daran, und das war immerhin schon zwölf Jahre her.

Er war nach Derry gekommen, um einen Artikel über den Kanal zu schreiben - auf Bestellung der >New England Byways<, einer in Concord zweimal im Monat erscheinenden Zeitschrift. Adrian Mellon hatte diesen Auftrag übernommen, weil >Byways< ihm sämtliche Spesen - einschließlich eines hübschen Zimmers im Derry Town House - für drei Wochen genehmigte, er aber das gesamte benötigte Material in höchstens fünf Tagen beschaffen konnte. In der übrigen Zeit konnte er genügend Material für vier weitere Artikel sammeln.

Doch während dieser drei Wochen lernte er Don Hagarty kennen, und anstatt danach nach Portland zurückzukehren, suchte er sich ein kleines Apartment in der Kossuth Street. Er wohnte dort aber nur sechs Wochen. Dann zog er bei seinem Freund Don Hagarty ein.

8

Dieser Sommer - so erzählte Hagarty Harold Gardener und Jeff Reeves -war der glücklichste seines Lebens gewesen; er hätte auf der Hut sein sollen, sagte er; er hätte wissen müssen, daß Gott Menschen wie ihm einen Teppich nur unter die Füße lege, um ihn dann wieder wegreißen zu können.

Der einzige Schatten, so sagte er, war Adrians ungewöhnliche Vorliebe für Derry. Er hatte ein T-Shirt mit der Aufschrift maine ist nicht übel, aber derry ist einfach spitze! Er besaß ein Derry Tigers High School-Jak-kett. Und dann war da natürlich noch der Hut. Adrian behauptete, die Atmosphäre dieser Stadt wirke auf ihn belebend und schöpferisch anregend. Vielleicht war diese Behauptung nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn er hatte zum ersten Mal seit fast einem Jahr seinen dahinsiechenden Roman aus dem Koffer hervorgeholt.

»Arbeitete er wirklich daran?« fragte Gardener, nicht weil es ihn wirklich interessierte, sondern weil er wollte, daß Hagarty bereitwillig weitererzählte.

»Ja - er schrieb Seite um Seite. Er sagte, es würde vielleicht ein schrecklicher Roman sein, aber jedenfalls würde es kein schrecklicher unvollendeter Roman bleiben. Er wollte ihn bis zu seinem Geburtstag im Oktober abschließen. Natürlich wußte er nicht, wie Derry wirklich ist. Er glaubte es zu wissen, aber er ist nicht lange genug hiergewesen, um auch nur eine Ahnung vom echten Derry zu bekommen. Ich habe versucht, ihn aufzuklären, aber er wollte nicht zuhören.«

»Und wie ist Derry in Wirklichkeit?« fragte Reeves.

»Es gleicht einer toten Hure, aus deren Fotze Würmer rauskriechen«, sagte Don Hagarty.

Die beiden Polizeibeamten starrten ihn in fassungslosem Schweigen an.

»Es ist ein schlechter Ort«, fuhr Hagarty fort. »Es ist eine einzige Kloake. Wollen Sie etwa sagen, daß Sie das nicht wissen? Sie haben Ihr ganzes Leben hier verbracht, und Sie wissen das nicht?«

Keiner von beiden antwortete. Nach kurzem Schweigen fuhr Hagarty in seinem Bericht fort.

Bevor Adrian Mellon in sein Leben getreten war, hatte Don vorgehabt, Derry zu verlassen. Er wohnte dort seit drei Jahren, hauptsächlich weil er einen längerfristigen Mietvertrag für ein Apartment mit fantastischer Aussicht auf den Fluß unterschrieben hatte, aber nun war der Vertrag fast abgelaufen, und darüber war Don sehr froh. Kein langes Hin- und Herpendeln nach Bangor mehr. Außerdem jagte Derry ihm irgendwie Angst ein. Das lag durchaus nicht nur an der strikten Ablehnung von Homosexuellen, die überall in der Stadt deutlich spürbar war, angefangen von den Predigern bis hin zu den Schmierereien im Bassey Park, aber diese Feindseligkeit war etwas Greifbares, worauf er den Finger legen konnte. Doch Adrian lachte nur darüber.

»Don, jede Stadt in Amerika hat ein Kontingent, das Schwule haßt«, sagte er. »Das weißt du doch genauso gut wie ich.«

»Komm mit zum Bassey Park«, erwiderte Don, als er sah, daß Adrian wirklich meinte, was er sagte - daß Derry auch nicht schlimmer als jede andere mittelgroße Stadt im Hinterland war. »Ich möchte dir etwas zeigen, mein Lieber.«

Sie fuhren zum Bassey Park - das war Mitte Juni gewesen, etwa einen Monat vor Adrians Ermordung, erzählte Hagarty den Pölizeibeamten. Er führte Adrian auf die dunkle, etwas unangenehm riechende Kußbrücke. Dort deutete er auf eine der Schmierereien. Adrian mußte ein Streichholz anzünden, um lesen zu können, was da stand.

ZEIG MIR DEINEN SCHWANZ SCHWULER UND ICH SCHNEIDE IHN DIR Aß!

»Ich weiß bestens Bescheid, was für Gefühle Leute Schwulen gegenüber haben«, sagte Don ruhig. »Als Teenager wurde ich auf einem LKW-Park-platz in Dayton zusammengeschlagen; einige Kerle in Portland zündeten vor einem Sandwich-Laden meine Schuhe an, während so ein alter Fettarsch von Bulle in seinem Streifenwagen saß und lachte. Ich hab' schon eine Menge gesehen... aber so etwas wie dies hier doch noch nie. Schau dir das einmal an. Schau's dir gut an.«

Ein weiteres Streichholz enthüllte:

BOHRT NÄGEL IN DIE AUGEN ALLER SCHWULEN ( FÜR GOTT ) !

»Wer auch immer diese kleinen Moralpredigten schreiben mag, muß ein unerkannter Irrer sein. Mir wäre wohler zumute, wenn ich glauben könnte, daß es nur eine Einzelperson ist, ein einziges krankes Hirn, aber...« Don machte eine vage Geste über die ganze Brücke hinweg. »Da steht jede Menge von solchem Zeug... und ich glaube nicht, daß es das Werk einer Einzelperson ist. Deshalb will ich Derry verlassen, Ade. Es scheint hier an zuviel Stellen zuviel dieser unerkannten Irren zu geben.«

»Na ja, aber warte, bis ich meinen Roman fertig habe, okay? Bitte! Oktober, nicht später, ich versprech's dir. Die Luft ist hier besser.«

»Er wußte nicht, daß er sich aber vor dem hiesigen Wasser hätte in acht nehmen müssen«, sagte Don Hagarty voll Bitterkeit.

Tom Boutillier und Andrew Peck beugten sich wortlos vor. Chris Unwin saß mit gesenktem Kopf da und redete monoton vor sich hin, so als erzählte er seine Geschichte dem Fußboden. Dies war der Teil, den sie hören wollten; dies war der Teil, der zumindest zwei dieser Arschlöcher nach Thomaston bringen würde.

»Auf dem Rummelplatz war nicht mehr viel los«, berichtete Unwin. »Alle tollen Karussells wurden schon abgebaut, diese Dinger wie das Devil Dish und das Parachute Drop, wissen Sie. Und an den Bumper Carts hing auch schon ein Schild >Geschlossen<. Nur die Kinderkarussells liefen noch. Also gingen wir rüber zu den Spielständen, und Webby sah die Wurfbude und zahlte 50 Cent, und dann hat er so 'n Hut gesehen, wie der Schwule ihn aufhatte, und er hat danach geworfen, aber er hat ihn dauernd verfehlt, und nach jedem Wurf ist seine Laune mieser geworden. Und Steve - das ist der Bursche, der normalerweise rumläuft und sagt, immer mit der Ruhe, beruhige dich, nur keine Aufregung und all so 'n Zeug, wissen Sie? Aber er war unheimlich aufgekratzt, denn er hatte vorher so 'ne Pille geschluckt, wissen Sie? Ich weiß nicht, was für 'ne Pille das genau war. 'ne rote Pille jedenfalls. Vielleicht war's sogar was Legales. Aber er zog Webby andauernd auf, bis ich schon dachte, Webby würde ihn verprügeln, wissen Sie? Er hat zu ihm gesagt, du kannst ja nicht mal so 'n Hut wie der Schwule gewinnen. Du mußt ja total bekloppt sein, wenn du's noch nicht mal schaffst, so 'n Hut wie der Schwule zu gewinnen. Und schließlich hat die Frau Webby dann 'nen Preis gegeben, obwohl der Ring nicht richtig drumherum lag, weil sie uns nämlich loswerden wollte, glaub' ich wenigstens. Es war so 'n Krachmacher, wissen Sie? Man bläst rein, und das Ding rollt sich ab und macht dabei so 'n Lärm, wie wenn einer 'nen Furz läßt, wissen Sie? Ich hatte auch mal so 'n Ding. Für Halloween oder Silvester oder irgendso 'n anderen verdammten Feiertag. Es war ein tolles Ding, nur hab' ich's dann verloren. Oder vielleicht hat's mir auch einer auf dem verdammten Schulhof aus der Tasche geklaut, wissen Sie? Na ja, und dann schloß der Rummelplatz, und wir gingen raus, und Steve hat immer noch Webby aufgezogen, daß er nicht mal in der Lage gewesen ist, so 'n Hut wie der Schwule zu gewinnen, wissen Sie, und Webby hat nicht viel gesagt, und ich hab' gewußt, daß das 'n schlechtes Zeichen ist, und ich hatte 'nen ganz schönen Bammel, wissen Sie? Und ich wollt' das Thema wechseln, nur fiel mir gar nichts ein, was ich hätte sagen können. Und wie wir dann auf dem Parkplatz gestanden haben, hat Steve gefragt: Wo willst du hin, nach Hause? - Und Webby hat gesagt: Fahren wir erst noch am >Falcon< vorbei und schauen nach, ob der Schwule da ist.«

Boutillier und Peck tauschten einen Blick. Boutillier klopfte sich mit einem Finger an die Wange - obwohl dieser Schwachkopf sich nicht klar darüber war, erzählte er jetzt von einem vorsätzlichen Mord.

»Und ich hab' widersprochen und gesagt, daß ich nach Hause muß, und Webby hat gespottet: Hast du Angst, in die Nähe der Schwülen-Kneipe zu kommen? - Und ich hab' gesagt: Verdammt, nein! Und Steve ist immer noch high oder so was Ähnliches gewesen, und er hat gesagt: Los, machen

wir mal Hackfleisch aus dem Schwulen! Machen wir mal Hackfleisch aus dem Schwulen! Machen wir mal...«

11

Fatalerweise war es genau der richtige Zeitpunkt. Adrian Mellon und Don Hagarty kamen gerade aus dem >Falcon< heraus, wo sie zwei Bier getrunken hatten, gingen am Busbahnhof vorbei und hielten dann Händchen. Es war eine ganz instinktive Geste, über die keiner von beiden besonders nachdachte. An der Ecke bogen sie nach links ab. Es war 22.20 Uhr.

Die Kußbrücke lag eine halbe Meile stromaufwärts; sie wollten den Kanal auf der weit weniger malerischen Main Street Bridge überqueren. Der Ken-duskeag war sommerlich seicht; höchstens vier Fuß Wasser plätscherten träge um die Betonpfeiler herum.

Sie waren gerade an der Brücke angelangt, als das Auto, ein Duster, sie einholte - Steve Dubay hatte die beiden Männer aus der Bar kommen sehen und die anderen vergnügt auf sie aufmerksam gemacht.

»Halt an! Schneid ihnen den Weg ab!« schrie Webby Garton. Er hatte im Schein einer Straßenlaterne soeben gesehen, daß die beiden Männer Händchen hielten, und das brachte ihn in Wut... aber noch viel mehr brachte ihn der Hut in Rage. Die große Papierblume wippte eifrig hin und her. »Anhalten, verdammt noch mal!«

Und Steve hielt an.

Chris Unwin bestritt später seine aktive Teilnahme an dem nun Folgenden, aber Don Hagarty erzählte etwas ganz anderes. Er sagte, Garton sei aus dem Wagen gesprungen, noch bevor dieser völlig zum Stehen gekommen war, und die beiden anderen seien ihm rasch gefolgt. Dann ein kurzer Wortwechsel. An diesem Abend versuchte Adrian nicht, so zu tun, als flirte oder kokettiere er; er begriff, daß sie sich in einer äußerst gefährlichen Situation befanden.

»Gib mir den Hut!« sagte Garton. »Gib ihn her, Schwuler!«

»Werdet ihr uns in Ruhe lassen, wenn ich ihn dir gebe?« fragte Adrian mit hoher ängstlicher Stimme, den Tränen nahe, und blickte erschrocken von Unwin zu Dubay und zu Garton.

»Gib mir das Scheißding erst mal her!«

Adrian gab ihm den Zylinder. Garton zog ein Klappmesser aus der linken Vordertasche seiner Jeans und zerschnitt den Hut in zwei Teile. Er rieb die Stücke an seinem Hosenboden. Dann warf er sie aufs Pflaster und trampelte auf ihnen herum.

Don Hagarty wich ein Stück zurück, während ihre Aufmerksamkeit auf Adrian und den Hut konzentriert war - er hielt Ausschau nach einem Polizisten, wie er später sagte.

»Laßt ihr uns jetzt in R...«, begann Adrian Mellon, und in diesem Moment schlug Garton ihm ins Gesicht, und er wurde gegen das taillenhohe Brückengeländer geschleudert. Er schrie auf und griff mit den Händen nach seinem Mund. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch.

»Ade!« schrie Hagarty und rannte auf seinen Freund zu. Dubay stellte

ihm ein Bein. Garton trat ihn in den Magen, und er fiel auf die Straße. Ein Auto fuhr vorbei. Hagarty kam auf die Knie und rief um Hilfe. Das Auto fuhr einfach weiter. Der Fahrer sah sich nicht einmal um.

»Halt die Klappe, Schwulenschwein!« schrie Dubay und kickte ihn seitlich ins Gesicht. Hagarty fiel halb ohnmächtig in den Rinnstein.

Wenige Augenblicke später hörte er eine Stimme, die ihm riet zu verschwinden, bevor es ihm ebenso ergehen würde wie seinem Freund. Unwin bestätigte später in seiner Aussage, diese Warnung von sich gegeben zu haben.

Hagarty hörte dumpfe Schläge, und er hörte seinen Geliebten schreien. Adrian habe sich, so erzählte er später der Polizei, angehört wie ein Kaninchen in der Schlinge. Hagarty kroch auf die Kreuzung und auf die hellen Lichter des Busbahnhofs zu, und in einiger Entfernung warf er einen Blick zurück.

Adrian Mellon, der etwa fünf Fuß fünf groß war und in tropfnassem Zustand höchstens 135 Pfund wog, wurde in einer Art Dreiecksspiel wie eine Strohpuppe von Garton über Dubay zu Unwin gestoßen. Sie pufften ihn, schlugen ihn, zerrten an seinen Kleidern. Garton trat ihn in die Hoden. Adrians Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Blut floß aus seinem Mund auf sein Hemd. Webby Garton trug an der rechten Hand zwei schwere Ringe: einen der Derry High School und einen, den er im Werkunterricht selbst angefertigt hatte - zwei aufgelötete verschlungene Messingbuchstaben - DB.

- standen erhaben hervor. Diese Initialen bedeuteten >Dead Bugs<, eine Band, die er besonders bewunderte. Die Ringe hatten Adrians Oberlippe aufgerissen und ihm drei Zähne dicht unter dem Zahnfleisch ausgeschlagen.

»Hilfe!« kreischte Hagarty. »Hilfe! Hilfe! Sie bringen ihn um! Hilfe!«

Die Gebäude der Main Street blieben dunkel und still. Niemand eilte zu Hilfe - nicht einmal von der weißen Lichtinsel des Busbahnhofs. Hagarty begriff nicht, wie das möglich war; dort hielten sich doch Menschen auf. Er hatte sie gesehen, als er und Adrian vorbeigegangen waren. Würde wirklich niemand ihnen zu Hilfe eilen? Kein Mensch?

»HILFE! HILFE! SIE BRINGEN IHN um! BITTE, so HELFT UNS DOCH! UM GOTTES WILLEN, SO HELFT UNS DOCH!«

»Hilfe«, flüsterte eine leise Stimme links von Don Hagarty... und dann hörte er ein Kichern.

»Ins Wasser mit ihm!« brüllte Garton jetzt lachend. Alle drei hätten gelacht, während sie auf Adrian einschlugen, berichtete Hagarty den Polizeibeamten. »Hinein mit ihm! Übers Geländer!«

»Ja, hinein ins Wasser mit ihm! Nichts wie rein mit ihm!« lachte Dubay.

»Hilfe«, sagte die leise Stimme wieder, und obwohl sie ernst klang, folgte erneut jenes Kichern - es hörte sich an wie die Stimme eines Kindes, das wider Willen lachen muß.

Hagarty blickte hinab und sah den Clown - und von diesem Zeitpunkt an begannen Gardener und Reeves seiner ganzen Aussage zu mißtrauen, denn der Rest war das wirre Gerede eines Verrückten. Später jedoch fing Harold Gardener an, sich Gedanken zu machen. Später, als er feststellte, daß auch Unwin einen Clown gesehen hatte - oder es zumindest behaup

tete -, begann er nachzudenken. Sein Kollege hingegen wurde entweder tatsächlich nicht nachdenklich, oder er wollte es nicht zugeben.

Der Clown, so Hagarty, sah aus wie eine Mischung zwischen Ronald McDonald und jenem alten Fernsehclown Bozo - zumindest war das Ha-gartys erster Eindruck. Es waren die wilden orangefarbenen Haarbüschel, die diese Vergleiche nahelegten. Aber bei späterem Nachdenken kam er zu dem Schluß, daß der Clown eigentlich weder Ronald McDonald noch Bozo ähnlich gesehen hatte. Das über das weiße Mondgesicht gemalte Grinsen war rot, und die Augen hatten eine unheimlich funkelnde Silberfarbe. Vielleicht Kontaktlinsen... aber ein Teil von ihm dachte damals und auch später, daß dieses Silber vielleicht die echte Augenfarbe des Clowns gewesen war, der ein bauschiges Kostüm mit großen orangefarbenen PomponKnöpfen und Handschuhe wie eine Trickfilmfigur trug.

»Wenn du Hilfe brauchst, Don«, sagte der Clown, »dann bedien dich mit einem Luftballon.«

Und er bot ihm die Traube von Ballons an, die er in einer Hand hielt.

»Sie schweben«, sagte der Clown. »Hier unten schweben wir alle; sehr bald wird auch dein Freund schweben.«

12

»Dieser Clown hat Sie mit Ihrem Namen angeredet«, sagte Jeff Reeves mit völlig ausdrucksloser Stimme. Er blickte über Hagarty s gesenkten Kopf hinweg zu Gardener hinüber und zwinkerte ihm zu.

»Ja«, antwortete Hagarty, ohne aufzuschauen. »Ich weiß, wie sich das anhört.«

13

»Und dann habt ihr ihn also reingeworfen«, konstatierte Boutillier. »In den Kanal.«

»Ich nicht!« rief Unwin und blickte hoch. Er strich sich die Haare aus der Stirn und schaute die Polizeibeamten flehend an. »Als ich sah, daß sie es wirklich ernst meinten, versuchte ich Steve wegzuziehen, weil ich wußte, daß der Bursche sich sämtliche Knochen brechen würde... es waren mindestens zehn Fuß bis zum Wasser...«

Es waren 23 Fuß. Einer von Pecks Leuten hatte schon nachgemessen. »Aber Steve war wie verrückt. Die beiden brüllten immer wieder >Ins Wasser mit ihm! Nichts wie rein mit ihm!< Und dann hoben sie ihn hoch. Webby hatte ihn unter den Armen gepackt und Steve am Hosenboden, und... und...«

Als Hagarty sah, was vorging, rannte er auf sie zu und schrie, so laut er nur konnte: »nein! nein! nein!«

Chris Unwin stieß ihn zurück, und Hagarty landete auf dem Gehweg. »Willst du auch reinfliegen?« zischte er. »Hau ab, Baby!«

Sie warfen Adrian Mellon über das Brückengeländer ins Wasser. Hagarty hörte das Platschen.

»Machen wir, daß wir hier wegkommen«, sagte Steve Dubay. Er und Webby gingen rückwärts auf das Auto zu.

Chris Unwin blickte übers Geländer nach unten. Zuerst sah er Hagarty, der die unkrautüberwucherte, mit Abfällen übersäte Uferböschung hinabschlitterte. Dann sah er den Clown. Der Clown zog Adrian auf der anderen Flußseite mit einem Arm aus dem Wasser; in der anderen hatte er seine Luftballons. Adrian war völlig durchnäßt, würgte und stöhnte. Der Clown wandte den Kopf und grinste zu Chris hoch. Chris sagte, er hätte seine funkelnden Silberaugen und die gebleckten Zähne gesehen - riesengroße Zähne, sagte er.

»Wie der Löwe im Zirkus, Mann«, sagte er. »Ich meine, so groß waren die Zähne.«

Dann sah er, wie der Clown einen von Adrians Armen über den Kopf zurückbog.

»Und was dann, Chris?« fragte Boutillier. Dieser Teil der Geschichte langweilte ihn. Märchen hatten ihn schon seit seinem achten Lebensjahr immer gelangweilt.

»Ich weiß nicht so recht«, murmelte Chris. »In diesem Augenblick hat Steve mich gepackt und ins Auto gezerrt. Aber... aber ich glaube, der Clown hat in Mellons Achselhöhle gebissen.« Er sah sie wieder an, diesmal sehr unsicher. »Ich glaube, so war's. Er hat in seine Achselhöhle gebissen.

So als wollte er ihn auffressen, Mann. So als wollte er sein Herz fressen.«

15

Nein, sagte Hagarty, als man ihn zu Chris Unwins Version der Geschichte verhörte. Nein, der Clown habe Ade nicht ans andere Ufer gezerrt, zumindest nicht, soweit er gesehen habe - und sie könnten Gift darauf nehmen, daß er zu diesem Zeitpunkt kein unbeteiligter objektiver Beobachter gewesen sei; zu diesem Zeitpunkt sei er völlig außer sich gewesen, habe fast den Verstand verloren.

Seiner Aussage nach stand der Clown in der Nähe des anderen Ufers und hielt Adrians tropfenden Körper in seinen Armen. Ades rechter Arm ragte steif hinter dem Kopf des Clowns hervor, und das Gesicht des Clowns war wirklich in Ades rechter Achselhöhle, aber er biß nicht zu; er lächelte. Hagarty konnte ihn unter Ades Arm hervorschauen und lächeln sehen.

Die Arme des Clowns schlössen sich fester um Ade, und Hagarty hörte, wie Rippen gebrochen wurden.

Ade kreischte auf.

»Schweb mit uns, Don!« rief der Clown mit seinem grinsenden roten Mund und deutete mit einer weiß behandschuhten Hand unter die Brücke.

Luftballons schwebten an der Unterseite der Brücke - nicht etwa ein Dutzend oder zwölf Dutzend, sondern Tausende roter und blauer und grüner und gelber Ballons. Und auf jedem stand: ich derry!

16

»Na ja, das hört sich wirklich ein bißchen zuviel Luftballons an«, sagte Reeves und zwinkerte Harold Gardener wieder zu.

»Ich weiß, wie sich das anhört«, wiederholte Hagarty mit bedrückter Stimme.

»Sie haben diese Ballons gesehen?« fragte Gardener.

Don Hagarty hielt sich langsam die Hände vors Gesicht. »Ich sah sie genauso deutlich wie jetzt meine Finger. Tausende von Ballons. Man konnte nicht einmal mehr die Unterseite der Brücke sehen, weil es einfach zu viele waren. Sie bewegten sich ein wenig auf und ab. Und da war dieses Geräusch. Ein komisches leises Quietschen. Es kam daher, weil ihre Seiten aneinanderrieben. Und Schnüre. Ein ganzer Wald weißer Schnüre hing herab. Sie sahen aus wie weiße Spinnweben. Der Clown schleppte Ade dorthin. Ich sah sein Kostüm zwischen diesen Schnüren. Ade stieß schreckliche würgende, erstickende Laute aus. Ich rannte hinter ihm her... und dann drehte der Clown den Kopf um und blickte zurück. Ich sah seine Augen, und plötzlich begriff ich, wer es war.«

»Wer war es denn, Don?« fragte Harold Gardener freundlich.

»Es war Derry«, sagte Don Hagarty. »Es war diese Stadt.«

»Und was haben Sie dann gemacht?« Das war Reeves.

»Ich bin weggerannt, Sie Blödhammel«, sagte Hagarty und brach in Tränen aus.

17

Harold Gardener behielt seine Gedanken und Zweifel für sich - bis zum 13. November, dem Tag vor Beginn der Gerichtsverhandlung gegen John Garton und Steven Dubay wegen Mordes, begangen an Adrian Mellon. Dann ging er zu Tom Boutillier. Er wollte sich über den Clown unterhalten. Boutillier hatte dazu nicht die geringste Lust, aber als er sah, daß Gardener imstande war, etwas Dummes zu tun, wenn man ihm nicht ein paar Anweisungen gab, redete er lieber doch mit ihm.

»Es gab überhaupt keinen Clown, Harold. Die einzigen Clowns, die an jenem Abend unterwegs waren, waren diese drei Burschen. Das weißt du doch genauso gut wie ich, Harold.«

»Wir haben aber zwei Zeugen...«

»Ach, das ist doch alles Blödsinn! Unwin beschloß einfach, den Einarmigen ins Spiel zu bringen, so in der Art von >Wir haben den armen kleinen Schwulen nicht umgebracht, es war der Einarmige«, sobald er begriff, daß er diesmal wirklich in der Klemme saß. Und Hagarty war hysterisch. Er mußte mit ansehen, wie diese Kerle seinen besten Freund ermordeten. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er fliegende Untertassen gesehen hätte.«

Aber Boutillier wußte es besser, das konnte Gardener in seinen Augen lesen, und die Ausweichmanöver des Mannes ärgerten ihn.

»Na hör mal«, sagte er. »Uns liegen zwei voneinander völlig unabhängige Aussagen vor. Red also nicht so 'n verdammten Mist daher!«

»Oh, du willst also über Mist reden? Willst du mir etwa weismachen, daß du an diesen Vampir-Clown unter der Main Street Bridge glaubst? Denn das ist meiner Meinung nach verdammter Mist.«

»Nein, nicht direkt, aber...«

»Oder daß Hagarty da unten wirklich eine Billion Ballons gesehen hat und daß auf jedem davon genau das gleiche stand wie auf Mellons Hut? Glaubst du das? Denn auch das ist meiner Meinung nach verdammter Mist. Totaler Quatsch!«

»Nein, aber...«

»Warum gibst du dich dann überhaupt mit diesem Blödsinn ab?«

»Hör auf, mich ins Kreuzverhör zu nehmen!« brüllte Gardener. »Beide haben den Kerl ganz gleich beschrieben, und keiner hat gewußt, was der andere sagen würde!«

Boutillier hatte an seinem Schreibtisch gesessen und mit einem Bleistift gespielt. Jetzt legte er den Bleistift hin, stand auf und ging auf Harold Gardener zu. Boutillier war fünf Zoll kleiner, abr trotzdem wich Gardener vor dem Zorn des Mannes einen Schritt zurück.

»Willst du, daß wir diesen Fall verlieren, Harold?«

»Nein. Natürlich ni...«

»Willst du, daß diese üblen Strolche weiterhin frei herumlaufen?«

»Nein!«

»Okay. Nachdem wir uns im Prinzip einig sind, werde ich dir verraten, was ich wirklich glaube. Ja, vermutlich war an jenem Abend ein Mann unter der Brücke. Vielleicht hat er sogar wirklich ein Clownskostüm getragen, obwohl ich schon mit zuviel Zeugen zu tun hatte, daß ich eher glaube, daß es einfach ein Betrunkener oder ein Landstreicher in zerlumpten Klamotten war. Vermutlich hat er da unten nach runtergefallenen Münzen oder nach Proviant gesucht - nach 'nem halben weggeworfenen Hamburger oder den Resten in einer zerknüllten Pommes frites-Tüte. Alles andere haben sie sich eingebildet, Harold. Na, wäre das nicht durchaus möglich?«

»Ich weiß nicht so recht...«, sagte Harold. Er hätte sich gern überzeugen lassen, aber angesichts der exakten Übereinstimmung der beiden Beschreibungen ... nein. Er glaubte nicht, daß so etwas möglich war.

»Der Kern der Sache ist aber folgender: Mir ist es scheißegal, ob da unten nun Kinko the Klown oder ein Kerl auf Stelzen in Uncle Sam-Kostüm oder aber Hubert the Happy Homo war. Wenn wir vor Gericht nur etwas von diesem Kerl andeuten, wird sich ihr Anwalt sofort gierig darauf stürzen. Er wird behaupten, diese beiden unschuldigen kleinen Lämmer mit ihren frisch geschnittenen Haaren und in ihren neuen Anzügen hätten weiter nichts getan als diesen Homosexuellen Mellon zum Spaß über das Brückengeländer geworfen. Er wird mit besonderem Nachdruck hervorheben, daß

Mellon nach dem Sturz noch am Leben war; das geht sowohl aus Hagartys als auch aus Unwins Aussage hervor. Seine Klienten haben doch keinen Mord begangen, o nein! Es war ein Psychopath in Clownskostüm. Wenn wir diesen Kerl auch nur erwähnen, passiert das garantiert, und das weißt du genauso gut wie ich.«

»Unwin wird diese Geschichte ohnehin erzählen.«

»Aber Hagarty nicht«, erwiderte Boutillier. »Weil er begriffen hat. Und wer wird Unwin schon glauben, wenn Hagarty nichts darüber aussagt?«

»Na ja, wir wären ja auch noch da«, sagte Harold Gardener mit einer Verbitterung, die sogar ihn selbst erstaunte, »aber ich vermute, daß wir auch nichts darüber berichten werden.«

»Oh, du treibst mich noch zum Wahnsinn!« brüllte Boutillier und warf die Hände hoch. »Sie haben ihn ermordet! Sie haben ihn nicht nur von der Brücke in die Tiefe gestürzt - Garton hatte ein Messer bei sich. Mellon hatte Stichwunden, darunter eine in der linken Lunge und zwei in den Hoden. Die Wunden stammen eindeutig von dieser Klinge. Mellon hatte auch vier gebrochene Rippen - die hat Dubay ihm gebrochen, als er ihn umklammerte. Mellon hatte auch Bißwunden, okay, geb' ich zu. An den Armen, auf der linken Wange, am Hals. Ich nehme an, daß das Unwins und Gartons Werk war, obwohl wir nur einen ziemlich deutlichen Zahnabdruck haben, und selbst der ist höchstwahrscheinlich nicht deutlich genug, um vom Gericht als Beweis anerkannt zu werden. Und, okay, aus seiner rechten Achselhöhle war ein großes Stück Fleisch herausgerissen. Na und? Einer dieser Kerle hat eben wirklich gern zugebissen. Vermutlich hat er, während er das tat, sogar noch 'nen Steifen bekommen. Ich wette, daß es Garton war, obwohl wir's nie beweisen können. Und Mellons Ohrläppchen war auch nicht mehr da.«

Boutillier starrte Harold einen Moment lang schweigend an, dann fuhr er fort: »Wenn wir diese Clown-Geschichte ins Spiel bringen, werden wir sie nie des Mordes überführen können. Willst du das?«

»Nein, das hab' ich doch schon gesagt.«

»Mellon war schwul, aber er hat niemandem etwas zuleide getan«, sagte Boutillier. »Und plötzlich - heidi-heida, kommen da diese drei Pisser daher und pusten ihm das Lebenslicht aus. Ich werde dafür sorgen, daß sie hinter Schloß und Riegel kommen, mein Freund, und wenn ich höre, daß jemand in Thomaston seinen Schwanz in ihre runzligen kleinen Ärsche reinsteckt, dann werd' ich ihnen Karten schicken, auf denen steht, ich würde von Herzen wünschen, daß der Betreffende aids hat!«

Sehr feurig, dachte Gardener. Und die Verurteilungen werden sich auch in deinen Akten sehr gut machen, wenn du dich in zwei Jahren um die oberste Position bewirbst.

Aber er ging, ohne noch etwas zu sagen, denn auch er wollte, daß diese Burschen verurteilt würden.

John Webber Garton wurde wegen Mordes zu zehn bis zwanzig Jahren Haft im Thomaston State Prison verurteilt.

Steven Bishoff Dubay wurde wegen Mordes zu fünfzehn Jahren Haft im Shawshank State Prison verurteilt.

Christopher Philip Unwin wurde als Jugendlicher separat vor Gericht gestellt und wegen Totschlags zu sechs Monaten Aufenthalt in der South Windham Boys' Training Facility verurteilt. Das Urteil wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Bis zu dieser Stunde wurde gegen alle drei Urteile Berufung eingelegt; man kann Garton und Dubay tagtäglich im Bassey Park Mädchen beobachten oder >Pennywerfen< spielen sehen, unweit der Stelle, an der Mellons verunstaltete Leiche an einem der Pfeiler der Main Street Bridge auf dem Wasser treibend gefunden worden war.

Don Hagarty und Chris Unwin haben die Stadt verlassen.

Bei der Hauptverhandlung gegen Garton und Dubay hatte niemand einen Clown erwähnt.

Drittes Kapitel Sechs Telefonanrufe

1. Stanley Uris nimmt ein Bad

Später sagte Patricia Uris zu ihrer Mutter, sie hätte wissen müssen, daß etwas nicht stimmte, weil Stanley nie am frühen Abend ein Bad genommen hatte. Er duschte morgens und machte es sich manchmal spät abends in der Badewanne gemütlich (mit einer kalten Dose Bier und einer Zeitschrift), aber in all den vielen Jahren ihrer Ehe hatte er sich noch nie um 19 Uhr ein Bad eingelassen.

Und dann war da die Sache mit den Büchern gewesen. Eigentlich hätte es ihm Freude machen müssen; statt dessen schien es ihn auf eine ihr unverständliche Weise zu verwirren und zu deprimieren. Etwa drei Monate vor jenem schrecklichen Abend hatte Stanley entdeckt, daß ein Freund aus Kindertagen Schriftsteller geworden war. Er hieß William Denbrough, aber Stanley nannte ihn manchmal >Stotter-Bill<. Stanley hatte alle Bücher Den-broughs begierig verschlungen; im letzten hatte er noch am Abend des Bades gelesen - am 27. Mai 1985. Patty Uris hatte einmal aus Neugier in einen dieser Romane hineingeschaut, ihn aber nach nur drei Kapiteln wieder aus der Hand gelegt.

»Es war eine Horrorgeschichte«, erzählte sie später ihrer Mutter. »Voller Monster - Monster, die es besonders auf kleine Kinder abgesehen hatten... und voller Morde und... ich weiß nicht so recht, wie ich's ausdrücken soll... voll negativer Gefühle und Gewalt. All so was.« Irgendwie war der Roman ihr fast pornographisch vorgekommen, und er hatte sie beunruhigt und geängstigt; aber das erzählte sie ihrer Mutter nicht, weil ihr die richtigen Worte fehlten. »Aber Stan hatte das Gefühl, einen seiner Freunde aus der Kindheit wiedergefunden zu haben... er sprach davon, daß er ihm schreiben wolle, aber ich wußte, daß er es nicht tun würde... ich wußte, daß all diese Geschichten ihn irgendwie verstörten... und... und...«

Patty brach in Tränen aus.

An jenem Abend, etwa siebenundzwanzigeinhalb Jahre nach dem Tag, als George Denbrough Bekanntschaft mit einem gewissen Clown namens Pennywise gemacht hatte, saßen Stanley und Patty Uris im Wohnzimmer ihres Hauses in einem Vorort von Atlanta, Georgia. Der Fernseher war eingeschaltet, und Patty saß vor dem Bildschirm und teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen ihrer Näharbeit und ihrem Lieblingsquiz >Family Feud<. Diese Sendung gefiel ihr deshalb so gut, weil sie meistens die richtigen Antworten wußte. Einmal hatte sie Stan gefragt (der ihr zwar erzählt hatte, daß William Denbrough in jenen längst vergangenen Kindertagen in Maine StotterBill genannt worden war, der ihr aber in all den vielen Jahren ihrer Ehe nie erzählte, daß er selbst damals den Spitznamen Stanley Urin gehabt hatte), weshalb man den Kandidaten so leichte Fragen stelle, und er hatte geantwortet: »Es ist vermutlich viel schwerer, wenn man da oben im Scheinwerferlicht steht und alle Kameras auf einen gerichtet sind. Alles ist sehr viel schwerer, wenn man selbst betroffen ist. Dann kann man sehr leicht das Gefühl haben zu ersticken. Wenn es einen direkt angeht.«

Seine Erklärung schien ihr sehr einleuchtend zu sein. Stan besaß manchmal erstaunliche Einsicht in die menschliche Natur. Viel schärfere, so dachte sie, als sein alter Freund William Denbrough, der reich geworden war, indem er Horrorgeschichten schrieb und die niederen Instinkte der Menschen ansprach.

Nicht daß es ihnen selbst schlecht gegangen wäre: ihr Vorort galt als vornehme Wohngegend, und das Haus, das sie 1979 für 87000 Dollar erworben hatten, würde sich inzwischen problemlos für etwa 165000 Dollar verkaufen lassen. Wenn sie manchmal in ihrem Volvo (Stanley fuhr einen Mercedes Diesel) vom Einkaufszentrum zurückkehrte und ihr geschmackvoll hinter niedrigen Eibenhecken liegendes Haus sah, überkam sie ein starkes Glücksgefühl, vermischt mit soviel bitterem Stolz, daß ihr etwas unbehaglich zumute war.

Einem achtzehnjährigen Mädchen namens Patricia Blum war einmal der Zutritt zur Schulabschlußparty verwehrt worden, die im Country Club jener Kleinstadt Glointon im Bundesstaat New York stattfand, wo Patricia aufgewachsen war - natürlich aufgrund ihres Familiennamens Blum, natürlich deshalb, weil sie Jüdin war. Das war 1967 gewesen, vor langer Zeit - nur würde es für einen Teil von ihr niemals lange zurückliegen; ein Teil von ihr würde immer wieder mit Michael Rosenblatt zum Auto seines Vaters zurückgehen, das er sich für jenen Abend ausgeliehen und am Nachmittag auf Hochglanz poliert hatte, Michael in seinem weißen Dinner-Jakkett - wie hatte es in jener milden Frühlingsnacht geleuchtet! - und sie selbst in einem hellgrünen Abendkleid, das die Farbe von Meerwasser an einem wolkenverhangenen Tag hatte... nur waren sie eben nicht zum Auto gegangen, nein sie waren geschlichen, und nie zuvor hatten sie die Bürde ihres Judentums so deutlich gespürt wie an jenem Abend; sie hatten das Gefühl gehabt, Pfandleiher oder Viehhändler zu sein, lange krumme Nasen und ein schleimiges Wesen zu haben, Itzgs, Shylocks -eben Juden zu sein. Sie waren nicht wütend gewesen, sie hatten sich nur geschämt; der Zorn war erst später gekommen, rasender, bohrender Zorn. Und dann hatte jemand gelacht. Es war ein hohes, schrilles, kicherndes Lachen gewesen, und im Auto hatte sie geweint, und als Michael ungeschickt versucht hatte, sie zu trösten, indem er ihr über den Nacken strich, hatte sie seine Hand weggestoßen - sie hatte sich geschämt, sich schmutzig gefühlt, sich jüdisch gefühlt.

Das so geschmackvoll hinter niedrigen Eibenhecken liegende Haus machte manches leichter... aber nicht hundertprozentig gut. Die Kränkung und die Scham waren immer noch vorhanden, und nicht einmal das Bewußtsein, in dieser friedlichen, wohlhabenden Umgebung akzeptiert zu sein, konnte die alte Wunde völlig heilen. Ebensowenig die Tatsache, daß sie Mitglieder im Country Club waren und daß der Geschäftsführer sie immer respektvoll mit »Guten Abend, Mr. und Mrs. Uris« begrüßte. Wenn sie in ihrem bequemen neuen Volvo nach Hause kam und ihr weißes Haus mit den schwarzen Fensterläden betrachtete, das sich inmitten des grünen Rasens hinter den niedrigen Eibenhecken so dekorativ ausmachte, hoffte sie, daß jenes Mädchen, das damals gelacht hatte, in irgendeiner beschissenen Bruchbude lebte, von seinem Ehemann geprügelt wurde, drei Fehlgeburten gehabt hatte; sie hoffte, daß der Ehemann dieses Mädchens es mit geschlechtskranken Frauen betrog, daß es eine Hängebrust, Plattfüße und Geschwüre auf der dreckig lachenden Zunge hatte.

Sie haßte sich selbst wegen dieser Gedanken, dieser lieblosen Gedanken, und manchmal wurde sie monatelang von ihnen verschont und dachte dann: Vielleicht liegt das alles jetzt hinter mir, ich bin eine Frau, eine 36jährige Frau, jenes Mädchen, das in seinem grünen Kleid im Auto von Michaels Vater saß und durch seine Tränen die Wimperntusche über die ganzen Wangen verschmierte, jenes Mädchen ist seit 18 Jahren tot, vielleicht kann ich es vergessen und nur noch ich selbst sein. Aber dann wieder brauchte sie nur irgendwo zu sein - beispielsweise im Supermarkt - und aus dem Nebengang plötzlich ein schrilles, kicherndes Lachen zu hören, und schon lief ihr ein Schauder den Rücken hinab, ihre Brustwarzen wurden hart und empfindlich und rieben sich an ihrem BH, und sie dachte unwillkürlich: Jemand hat gerade jemand anderem erzählt, daß ich Jüdin bin, daß ich ein Itzig und Shylock bin, daß auch Stanley ein Itzig und Shylock ist, du weißt ja, diese Juden, sie verstehen sich gut auf Zahlen, wir lassen sie in den Country Club, wir können nicht anders, wir mußten es erlauben, nachdem 1981 jener schlaue Itzig-Doktor seinen Prozeß gewann, aber wir lachen über sie, sobald sie uns den Rücken kehren, lachen wir über sie, wir lachen und lachen und...

Dann überwältigten Haß und Scham sie wieder wie ein entsetzlicher Migräneanfall der Seele, und sie verzweifelte an sich selbst und an der menschlichen Rasse. Werwölfe - das Buch von jenem Kerl Denbrough, das sie zu lesen versucht hatte, handelte von Werwölfen. Werwölfe! Was wußte ein solcher Mann schon von Horror?

Aber meistens ging es ihr viel besser. Sie liebte ihr Haus, sie liebte ihren Mann, und meistens war sie sogar imstande, ihr Leben und sich selbst zu lieben. Das war nicht immer so gewesen; als sie sich mit Stanley verlobt hatte, hatten ihre Eltern verzweifelt die Köpfe geschüttelt. Sie hatte ihn auf einer College-Party kennengelernt. Er war mit einigen Freunden von der New York State University hergekommen, wo er als Stipendiat studierte, und als der Abend zu Ende ging, glaubte sie, ihn zu lieben. Als es Winter wurde, war sie sich ihrer Gefühle ganz sicher. Und als Stanley ihr im Frühling einen schmalen Diamantring schenkte, nahm sie ihn an.

Ihre Eltern hatten sich mit ihrer Verlobung abgefunden, obwohl sie alles andere als glücklich darüber waren. Es blieb ihnen aber kaum etwas anderes übrig, obwohl Stanley Uris Marketing studierte und sich bald einer hoffnungslos flauen Arbeitsmarktlage stellen mußte, ohne daß seine Familie das nötige Kapital hatte, um ihm beim Eintritt in eine gefährliche Welt Rückhalt bieten zu können. Offenbar würde er diese Welt mit ihrer einzigen Tochter als Glückspfand betreten. Aber sie war 22 Jahre alt, eine Frau, die demnächst ihren Bachelor of Arts in Englisch machen würde - was konnten sie also sagen? Sie war eine erwachsene Frau. Das einzige, was sie tun konnten, war, die jungen Leute zu überreden, mit der Heirat zu warten, bis sie beide mit dem Studium fertig sein würden. Und außerdem Stanleys Eltern zum Abendessen einzuladen.

»Ich werde diesen Hundesohn für den Rest meines Lebens unterstützen müssen«, hatte Patty ihren Vater eines Abends gegen Ende der Frühjahrsferien sagen hören. Ihre Eltern waren an jenem Abend ausgegangen, und dabei hatte ihr Vater etwas zuviel getrunken.

»Psst, sie wird dich hören«, hatte Mary Blum gesagt.

Patricia hatte bis spät nach Mitternacht wachgelegen und sich in den folgenden zwei Jahren nach Kräften bemüht, ihren zahlreichen Haßgefühlen nicht auch noch den Haß auf ihren eigenen Vater hinzuzufügen. Diesen Kampf hatte sie gewonnen. Stanley hatte ihr dabei geholfen.

Seine Eltern waren über ihre Verlobung ebenso besorgt gewesen und hatten sie für überstürzt gehalten (obwohl sie selbst mit Anfang Zwanzig geheiratet hatten, waren sie anscheinend der Ansicht, daß nur eine Ehe zwischen Partnern Ende Vierzig nicht überstürzt war). Nur Stanley schien seiner selbst völlig sicher zu sein, sich keine Sorgen zu machen, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Und sein Selbstvertrauen hatte sich in jeder Hinsicht als berechtigt erwiesen. Im Juli 1972, als die Tinte auf ihrem Diplom noch nicht ganz trocken war, hatte sie eine Stelle als Englischlehrerin an der Junior High School in der Kleinstadt Traynor, 40 Meilen südlich von Atlanta, bekommen. Sie hatte auf ihre Anzeigen in Lehrerzeitschriften über 30 Anfragen erhalten, aus dem ganzen Land von Oregon und Idaho bis Rhode Island, und Stanley hatte auf den Brief des Schulrats von Traynor gedeutet.

»Das ist das richtige«, sagte er.

Sie schaute ihn an, bestürzt über die ruhige Sicherheit in seiner Stimme. »Kennst du Georgia?« fragte sie.

Stan schüttelte den Kopf. »Ich bin in Zentral-Maine aufgewachsen, mit 16 nach Massachusetts umgezogen und später hierher auf die Uni gekommen.« Das alles wußte sie natürlich schon. »Ich bin noch nie im Leben südlich der Mason-Dixon-Linie gewesen.« Er grinste.

»Aber warum dann...«

»Weil es richtig ist.«

»Das kannst du doch nicht wissen, Stanley.«

»Ich weiß es aber«, sagte er einfach, und unwillkürlich lief ihr ein Schauder des Unbehagens über den Rücken.

»Woher weißt du es?«

Sein Lächeln wurde etwas unsicher, und einen Augenblick lang schien er verwirrt zu sein. Seine Augen verschleierten sich, so als schaute er in sich hinein und zöge irgendeine innere Vorrichtung zurate, die zuverlässig funktionierte, die er aber letztlich selbst ebensowenig verstand wie der Durchschnittsmensch den Mechanismus seiner Armbanduhr.

»Die Schildkröte konnte uns nicht helfen«, sagte er plötzlich. Er sagte es ganz deutlich. Er hatte immer noch jenen nach innen gewandten Blick - jenen Ausdruck nachdenklicher Überraschung -, und das beunruhigte sie irgendwie.

»Stanley? Wovon redest du eigentlich? Stanley?«

Er zuckte heftig zusammen und fegte dabei aus Versehen die Schale mit Pfirsichen vom Tisch. Sie fiel zu Boden und zerbrach. Seine Augen wurden plötzlich wieder klar.

»Oh, Scheiße! Tut mir leid.«

»Das macht nichts. Stanley - wovon hast du geredet?«

»Ich hab's vergessen«, sagte er. »Aber ich glaube, daß Georgia das richtige ist, Liebling.«

»Aber...«

»Vertrau mir«, sagte er, und das hatte sie auch getan.

Das Vorstellungsgespräch war großartig gelaufen, und sie wußte, daß sie die Stelle bekommen würde, als sie die Rückfahrt antrat. Der Dekan der Fakultät hatte sie auf Anhieb sympathisch gefunden, und sie ihn ebenfalls. Der Brief kam eine Woche später. Man bot ihr 9200 Dollar im Jahr und einen Probevertrag an.

»Ihr werdet verhungern«, sagte Herbert Blum.

Aber sie waren nicht verhungert.

Sie hatten am 19. August 1972 geheiratet, und Patty Uris war in ihrer Hochzeitsnacht noch Jungfrau gewesen und hatte trotz ihrer Wollust ein klein wenig Angst gehabt. Als Stan nackt zu ihr ins Bett geschlüpft war, hatte sie geflüstert: »Tu mir nicht weh.«

»Niemals«, hatte er gesagt, während er sie zärtlich in die Arme nahm, und dieses Versprechen hatte er getreulich gehalten - bis zum 27. Mai 1985, dem Abend des Bades.

Ihre Lehrtätigkeit klappte von Anfang an gut. Stanley hatte anfangs einen Job als Fahrer eines Bäckerei-Lieferwagens für 100 Dollar wöchentlich, und als im November jenes Jahres das neue Einkaufszentrum in Traynur Fiats eröffnet wurde, hatte er eine Stelle im Büro von >H & R Block< bekommen, mit 150 Dollar wöchentlich. Ihr gemeinsames Einkommen betrug damals 17000 Dollar im Jahr, was für jene Zeit sehr ordentlich war, als eine Gallone Benzin 35 Cent und ein Brotlaib 31 Cent kosteten. Im März 1973 hatte Patty Uris, ohne viel Aufhebens davon zu machen, ihre Antibabypillen weggeworfen und darauf gewartet, wann es soweit sein würde.

Im Jahre 1975 hatte Stan seine Stelle bei >Block< aufgegeben und seine eigene Agentur eröffnet. Sowohl seine als auch Partys Eltern hielten das für einen tollkühnen Schritt. Natürlich sollte Stan seine eigene Agentur haben, es war bewundernswert, Ehrgeiz zu haben, und es war verständlich, daß man sich verbessern und sein eigener Herr sein wollte. Aber sie stimmten alle darin überein, daß es noch zu früh für einen solchen Schritt sei, daß er Patty damit eine viel zu schwere Last aufbürde. Die allgemeine Meinung war, daß ein Mann an ein eigenes Geschäft nicht einmal denken sollte, bevor er nicht ein gesetzteres, reiferes Alter erreicht hatte - 78 Jahre, oder etwas in dieser Art.

Wieder schien Stanley fast übernatürlich zuversichtlich zu sein. Sicher hatte er während seiner Arbeit für >Block< Kontakte geknüpft; er war jung, ansehnlich, klug und geschickt. Aber er hatte doch nicht wissen können, daß >Corridor Technics< auf einem riesigen Grundstück weniger als zehn Meilen von dem Vorort entfernt, in den sie 1979 umgezogen waren, eine Niederlassung gründen würde, oder daß >Corridor Technics< ein Jahr später auf der Suche nach einem selbständigen Marktforscher sein würde. Und selbst wenn er das alles gewußt hätte, hätte er doch bestimmt nicht glauben können, daß sie diesen Posten einem jungen Juden mit nördlichem Akzent geben würden, einem Brillenträger mit ungezwungenem Grinsen und letzten Spuren einer pubertären Akne im Gesicht - aber sie hatten es getan, und es schien so, als hätte Stan das die ganze Zeit über gewußt.

Seine Arbeit für >Technics< hatte ihm ein Angebot dieser Gesellschaft eingebracht, eine Vollzeitbeschäftigung mit einem Anfangsgehalt von über 30000 Dollar im Jahr anzunehmen. Stan hatte abgelehnt und erklärt, er wolle lieber selbständig bleiben. Inzwischen hatte er durch seine Arbeit für >Technics< Kontakte mit einigen der reichsten und mächtigsten Männer von Atlanta geknüpft, denen er sympathisch war, und zur Zeit ihres Umzugs beschäftigte er bereits sechs Personen und verdiente mehr als das Doppelte von dem, was >Corridor Technics< ihm Mitte 1974 angeboten hatte. 1983 hatte ihr Einkommen dann die bis dahin unvorstellbaren (unvorstellbar zumindest für Patty) Ausmaße sechsstelliger Zahlen angenommen. Und das alles war so mühelos vonstatten gegangen, daß es für Patty manchmal direkt etwas Beängstigendes an sich hatte. Nur Stan schien niemals Angst gehabt zu haben, und als sie einmal in ihrem Unbehagen einen Scherz über einen eventuellen Handel mit dem Teufel gemacht hatte, hatte er sich darüber fast totgelacht. Ihr hingegen war das gar nicht so komisch vorgekommen.

Die Schildkröte konnte uns nicht helfen.

Manchmal wachte sie völlig grundlos mitten in der Nacht auf und hatte diesen Satz im Kopf wie das letzte Fragment eines ansonsten vergessenen Traumes, und dann mußte sie immer rasch Stan berühren, mußte sich schnell vergewissern, daß er noch da war.

Sie hatten ein gutes Leben - es gab keine wilden Trinkgelage, keinen außerehelichen Sex, keine Drogen, keine Langeweile, keine heftigen Streitigkeiten.

Am strahlenden Himmel ihres Glücks gab es nur eine einzige Wolke, und wie sie schon immer befürchtet hatte, war es ihre Mutter, die das Problem als erste angesprochen, die als erste auf die Wolke hingewiesen hatte, in Form einer Frage in einem ihrer Briefe. Mary Blum schrieb ihrer Tochter einmal wöchentlich, und nach jenem Abend des Bades eilte sie sofort zu ihr, und es bedurfte Pattys ganzer Willenskraft und Energie, um nicht die gutgemeinten Ratschläge und Tröstungen ihrer Mutter anzunehmen. Jener spezielle Brief war 1979 angekommen. Er war ihr von der alten Adresse in Traynor nachgesandt worden, und Patty las ihn in einem Wohnzimmer, das noch mit Umzugskartons vollgestellt war.

Größtenteils war es einer von Mary Blums üblichen Briefen-von-Zu-hause: Vier engbeschriebene Seiten auf blauem Papier in der kaum zu entziffernden Schrift ihrer Mutter. Stan hatte sich oft beklagt, daß er kein einziges Wort lesen könne, das seine Schwiegermutter schrieb. »Welches Interesse könntest du auch daran haben?« hatte Patty erwidert.

Dieser spezielle Brief enthielt die üblichen Neuigkeiten über alte Freunde und Verwandte, die in Pattys Erinnerung schon verblaßt waren wie Fotos in einem alten Album. Ihr Vater hatte immer noch zuviel Magenschmerzen; er war sicher, daß es sich nur um Verdauungsbeschwerden handelte; er würde erst dann glauben, daß es Krebs sei, wenn er Blut spucken würde. Du kennst ja deinen Vater, Liebling, er arbeitet wie ein Maulesel, aber manchmal ist er auch ebenso störrisch - Gott verzeih mir, daß ich so was sage. Randi Harlengen hatte eine Unterleibsoperation gehabt, man hatte ihr golfballgroße Zysten aus den Eierstöcken entfernt. Gott sei Dank nichts Bösartiges, aber erst 27 und schon Zysten an den Eierstöcken! Es war das Wasser in New York City, dessen war sie sich ganz sicher, das schmutzige Wasser und die schmutzige Luft, Gott weiß, was für Krankheiten man sich in der Großstadt holen konnte, und sie dankte Gott, daß Patty und Stan an einem so gesunden Ort lebten (für Mary Blum war der gesamte Süden, einschließlich Atlanta, ländliches Gebiet). Ihre Tante Margaret hatte wieder Ärger mit dem Elektrizitätswerk, Stella Flanagan hatte geheiratet, Richie Huber war wieder einmal von einer Arbeitsstelle entlassen worden...

Und inmitten dieses ganzen Geschwafels, mitten in einem Absatz, völlig zusammenhanglos, hatte Mary Blum die gefürchtete Frage gestellt: >Wann werdet Stan und Du uns denn nun zu Großeltern machen? Wir sind schon ganz darauf eingestellt, ihn (oder sie) gründlich zu verwöhnen. < Und gleich darauf ging es weiter mit Richie Hubers verlorenem Job und mit dem Bruckner-Mädchen von nebenan, das von der Schule heimgeschickt worden war, weil es einen so kurzen Rock angehabt hatte, daß der Schlüpfer hervorschaute.

Patty war an jenem Tag ohnehin niedergeschlagen. In ihrer neuen Umgebung noch nicht heimisch, hatte sie Heimweh nach Traynor. Nachdem sie den Brief ihrer Mutter gelesen hatte, ging sie in ihr Schlafzimmer, legte sich auf die Matratze am Fußboden - das Bettgestell war noch nicht geliefert worden - und weinte fast zwanzig Minuten lang. Sie vermutete, daß dieses Weinen früher oder später unvermeidlich gewesen wäre; der Brief ihrer Mutter hatte den Zeitpunkt nur vorverlegt, das war alles.

Stanley wollte Kinder. Sie wollte Kinder. Sie stimmten in dieser Hinsicht ebenso überein wie in bezug auf ihren Lebensstil, ihre Vorliebe für Filme mit Woody Allen und ihren unregelmäßigen Besuch der drei Meilen entfernten Synagoge, ihre politischen Ansichten, ihre Abneigung gegen Marihuana und vieles andere. Das zusätzliche Zimmer in dem kleinen Haus, das sie in Traynor gemietet hatten, war sozusagen zweigeteilt: die rechte Seite gehörte ihr, für ihre Näharbeiten; die linke Seite diente ihm als Lesezimmer

- aber ihnen beiden war eines so klar, daß sie kaum darüber reden mußten: eines Tages würde dieses Zimmer dem Kind - Andy oder Jenny - gehören. Aber weder Andy noch Jenny stellten sich ein. Die Singer-Nähmaschine und die Weidenkörbe mit Stoffen und Schnittmustern mußten nie einem Kinderbettchen Platz machen, und im Bad, im Schränkchen unter dem Ablauf, lagen nach wie vor ihre Hygienebinden. Sie bekam ihre Periode mit deprimierender Regelmäßigkeit.

1976, drei Jahre, nachdem sie ihre Antibabypille weggeworfen hatte, suchten Stanley und sie einen Arzt namens Harkavey in Atlanta auf. »Wir möchten wissen, ob mit uns etwas nicht in Ordnung ist«, erklärte Stan, »und wenn ja, ob man etwas dagegen tun kann.«

Es wurden alle erforderlichen Tests gemacht; sie zeigten, daß Stans Sperma lebte und gut war, daß Patty fruchtbar war und alle Kanäle, die offen sein mußten, das auch tatsächlich waren. Alles war in bester Ordnung. Nur war in Wirklichkeit eben nichts in Ordnung.

Harkavey, der keinen Ehering trug und das offene, muntere und frische Gesicht eines College-Studenten hatte, der gerade vom Skiurlaub in Colorado zurückgekehrt ist, erklärte ihnen, daß sie mit ihrem Problem keineswegs allein dastünden. In solchen Fällen gäbe es anscheinend irgendeine psychologische Wechselwirkung. Offensichtlich könne man sich ein Kind einfach zu sehr wünschen. Sie sollten sich entspannen. Sie sollten, wenn sie könnten, beim Sex nicht an Zeugung denken.

Stan war auf dem Heimweg mürrisch. Patty fragte ihn nach dem Grund.

»Ich denke während der Sache nie an Zeugung«, sagte er.

»Du hast ihm also nicht geglaubt«, erwiderte sie und versuchte, nicht zu lachen.

»Ich habe heute eine wichtige Wahrheit über mich selbst herausgefunden«, sagte er. »Offensichtlich ist es mir unmöglich, einem Arzt zu vertrauen, der aussieht wie ein Student und der Turnschuhe trägt.«

Nun mußte sie doch lachen, obwohl sie sich ein bißchen einsam und ängstlich fühlte. Und in jener Nacht, als sie glaubte, Stan wäre schon längst eingeschlafen, erschreckte er sie, als er plötzlich im Dunkeln sprach: mit einer tonlosen Stimme sprach, die vor unterdrückten Tränen schwankte. »Ich bin derjenige«, sagte er, »ich bin schuld daran.«

Sie nahm ihn ganz fest in ihre Arme.

»Stanley, red doch keinen solchen Unsinn«, sagte sie. Aber sie hatte Herzklopfen - starkes Herzklopfen. Sie war nicht einfach nur bestürzt über seine Worte; es war vielmehr so, als hätte er ihre geheimsten Gedanken gelesen, eine heimliche Überzeugung, für die sie keine vernünftige Erklärung hätte anführen können: sie spürte - sie wußte - daß etwas tatsächlich nicht in Ordnung war... und es lag nicht an ihr. Es lag an ihm, wie er soeben gesagt hatte. Etwas in ihm war schuld daran.

»Sei kein solcher Dummkopf«, flüsterte sie, den Kopf an seiner Schulter. Er schwitzte etwas, und sie begriff plötzlich, daß er Angst hatte, daß die Angst in Kältewellen aus ihm entwich; nackt neben ihm zu liegen war plötzlich so, als stünde man nackt vor einem offenen Kühlschrank.

»Ich rede keinen Unsinn«, sagte er mit jener tonlosen, tränenerstickten Stimme, »und das weißt du. Es ist meine Schuld. Aber ich weiß nicht, warum.«

»Du kannst nichts Derartiges wissen.« Ihre Stimme war barsch, zänkisch

- so hörte sich die Stimme ihrer Mutter an, wenn diese Angst hatte. Und während sie noch mit ihm schimpfte, überlief sie ein heftiger Schauder. Stanleys Arme schlössen sich fester um sie. Er hatte ihre Angst bemerkt.

»Ich weiß es, und du weißt es auch«, sagte er wieder. Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Manchmal glaube ich, den Grund zu kennen. Manchmal habe ich einen Traum, einen bösen Traum, und ich erwache und denke: >Jetzt weiß ich es. Ich weiß, was nicht in Ordnung ist.< Aber dann verblaßt alles sofort wieder. Wie das bei Träumen so üblich ist.«

Sie wußte, daß er manchmal schlecht träumte. Mindestens ein halbes Dutzend Mal war sie aufgewacht, weil er stöhnte und um sich schlug. Vermutlich hatte sie seine Alpträume aber auch manchmal verschlafen. Wenn sie ihn nach dem Inhalt dieser Träume fragte, sagte er immer dasselbe: »Ich kann mich nicht erinnern.« Dann griff er nach seinen Zigaretten, rauchte im

Bett und beruhigte sich allmählich. »Es wird vorübergehen«, hatte er ihr ein- oder zweimal, nach besonders schlimmen Alpträumen, gesagt. »Sie gehen immer vorüber, Liebling.«

Ihre Kinderlosigkeit ging nicht vorüber, und am Abend des 27. Mai 1985, am Abend des Bades, waren sie immer noch kinderlos. Ihre Binden lagen weiterhin am gewohnten Platz auf dem Regal unter dem Waschbecken im Bad; sie bekam ihre Periode so regelmäßig wie eh und je. Ihre Mutter hatte aufgehört, in ihren Briefen Fragen zu stellen; und auch, wenn Stan und Patty zweimal im Jahr zu Besuch kamen, fragte sie nichts und machte keine lustigen Bemerkungen mehr, ob sie denn auch ihr Vitamin E einnähmen. Vielleicht hatte sie den Schmerz in Pattys Augen gesehen oder zwischen den Zeilen von Pattys kurzen, fröhlichen Briefen gelesen. Stanley war ebenfalls nie wieder darauf zurückgekommen, aber manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, sah sie einen Schatten auf seinem Gesicht. So als versuche er, sich an etwas zu erinnern - wie etwa an einen Alptraum nach dem Aufwachen.

Abgesehen von dieser einen Wolke verlief ihr gemeinsames Leben jedoch sehr angenehm, bis zum Abend des 27. Mai, als mitten in der Show >Family Feud< das Telefon läutete. Patty hatte sechs von Stans Hemden, zwei ihrer Blusen, ihr Nähgarn und ihre Knopfschachtel neben sich; Stan hatte den Roman von William Denbrough in der Hand. Auf dem Titelblatt war ein knurrendes Tier abgebildet, auf der hinteren Einbandseite ein Mann mit Glatze und dicker Brille.

Das Telefon läutete.

Stan, der näher am Apparat saß als Patty, nahm den Hörer ab und meldete sich wie immer: »Hallo, hier bei Uns.«

Er lauschte, und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine Falte. »Wer spricht dort? Was sagten Sie?«

Einen Moment lang wurde Patty von Angst überwältigt. Später log sie aus Scham und erzählte ihren Eltern, daß sie von dem Augenblick an, als das Telefon läutete, gewußt habe, daß etwas nicht in Ordnung sei; in Wirklichkeit hatte es nur diese kurze Sekunde der Angst gegeben, als sie flüchtig von ihrer Näharbeit aufgeblickt hatte. Aber vielleicht stimmte es dennoch. Vielleicht hatten sie beide lange vor diesem Telefonanruf geahnt, daß etwas auf sie zukam, etwas, das nicht zu dem hübschen Haus paßte, das so geschmackvoll hinter Eibenhecken lag.

»Ist es Mom?« flüsterte sie ihm in jenem Augenblick des Erschreckens zu. Vielleicht hatte ihr Vater mit seinen zwanzig Pfund Übergewicht und seinem häufigen >Bauchweh<, wie er es nannte, einen Herzinfarkt erlitten.

Stan schüttelte den Kopf und lächelte dann über etwas, das der Anrufer gesagt hatte. »Du!... Na so was! Mike! Wie...«

Er verstummte wieder, und sein Gesicht wurde ernst, während er zuhörte. Sie erkannte - oder glaubte es zumindest - seinen analytischen Gesichtsausdruck, den er immer hatte, wenn jemand ihm ein Problem vortrug oder eine plötzliche Veränderung in irgendeiner Situation erklärte. Der Anrufer war folglich irgendein Klient. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu, wo eine Frau aus Omaha gerade Quizmaster Richard Dawson abküßte. Während sie nach einem passenden schwarzen Knopf für Stans blaues Baumwollhemd suchte, registrierte sie im Hinterkopf, daß Stanley sich auf ein gelegentliches Brummen und ein »Bist du sicher?« beschränkte. Schließlich sagte er: »In Ordnung, Mike. Ich glaube, ich verstehe alles. Ich... nein, das kann ich nicht versprechen, aber ich werde darüber nachdenken. Weißt du, daß... was? Natürlich erinnere ich mich. Ja... sicher.. . danke... ja. Ja. Wiedersehn.« Er legte den Hörer auf.

Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und sah, daß er über den Fernseher hinweg ins Leere starrte. Auf dem Bildschirm applaudierte das Publikum jetzt der Familie Ryan, die soeben 280 Punkte erreicht hatten. Im Wohnzimmer runzelte Stanley die Stirn. Sein Gesicht kam ihr ein wenig bleich vor, aber sie schob das auf die Tischlampe mit ihrem grünen Glasschirm.

»Wer war das, Stan?«

»Hmmm?« Er sah sie zerstreut an. Zumindest hatte sie es damals für Zerstreutheit gehalten. Erst später, als sie sich die Szene immer und immer wieder vor Augen führte, hatte sie begriffen, daß es der Gesichtsausdruck eines Mannes gewesen war, der sich von der Realität löste und dabei ganz methodisch vorging, ein Tau nach dem anderen lockerte. Das Gesicht eines Mannes, der sich aus den blauen Gefilden entfernt und ins Schwarze begibt.

»Wer hat angerufen?«

»Niemand«, sagte er und stand auf. »Ich glaube, ich werde ein Bad nehmen.«

»Um sieben?«

Er gab keine Antwort und verließ das Zimmer. Vielleicht hätte sie etwas gesagt, hätte ihn gefragt, ob etwas nicht in Ordnung sei, wenn nicht gerade die nächsten Kandidaten vorgestellt worden wären und sie außerdem immer noch auf der Suche nach einem schwarzen Knopf für Stans blaues Hemd gewesen wäre. Und dabei hatte letzten Monat die Knopfschachte! jede Menge schwarzer Knöpfe enthalten.

So ließ sie ihn also gehen und dachte erst wieder an ihn, als im Fernsehen die Werbung anfing und sie seinen leeren Sessel sah. Sie hatte gehört, wie oben im Bad das Wasser in die Wanne eingelassen wurde und wie das Plätschern etwa fünf Minuten später aufhörte, und sie glaubte auch gehört zu haben, als Stan in die Wanne stieg... aber nun fiel ihr plötzlich ein, daß sie kein Öffnen und Schließen der Kühlschranktür gehört hatte. Sie legte ihre Näharbeit zur Seite, ging in die Küche und holte eine Dose Bier. Jemand hatte ihn angerufen und ihm irgendein großes fettes Problem aufgehalst, und sie hatte kein einziges mitfühlendes Wort für ihn übriggehabt. Hatte sie versucht, ihm beizustehen? Nein. Sie hatte ihn, ehrlich gesagt, kaum beachtet. Und alles wegen dieser blöden Fernsehsendung!

Sie würde ihm jetzt ein Bier bringen, sich neben ihn auf den Wannenrand setzen, ihm den Rücken massieren, die Geisha spielen und seine Haare waschen, wenn er das wollte; und sie würde herausfinden, worin das Problem bestand - oder wer dieses Problem war.

Sie ging mit der Bierdose in der Hand die Treppe hinauf und war zum erstenmal wirklich beunruhigt, als sie sah, daß die Badezimmertür geschlossen war. Nicht einfach angelehnt, sondern fest geschlossen. Sie konnte sich nicht erinnern, daß Stan jemals beim Baden die Tür geschlossen hatte. Es

war sogar so eine Art Spiel - die offene Tür war für sie eine Einladung her einzukommen und ihm den Rücken zu schrubben... oder alles mögliche zu tun, was ihr gerade einfiel.

Sie klopfte mit den Nägeln leicht an und nahm überdeutlich das kratzende Geräusch auf dem Holz wahr. An die Badezimmertür zu klopfen, wie ein Gast anzuklopfen, das war mit Sicherheit etwas, was sie in ihrem ganzen Eheleben noch nie getan hatte - weder hier noch an irgendeiner anderen Tür im Haus.

Ihre Beunruhigung wuchs, und plötzlich mußte sie an den Carson Lake denken. Als Mädchen war sie oft im See geschwommen, und um dem. August herum war das Wasser fast so warm wie in einer Badewanne gewesen ... aber dann geriet man plötzlich in eine kalte Strömung, spürte, wie die Temperatur von den Hüften abwärts um zwanzig Grad sank, und vor Überraschung und Wonne überlief einen ein Schauder. Abgesehen von der Wonne, fühlte sie sich jetzt genauso, als wäre sie in eine kalte Strömung geraten; nur war diese kalte Strömung nicht unterhalb ihrer Hüften und kühlte ihre langen Teenagerbeine in der dunklen Tiefe des Sees; diese kalte Strömung ließ ihr fast das Herz im Leibe gefrieren.

»Stan? Stanley?«

Diesmal klopfte sie nicht nur mit den Nägeln. Sie pochte an die Tür. Keine Antwort. Sie hämmerte gegen die Tür.

»Stanley?«

Ihr Herz. Ihr Herz befand sich nicht mehr in der Brust. Es klopfte laut in ihrer Kehle, so daß sie kaum noch atmen konnte.

»Stanley?«

In dem Schweigen, das ihrem Schrei folgte, hörte sie ein Geräusch, das sie vollends in Panik versetzte. Und dabei war es nur ein leises, ganz harmloses Geräusch. Ein tropfender Wasserhahn. Plink - Pause - plink - Pause -plink...

Sie sah im Geiste vor sich, wie sich die Tropfen am unteren Rand des Wasserhahns bildeten, dicker und schwerer wurden und herunterfielen.

Plink.

Nur dieses Geräusch. Kein anderes. Und doch war sie mit einem Schlag fürchterlich sicher, daß Stanley tot war. Er hatte es sich im heißen Wasser bequem gemacht und plötzlich einen Herzschlag erlitten, einen ebenso bösartigen wie unerwarteten Hammerschlag im Innern seiner Brust. Stanley war tot. Sie wußte es.

Stöhnend packte sie den Türknopf aus geschliffenem Glas und drehte ihn. Die Tür bewegte sich immer noch nicht. Sie war abgeschlossen. Und plötzlich schössen drei Niemals Patty Uris durch den Kopf: Stanley nahm am frühen Abend niemals ein Bad, Stanley machte niemals die Badezimmertür zu, und er hatte sich mit hundertprozentiger Sicherheit noch niemals vor ihr eingeschlossen.

War es möglich, so fragte sie sich verrückterweise, Vorbereitungen für einen Herzschlag zu treffen?

Patty fuhr sich mit der trockenen Zunge über die Lippen und rief wieder seinen Namen. Keine Antwort, nur das stetige enervierende Tropfen des Wasserhahns. Sie stellte fest, daß sie immer noch die Bierdose in der Hand hielt. Sie starrte sie albern an, so als hätte sie noch nie im Leben eine Bierdose gesehen. Und tatsächlich schien sie so eine noch nie gesehen zu haben, denn als sie mit den Augen zwinkerte, verwandelte sich die Dose in einen Telefonhörer, so schwarz und bedrohlich wie eine Schlange.

»Kann ich Ihnen helfen, Madam?« zischte die Schlange ihr zu, und Patty schleuderte sie auf die Telefongabel, trat zurück und wischte sich die Hand an ihrer Bluse ab. Sie blickte um sich und stellte fest, daß sie im Wohnzimmer stand; sie begriff, daß sie total in Panik geraten war. Jetzt erinnerte sie sich wieder, die Bierdose vor der Badezimmertür fallen gelassen zu haben und die Treppe heruntergerast zu sein, aber sie erinnerte sich nur vage. Wieder stieg Panik in ihr auf, erfüllte sie wie eine randvolle Tasse bitteren schwarzen Kaffees, und sie schloß die Augen und versuchte verzweifelt, dagegen anzukämpfen. Sie stand da wie eine Statue, leichenblaß, mit laut pochender Halsschlagader.

Sie wußte noch, daß sie nach unten gerannt - nein eher getaumelt war, aber wen hatte sie anrufen wollen? Absurderweise dachte sie: Ich möchte die Schildkröte anrufen, aber die Schildkröte konnte uns nicht helfen. Es spielte keine Rolle. Sie hatte die Null gewählt und war danach wieder zu sich gekommen. Aber Stan, Stan hatte sich im Bad eingeschlossen, er antwortete nicht, jemand mußte erfahren, daß Stan nicht antwortete, weil er bewußtlos oder tot war. Jemand mußte ihr helfen. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Vielleicht...

Sie steckte ihren Handrücken in den Mund und biß kräftig zu. Sie versuchte nachzudenken, versuchte, sich zum Denken zu zwingen.

Die Schlüssel. Die Schlüssel im Küchenschrank. Stans methodische Art.

Sie begab sich in die Küche und stieß dabei mit dem Fuß gegen die Knopfschachtel neben ihrem Stuhl. Einige Knöpfe flogen heraus und funkelten im Lampenlicht wie Glasaugen. Sie ging an Stans Fernsehsessel vorbei; die Fußstütze war noch hochgestellt, William Denbroughs Buch lag aufgeschlagen auf der Seitenlehne.

Auf der Innenseite der Hängeschranktür über der Spüle war ein lackiertes Schlüsselbrett von der Form eines großen Schlüssels angeschraubt - einer von Stans Klienten hatte es in seiner Werkstatt angefertigt und ihnen vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt. Daran hingen an kleinen Haken jeweils zwei Exemplare von allen Schlüsseln im Haus, von Stan ordentlich beschriflet garage, dachboden, unteres bad, oberes bad, vorderTÜR, HINTERTÜR.

Patty griff nach dem Schlüssel mit der Aufschrift oberes bad und rannte auf die Treppe zu, zwang sich dann aber, langsam zu gehen. Wenn sie rannte, kehrte die Panik unweigerlich zurück, und sie war einer Panik sowieso schon viel zu nahe.

Sie ging die Treppe hinauf und zu der geschlossenen Badezimmertür.

»Stan?« rief sie und rüttelte gleichzeitig wieder an der Tür. Sie hatte plötzlich noch mehr Angst als zuvor, wollte aber den Schlüssel nicht benutzen, weil das irgendwie etwas so Definitives an sich hatte.

Aber die Tür war immer noch verschlossen, und das enervierende Geräusch des tropfenden Wasserhahns war die einzige Antwort, die sie bekam.

Ihre Hand zitterte, und es dauerte eine Weile, bevor es ihr gelang, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Sie drehte ihn und hörte, wie sich das Schloß öffnete. Sie fummelte am Türknopf herum, dann stieß sie die Tür weit auf.

»Stanley? Stan...?«

Sie blickte zur Badewanne mit dem am hinteren Ende zurückgeschobenen blauen Duschvorhang und verstummte. Einen Augenblick später würde sie zu schreien beginnen, und Anita MacKenzie würde - in der Küche, wo sie gerade Fisch wusch - im Nebenhaus ihre Schreie hören und die Polizei anrufen, in der festen Überzeugung, daß jemand ins Haus der Uris eingebrochen war und daß dort Menschen umgebracht wurden.

Aber in diesem ersten Augenblick stand Patty Uris einfach da, die Hände vor ihrem dunklen Rock gefaltet, mit weißem, entsetztem Gesicht. Sie sah in diesem Moment sonderbar jung aus. Sie sah aus wie ein Schulmädchen, das seine Aufgaben nicht gemacht hat und vom Lehrer vor der ganzen Klasse getadelt wird. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihr Mund versuchte Schreie zu artikulieren, die noch zu groß waren, um sich durch ihre Stimmbänder quetschen zu können.

Das von Neonröhren beleuchtete Badezimmer war sehr hell. Die Wanne war mit rosafarbenem Wasser gefüllt. Stanley lag gegen die Kacheln gelehnt da, den Kopf zur Seite geneigt, die toten Augen nach oben starrend, den Mund weit aufgerissen - wie eine sperrangelweit geöffnete Tür. Sein Gesicht drückte grenzenloses Entsetzen aus. Eine Packung Rasierklingen lag auf dem Rand der Wanne. Er hatte sich die Unterarme vom Ellbogen bis zum Handgelenk auf der Innenseite tief aufgeschlitzt und mit Querschnitten entlang des Handansatzes zu >T

Ein Tropfen sammelte sich am Wasserhahn. Er wurde dicker. Er wurde schwanger, könnte man sagen. Er funkelte. Er fiel hinab. Plink.

Er hatte seinen rechten Zeigefinger in sein eigenes Blut getaucht und ein einziges Wort auf die blauen Kacheln über der Badewanne geschrieben -zwei riesige zittrige Buchstaben. Vom zweiten Buchstaben dieses Wortes führte eine blutige Fingerspur im Zickzack nach unten - seine Hand mußte abgeglitten sein - jetzt schwamm sie auf der Wasseroberfläche. Patty dachte, daß Stanley dieses Wort geschrieben haben mußte, als ihm schon das Bewußtsein schwand. Es kam ihr vor wie ein allerletzter Aufschrei.

Es

Wieder fiel ein Tropfen in die Badewanne.

Plink.

Das gab Patty Uris den Rest. Sie fand endlich ihre Stimme wieder, und während sie in die toten Augen ihres Mannes starrte, fing sie zu schreien an.

2. Richard Tozier macht sich aus dem Staub

Rich Tozier hatte das Gefühl, seine Sache sehr gut zu machen, bis er sich dann plötzlich übergeben mußte.

Er hörte sich alles an, was Mike Hanion ihm erzählte, sagte das Richtige, beantwortete Mikes Fragen und stellte sogar selbst einige. Er war sich selbst vage bewußt, daß er mit einer seiner Stimmen redete - nicht mit einer jener übertriebenen, komischen Stimmen, die er manchmal im Radio von sich gab (im Augenblick spielte er am liebsten Kinky Briefcase, den Sexualberater, und die Rundfunkhörer waren davon fast ebenso begeistert wie von seinem Colonel Buford Kissdrivel, dessen sie nie überdrüssig wurden), sondern mit einer warmen, ruhigen, zuversichtlichen Stimme. Einer Mir-geht-es-gut-Stimme. Sie hörte sich großartig an, aber sie war eine Lüge. Ebenso wie seine sämtlichen anderen Stimmen Lügen waren.

»Erinnerst du dich noch an die ganze Sache, Rich?« fragte Mike ihn.

»Sehr wenig«, antwortete Rich. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Genügend, nehme ich an.«

»Wirst du herkommen?«

»Ich komme«, sagte Rich und legte den Hörer auf.

Er saß in seinem Arbeitszimmer, lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und starrte auf den Pazifischen Ozean hinaus. Einige Kinder mit Surfbrettern spielten im seichten Wasser Wellenreiten. Die Brandung war an diesem Tag nicht sehr stark.

Die Uhr auf dem Schreibtisch - eine teure L. E. D.-Quartzuhr, die er von einer Schallplattenfirma geschenkt bekommen hatte - zeigte 17.09 Uhr an. Es war der 27. Mai 1985. Dort, von wo Mike angerufen hatte, war es natürlich drei Stunden später. Bereits dunkel. Bei diesem Gedanken bekam er eine Gänsehaut und begann rasch, Verschiedenes zu erledigen. Zuallererst legte er natürlich eine Schallplatte auf - griff aufs Geratewohl aus den Tausenden von Platten in den Regalen eine heraus. Rock and Roll war ebenso ein Teil seines Lebens wie die Stimmen, und es fiel ihm schwer, etwas ohne Musik zu tun - je lauter sie war, desto besser. Die blindlings herausgeholte Platte erwies sich als Motown-Retrospektive. Der kürzlich verstorbene Marvin Gaye, der nun auch in der >Rock-Show der Toten< - wie Rich sich manchmal ausdrückte - auftreten konnte, sang >/ Heard It Through the Grapevine<: »Ooooh-hoo, I bet your wond'rin' how I knew...«

»Nicht übel«, sagte Rich und lächelte sogar ein wenig. Dies war eine schlimme Sache, und im ersten Augenblick hatte sie ihn zugegebenermaßen fast umgehauen, aber nun hatte er das Gefühl, damit fertig werden zu können. Nur keine Aufregung!

Er begann Vorbereitungen für die Reise nach Hause zu treffen. Und irgendwann während der nächsten Stunde wurde ihm bewußt, daß es so war, als wäre er gestorben, hätte aber die Erlaubnis erhalten, alle Beerdigungsformalitäten selbst zu erledigen und letzte geschäftliche Dispositionen zu treffen. Und er hatte das Gefühl, seine Sache sehr gut zu machen. Er rief in seinem üblichen Reisebüro an, obwohl er befürchtete, daß Miß Feeny um diese Zeit schon Feierabend hatte. Zum Glück war sie aber noch im Büro. Er erklärte ihr, worum es ging, und sie bat ihn um eine Viertelstunde Geduld.

»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Carol«, sagte er. Sie waren in den letzten drei Jahren dazu übergegangen, sich mit Rich und Carol anstatt mit Mr. Tozier und Miß Feeny anzureden - eigentlich komisch, nachdem sie sich nur vom Telefon her kannten.

»Okay, den können Sie gleich ableisten«, sagte Carol. »Spielen Sie mal Kinky Briefcase für mich.«

Sofort legte Richie los: »Hier ist Kinky Briefcase, Ihr Sexualberater - neulich kam ein Mann zu mir und wollte wissen, was das Schlimmste daran sei, wenn man AIDS bekomme.« Seine Stimme war etwas tiefer geworden; gleichzeitig hatte sie einen munteren Klang bekommen - es war ohne jeden Zweifel eine amerikanische Stimme, und doch beschwor sie irgendwie das Bild eines wohlhabenden Kolonialbriten hervor, der ebenso charmant wie dumm war. Richie hatte selbst nicht die geringste Ahnung, wer Kinky Briefcase eigentlich war, aber er war überzeugt davon, daß der Mann weiße Anzüge trug, Esquire las und irgendein Zeug trank, das in großen Gläsern serviert wurde und wie Shampoo mit Kokosnußaroma schmeckte. »Ich hab' ihm ohne Zögern geantwortet - >Am allerschlimmsten ist der Versuch, Ihrer Mutter zu erklären, wie Sie sich bei einem Mädchen auf Haiti angesteckt haben .< Das war's für heute. Bis zum nächsten Mal verabschiedet sich von Ihnen Ihr Sexualberater Kinky Briefcase, dessen Wahlspruch lautet: >Nur nach Kinkys Visitenkarte greifen, dann klappt's bald wieder mit dem Steifen«

Carol Feeny kreischte vor Lachen. »Das ist perfekt! Perfekt! Mein Freund sagt, er glaube nicht, daß Sie diese Stimmen so einfach ohne Hilfsmittel hinkriegen, er sagt, Sie müßten dazu irgendso'n Gerät zur Stimmenveränderung oder so was Ähnliches haben...«

»Talent und sonst nichts, meine Liebe«, sagte Rich. Kinky Briefcase war abgetreten. Jetzt war W. C. Fields am Apparat - Zylinder, rote Nase, Golfsack und so weiter. »Ich bin mit Talent so vollgepumpt, daß ich sämtliche Körperöffnungen verstopfen muß, damit es nicht aus mir rausläuft wie... na ja, damit es nicht ausläuft.«

Carol lachte wieder schallend, und Rich schloß die Augen. Sein Kopf begann zu schmerzen.

»Seien Sie ein Engel und tun Sie Ihr Möglichstes«, sagte er - immer noch mit der Stimme von W. C. Fields - und legte den Hörer auf, während sie noch lachte.

Jetzt mußte er wieder er selbst sein, und das war schwierig - es fiel ihm von Jahr zu Jahr schwerer. Es war viel einfacher, tapfer zu sein, wenn man jemand anderer war.

Er stöberte gerade nach einem Paar bequemer Mokassins und war nahe daran, sich mit Segeltuchschuhen zu begnügen, als das Telefon klingelte. Carol hatte in Rekordzeit alles arrangiert. Ein Erster-Klasse-Ticket für den Nonstop-Flug nach Boston war für ihn reserviert. Er würde Los Angeles um 21.03 Uhr verlassen und gegen 5 Uhr morgens im Logan-Flughafen landen. Um halb acht konnte er dann mit Delta von Boston nach Bangor in Maine weiterfliegen, wo er um 8.20 Uhr ankommen würde. Carol hatte bei Avis für ihn eine große Limousine vorbestellt, und vom Flughafen Bangor bis Derry seien es nur 26 Meilen, erklärte sie ihm.

Nur 26Meilen? dachte Rich. Ist es nicht viel weiter? Na ja, in Meilen stimmt's vermutlich, Carol. Aber Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie weit es wirklich bis nach Derry ist, und ich auch nicht. Aber, o Gott, o mein Gott, ich werdees herausfinden.

»Ich habe kein Hotelzimmer für Sie bestellt, weil ich nicht wußte, wie lange Sie in Derry bleiben«, sagte Carol. »Soll ich...«

»Nein, danke, das erledige ich selbst.«

Gleich darauf rief er die Fernsprechauskunft an, um festzustellen, ob das Derry Town House noch existierte. O Gott, das war nun wirklich ein Name aus der Vergangenheit. Seit wieviel Jahren hatte er nicht mehr an das Derry Town House gedacht? Seit zehn - zwanzig - fünfundzwanzig Jahren? So verrückt es auch zu sein schien, es mußte wirklich mindestens 25 Jahre her sein, und wenn Mike nicht angerufen hätte, hätte er vermutlich überhaupt nie mehr im Leben daran gedacht. Und doch hatte es einmal eine Zeit gegeben, da er jeden Tag auf dem Schulweg an dem großen roten Ziegelbau vorbeiging - und manchmal rannte er auch daran vorbei, während Henry Bo-wers und Belch Huggins und jener andere große Junge, Victor Sowieso, ihn verfolgten und brüllten: Wir kriegen dich schon noch, Dreckskerl! Kriegen dich schon noch, du Arschloch! Kriegen dich schon noch, Vierauge! Aber hatten sie ihn jemals wirklich erwischt?

Er versuchte noch, sich daran zu erinnern, als die Fernsprechauskunft sich meldete.

»Ich hätte gern eine Nummer in Derry, Maine...«

Derry! O Gott! Sogar das Wort klang in seinem Munde seltsam; es auszusprechen war so ähnlich, als würde man eine Antiquität küssen.

».. .und zwar die des Hotels >Derry Town House<.«

»Einen Moment bitte.«

Nichts zu machen. Es wird bestimmt nicht mehr da sein. Man wird es im Rahmen der Stadtsanierung abgerissen oder irgendeinem anderen Bestimmungszweck zugeführt haben. Vielleicht ist es auch abgebrannt, weil irgendein betrunkener Vertreter im Bett geraucht hat. Nicht mehr da, Rich - genauso wie die Brille, mit der Henry Bowers dich immer gehänselt hat. Wie heißt es doch noch in einem SpringsteenSong? >Glory days... gone in the wink of ayoung girl's eye.< Das Zwinkern eines jungen Mädchens... Welches Mädchen denn? Nun, natürlich Bev. Bev...

Aber wider jede Erwartung existierte das Town House noch, denn eine ausdruckslose, roboterartige Stimme gab ihm die Nummer durch: »9.. .4.. .1.. .8.. .2.. .8.. .2. Ich wiederhole: 9418282.«

Er wählte die Nummer des Hotels, das er zuletzt durch die Hornbrille seiner Kindheit gesehen hatte, hielt den Hörer an sein Ohr und blickte aus dem Fenster. Die Kinder am Strand waren verschwunden. Jetzt schlenderte ein Pärchen Hand in Hand am Wasser entlang. Das Bild hätte ein gutes Werbeplakat für Carols Reisebüro abgegeben, wenn die beiden nicht Brillenträger gewesen wären.

Wir kriegen dich schon noch, Vierauge! Und dann schlagen wir deine Brille kaputt!

Criss, fiel ihm plötzlich ein. Sein Familienname war Criss. Victor Criss.

O Gott, er wollte das doch gar nicht wissen, nicht im geringsten, aber das schien überhaupt keine Rolle zu spielen. Etwas ging dort unten in den Kellergewölben vor, dort unten, wo Rich Tozier seine Privatsammlung von Golden Oldies aufbewahrte. Türen öffneten sich.

Nur sind dort unten keine Schallplatten. Und du bist dort unten nicht der berühmte Discjockey Rich >Records< Tozier, Mann-der-tausend-Stimmen. Und das, was sich da öffnet... es sind keine richtigen Türen.

Er versuchte diese Gedanken abzuschütteln.

Ich muß mir nur ins Gedächtnis rufen, daß ich völlig okay bin. Ich bin okay, du bistokay, Rich Tozier ist okay. Er könnte jetzt nur eine Zigarette gebrauchen, weiter nichts.

Er hatte das Rauchen vor vier Jahren aufgegeben, aber im Moment könnte er eine Zigarette wirklich gut gebrauchen.

Dort unten sind keine Schallplatten, sondern Leichen. Du hast sie tief begraben, aber nun ereignet sich irgendein seltsames Erdbeben, und die Erde spuckt sie aus. Dort unten bist du nicht Rich >Records< Tozier; dort unten bist du nur Rich > Vier-auge< Tozier, und du bist dort zusammen mit deinen Freunden, und du machst dir vor Angst fast in die Hose. Und das sind keine Türen, und sie öffnen sich auch nicht einfach. Es sind Grüfte, Richie. Sie zerbersten, und die Vampire, die du tot glaubtest, fliegen alle wieder heraus.

Eine Zigarette, nur eine. Er wäre jetzt sogar mit einer Carlton zufrieden.

Kriegen dich schon noch, Vierauge! Und dann mußt du deine Scheißbüchertasche fressen!

»Town House«, ertönte eine Männerstimme mit Yankee-Akzent an seinem Ohr.

Rich erklärte der Stimme, er wolle ab dem nächsten Tag im Town House für sich eine Suite reservieren lassen.

»Für wie lange, Mr. Tozier?« Die Stimme hatte jetzt einen respektvollen Klang.

»Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe...«

Er unterbrach sich für einen kurzen Augenblick. Was genau hatte er denn in Derry zu tun? Vor seinem geistigen Auge tauchte der Junge mit der Büchertasche auf, der vor den rohen Burschen davonrannte, ein Junge mit Brille, ein schmaler Junge mit blassem Gesicht, das auf mysteriöse Weise jedem vorbeikommenden Raufbold zuzurufen schien:

Schlag mich! Schlag mich! Hier sind meine Lippen! Nur feste drauf schlag mir ein paar Zähne ein! Hier ist meine Nase! Blutig schlagen kannst du sie bestimmt, nun sieh mal zu, ob du sie auch brechen kannst! Box mir aufs Ohr, damit es anschwillt wie ein Blumenkohl! Spalt mir eine Augenbraue! Hier ist mein Kinn - hol aus zum K. o.! Hier sind meine Augen, so blau und groß hinter dieser verhaßten, verhaßten Brille, dieser Hornbrille, deren einer Bügel mit Heftpflaster geflickt ist. Schlag die Brillengläser ein! Treib einen Glassplitter in eines dieser Augen und schließ es für immer! Was soll's!

Er schloß die Augen und sagte: »Ich habe geschäftlich in Derry zu tun. Sagen wir mal eine Woche, mit der Möglichkeit zur Verlängerung.« Er gab dem Hotelangestellten die Nummer seiner American Express Card durch und legte auf. Dann rief er Steve Albrecht, den Programmdirektor von klad, an.

»Was ist los, Rich?« fragte Steve. Die letzten Umfragen hatten ergeben, daß klad der beliebteste Rock-Sender von Los Angeles war, und seitdem hatte Steve gute Laune.

»Es wird dir noch leid tun, gefragt zu haben«, sagte Rich. »Ich mach' mich nämlich aus dem Staub, Steve.«

»Du machst - was?« Am Klang seiner Stimme konnte man sich sein Stirnrunzeln nur allzu deutlich vorstellen. »Ich glaube, ich hab' dich nicht richtig verstanden.«

»Ich muß mich auf die Socken machen, Steve. Ich fahre weg.«

»Was soll denn das heißen? Du hast morgen nachmittag von zwei bis sechs Uhr deine Sendung, wie immer. Und um vier interviewst du sogar Clarence Clemons im Studio. Sagt dir der Name Clarence Clemons was, Rich? Kennst du zufällig >Come on and blow, Big Man

»Clemons kann genausogut von Mike O'Hara interviewt werden.«

»Clemons will aber nicht von Mike interviewt werden, Rich. Er will sich auch nicht mit Bobby Russell unterhalten. Und mit mir auch nicht. Clarence Clemons ist ein großer Fan von Buford Kissdrivel und von deinen anderen Stimmen. Er will nur mit dir reden, mein Freund. Und ich habe nicht die geringste Lust, daß ein bepißter 250 Pfund schwerer Saxophonist in meinem Studio Amok läuft!«

»Ich glaube nicht, daß er die schlechte Angewohnheit hat, Amok zu laufen«, sagte Rich. »Wir reden hier schließlich von Clarence Clemons, nicht von Keith Moon.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Rich wartete geduldig.

»Rich, das ist doch nicht dein Ernst, oder?« fragte Steve schließlich in klagendem Ton. »Falls nicht gerade deine Mutter gestorben ist oder du dir plötzlich einen Gehirntumor rausoperieren lassen mußt, nennt man so was nämlich 'ne Riesenschweinerei.«

»Ich muß weg, Steve.«

»Isf deine Mutter krank? Ist sie - was der Himmel verhüten möge - gestorben?«

»Sie ist vor zehn Jahren gestorben.«

»Hösf du einen Gehirntumor?«

»Nicht einmal Polypen in der Nase.«

»Das ist nicht komisch, Rich!«

»Nein.«

»Es gefällt mir gar nicht, daß du plötzlich solche Mucken hast!«

»Mir auch nicht, aber ich muß fort.«

»Wohin? Weshalb? Was ist denn los? Erzähl's mir, Rich.«

»Jemand hat mich angerufen... jemand, den ich vor langer Zeit gut gekannt habe. Weit weg von hier. Damals ist etwas passiert, und ich... ich habe etwas versprochen... Wir alle haben damals versprochen, daß wir zurückkehren würden, wenn dieses Etwas wieder beginnen würde. Und das ist jetzt der Fall.«

»Und um was geht es bei diesem Etwas?«

»Das darf ich dir nicht sagen.« Du würdest mich für verrückt halten, wenn ich dir die Wahrheit sagen würde: Ich erinnere mich nicht.

»Wann hast du dieses glorreiche Versprechen denn gegeben?«

»Vor 27 Jahren. Im Sommer 1958.«

Wieder trat ein langes Schweigen ein, und Rich wußte, daß Steve Al-brecht überlegte, ob Rich Tozier ihn zum Narren hielt oder aber plötzlich den Verstand verloren hatte.

»Vor 27 Jahren warst du zehn«, sagte Steve schließlich sanft.

»Knapp elf, um genau zu sein.«

Erneut langes Schweigen. Rich wartete geduldig.

»In Ordnung«, sagte Steve. »Ich werd' dafür sorgen, daß Mike für dich einspringt. Vielleicht kann auch Chuck Foster ein paar Sendungen übernehmen, wenn ich rausfinde, welches chinesische Restaurant er im Augenblick bevorzugt. Ich werd's tun, weil wir gemeinsam einen weiten Weg zurückgelegt haben. Aber ich werd' dir nie vergessen, daß du mich von einem Tag auf den anderen sitzenläßt, Rich.«

»Oh, nun übertreib mal nicht«, sagte Rich, aber sein Kopfweh wurde stärker. Er wußte genau, was er tat. Glaubte Steve etwa, er wüßte das nicht? »Ich brauche ein paar freie Tage, das ist alles. Du tust ja so, als würd' ich plötzlich auf unseren Beruf scheißen.«

»Ein paar freie Tage - aber wozu? Nur weil du als zehn- oder elfjähriger Junge etwas versprochen hast? Kinder in diesem Alter machen doch keine ernsthaften Versprechen, verdammt noch mal! Aber das ist noch nicht einmal der Kern der Sache, Rich. Dies hier ist keine Versicherungsgesellschaft. Das hier ist Show-Business, wenn auch in bescheidenem Umfang, und das weißt du selbst verdammt gut. Wenn du mir vor einer Woche Bescheid gesagt hättest, säße ich jetzt nicht mit diesem Telefonhörer in der einen Hand und einer Flasche Mylanta in der anderen da. Du hast mich in 'ne Riesenscheiße reingeritten, und das weißt du, also spiel gefälligst wenigstens nicht den Dummen!«

Steve war jetzt fast am Brüllen, und Rich schloß die Augen. Ich werd's dir nie vergessen, hatte Steve gesagt, und Rich vermutete, daß das stimmte. Aber Steve hatte auch gesagt, daß Kinder keine ernsthaften Versprechen machen könnten, und das stimmte keineswegs. Rich konnte sich nicht erinnern, worum es bei diesem Versprechen im einzelnen gegangen war - vielleicht wollte er sich auch gar nicht erinnern -, aber es war ihnen allen damals sehr ernst damit gewesen.

»Steve, ich muß fahren.«

»Ja. Und ich habe dir gesagt, daß ich die Sache irgendwie hinbiegen werde. Also fahr los! Fahr, du unzuverlässiger Arsch!«

»Steve, das ist doch lächer...«

Aber Steve war nicht mehr dran. Rich hatte seinen Hörer kaum aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte, und er wußte, daß es wieder Steve sein würde, noch wütender als eben. Es wäre sinnlos, sich jetzt weiter mit ihm zu unterhalten; dadurch würde alles nur noch schlimmer werden. Deshalb stellte er das Telefon mit Hilfe des Schalters an der Seite des Apparates einfach ab.

Er ging nach oben, holte zwei Koffer aus dem Schrank und packte ziemlich wahllos alles Mögliche hinein: Jeans, Hemden, Unterwäsche, Socken. Er holte sein Rasierzeug und ging wieder nach unten.

An einer Wohnzimmerwand hing ein Schwarzweißfoto von Big Sur, das Ansei Adams aufgenommen hatte. Rich klappte es an versteckten Scharnieren zurück, und dahinter kam ein Safe zum Vorschein. Er öffnete ihn und griff hinter all die Dokumente - dieses Haus in Malibu, zwanzig Acker Wald in Idaho, Aktien. Er hatte diese Aktien scheinbar aufs Geratewohl gekauft -sein Makler griff sich immer an den Kopf, wenn er Rich kommen sah -, aber sie waren mit den Jahren stetig gestiegen. Er war manchmal ganz überrascht bei dem Gedanken, daß er fast - nicht ganz, aber fast - ein reicher Mann war. Das hatte er der Rock-and-Roll-Musik zu verdanken... und natürlich auch seinen Stimmen.

Haus, Grundbesitz, Aktien, Versicherungspolice, sogar eine Kopie seines Testaments. Die Fäden, die einen fest an die vorgezeichnete Landkarte des Lebens binden, dachte er.

Ihn überkam plötzlich ein wilder Impuls, einfach ein Streichholz anzuzünden und das ganz verdammte Zeug zu verbrennen. Die Papiere in diesem Safe bedeuteten ihm plötzlich überhaupt nichts mehr.

In diesem Augenblick packte ihn zum erstenmal richtig der Schrecken -nicht vor etwas Übernatürlichem, sondern einfach bei der Erkenntnis, wie selbstmörderisch einfach es war, sein gewohntes Leben plötzlich aufzugeben. Es war furchterregend - man ging einfach fort.

Und hier war das Zeug, das man zum Weggehen brauchte, hinter den ganzen Papieren, die sozusagen nur Vettern zweiten Grades von Geld waren. Hier lag das Bargeld. 4000 Dollar.

Er holte es heraus und stopfte es in seine Hosentasche; und dabei fragte er sich, ob er dieses Geld - einen Fünfziger hier, einen Hunderter dort -wohl unbewußt für eine solche Gelegenheit zur Seite gelegt hatte. Geld zum Verduften.

»Mann, o Mann, das ist ja wirklich erschreckend«, sagte er vor sich hin und war sich kaum bewußt, daß er Selbstgespräche führte. Er starrte aus dem großen Fenster auf den Strand hinaus, der jetzt menschenleer war. Auch das Pärchen war verschwunden.

O ja, Doktor, jetzt fällt mir alles wieder ein. Erinnern Sie sich beispielsweise an Stanley Uris? Na und ob! Stanley Urin nannten ihn die großen Burschen. He, Urin, wohin des Weges, du verdammter Christusmörder? Soll einer deiner schwulen Freunde dir einen abwichsen?

Rich warf die Safetür zu und klappte das Foto davor wieder auf. Wann hatte er zuletzt an Stan Uris gedacht? Vor fünf Jahren? Vor zehn? Vor zwanzig? Rich war mit seiner Familie 1960 von Derry weggezogen, und wie schnell waren alle Gesichter aus seinem Gedächtnis entschwunden. Seine Bande. Diese jämmerliche Schar von Verlierern mit ihrem kleinen Klubhaus in den Barrens. Sie hatten sich selbst vorgespielt, sie wären Dschungelforscher, Angehörige des Marinebaubataillons der Navy, die auf einem Atoll im Pazifik eine Landebahn bauten und gleichzeitig die Japsen abwehrten; sie hatten Dammbaumeister, Cowboys und Weltraumfahrer gespielt, aber eigentlich hatten all ihre Spiele nur einen einzigen Sinn gehabt: es war ein Versteckspiel gewesen. Sie hatten sich vor den großen Jungen versteckt, vor Henry Bowers, Victor Criss und Belch Huggins und den übrigen, vor den Schlägertypen. Was für ein erbärmlicher Haufen waren sie doch gewesen - Stanley Uns, der Jude; Bill Denbrough, der außer >Hi-yo, Silver, los!< nichts sagen konnte, ohne so stark zu stottern, daß man fast wahnsinnig wurde; Beverly Marsh mit ihren blauen Flecken und ihren Zigaretten; Ben Hanscom, der so dick war, daß er fast wie eine menschliche Ausgabe von Moby Dick aussah; und Richie Tozier mit seinen dicken Brillengläsern und seinen hervorragenden Zeugnissen - außer im Betragen - und seinem Gesicht, das andere geradezu aufzufordern schien, es zu Brei zu schlagen; und die übrigen.

Wie ihm alles wieder einfiel... und nun stand er hier in seinem Wohnzimmer und zitterte hilflos wie ein Hundebastard im Sturm, denn das war nicht alles, woran er sich erinnerte. Es gab auch noch andere Dinge, Dinge, an die er seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte.

Blutige Dinge.

Eine Dunkelheit. Irgendeine Dunkelheit.

Das Haus an der Neibolt Street. Bill, der schrie: »Du hast m-m-meinen B-B-B-Bruder umgebracht, du D-D-Dreckskerl!«

Ein Geruch nach Abfällen und Scheiße und noch etwas anderem. Etwas viel Schlimmerem. Der Geruch des Monsters. sein Geruch dort unten im Dunkeln unter Derry, wo die Pumpen dröhnten...

Er rannte ins Bad, stieß unterwegs gegen seinen Fernsehsessel und wäre um ein Haar hingefallen. Er schaffte es gerade noch. Einen Augenblick später kniete er vor der Toilette und kotzte sich die Seele aus dem Leib und erinnerte sich plötzlich an Bill Denbroughs Bruder, erinnerte sich an Georgie, mit dem alles angefangen hatte, an Georgies Ermordung, die der Beginn von etwas so Schrecklichem gewesen war, daß er es völlig aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte, aber manchmal kehrt die Erinnerung an solche Dinge zurück, o ja, sie kehrt zurück, manchmal kehrt sie zurück.

Der Brechreiz verging, und Rich tastete blindlings nach der Wasserspülung. Wasser rauschte. Sein Abendessen, das er in heißen Klumpen ausgespuckt hatte, verschwand. Er lehnte seine Stirn an das kühle Porzellanbek-ken und begann zu weinen.

Er weinte zum erstenmal seit dem Tod seiner Mutter im Jahre 1975.

Ganz mechanisch hielt er die gewölbten Hände unter seine Augen. Seine Kontaktlinsen glitten heraus und lagen funkelnd auf seinen Handflächen.

Vierzig Minuten später warf er seine Koffer in den Kofferraum seines Wagens und fuhr rückwärts aus der Garage heraus. Er hatte ein Gefühl angenehmer Leere. Das Licht wurde schwächer. Er warf einen Blick auf sein Haus mit der neuen Bepflanzung, auf den Strand, auf das Wasser, das jetzt die Farbe heller Smaragde angenommen hatte, nur von einem schmalen Streifen Gold durchbrochen. Und plötzlich war er überzeugt davon, daß er das alles nie wiedersehen würde, daß er eine wandelnde Leiche war.

»Jetzt geht's nach Hause«, flüsterte Rich Tozier sich selbst zu. »Nach Hause... Gott steh mir bei, nach Hause.«

Er fuhr los und spürte wieder, wie leicht es gewesen war, durch einen unvermuteten Riß in einem - wie er gedacht hatte - festgefügten Leben zu schlüpfen - wie leicht es war, auf die dunkle Seite zu gelangen. Auf die dunkle Seite, wo sich alles Mögliche verbergen konnte.

Verbergen und warten.

3. Ben Hanscom nimmt einen Drink

Wenn jemand am Abend des 27. Mai 1985 den Mann hätte finden wollen, den >Time< vor kurzem als >vielleicht vielversprechendsten jungen Architekten in Amerika< bezeichnet hatte (> Urban Energy Conservation and the Young Turks<, in >Time<, 16. Oktober 1984), so hätte dieser Jemand Omaha in Nebraska auf der westlichen Ausfahrtstraße verlassen und etwa zwanzig Meilen von der Großstadt entfernt nach Norden in Richtung Swedeholm abbiegen müssen. In Swedeholm kreuzen sich die Highways 81 und 92. Man hätte auf Highway 92 und dann auf Highway 63 weiterfahren müssen, wo ein Schild auf die Abzweigungen nach der Kleinstadt Hemingford Home hinweist. Sie besteht praktisch nur aus einer einzigen Hauptstraße. Es gibt dort einen Friseur, einen Drugstore, ein Kino, ein billiges Kaufhaus und eine Bar namens >Red Wheel<. Auf dem kleinen schmutzigen Parkplatz hinter der Bar hätte man ein altes 1968er Cadillac-Kabriolett mit CB-An-tenne und im Innern des >Red Wheel< an der Bar einen schlaksigen Mann in Baumwollkleidung sehen können; einen Mann, der gut zehn Jahre jünger aussah, als er es mit seinen 38 Jahren tatsächlich war.

»Hallo, Mr. Hanscom«, sagte Ricky Lee und breitete eine Papierserviette vor ihm aus. Ricky Lee war ein wenig überrascht. Hanscom war noch nie an einem Abend unter der Woche ins >Red Wheel< gekommen. Hanscom trank hier regelmäßig jeden Freitagabend zwei Bier und jeden Samstagabend vier oder fünf; er fragte immer nach Ricky Lees drei Söhnen; und immer lag unter seinem Bierkrug ein Fünf-Dollar-Schein als Trinkgeld. Er war mit großem Abstand Ricky Lees Lieblingsgast, sowohl als Mensch als auch als interessanter Gesprächspartner. Die zehn Dollar pro Woche (und die 50 Dollar, die in den letzten fünf Jahren zu Weihnachten immer unter dem Bierkrug gelegen hatten) waren eine gute Sache; aber noch viel wertvoller waren die Unterhaltungen mit ihm.

Obwohl Hanscom ursprünglich aus Neuengland stammte und im Mittelwesten und in Kalifornien studiert hatte, hatte er doch einiges von der Extravaganz eines Texaners an sich. Ricky Lee konnte mit Ben Hanscoms Freitag- und Samstagbesuchen hundertprozentig rechnen, ganz egal, ob Hanscom gerade in New York einen Wolkenkratzer baute (er hatte dort drei Gebäude hingestellt), eine neue Kunstgalerie in Miami oder ein Geschäftsgebäude in Salt Lake City. Er hatte seinen eigenen Lear-Jet und seine private Landebahn auf seinem Grundstück in Junkins. Vor zwei Jahren hatte er einen Auftrag in London ausgeführt - ein neues Kommunikationszentrum für die BBC entworfen und gebaut - ein Gebäude, das in der britischen Presse immer noch heiß umstritten war. (>Abgesehen vom Gesicht meiner Schwiegermutter nach einer durchzechten Nacht das Häßlichste, was ich je gesehen habe<, schrieb ein Reporter in der >Times<; >Vielleicht das schönste Bauwerk, das in den letzten zwanzig Jahren erstellt wurde«, schrieb ein anderer.) Während dieses Auftrags hatte sich Ben Hanscom darauf beschränkt, nur an Samstagabenden ins >Red Wheel< zu kommen. Er verließ London mit der Concorde um 11 Uhr vormittags, hatte er dem faszinierten Ricky Lee erzählt, kam auf dem Kennedy-Airport in New York um 10.15 Uhr an - 45 Minuten vor seinem Abflug in London (»Mein Gott, das ist ja fast wie eine Reise durch die Zeit!« hatte Ricky Lee beeindruckt gesagt), nahm dann ein Taxi zur privaten Landebahn auf Long Island, wo sein Jet stand. Normalerweise landete er so gegen 14.30 Uhr in Junkins. Er machte ein zweistündiges Nickerchen, dann verbrachte er eine Stunde mit seinem Verwalter Markins. Anschließend tafelte er ausgiebig mit Freunden, und dann verbrachte er anderthalb Stunden im >Red Wheel< - immer an der Bar, immer allein, obwohl es weiß Gott genügend Frauen in diesem Teil von Nebraska gab, die nur allzugern mit ihm ins Bett gegangen wären. Dann gönnte er sich sechs Stunden Schlaf, bevor die Reise in umgekehrter Richtung und Reihenfolge wiederholt wurde. Ricky Lee hatte noch keinen Gast erlebt, der von dieser Geschichte nicht beeindruckt gewesen wäre. Vielleicht ist er schwul, hatte einmal eine Frau geäußert. Ricky Lee hatte sie gemustert, das kunstvoll frisierte Haar, die teure Maßkleidung, die Diamantohrringe und den Ausdruck ihrer Augen registriert und aus all dem geschlossen, daß sie irgendwo aus dem Osten - höchstwahrscheinlich aus New York - stammte, hier einen kurzen Pflichtbesuch bei Verwandten oder einer alten Schulfreundin abstattete und es kaum erwarten konnte, wieder wegzukommen. Nein, hatte er erwidert, Mr. Hanscom ist kein Homo. Sie hatte eine Packung Doral-Zigaretten aus ihrer Handtasche geholt, sich eine zwischen die glänzenden roten Lippen gesteckt und gewartet, bis er ihr Feuer gab. Woher wollen Sie das wissen? hatte sie mit leicht ironischem Lächeln gesagt. Ich weiß es einfach, hatte er erwidert. Und das stimmte. Er hätte ihr sagen können: Ich glaube, er ist der einsamste Mensch, dem ich je im Leben begegnet bin. Aber er hatte absolut keine Lust gehabt, das dieser New Yorker Dame auf die Nase zu binden, die ihn betrachtete wie einen komischen, aber ganz originellen Kauz.

»Hallo, Ricky Lee«, sagte Hanscom an diesem Abend. Er sah etwas blaß und verwirrt aus. Ricky Lee wußte, daß er die nächsten sechs oder acht Monate in Colorado Springs verbringen und den Baubeginn des Rocky-Mountains-Kulturzentrum überwachen sollte, eines ausgedehnten Komplexes aus sechs Gebäuden, die gegeneinander versetzt aus dem Abhang eines Berges herausragen sollten. Wenn es erst mal fertig ist, werden manche Leute sagen, es sehe so aus, als hätte ein Riesenkind seine Bausteine auf einer Treppe verstreut, hatte Ben Ricky Lee erzählt. Und sie werden nicht mal ganz unrecht haben. Aber ich glaube, daß es realisierbar ist. Es ist mein bisher ehrgeizigstes Projekt, und der Bau wird verdammt schwierig sein, aber ich glaube, es läßt sich machen.

Ricky Lee hielt es für möglich, daß Mr. Hanscom ein bißchen Lampenfieber hatte. Je berühmter man war, desto mehr wurde man schließlich aufs Korn genommen. Vielleicht hatte er aber auch einfach einen Virus abbekommen - in der ganzen Gegend ging gerade die Grippe um.

Ricky Lee griff nach einem Bierkrug und wollte zum Zapfhahn gehen.

»Nicht, Ricky Lee.«

Ricky Lee drehte sich überrascht um - und plötzlich war er sehr besorgt. Denn Mr. Hanscom sah nicht so aus, als hätte er Lampenfieber oder eine Grippe in den Knochen oder so was Ähnliches. Er sah aus wie ein Mann, der gerade einen furchtbaren Schlag erlitten hat und immer noch versucht zu begreifen, wer oder was ihm diesen Schlag versetzt hat.

Jemand ist gestorben. Er ist nicht verheiratet und spricht nie über seine Familie, aber irgend jemand ist gestorben. Gar kein Zweifel.

Jemand warf eine Münze in die Musicbox, und Barbara Mandrell begann über einen betrunkenen Mann und eine einsame Frau zu singen.

»Ist alles in Ordnung, Mr. Hanscom?«

Ben Hanscom blickte Ricky Lee aus Augen an, die zehn, nein zwanzig Jahre älter zu sein schienen als das übrige Gesicht, und Ricky Lee stellte verblüfft fest, daß in Mr. Hanscoms Haar die ersten grauen Strähnen zu sehen waren. Bisher war ihm das noch nie aufgefallen.

Hanscom lächelte. Es war ein schreckliches, unheimliches Lächeln. Es war so, als hätte eine Leiche gelächelt.

»Ich glaube nicht, Ricky Lee. Nein. Keineswegs.«

Ricky Lee stellte den Bierkrug hin und ging zu Hanscom zurück. Die Bar war - wie immer an Montagen - ziemlich leer; es waren weniger als 20 Gäste da. Annie saß in der Nähe der Küchentür und spielte mit dem Koch Karten.

»Schlechte Nachrichten?« fragte Ricky Lee.

»Schlechte Nachrichten von Zuhause«, bestätigte Hanscom. Er sah Ricky Lee an, aber er schien durch ihn hindurchzublicken.

»Das tut mir sehr leid, Mr. Hanscom.«

»Danke, Ricky Lee.«

Er schwieg eine Zeitlang, und Ricky Lee wollte ihn gerade fragen, ob es einen Todesfall in der Familie gegeben hätte, als Hanscom sagte:

»Was für Whisky haben Sie, Ricky Lee?«

»Für jeden anderen in dieser Bruchbude - Four Roses«, sagte Ricky Lee. »Aber für Sie - Wild Turkey.«

Hanscom lächelte ein klein wenig. »Das ist gut, Ricky Lee. Dann machen Sie jetzt bitte folgendes - füllen Sie diesen Bierkrug mit Wild Turkey.«

»Füllen?« fragte Ricky Lee total verblüfft. »Mein Gott, ich werde Sie hinterher aus der Bar rollen müssen.«

»Nicht heute abend«, sagte Hanscom. »Ich glaube nicht.«

Ricky Lee nahm den Bierkrug - er hatte Ben Hanscom noch nie harten Alkohol trinken sehen - und er holte die Flasche Wild Turkey unter der Bar hervor. Wider Willen war er fasziniert, als er den bernsteinfarbenen Whisky in den Bierkrug goß. Es dürfte das einzige Mal in seinem Leben bleiben, daß er einen Drink dieser Größenordnung einschenkte.

Er stellte ihn vor Hanscom auf die Bartheke, der den mit Whisky gefüllten Bierkrug nachdenklich betrachtete und dann fragte: »Was bekommen Sie für einen Drink wie diesen, Ricky Lee?«

Ricky Lee schüttelte langsam den Kopf und starrte seinerseits auf den Bierkrug, um nicht dem sonderbar leeren Blick jener von dunklen Ringen umgebenen Augen begegnen zu müssen. »Keinen Cent«, sagte er. »Das geht auf Kosten des Hauses.«

Hanscom lächelte wieder. »Nun, in diesem Fall - herzlichen Dank, Ricky Lee. Jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen, das ich 1978 in Peru gelernt habe. Ich habe dort mit einem Burschen namens Frank Billings zusammengearbeitet - habe allerhand von ihm gelernt. Billings dürfte der beste Architekt der ganzen Welt gewesen sein. Holte sich irgendein Fieber und starb. Auch Antibiotika konnten ihm nicht helfen. Ich habe diesen Trick von den Indianern gelernt, die an jenem Projekt mitarbeiteten. Sie trinken irgendein einheimisches teuflisches Gesöff, und ich habe nur ganz selten erlebt, daß einer stockbesoffen war, und nie hatte jemand einen Kater. Ich hatte bisher nie den Mut, diese Methode selbst auszuprobieren. Aber heute abend tu' ich's. Bringen Sie mir bitte einige von den Zitronenscheiben dort drüben.«

Ricky Lee brachte ihm vier Zitronenscheiben und legte sie auf einer frischen Serviette neben den Bierkrug.

Hanscom nahm eine davon in die Hand, lehnte den Kopf zurück und begann, Zitronensaft ins rechte Nasenloch zu tropfen.

»Du lieber Himmel!« rief Ricky Lee entsetzt.

In Hanscoms Kehle arbeitete es. Sein Gesicht lief rot an... und dann sah Ricky Lee, daß ihm Tränen aus den Augenwinkeln zu den Ohren rollten. Aus der Musicbox erklang jetzt >Oh Lord, I just don't know how much of this I can stand< von den Spinners.

Hanscom tastete auf der Theke herum, fand eine zweite Zitronenscheibe und preßte den Saft ins linke Nasenloch aus.

»Verdammt, Sie werden sich umbringen«, flüsterte Ricky Lee.

Hanscom warf die ausgepreßten Zitronenscheiben auf die Theke. Seine Augen waren feuerrot, und er atmete nur mühsam. Zitronensaft floß ihm aus der Nase und rann zu den Mundwinkeln hinab. Er griff nach dem Bierkrug, hob ihn und trank ein Drittel des Whiskys. Wie gelähmt beobachtete Ricky Lee, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte.

Er setzte den Krug ab, schüttelte sich kurz und nickte dann. Er blickte zu Ricky Lee hoch und lächelte ein wenig. Ricky Lee riß vor Staunen den Mund auf. Hanscoms Augen waren nicht mehr rot.

»Funktioniert tatsächlich genauso, wie sie gesagt haben«, erklärte er. »Man ist so total mit seiner Nase beschäftigt, daß man das Whisky-Brennen überhaupt nicht spürt.«

»Mann, Sie sind verrückt«, sagte Ricky Lee.

»Das glaube ich fast auch«, erwiderte Hanscom. »Habe ich Ihnen jemals erzählt, daß ich früher fett war, Ricky Lee?«

»Nein, Sir«, flüsterte Ricky Lee. Er war jetzt überzeugt davon, daß Mr. Hanscom eine so furchtbare Nachricht erhalten hatte, daß sein Verstand vorübergehend getrübt war.

»O ja, ich war fett«, berichtete Hanscom. »Ein richtiger Fettkloß. Ich konnte nicht schnell rennen, habe nie Baseball gespielt, stand mir selbst im Wege, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Na ja, ich war also fett. Und da waren diese Kerle in meiner Heimatstadt, die mich regelmäßig verfolgten. Einer von ihnen hieß Reginald Huggins, aber alle nannten ihn nur Belch. Dann waren da noch ein paar andere, aber der eigentliche Kopf der Bande war ein Bursche namens Henry Bowers. Wenn es jemals ein wirklich böses Kind gab, so war es dieser Henry Bowers. Er pflegte mich zu verfolgen - auch einige der anderen Kinder, mit denen ich oft zusammen war. Aber mein Problem bestand darin, daß ich nicht so schnell wie die meisten anderen rennen konnte.«

»Mr. Hanscom...«

Hanscom nahm die beiden anderen Zitronenscheiben, in jede Hand eine, lehnte wieder den Kopf zurück und nahm sie wie Nasentropfen. Er schüttelte sich, legte sie beiseite und trank zwei große Schlucke Whisky. Wieder schüttelte es ihn, dann trank er noch einen Schluck und griff mit geschlossenen Augen nach dem gepolsterten Rand der Bartheke. Einen Augenblick hielt er sich daran fest wie ein Mann, der sich bei schwerem Sturm an die Reling eines Segelboots klammert. Dann öffnete er die Augen und lächelte Ricky Lee zu.

»Ich könnte die ganze Nacht so weitermachen.«

»Mr. Hanscom, ich wünschte, Sie würden damit aufhören«, sagte Ricky Lee nervös.

Annie kam mit ihrem Tablett an die Bar und rief, daß zwei Bier gewünscht würden. Ricky Lee zapfte sie und brachte sie ihr. Seine Beine waren merkwürdig weich, wie aus Gummi.

»Ist mit Mr. Hanscom alles in Ordnung, Ricky Lee?« erkundigte sich Annie. Sie schaute an ihm vorbei, und er drehte sich um und folgte ihrem Blick. Mr. Hanscom lehnte sich über die Bartheke und holte vorsichtig Zitronenscheiben aus der Vitrine, in der Ricky Lee sie neben Oliven, Cocktailzwiebeln und Limonenscheiben aufbewahrte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er.

»Passen Sie gut auf ihn auf«, sagte Annie und entfernte sich. Sie hatte Ben Hanscom sehr gern.

Ricky Lee ging wieder zu ihm. »Mr. Hanscom, ich glaube wirklich, Sie hatten ge...«

Hanscom warf den Kopf zurück. Preßte. Diesmal zog er den Zitronensaft richtiggehend ein, wie Kokain. Anschließend trank er Whisky, als wäre es Wasser. Er schaute Ricky ernst an, dann lachte er. Es waren noch etwa zwei Zoll Whisky im Krug.

»Ich glaube wirklich, das genügt«, sagte Ricky Lee und wollte nach dem Krug greifen.

Hanscom schob ihn außer Reichweite. »Ich habe etwas für Ihre Jungs.«

Er trug ein ausgeblichenes Baumwolljackett und holte jetzt etwas aus einer der Taschen. Ricky Lee hörte ein leises Klimpern.

»Mein Vater starb, als ich vier Jahre alt war«, sagte Hanscom. Er sprach kein bißchen undeutlich. »Hat uns einen Haufen Schulden und dies hier hinterlassen. Ich möchte, daß Ihre Jungs sie bekommen, Ricky Lee.«

Er legte drei Silberdollarmünzen auf die Theke, wo sie im gedämpften Licht der Barbeleuchtung funkelten. Ricky Lee hielt den Atem an.

»Mr. Hanscom, das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich kann das nicht...«

»Es waren einmal vier«, sagte Hanscom, »aber einen davon habe ich einem Freund gegeben. Dem besten Freund, den ich vermutlich je hatte. Er heißt Bill Denbrough. Damals hatte er den Spitznamen Stotter-Bill. Er ist jetzt Schriftsteller.«

Ricky Lee hörte kaum, was er sagte. Er starrte fasziniert auf die Münzen. 1921,1923 und 1924. Sie mußten jetzt eine Menge wert sein, schon allein aufgrund des Silbergewichts.

»Ich kann das nicht annehmen«, wiederholte er.

»Ich bestehe darauf«, sagte Hanscom und leerte den Krug. Eigentlich hätte er schon auf dem Boden liegen oder sich auf dem Weg ins Kranken-66 haus befinden müssen, aber er ließ Ricky Lees Gesicht nicht aus den Augen.

»Sie machen mir ein wenig angst, Mr. Hanscom«, sagte Ricky Lee. Zwei Jahre zuvor war ein Trunkenbold namens Gresham Arnold, der im Ort ziemlich bekannt war, ins >Red Wheel< gekommen. Er hatte Annie eine Rolle Vierteldollarmünzen gegeben und ihr gesagt, sie solle damit die Musicbox in Gang halten. Dann hatte er einen Zwanzig-Dollar-Schein auf die Theke gelegt und erklärt, daß er allen Anwesenden eine Runde spendiere. Dieser Gresham Arnold war ein großartiger Baseballspieler bei den He-mingford Tigers gewesen und hatte ihnen zum ersten Meistertitel bei den High-School-Wettkämpfen verhelfen. Aber dann war er gleich im ersten Semester vom L. S. U. geflogen und nach Hause zurückgekehrt, wo er mit seinem Auto einen Totalschaden baute und einen Job in einer Reparaturwerkstatt bekam, den er aber kurz darauf wieder verlor. Nicht lange danach war er dem Alkohol verfallen. An jenem Abend hatten also alle Anwesenden auf Gresham Arnolds Wohl getrunken und sich bei ihm bedankt, und dann war er nach Hause gegangen und hatte sich in seinem Zimmer an seinem Gürtel aufgehängt. Gresham Arnolds Augen hatten an jenem Abend einen ähnlichen Ausdruck gehabt wie nun Ben Hanscoms.

»Ich mache Ihnen ein wenig angst?« sagte Hanscom und blickte Ricky Lee unverwandt in die Augen. Er schob den Krug beiseite und faltete seine Hände vor den drei Silbermünzen. »Sie können nicht solche Angst haben wie ich. Bitten Sie Gott, daß Sie nie im Leben solche Angst kennenlernen.«

»Was ist denn los?« fragte Ricky. »Vielleicht...« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Vielleicht kann ich Ihnen irgendwie helfen.«

»Was los ist?« Ben Hanscom lachte. »Nicht allzuviel. Ich wurde heute abend von einem alten Freund angerufen. Einem Burschen namens Mike Hanion. Ich hatte ihn völlig vergessen, Ricky Lee. Aber das beunruhigte mich nicht allzusehr. Ein wenig, aber nicht allzusehr. Was mir wirklich Angst einjagte, war, unterwegs hierher festzustellen, daß ich alles über meine Kindheit völlig vergessen hatte.«

Ricky Lee konnte ihn nur anschauen. Er hatte keine Ahnung, wovon Hanscom eigentlich redete, aber der Mann hatte Angst, das war unübersehbar. Es paßte nicht so recht zu Ben Hanscom, aber es war eine Tatsache.

»Ich hatte wirklich alles vergessen«, sagte Hanscom und klopfte mit den Knöcheln leicht auf die Theke, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Haben Sie jemals von einem so totalen Gedächtnisschwund gehört, daß man sich nicht einmal mehr bewußt ist, unter Gedächtnisschwund zu leiden?«

Ricky Lee schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht. Aber da saß ich nun heute abend in meinem Auto, und blitzartig kam es mir zu Bewußtsein - und ich erinnerte mich an Mike Hanion, und ich erinnerte mich an Derry...«

»Derry?«

»... aber das war auch schon alles, woran ich mich erinnerte. Es kam mir plötzlich zu Bewußtsein, daß ich nicht einmal mehr an meine Kindheit gedacht hatte seit... seit ich weiß nicht wie langer Zeit. Und dann begann ich mich plötzlich auch an andere Dinge zu erinnern. Beispielsweise, daß ich Bill Denbrough den vierten Silberdollar gegeben habe. Und daß er irgendwas damit gemacht hat.«

»Was hat er denn damit gemacht, Mr. Hanscom?«

Hanscom schaute auf seine Uhr und ließ sich von seinem Barhocker hinabgleiten. Er schwankte ein wenig - aber ganz minimal. Das war alles. »Ich muß mich allmählich auf den Weg machen«, erklärte er. »Ich fliege heute nacht.«

Ricky Lee sah ihn so beunruhigt an, daß er lachen mußte.

»Ich fliege, aber ich steuere nicht selbst. Linienflug.«

»Oh.« Er vermutete, daß seine Erleichterung ihm deutlich im Gesicht geschrieben stand, aber das war ihm egal. »Wohin fliegen Sie denn?«

»Ich dachte, das hätte ich Ihnen erzählt, Ricky Lee. Ich fahre nach Hause. Geben Sie diese Münzen Ihren Kindern.« Er ging auf die Tür zu, und etwas an seinem Gang erschreckte Ricky. Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Gresham Arnold, dem kaum jemand nachgetrauert hatte, war plötzlich so frappierend, daß es schon fast übernatürlich wirkte.

»Mr. Hanscom!« schrie er angsterfüllt.

Hanscom drehte sich um, und Ricky Lee trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Er streifte mit dem Rücken die Regale, und die Flaschen begannen zu reden, in jener spröden Sprache, die Glaswaren eigen ist. Er hatte unwillkürlich einen Schritt nach rückwärts getan, weil er plötzlich überzeugt war, daß Ben Hanscom tot war, irgendwo tot herumlag und daß dies hier ein Geist war, der ihn heute abend im >Red Wheel< besucht hatte. Einen Moment - einen ganz kurzen Moment - glaubte er, durch den Mann hindurch Tische und Stühle sehen zu können.

»Was ist, Ricky Lee?«

»N-n-nichts.«

Ben Hanscom schaute Ricky Lee aufmerksam an. Er hatte violette Ringe unter den Augen, seine Wangen brannten vom Alkohol, und seine Nase war rot und wund.

»Nichts«, flüsterte Ricky Lee noch einmal, aber er konnte seine Augen nicht von diesem Gesicht abwenden. Es war das Gesicht eines Menschen, der unwiderruflich verdammt ist und jetzt dicht vor der rauchenden Seitenpforte der Hölle steht.

»Ich war fett, und wir waren arm«, sagte Ben Hanscom. »Daran erinnere ich mich. Und ich erinnere mich, daß Bill Denbrough mir mit einem Silberdollar das Leben gerettet hat. Und ich bin halb verrückt vor Angst bei dem Gedanken, woran ich mich sonst noch vor Ablauf dieser Nacht erinnern könnte, aber diese wahnsinnige Angst wird die Erinnerungen nicht aufzuhalten vermögen. Sie schwellen in meinem Kopf schon an, nehmen immer mehr Raum darin ein. Doch ich fahre trotzdem, denn alles, was ich erreicht habe, alles, was ich heute bin, verdanke ich irgendwie dem, was wir damals getan haben, und man muß für alles, was man bekommt, bezahlen. Vielleicht läßt Gott uns deshalb als Kinder auf die Welt kommen - weil Er weiß, daß man sehr oft hinfallen, daß man sehr oft bluten muß, bevor man diese einfache Lektion lernt. Man bezahlt für das, was man bekommt, und man besitzt nur das richtig, wofür man bezahlt

hat... und früher oder später wird einem unweigerlich die Rechnung präsentiert.«

»Sie werden doch aber am Wochenende wieder hiersein, nicht wahr?« fragte Ricky Lee mit tauben Lippen. »Sie werden doch am Wochenende wie immer hiersein, oder?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Hanscom und lächelte - ein schreckliches Lächeln. »Diesmal muß ich beträchtlich weiter als nach London, Ricky Lee.«

»Mr. Hanscom...!«

»Geben Sie die Münzen Ihren Kindern«, sagte Hanscom noch einmal und entschwand in die Nacht.

»Was in aller Welt...«, setzte Annie zu einer Frage an, aber Ricky Lee ignorierte sie. Er ging zu einem der Hinterfenster. Er sah, wie die Scheinwerfer des Cadillacs aufleuchteten, hörte den Motor laufen. Das Auto fuhr vom Parkplatz, und hinter ihm stieg eine Staubwolke hoch, die der Nachtwind rasch verwehte.

»Er wird sich umbringen«, sagte Annie leise neben Ricky Lees Ellbogen, und obwohl er vor weniger als fünf Minuten denselben Gedanken gehabt hatte, wandte er sich jetzt ihr zu und schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht«, sagte er. »Aber so, wie er heute abend aussah, wäre es vielleicht besser für ihn, wenn er es täte.«

»Was hat er Ihnen erzählt?«

Er schüttelte den Kopf. Ben Hanscoms Sätze ließen sich zu keinem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. »Nichts von Bedeutung. Aber ich glaube nicht, daß wir ihn jemals wiedersehen werden.«

4. Eddie Kaspbrak nimmt seine Medizin

Wenn Sie alles über einen Amerikaner oder eine Amerikanerin der Mittelschicht wissen wollen, müssen Sie unbedingt einen Blick in sein oder ihr Arzneimittelschränkchen werfen, hat einmal jemand gesagt. Aber, um Himmels willen, erschrecken Sie nicht allzusehr, wenn Sie in dieses hineinschauen, dessen Schiebetür Eddie Kaspbrak gerade öffnet, wodurch barmherzigerweise auch sein weißes Gesicht und seine weit aufgerissenen Augen im Türspiegel entschwinden.

Auf dem obersten Regal sind Anacin, Excedrin, Excedrin P. M., Contac-Kapseln, Gelusil, Tylenol und eine große blaue Flasche Vicks. Daneben eine Flasche Vivarin, eine Flasche Serutan und zwei Flaschen >Philips Milk of Magnesia< - die normale, die wie flüssige Kreide schmeckt, und die neue mit Pfefferminzgeschmack, die aber ebenfalls wie flüssige Kreide schmeckt. Dicht neben einer großen Flasche Rolaids steht eine große Flasche Tums, und daneben eine Flasche Di-Gel mit Orangengeschmack.

Zweites Regal: Hier kann man in Vitaminen schwelgen. Vitamin E, Vitamin C, Vitamin C mit Hagebutte, Vitamin B; verschiedene Arten von Multi Vitamintabletten. Dazu noch Eisenpräparate und der Ausgewogenheit halber auch noch eine große braune Flasche Geritol.

Drittes Regal: Hier ist ein breites Sortiment verschiedenster Tabletten, Cremes, Gelees und Geheimmittelchen anzufinden. Ex-Lax und >Carters

Little Pills< - Abführmittel. Fleet-Zäpfchen und >Preparation H< gegen Durchfall bzw. Verdauungsbeschwerden. Daneben Formel 44 gegen Husten, Nyquil und Dristan gegen Erkältungen; eine große bonbonrosafarbene Flasche Pepto-Bismol für Eddies empfindlichen Magen. Lutschtabletten gegen einen rauhen Hals. Vier verschiedene Mundspülmittel: Chlora-septic, Sepacol, Sepestat in der Sprühflasche und natürlich das gute alte Li-sterine. Visine und Murine für die Augen. Für die Haut Cortaid-Salbe, Nes-porin-Salbe, eine Tube Oxy-5, eine Plastikflasche Oxy-Wash und Tetracyclin-Pillen. Etwas abseits stehen drei undurchsichtige dunkle Flaschen Stein-kohlenteer-Shampoo.

Das unterste Regal ist fast leer, aber dafür ist das Zeug, das dort liegt, besonders wirksam. Hier findet man Valium und Percodan und Elavil und Darvon Complex. Außerdem eine weitere Lutschtablettendose, in der aber keine Lutschtabletten, sondern sechs Quaaludes liegen.

Eddie Kaspbrak glaubt an das gute alte Pfadfindermotto: >Allzeit bereite

Er hat eine blaue Reisetasche bei sich, hält sie unter die einzelnen Regale und fegt mit zitternden Händen Flaschen, Tuben, Döschen und Schachteln hinein. Er könnte sie natürlich sorgfältig aus dem Schränkchen holen, jeweils eine Handvoll, aber das würde erstens zu lange dauern, und außerdem würden seine zitternden Hände ihn verraten - die Flaschen würden gegeneinanderklirren, in jener spröden Sprache, die Glaswaren eigen ist, und dadurch würde seine Angst nur noch größer.

Er...

»Eddie?« rief Myra von unten. »Eddie, was machst du?«

Eddie schob die Lutschtablettendose mit den Quaaludes in die Tasche. Das Arzneimittelschränkchen war jetzt fast völlig leer, bis auf Myras Flasche Midol-Tabletten und eine kleine, fast aufgebrauchte Tube Blistex. Nach kurzem Überlegen griff er nach dem Blistex. Er begann den Reißverschluß der Tasche zu schließen, hielt inne und warf auch noch das Midol hinein. Sie konnte ja immer Nachschub kaufen.

»Eddie?« ertönte ihre Stimme wieder, diesmal schon auf halber Treppe.

Eddie zog den Reißverschluß vollends zu und verließ das Badezimmer. Er war ein kleiner, magerer Mann. Von seinen Haaren war nicht mehr viel übrig. Das Gewicht der Tasche machte ihm offensichtlich zu schaffen.

Eine außerordentlich dicke Frau stieg langsam und schwerfällig die Treppe herauf. Eddie hörte, wie die Stufen unter ihrem Gewicht protestierend knarrten.

»Eddie, was machst du nur?«

Eddie brauchte keinen Psychologen, um zu wissen, daß er in gewissem Sinne seine Mutter geheiratet hatte. Myra Kaspbrak war ein Riesenweib (als er sie vor fünf Jahren geheiratet hatte, war sie groß und stattlich, aber nicht dick gewesen - vielleicht hatte sein Unterbewußtsein ihre Anlage zur Fettleibigkeit aber schon damals erkannt, dachte er; seine Mutter war sehr groß und fett gewesen), und irgendwie sah sie noch größer aus, wie sie jetzt so auf dem Treppenabsatz stand, in einem weißen Nachthemd, das sich an Brust und Hüften gigantisch wölbte. Ihr Gesicht war bleich, glänzend, ohne jedes Make-up. Sie sah verängstigt aus.

»Ich muß für eine Weile weg«, sagte Eddie.

»Was?« schrie sie auf. »Was willst du denn damit sagen? Was hatte es mit diesem Anruf auf sich?«

»Nichts«, sagte er und entfloh ins Schlafzimmer. Er stellte die Tasche mit seinen Medikamenten am Fußende des Bettes ab, öffnete die Schranktür und holte seinen Koffer heraus. Dann begann er, Kleider hineinzuwerfen.

Ihr Schatten fiel über ihn.

»Was soll das? Wohin fährst du?«

»Ich kann es dir nicht sagen.«

Sie stand da, betrachtete ihn und war unschlüssig, was sie tun oder sagen sollte. So etwas sah Eddie überhaupt nicht ähnlich, sie hatte noch nie etwas Derartiges mit ihm erlebt. Es war so, als wäre sie ins Fernsehzimmer gekommen, und ihr neuer Breitleinwandfernseher hätte mitten im Raum geschwebt.

»Du kannst nicht fort«, hörte sie sich sagen. »Du hast versprochen, mir ein Autogramm von AI Pacino zu besorgen.« Sie wußte natürlich, daß das absurd war, völlig blödsinnig, aber in diesem Moment schien es ihr immer noch besser, etwas Absurdes vorzubringen als gar nichts.

»Du kannst ihn selbst darum bitten«, sagte Eddie. »Du wirst ihn nämlich chauffieren.«

Dieser neue Schrecken steigerte ihre Ängste ins schier Unerträgliche, und sie stieß einen leisen Schrei aus. »Ich kann nicht - ich habe nie...«

»Du wirst es tun müssen«, erklärte er. Er prüfte gerade seine Schuhe. Zwei Paar stellte er zurück, befand ein drittes für passend, nahm eine leere Schuhschachtel und stopfte die Schuhe hinein. Er spürte, daß seine Kehle eng wurde, und in einer Art Panik fiel ihm ein, daß er sein Inhalationsgerät

- seinen Aspirator - nicht eingepackt hatte. Er mußte noch neben dem Fernseher liegen.

Er warf den Kofferdeckel zu und schloß ihn. Dann drehte er sich nach Myra um, die auf der Türschwelle stand und sich mit einer Hand an die Kehle griff, als ob sie es wäre, die Asthma hätte. Sie starrte ihn erschrocken an. Er hätte wahrscheinlich Mitleid mit ihr gehabt, wenn in seinem Herzen noch Platz für ein anderes Gefühl außer Entsetzen und Angst gewesen wäre.

»Was ist passiert?« fragte sie. »Wer war das am Telefon? Eddie... Eddie, in welchen Schwierigkeiten steckst du?«

Er ging auf sie zu, jetzt auf beiden Seiten belastet und deshalb wieder aufrecht. Zuerst dachte er, sie würde ihm nicht Platz machen, aber sie tat es doch... ängstlich. Als er an ihr vorbeiging, brach sie in jämmerliches Weinen aus.

»Ich kann AI Pacino nicht chauffieren«, heulte sie. »Meine Uniformen passen nicht mehr, ich werde bestimmt irgendein Verkehrsschild rammen, das weiß ich genau! Eddie, ich habe Aaaaangst!«

Er schaute auf seine Uhr. Es war zwanzig nach neun. Durch einen Anruf bei Delta hatte er erfahren, daß er den letzten Abendflug nach Maine versäumt hatte - das Flugzeug war um 20.25 Uhr gestartet. Daraufhin hatte er im Penn Station angerufen. Um 23.30 Uhr gab es einen Nachtzug nach Boston. Am Bostoner South Station würde er sich ein Taxi zu den Büros von >Cape Cod Limosine< in der Arlington Street nehmen; sein eigenes Unter-

nehmen und >Cape Cod Limosine< unterhielten seit Jahren freundschaftliche Beziehungen, was sich für beide Seiten als sehr vorteilhaft erwiesen hatte. Ein kurzer Anruf bei Butch Carrington in Boston hatte dafür gesorgt, daß er problemlos weiterkommen würde: eine vollgetankte Cadillac-Limousine würde für ihn bereitstehen. Er würde also stilgerecht in seine alte Heimatstadt zurückkehren - ohne einen Fahrgast auf dem Rücksitz, der die Luft mit einer dicken Zigarre verpestete und ihn fragte, wo man eine Hure oder ein paar Gramm Kokain oder auch beides bekommen könnte.

Ja, wirklich sehr stilgerecht, dachte er. Die einzige Möglichkeit, noch stilgerechter hinzukommen, wäre in einem Leichenwagen. Aber nur keine Sorge, Eddie - damit wirst du vermutlich auf dem Rückweg reisen. Das heißt, wenn noch soviel von dir übrig ist, daß der Aufwand sich lohnt.

»Eddie?«

Er hatte noch etwas Zeit. Er konnte mit ihr reden und - vielleicht -freundlich sein. Aber es wäre um vieles einfacher gewesen, wenn sie heute ihren Whist-Abend gehabt hätte. Dann hätte er ihr einfach eine schriftliche Nachricht unter einen der Magnete an der Kühlschranktür klemmen können (da hinterließ er alle Zettel für Myra, weil sie sie dort mit hundertprozentiger Sicherheit fand). Nun ja, es wäre nicht schön gewesen, heimlich das Haus zu verlassen, aber dies hier war noch viel schlimmer. So als müßte er wieder von Daheim, von seiner Mutter wegziehen - was so schwierig gewesen war, daß er es erst beim dritten Anlauf geschafft hatte.

Wo dein Herz ist, dort ist auch dein Zuhause, dachte er flüchtig. Daran glaube ich. Bobby Frost hat gesagt, Zuhause - das sei der Ort, wo man dich immer aufnehmen würde. Leider ist es aber zugleich auch der Ort, von dem man dich nicht wieder fortläßt, wenn du erst einmal dort bist.

Er stand im Gang, voller Angst, mit laut pfeifendem Atem, und betrachtete seine weinende Frau.

»Komm mit nach unten«, sagte er. »Ich werde dir erzählen, soviel ich kann.«

Sie gingen nach unten, und Eddie stellte seine beiden Gepäckstücke in den Flur. Plötzlich fiel ihm etwas ein; vielmehr erinnerte der Geist seiner Mutter ihn daran, die schon seit Jahren tot war, aber immer noch häufig zu ihm sprach.

Du weißt, daß du dich immer erkältest, wenn du nasse Füße bekommst, Eddie -du bist nicht wie andere Leute, du hast ein sehr schwaches Immunsystem, du mußt sehr vorsichtig sein. Deshalb mußt du auch immer Gummischuhe anziehen, wenn es regnet.

Es regnete sehr oft in Derry.

Eddie öffnete den Flurschrank, nahm seine Gummischuhe, die ordentlich in einem Plastikbeutel aufbewahrt wurden, vom Haken und legte sie in den Koffer.

DM bist ein braver Junge, Eddie.

Im Fernsehzimmer ging er zum Telefon und nahm den Hörer ab.

»Eddie, was...«

Er machte ihr ein Zeichen, still zu sein, und bestellte ein Taxi. Es würde in etwa einer Viertelstunde hiersein.

Er legte den Hörer auf, griff nach seinem Aspirator, der auf dem Tisch neben der Couch lag, setzte ihn an den Mund und drückte auf die Flasche. Atmete den schrecklichen Geschmack tief ein. Das Erstickungsgefühl wurde etwas schwächer; er atmete wieder tief ein und hörte plötzlich Stimmen, wahnwitzige Geisterstimmen.

Haben Sie meinen Brief nicht erhalten?

Doch, Mrs, Kaspbrak, aber...

Nun, Mr. Black, für den Fall, daß Sie nicht lesen können, möchte ich es Ihnen noch einmal persönlich wiederholen. Sind Sie bereit?

Mrs. Kaspbrak...

Hören Sie jetzt mal aufmerksam zu: Mein Eddie kann nicht am Turnunterricht teilnehmen. Ich wiederhole - er kann NICHT am Turnunterricht teilnehmen. Eddie ist sehr zart, und wenn er rennt... oder springt...

Mrs. Kaspbrak, ich habe die Befunde von Eddies letzter Schuluntersuchung im Büro - Sie wissen ja, diese Untersuchungen sind gesetzlich vorgeschrieben. Im Befund heißt es, daß Eddie für sein Alter ein bißchen klein ist, daß ihm aber ansonsten nichts fehlt. Um ganz sicherzugehen, habe ich noch Ihren Hausarzt angerufen, und er hat mir bestätigt...

Wollen Sie mich etwa als Lügnerin hinstellen, Mr. Black? Ist es das? Nun, Ed- die steht hier, direkt neben mir! Hören Sie, wie er atmet? HÖREN Sie es?

Mom... bitte... mir geht's gut...

Eddie, du weißt doch, daß man Erwachsene nicht unterbricht. Das habe ich dir doch beigebracht!

Ich höre es, Mrs. Kaspbrak, aber...

Aha, Sie hören es! Ausgezeichnet! Ich dachte schon, Sie wären taub! Er hört sich an wie ein Lastwagen, der langsam einen Berg hochkeucht. Stimmt's? Und wenn das kein Asthma ist...

Mom, ich...

Sei still, Eddie, unterbrich mich nicht schon wieder! Wenn das kein Asthma ist Mr. Black, dann bin ich Königin Elisabeth!

Mrs. Kaspbrak, Eddie fühlt sich im Turnunterricht meistens sehr wohl und ist glücklich. Er spielt gern alle möglichen Spiele, und er kann auch ziemlich schnell rennen. Bei meiner Unterhaltung mit Ihrem Hausarzt ist das Wort >psychosoma-tisch< gefallen. Haben Sie schon einmal die Möglkhkeit in Betracht gezogen, daß...

... daß mein Sohn verrückt ist? Ist es das, was Sie mir sagen wollen?

WOLLEN SlE SAGEN, DASS MEIN SOHN VERRÜCKT IST?

Nein, aber...

Er ist zart.

Mrs. Kaspbrak...

Mein Sohn ist sehr zart.

Mrs. Kaspbrak, Ihr Arzt hat bestätigt, daß Eddie...

»... physisch nichts fehlt«, sagte Eddie schaudernd. Zum erstenmal seit Jahren hatte er wieder an jene demütigende Szene in der Turnhalle der Fairmount-Schule gedacht, als seine Mutter den Turnlehrer Mr. Black angebrüllt hatte, während er neben ihr keuchte und vor Scham am liebsten in den Fußboden gesunken wäre, weil dieser Auftritt vor den Augen seiner Klassenkameraden stattfand. Und er wußte genau, daß Mikes Anruf noch weitere Erinnerungen nach sich ziehen würde. Er spürte schon, wie

sie herandrängten - Erinnerungen, die noch viel schlimmer waren als jene, die ihm gerade eingefallen war.

»Physisch fehlt ihm nichts«, wiederholte er, zog tief die Luft ein und schob den Aspirator in die Tasche.

»Eddie«, rief Myra, »bitte sag mir doch, was los ist!«

Er betrachtete sie, die glänzenden Tränen auf ihren Wangen, die wie plumpe, unbehaarte Tiere ineinander verkrampften Hände. Einmal, kurz vor seinem Heiratsantrag, hatte er das Foto, das sie ihm geschenkt hatte, neben ein Foto seiner Mutter gelegt, die fünf Jahre zuvor im Alter von 61 Jahren an Herzversagen gestorben war. Damals hatte sie über 400 Pfund gewogen - 406 Pfund, um genau zu sein; aber das Foto war 1945 aufgenommen worden, zwei Jahre vor seiner Geburt (Er war ein sehr kränkliches Baby, flüsterte die Stimme seiner Mutter. Wir dachten oft, er würde nicht am Leben bleiben...), als seine Mutter 28 Jahre alt gewesen war.

Er vermutete, daß das sein letzter verzweifelter Versuch gewesen war, sich selbst davon abzuhalten, die damals ebenfalls 28jährige Myra McCand-less zu heiraten.

Die Frauen auf den Fotos hätten Schwestern sein können, so groß war die Ähnlichkeit. Eddie hatte dagesessen und von einer zur anderen geschaut, von Mutter zu Myra und wieder zurück zu Mutter, und er hatte sich geschworen, es nicht zu tun, weil es ein Freudscher Kreis wäre, nichts anderes. Er würde es nicht tun. Er würde mit Myra brechen... es ihr sanft beibringen, denn sie war wirklich sehr lieb und hatte wenig Erfahrungen mit Männern gehabt (er selbst mit Frauen übrigens ebenfalls) ... und dann würde er vielleicht... Tennisunterricht... und er könnte Mitglied im Schwimmklub des U. N. Plaza werden... vielleicht...

Aber er hatte sie dann doch geheiratet. Die alte Lebensweise hatte ihn doch schon zu stark geprägt, die Lebensweise seiner Mutter, und während er sie allein auf sich gestellt vielleicht noch hätte abschütteln können, hatte Myra ihn durch ihre liebevolle Fürsorge dazu verurteilt, hatte ihn mit ihrer Sanftheit eingefangen, ihn mit ihrer übertriebenen Angst um ihn für immer und ewig festgenagelt.

Myra hatte wie seine Mutter die verhängnisvolle höchste Stufe von Verständnis erreicht. Eddie war zart, Eddie mußte beschützt werden. An Regentagen stellte Myra seine Gummischuhe sorgsam neben den Garderobenständer im Flur. Neben seinem Teller mit ungebuttertem Weizentoast lag jeden Morgen ein riesiges Sortiment bunter Vitaminpillen. Myra verstand ihn - wie seine Mutter. Er hatte wirklich keine Chance gehabt. Er war dreimal nach Hause zurückgekehrt, und nachdem seine Mutter in einem Privatzimmer des Madison Avenue Receiving gestorben war (damals hatte er sich bereits solche Dinge wie Privatzimmer leisten können), war er zum vierten und - wie er damals geglaubt hatte - letzten Male nach Hause zurückgekehrt - zu Myra MacCandless, die eine Schwester seiner Mutter hätte sein können, magisch angezogen vom verhängnisvollen hypnotischen Schlangenauge ihres Verständnisses.

Für immer nach Hause zurückgekehrt. Damals hatte er das geglaubt.

Aber vielleicht habe ich mich geirrt, dachte er. Vielleicht ist dies nicht mein Zuhause, vielleicht war es das nie - vielleicht ist mein Zuhause dort, wo ich jetzt hinfahre. Zuhause ist der Ort, wo man schließlich dem ETWAS im Dunkeln ins Auge sehen muß.

et schauderte hilflos, so als wäre er ohne seine Gummischuhe im Regen herumgelaufen und wäre völlig durchfroren.

»Bitte sag's mir, Eddie.«

Sie begann wieder zu weinen. Tränen waren ihre letzte Waffe, wie sie auch die letzte Waffe seiner Mutter gewesen waren; eine sanfte, lähmende Waffe. Wenn jemand leicht verletzbar ist, hatte er festgestellt, bekommt man schließlich Angst davor, ihn zu verletzen. Tränen konnten zur Waffe werden.

Und mit einer Art Schrecken erkannte er, daß sie diese Waffe jetzt einsetzte ... und Erfolg damit hatte.

Aber das durfte er nicht zulassen. Er liebte sie, aber diesmal durfte er sich nicht dazu bringen lassen, daheim zu bleiben. Es wäre zu einfach, sich nur auszumalen, wie der Zug durch die Dunkelheit nach Norden braust, der Regen über die schmutzigen Fensterscheiben rinnt, wie er angstgepeinigt im Abteil sitzt, den Aspirator in der Manteltasche, die Reisetasche mit Medikamenten zwischen den Beinen. Sie würde ihn nach oben führen, ihm mit Aspirintabletten und einer Alkoholabreibung ihre Liebe beweisen, und vielleicht würde eine ihrer rosigen, nicht unangenehmen Hände nach unten gleiten und ihn streicheln, eine Erektion bewirken und...

Aber er hatte es versprochen. Versprochen.

»Myra, hör mir zu«, sagte er, bewußt trocken, sachlich und nüchtern.

Sie sah ihn mit ihren nassen, nackten Augen an.

»Du gehst morgen zu Phil ins Büro. So gegen sechs. Und du erklärst ihm, daß du Pacino chauffieren wirst...«

»Eddie, ich kann nicht!« heulte sie. »Er ist ein großer Star, und wenn ich etwas falsch mache, wird er mich anbrüllen, er wird mich anbrüllen, das tun sie alle, und... und... ich werde weinen... es könnte ein Unfall passieren ... ich weiß, daß ich's nicht schaffe... Eddie... Eddie, bitte...«

»Hör auf, Myra!«

Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte - gekränkt, verletzt -, aber obwohl Eddie seinen Aspirator fest umklammerte, wußte er, daß er ihn jetzt nicht verwenden durfte. Sie würde es sehen, und das würde ihr einen Vorteil verschaffen. Lieber Gott, ich will sie nicht kränken, ich will sie nicht verletzen, aber ich habe es versprochen, wir alle haben es versprochen, wir haben es mit Blut geschworen, bitte, lieber Gott, ich muß es tun...

»Ich hasse es, wenn du mich anschreist, Eddie«, flüsterte sie.

»Wenn du dich... nun ja, ein wenig beherrschst, brauche ich es nicht zu tun«, sagte er, und sie schluchzte wieder verletzt auf. Ich bringe dir deine Pillen, sagten ihre Augen vorwurfsvoll, ich stelle dir die Gummischuhe heraus, wenn es regnet - oder wenn es nach Regen aussiehtund du verletzt mich, Eddie. Du verletzt mich.

Plötzlich sah er zusammenhanglos das Gesicht Henry Bowers' vor seinem geistigen Auge. Es war das erste Mal seit Jahren, daß er an Bowers gedacht hatte, und das ängstigte ihn mehr als alles andere.

Er schloß kurz die Augen, öffnete sie dann und sagte:

»Du wirst nichts falsch machen, und er wird dich nicht anbrüllen. Mr. Pa-cino ist sehr nett, sehr verständnisvoll.« Er hatte Pacino noch nie chauffiert, und jetzt verfluchte er die Tatsache, daß er die großen Berühmtheiten immer für sich selbst aufgehoben hatte, weil es schließlich sein Geschäft war, das er beharrlich ausgebaut hatte; angefangen hatte er mit einem einzigen vier Jahre alten Fleetwood, der zum größten Teil der Chase Manhattan Bank gehörte, und nun besaß er eine Flotte von 30 Limousinen. >Kaspbrak Li-mousine< gehörte zu den größten Unternehmen dieser Art in der Großstadt New York, es war fast so groß wie >Playboy<. Und demnächst würde es größer sein.

»Ist er das wirklich?« fragte sie schüchtern.

»Ja. Und es ist ganz einfach. Du bringst ihn morgen abend um sieben Uhr vom St. Regis zu den ABC-Studios. Um elf stehst du vor den ABC-Studios -sie drehen dort irgendwelche Spezialszenen - und holst ihn ab. Du bringst ihn ins St. Regis zurück und fährst nach Hause. Das ist alles. Das schaffst du doch mit der linken Hand, Marty.«

Normalerweise kicherte sie immer über diesen Kosenamen, aber heute sah sie ihn nur mit quälenden Zweifeln an.

»Und was ist, wenn er zum Abendessen ausgehen möchte?« fragte sie. »Hinterher, meine ich. Oder wenn er irgendwo was trinken möchte.«

»Das glaube ich nicht, aber wenn es der Fall sein sollte, bringst du ihn hin. Dann kannst du Phil per Funk anrufen, und er wird jemanden schicken, der Pacino abholt. Du wirst höchstwahrscheinlich um Mitternacht im Bett liegen, spätestens um eins. Dafür garantiere ich.«

Er räusperte sich und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Und die Geisterstimme seiner Mutter flüsterte: Sitz nicht so da, Eddie. Es ist nicht gut für deine Haltung. Und ebensowenigfür deine Lunge.

Er setzte sich wieder aufrecht hin, ohne zu wissen weshalb, ohne sich der Tatsache bewußt zu sein, daß er immer noch seiner toten Mutter gehorchte.

»Wenn du morgen ins Büro kommst«, sagte er, »erklärst du Phil, daß ich in einer dringenden persönlichen Angelegenheit plötzlich verreisen mußte. Es wird das einzige Mal sein, daß du chauffieren mußt, Marty. Phil kann den Plan abändern, wenn es nicht anders geht, er kann Ted aus dem Urlaub zurückrufen, oder er kann ein paar Aushilfskräfte einstellen. Aber du weißt ja selbst, wie ausgebucht wir gerade jetzt sind. Morgen ist außer dir einfach niemand verfügbar.«

»Was für eine dringende persönliche Angelegenheit?« fragte sie. »Wer hat dich angerufen, Eddie?«

Scheinwerferlichter fluteten über die Eßzimmerwand; er konnte sie durch den Bogengang sehen. Eine Hupe ertönte. Eddie erhob sich.

»Mein Taxi...«

Sie sprang so schnell auf, daß sie über den Saum ihres Nachthemds stolperte; er mußte sie festhalten, und um ein Haar wären sie beide gestürzt, denn sie wog etwa hundert Pfund mehr als er. Und sie begann schon wieder zu heulen.

»Eddie, du mußt es mir sagen, ich habe solche Angst... was ist los?«

»Ich kann es dir nicht sagen.«

»Warum nicht?« Sie schluchzte. »Du hast mir doch noch nie etwas verheimlicht, Eddie. Warum nicht? Biiiitte!«

»Ich erinnere mich selbst nicht an alles«, sagte er, wehrte sie ab, so gut er konnte, und griff nach seinem Gepäck. »Noch nicht. Es war ein alter Freund. Er...«

»Du wirst krank werden«, fiel sie ihm verzweifelt ins Wort. »Ich weiß es. Laß mich mitkommen, Eddie, bitte, ich werde auf dich aufpassen, Pacino kann ein Taxi oder irgend so was nehmen, das geht doch, ja?« Ihre Stimme wurde immer schriller, aufgeregter, und zu Eddies Entsetzen sah sie seiner Mutter von Minute zu Minute ähnlicher - aber seiner Mutter, wie sie kurz vor ihrem Tod gewesen war, fett und verrückt.

»Ich werde dir den Rücken waschen und darauf achten, daß du deine Tabletten einnimmst... ich... ich werde dir helfen... du kannst mir doch alles sagen... Eddie... Eddie, geh nicht fort! Bitte, Eddie! Biiiitte!«

Er stolperte blindlings den Flur entlang, mit eingezogenem Kopf, wie ein Mann, der sich gegen starken Wind vorwärtskämpft. Er keuchte wieder. Jedes seiner Gepäckstücke schien hundert Pfund zu wiegen. Er spürte ihre Hände auf seinem Körper, spürte, wie sie ihn zurückzuziehen versuchte, wie sie ihn mit ihren Tränen, ihrer Hilflosigkeit, ihrer Fürsorge dazu bringen wollte, sein Versprechen zu brechen.

Ich schaff s nicht, dachte er verzweifelt. Sein Asthma wurde immer schlimmer, schlimmer als seit Jahren (vielleicht war es seit seiner Kindheit nicht mehr so stark gewesen, aber es war seltsam - er erinnerte sich nur an so weniges aus dieser Zeit). Die Tür schien endlos weit entfernt zu sein.

»Wenn du hierbleibst, backe ich dir einen Sauerrahm-Mokkakuchen«, winselte sie. »Wir machen Popcorn... ich mache einen Kürbisauflauf... Truthahn mit Sauce... Eddie, bitte, ich habe solche Angst, du jagst mir solche Angst ein!«

Sie packte ihn am Kragen und zerrte ihn zurück. Mit letzter Kraft riß er sich los.

»Laß mich gehen]« schrie er.

Sie stieß einen hohen Jammerlaut aus.

Seine Finger packten den Türknauf - wie himmlisch kühl er war! Er öffnete die Tür und sah das Taxi auf der Auffahrt stehen. Es war ein kühler Abend, und er sah die Wolkenkratzer von Manhattan jenseits des Flusses wie strahlende Traumgebilde aufragen.

Sein Atem ging keuchend und pfeifend, als er sich nach Myra umdrehte.

»Du mußt begreifen, daß dies nicht etwas ist, was ich gern tue«, sagte er. »Bitte, Marty, versteh das. Ich komme zurück.«

Oh, aber das hörte sich wie eine Lüge an.

»Wann? Wie lange bleibst du fort?«

»Eine Woche, nicht länger. Oder vielleicht zehn Tage.«

»Eine Woche!« kreischte sie und schlug sich an die Brust wie die Diva in einer schlechten Oper. »Eine Woche! Zehn Tage! Bitte, Eddie! Biii...«

»Marty, hör auf!«

Und zu seinem größten Erstaunen tat sie es; sie stand da und schaute ihn mit ihren nassen, verletzten Augen an, nicht ärgerlich, nur erschrocken. Und vielleicht spürte er in diesem Augenblick zum erstenmal, daß er sie wirklich lieben konnte - gehörte das zum Weggehen? Er fühlte sich bereits wie ein Mann, der im falschen Ende eines Teleskops lebt.

Aber vielleicht war es ganz richtig so. War es das, was er meinte? Daß er schließlich erkannt hatte, daß es ganz in Ordnung war, sie zu lieben, obwohl sie wie seine Mutter mit 28 Jahren aussah, obwohl sie dick und nicht allzu klug war, ja sogar obwohl sie soviel Verständnis hatte und ihm die vielen Hilfsmittelchen im Arzneimittelschränkchen verzieh, weil sie ihre eigenen im Kühlschrank hatte? Konnte es sein, daß...

Eine Erkenntnis streifte ihn blitzartig wie ein schwarzer Flügel: konnte es sogar sein, daß sie größere Angst hatte als er? Daß auch seine Mutter größere Angst gehabt hatte?

Wieder überfiel ihn eine Erinnerung aus seiner Kindheit in Derry; seit Mikes Anruf brachen diese Erinnerungen immer häufiger über ihn herein, stiegen wie vereinzelte Blitzlichter in einem dunklen Raum in ihm auf. In der Innenstadt, in der Center Street, hatte es ein Schuhgeschäft gegeben. Eines Tages hatte ihn seine Mutter dorthin mitgenommen - er war damals, so schien es ihm, noch nicht zur Schule gegangen - und ihm befohlen stillzusitzen, während sie sich für eine Hochzeit ein Paar weiße Pumps kaufte. Aber er war umhergeschlendert und hatte eine mit Holz ausgelegte Maschine entdeckt, die etwas Ähnlichkeit mit einer auf der Kante stehenden Kiste hatte. Nur daß Stufen zu ihr emporführten, und daß unten ein Schlitz und an der Seite ein Knopf und oben etwas war, das genauso aussah wie ein TV-Bildschirm. Er war um das komische Ding herumgelaufen, ein kleiner Junge in kurzen Hosen, dessen Knie nicht aufgeschürft waren (er hatte kein Dreirad und durfte nicht rennen, außer im Park, weil er Asthma hatte und leicht Fieber bekam - weil er zart war), und an der Vorderseite des kistenähnlichen Dings war ein Schild angebracht, auf dem mit großen roten Buchstaben stand:

PASSEN IHRE SCHUHE RICHTIG?

KONTROLL IEREN SIE ES!

Er war die zwei Stufen bis zum Schlitz hinaufgestiegen und hatte seinen Fuß hineingeschoben. Er hatte sein Gesicht in die Gummi-Schutzmaske gesteckt und auf den Knopf gedrückt. Grünes Licht sprang ihm in die Augen, und er hielt den Atem an, als sein Fuß plötzlich durchsichtig wurde und wie grüner Rauch in seinem Schuh zu schweben schien. Und da waren seine Knochen! Er konnte seine Knochen sehen! Er bewegte seinen Fuß, und seine Knochen bewegten sich. Er kreuzte die große Zehe über der zweiten, und die Knochen der beiden Zehen ergaben ein X von gespenstisch-grüner Farbe. Er konnte sehen, wie...

Dann hatte seine Mutter in wilder Panik aufgeschrien,, was sich in dem stillen Geschäft angehört hatte wie eine kreischende Mähmaschine, wie eine Feuersirene, wie ein reitender Unglücksbote. Er hatte aufgeschaut und gesehen, daß sie auf ihn zugerannt kam, nur in Strümpfen, mit wehendem Kleid. Sie warf in der Hektik einen Stuhl um. Ihr Busen wogte auf und ab. Ihr Mund war ein scharlachrotes O des Entsetzens. Alle Gesichter waren ihr zugewandt. Und sie schrie.

»Eddie, geh da weg! Geh da weg! Diese Maschinen verursachen Krebs! Geh da weg! Eddie, Eddie, Eddie...«

Er war zurückgewichen, als wäre die Maschine plötzlich glühend heiß geworden. An der Kante der oberen Stufe hatte er das Gleichgewicht verloren

und wild mit den Armen um sich geschlagen; und hatte er nicht in dieser Sekunde mit einer Art verrückter Freude gedacht: Ich werde hinfallen, ich werde endlich erfahren, wie es ist hinzufallen und sich den Kopf anzuschlagen hatte er das damals wirklich gedacht oder projizierte nur der erwachsene Mann seine Gedanken in die Erinnerung hinein?

Es war eine müßige Frage. Seine Mutter hatte ihn aufgefangen, und er war nicht gestürzt, obwohl er in Tränen ausgebrochen war.

Er erinnerte sich daran, daß alle Leute sie angestarrt hatten. Einer der Verkäufer hatte den Stuhl aufgehoben und in amüsiertem Widerwillen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, bevor er rasch wieder seine unbewegte Miene aufsetzte. Aber am stärksten erinnerte er sich an die nasse Wange seiner Mutter und an ihren heißen, trockenen Atem; er erinnerte sich, wie sie ihm immer wieder beschwörend ins Ohr geflüstert hatte: »Tu das nie wieder, tu das nie wieder.« Seine Tränen waren an jenem Morgen stundenlang nicht versiegt, und er hatte den ganzen Tag über schlimmes Asthma gehabt; und abends im Bett hatte er lange wach gelegen und überlegt, ob er wohl schon Krebs hatte und wenn ja, wie lange es dauerte, bis man daran starb, und ob man dabei große Schmerzen hatte.

Sie hatte solche... solche fürchterliche Angst gehabt.

Sie war so entsetzt gewesen.

»Marty«, sagte er, »gib mir einen Kuß.«

Sie trat zu ihm und umarmte ihn so fest, daß seine Knochen schmerzten. Wenn sie in diesem Moment im Wasser gewesen wären, wären sie unweigerlich beide ertrunken.

»Hab keine Angst«, flüsterte er. »Hab keine Angst.«

»Ich kann nichts dafür!« jammerte sie.

»Ich weiß«, sagte er und stellte fest, daß sein Asthma besser geworden war, obwohl sie ihn so fest umklammerte. Sein Atem ging nicht mehr so pfeifend und keuchend.

Der Taxifahrer hupte wieder.

»Rufst du mich an?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Wenn ich kann.«

»Bitte«, jammerte sie. »Bitte, Eddie, kannst du mir nicht sagen, was los ist?«

Oh, das würde sie bestimmt sehr beruhigen. Marty, ich habe heute abend einen Anruf von Mike Hanion bekommen, und wir haben uns eine Weile unterhalten, aber eigentlich lief alles auf zwei kurze Sätze hinaus. »Es hat wieder angefangen«, sagte Mike, und dann: »Wirst du kommen?« Und, Marty, dies ist ein Fieber, das sich nicht mit Aspirin kurieren läßt, und ich leide jetzt an einer Atemnot, gegen die mein Aspirator nichts auszurichten vermag, denn sie kommt aus meinem Herzen. Ich werde zu dir zurückkommen, wenn ich kann, Marty, aber ich fühle mich wie ein Mann, der am Eingang eines alten Minenschachts steht und dem Tageslicht Lebewohl sagt...

O ja, das wäre wirklich sehr beruhigend.

»Ich kann nicht, Marty«, sagte er. »Marty, ich muß gehen.«

Und bevor sie noch etwas sagen konnte, bevor sie von neuem anfangen konnte (Eddie, steig rasch aus diesem Taxi! Sie verursachen Krebs!), trug er rasch sein Gepäck zum Taxi.

Sie stand immer noch auf der Türschwelle, als er wegfuhr, ein großer schwarzer Schatten, der sich vom warmen gelben Licht im Haus abhob. Er winkte und glaubte zu sehen, daß auch sie ihre Hand hob und winkte.

»Wohin soll's denn gehen, mein Freund?« fragte der Taxifahrer.

»Penn Station«, sagte Eddie, und seine Hand, die den Aspirator umklammert hatte, entspannte sich. Das Asthma war verschwunden, tatsächlich verschwunden. Er fühlte sich... fast gut.

Aber zwei Stunden später griff er doch wieder nach seinem Aspirator, als er aus einem leichten Schlummer aufschreckte und so verzweifelt nach Atem rang, daß der Mann im Geschäftsanzug, der ihm gegenübersaß, seine Zeitung sinken ließ und ihn studierte. Eddies Brust hob und senkte sich krampfartig. Er schob den Aspirator in den Mund und drückte auf die Flasche. Dann lehnte er sich zitternd zurück und dachte an den Traum, der -wie er befürchtete - mehr eine Erinnerung als ein Traum gewesen war, ein Traum mit viel grünem Licht wie jenem in der Röntgenmaschine im Schuhgeschäft, ein Traum, in dem ein bei lebendigem Leibe verfaulender Aussätziger im Rollstuhl einen schreienden Jungen namens Eddie Kaspbrak in unterirdischen Gängen verfolgte. Dieser zehnjährige Traum-Eddie rannte und rannte, und dann trat er plötzlich in etwas, das sich wie Gelee anfühlte und wie Friedhofserde stank, und er schaute nach unten und sah das halbverweste Gesicht eines Jungen namens Patrick Hockstetter, und in Patricks Wangen krochen Würmer herum, und vielleicht schrie er, weil Eddie Kaspbrak ihm auf die Brust getreten war - nein, nicht auf, sondern in die Brust, und dieser fürchterliche Gestank kam aus Patricks Innerem, und in diesem Traum, der mehr Erinnerung als Traum war, schaute er zur Seite und sah zwei Schulbücher, >Roads to Everywhere< und >Understanding Our America<, und sie waren mit grünem Schimmel überzogen, weil sie seit zwei Wochen hier unten lagen (>Wie ich meine Sommerferien verbracht habe<, von Patrick Hockstetter: >Ich verbrachte sie tot in einem Kanal, und meine Schulbücher setzten Schimmel an und quollen zu der Dicke von Sears-Katalogen auf<), und sein Fuß steckte in Gelee, in verwesendem Fleisch, das zu Gelee geworden war, und Eddie Kaspbrak öffnete den Mund, um zu schreien, und in diesem Augenblick schlössen sich die rauhen Finger des Aussätzigen um seine Kehle - und dann war er aufgewacht und hatte festgestellt, daß er in einem Erste-Klasse-Abteil des Zuges nach Boston saß.

»Geht es Ihnen gut, Sir?« fragte der Mann gegenüber.

»Ja«, sagte Eddie. »Ich hatte einen Alptraum, und das hat einen Asthmaanfall ausgelöst.«

»Oh. Das tut mir leid.« Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung.

Eddie blickte aus dem großen Fenster in die Dunkelheit hinaus. Hier und da war ein Haus, und die warmen gelben Lichter jedes Hauses schienen ihn zu verhöhnen: Irrlichter im Dunkeln.

Endlich erinnere ich mich an meine Kindheit, dachte er dumpf. Und er spürte, daß er sich jetzt an alles würde erinnern können, woran er nur wollte; daß er jetzt jede beliebige Szene würde vor Augen führen können.

Aber er wollte nicht. O Gott, dachte er, wenn ich doch nur wieder alles vergessen könnte.

Er blickte aus dem Fenster, den Aspirator mit einer Hand umklammernd wie einen religiösen Talisman, und beobachtete, wie die Nacht den Zug umfing. Er fuhr nach Norden...

Nicht nach Norden, dachte er. Es ist kein Zug; es ist eine Zeitmaschine. Die Zeit dreht sich zurück.

Eddie Kaspbrak umklammerte seinen Aspirator und schloß die Augen, denn ihm schwindelte.

5. Beverly Huggins bekommt eine Tracht Prügel

Tom war schon fast eingeschlafen, als das Telefon läutete. Er richtete sich etwas auf und fühlte dann Beverlys Brust auf seiner Schulter, als sie über ihn hinweg nach dem Hörer griff. Er ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken und überlegte vage, wer wohl an ihre private Nummer herangekommen war, die nicht im Telefonbuch stand. Er hörte Beverly »Hallo« sagen, dann schlummerte er wieder ein. Während der Übertragung des Baseballspiels hatte er drei Sechserpackungen Bier getrunken, und er war ziemlich erledigt.

Er schlummerte ein, aber dann sagte Beverly plötzlich so scharf »Was?«, daß er die Augen wieder öffnete. Er versuchte sich aufzusetzen, und die Telefonschnur schnitt in seinen dicken Hals ein.

»Schaff mir dieses verdammte Ding vom Hals, Beverly«, knurrte er, und sie stand rasch auf und ging um das Bett herum, die Schnur hochhaltend. Ihre Haare waren tiefrot und fluteten über ihr weißes Nachthemd fast bis /ur Taille hinab. Ihre Augen flatterten nicht unruhig zu seinem Gesicht, um seine Stimmung daran abzulesen, und das gefiel Tom Huggins nicht. Er richtete sich auf. Sein Kopf schmerzte.

Er ging ins Bad, urinierte endlos und beschloß dann, daß er sich eigentlich noch ein Bier holen könnte, nachdem er ohnehin schon aufgestanden war.

Auf dem Weg zur Treppe rief er - ein Mann in weißen Boxershorts, die wie Segel unter seinem Bierbauch hingen, mit Armen wie dicke Würste (er glich mehr einem Hafenarbeiter als einem Public-Relations-Geschäftsfüh-rer, der seine Chicagoer Firma verlassen hatte, um das Geschäft seiner Frau, Beverly Fashions, zu managen - nein, verdammt, ihr gemeinsames Geschäft) - ihr zu: »Wenn es diese Bulldogge von Leslie ist, dann sag ihr, daß sie sich irgendein Mannequin aufgabeln und uns in Ruhe lassen soll.«

Beverly blickte kurz hoch, schüttelte den Kopf zum Zeichen, daß es nicht Leslie war, und starrte dann wieder aufs Telefon. »Wie kannst du sicher sein?« fragte sie in den Hörer hinein. Entlassen! Milady hatte ihn entlassen! Auch das mißfiel ihm. Vielleicht brauchte sie einen Auffrischungskurs in >Wer-ist-hier-Herr-im-Haus<. Wieder einmal. Sie lernte sehr langsam.

Er ging nach unten, öffnete den Kühlschrank und stellte erstaunt und wütend fest, daß kein Bier mehr da war. Keine einzige Dose. Seine Blicke schweiften zu den Flaschen auf dem Regal über der Bar - Gin, Wodka, Whisky und Scotch -, und dann ging er wieder auf die Treppe zu, denn er wußte genau, daß er morgens noch schlimmeres Kopfweh haben würde, wenn er jetzt etwas von dem Zeug trank. Er warf einen Blick auf die alte

Pendeluhr im Flur und sah, daß es nach ein Uhr war. Das trug nicht gerade zur Hebung seiner Laune bei, die ohnehin nicht besonders gut gewesen war.

Er stieg langsam die Treppe hinauf und spürte, wie schwerfällig sein Herz arbeitete. Poch, poch, poch. Es machte ihn ganz nervös, daß er es nicht nur in der Brust, sondern auch in den Ohren und in den Handgelenken pochen hörte. Und diese verdammte Nutte telefonierte immer noch.

»Nun, ich verstehe das, Mike, aber... ja, ich weiß... ja, ich...«

Ein längeres Schweigen.

»Bill Denbrough?«

Tom stand oben an der Treppe und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Poch, poch, poch, und wenn man nicht aufpaßte, war es eines Tages poch, poch, poch, fang, die Trauergäste werden gebeten, von Blumenspenden Abstand zu nehmen. Wie bei Buck Davis, der erst 42 gewesen war.

Tom Huggins stand da, hörte seine Frau etwas sagen und spürte den vertrauten alten dumpfen Zorn in sich aufsteigen. Als er sie vor vier Jahren in einer Bar für Singles kennengelernt hatte, war sie Modezeichnerin bei >De-lia Fashions< gewesen. Sie waren leicht ins Gespräch gekommen, denn das >Delia<, das hauptsächlich die führenden Geschäfte in der Chicagoer Gegend mit modischer Kleidung für junge Leute belieferte, hatte seine Geschäftsräume im Brands Building, wo auch die PR-Firma untergebracht war, in der Tom arbeitete.

Er hatte sich mit der instinktiven gnadenlosen Sicherheit eines Raubtiers vorgetastet, das Schwäche spürt. Nicht daß an der Oberfläche etwas davon zu sehen gewesen wäre; Beverly Marsh war ein Prachtweib, schlank, aber mit üppigen Brüsten - so viele schlanke Mädchen hatten Brüste wie die Knöpfe zum Öffnen einer Schreibtischschublade. Sie trugen dünne Blusen, und ihre Brustwarzen machten einen ganz verrückt, aber wenn man ihnen diese Blusen dann auszog, stellte man fest, daß außer den Brustwarzen nichts da war.

Beverly war wirklich ein Prachtweib gewesen - schlank, mit tollen Kurven und langem rotem Haar, das einer Flamme glich. Aber sie war schwach... irgendwie war sie schwach. Er hätte nicht sagen können, woher er das wußte, aber er wußte es von Anfang an. Es gab gewisse Anhaltspunkte - die Tatsache, daß sie zuviel rauchte (davon hatte er sie inzwischen fast kuriert), ihr unruhig schweifender Blick, ihre nervösen Hände, die rastlos mit dem Weinglas spielten. Ihre Fingernägel: ganz kurz geschnitten -vermutlich, weil sie sie abbiß.

Löwen denken nicht, zumindest nicht auf die Art und Weise, wie Menschen das tun; aber sie haben scharfe Augen. Und wenn die Antilopen sich von der Wasserstelle entfernen, aufgeschreckt durch den Geruch des nahenden Todes, können die Großkatzen sehen, welche Antilope hinter den anderen etwas zurückbleibt, vielleicht weil sie lahmt, vielleicht weil sie von Natur aus langsamer ist... oder weil ihr Instinkt für Gefahren nicht so stark ausgeprägt ist. Möglicherweise wollen manche Antilopen - und manche Frauen - aber insgeheim auch erlegt werden.

Jetzt hörte Tom das vertraute Klicken des Feuerzeugs, und der dumpfe Zorn stieg wieder in ihm hoch, erfüllte seinen Magen und seine Brust mit einer Hitze, die nicht unangenehm war. Sie rauchte! Sie hatten ausführlich darüber gesprochen. Und nun weckte sie ihn um ein Uhr nachts und rauchte wieder!

»Ja«, sagte sie gerade. »In Ordnung. Ja...« Sie lauschte, dann stieß sie ein sonderbares, abgerissenes Lachen aus. »Was du tun kannst? Zweierlei. Reserviere mir ein Zimmer und sprich ein Gebet für mich. Ja... in Ordnung, Mike. Ja, ich auch. Gute Nacht.«

Sie hatte gerade aufgelegt, als er hereinkam. Er wollte sie anbrüllen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er hatte sie nur zwei- oder dreimal so gesehen - einmal vor der ersten Modenschau, nachdem sie sich selbständig gemacht hatte, einmal vor der ersten großen Modenschau mit Einkäufern von den größten Firmen - Marshall Fields, Belks', Penney's, Mitchell Brothers.

Sie bewegte sich mit langen, katzenhaft geschmeidigen Schritten durch das Schlafzimmer; das weiße Satinnachthemd schmiegte sich an ihren Körper, und sie hatte eine Zigarette im Mund (verdammt, er haßte es, wie sie aussah, wenn sie rauchte!), und eine dünne Rauchschwade bewegte sich über ihre linke Schulter wie der Rauch aus einer Lokomotive.

Aber es war ihr Gesicht, das ihn zum Schweigen brachte, das ihm die Worte auf der Zunge ersterben ließ, das ihm jenes stetige Poch-poch-poch in seiner Brust wieder zu Bewußtsein brachte und eine leise unbestimmte Furcht in ihm weckte.

Sie war eine Frau, die nur bei ihrer Arbeit richtig zum Leben erwachte, und vor jenen beiden entscheidenden Modenschauen - einer vor ihrer Hochzeit, einer kurz danach - hatte er eine völlig andere Frau erlebt als das schwache, unsichere Geschöpf, das Nägel kaute und nervös zusammenzuckte, wenn es angesprochen wurde.

Jetzt hatten ihre Wangen Farbe, ihre Augen waren groß und strahlend; jede Spur von Schläfrigkeit war aus ihnen gewichen. Ihre Haare wehten. Und sie ging zum Schrank, öffnete die Tür... und holte einen Koffer heraus?

Reserviere mir ein Zimmer... sprich ein Gebet für mich... Was, zum Teufel, sollte das bedeuten?

Sie trug den Koffer zu ihrer Kommode hinüber. Sie hatte ihn immer noch nicht auf der Schwelle stehen sehen. Sie zog das oberste Schubfach auf, holte einige Jeans und Kordhosen hervor und warf sie in den Koffer. Öffnete die zweite Schublade, wo sie Strickjacken, T-shirts und ausgeblichene Blusen aufbewahrte. Billiges Zeug. Reizloses Zeug. Was ging hier vor, verdammt noch mal?

Und doch war es nicht das Packen, worauf sich sein Kopf, schwerfällig und schmerzend vom übermäßigen Alkoholgenuß und von viel zu wenig Schlaf, konzentrierte.

Es war die Zigarette.

Sie hatten darüber diskutiert.

Sie hatte behauptet, alle weggeworfen zu haben. Aber sie hatte ihn zum Narren gehalten. Und blitzartig überfiel ihn die Erinnerung an jenen Abend, als er sich ihrer völlig sicher geworden war, als er erkannt hatte, was sie war und was sie irgendwie brauchte. Das war etwa in der Mitte ihrer sechsmonatigen Freundschaft vor der Heirat gewesen, und es hatte ebenfalls mit Zigaretten zu tun gehabt.

Ich will nicht, daß du in meiner Gegenwart rauchst, hatte er ihr auf der Heimfahrt von einer Party in Lake Forest erklärt. Dieses Scheißzeug ist glatter Selbstmord. Ich muß es im Büro und auf Partys einatmen, aber nicht, wenn ich mit dir zusammen bin. Es ist so, als müßte man die Rotze anderer Leute fressen.

Sie hatte ihn auf ihre scheue, ängstliche Weise angeschaut, begierig zu gefallen, und hatte nur gesagt: »All right, Tom.«

Dann wirf sie weg.

Sie hatte das Fenster heruntergekurbelt und die Zigarette weggeworfen. Er war in jener Nacht sehr guter Laune gewesen, denn er hatte das Ausmaß seiner Macht über sie gespürt - es war ein berauschendes Gefühl gewesen. Es hätte jeden Mann berauscht. Sie war klug, sie war sehr schön, er hatte eine Vorahnung, daß sie sich als verdammt gute Geldmaschine erweisen würde... und sie gehörte ihm.

Eine Woche später waren sie im Kino gewesen, und nach der Vorstellung hatte sie sich im Foyer eine Zigarette angezündet und geraucht, während sie über den Parkplatz zum Auto gingen. Es war ein kalter Novemberabend, der Wind fegte über den See und war schneidend. Er ließ sie ihre Zigarette rauchen. Er hielt ihr sogar die Tür auf. Er setzte sich ans Steuer, schloß seine eigene Tür und sagte: Bev?

Sie nahm die Zigarette aus dem Mund, wandte ihm ihr Gesicht zu, und er versetzte ihr mit der offenen Hand eine schallende Ohrfeige. Ihr Kopf flog zur Seite, sie riß vor Überraschung und Angst die Augen weit auf und griff sich an die Wange, auf der sein Handabdruck zu sehen war. Sie schrie: Aaau... Tom!

Er beobachtete sie scharf und wartete, wie sie reagieren, was sie jetzt tun würde. Sein Schwanz wurde steif in der Hose, aber das bemerkte er erst später. Alles hing jetzt davon ab, was sie sagen würde; das wußte er irgendwie, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Sie sagte nicht: Du Scheißkerl!

Sie sagte nicht: Wenn du das jemals wieder tust, bringe ich dich um.

Sie sagte nicht: Scher dich für alle Zeit zum Teufel!

Sie stieg nicht aus.

Sie sah ihn nur mit ihren verletzten, in Tränen schwimmenden Augen an und sagte: Warum hast du das getan, Tom? Und dann versuchte sie, noch etwas anderes zu sagen, aber statt dessen brach sie in Tränen aus.

Wirf sie weg, sagte er.

Was? Was denn, Tom? Ihr Make-up rann ihr übers Gesicht. Das machte ihm nichts aus. Es gefiel ihm sogar, sie so zu sehen. Es war irgendwie erregend.

Die Zigarette. Wirf sie weg.

Ich hab's vergessen! schrie sie.

Wirf sie sofort weg, sonst bekommst du noch eine Ohrfeige.

Du darfst... du solltest mich nicht schlagen, Tom, sagte sie, aber sie kurbelte das Fenster herunter und warf die Zigarette fort.

Darfst und solltest sind zwei verschiedene Dinge, sagte er mit gezwungener Ruhe. Innerlich war er in wildem Aufruhr. In jenem Moment hatte er das Gefühl, als könnte er, wenn er wollte, das Dach seines Wagens mit der Faust durchstoßen. Wenn du mit mir zusammen bist, hast du zu tun, was ich will, Bev. Ich hab' für diesen Emanzenscheiß nichts übrig. Wenn du mich willst, hast du dich meinem Willen zu beugen. Kapiert?

Vielleicht will ich dich gar nicht, flüsterte sie, und er schlug sie wieder, stärker als beim erstenmal, denn niemand durfte so etwas zu Tom Huggins sagen, keine Frau hatte das je zu sagen gewagt.

Ihr Kopf flog gegen das gepolsterte Armaturenbrett, und sie saß zusammengekrümmt da und hielt sich mit beiden Händen das Gesicht. Sie duckte sich wie ein Kaninchen.

Er stieg aus, ging ums Auto herum und öffnete ihre Tür. Sein Atem hatte in der schwarzen windigen Novembernacht Ähnlichkeit mit Rauchwolken.

Willst du aussteigen? Steig aus. Ich bat dich, etwas zu tun, und du versprachst es mir. Du hast es aber nicht getan. Willst du aussteigen, Bev? Los, Bev. Steig aus. Steig aus. Willst du aussteigen?

Nein, flüsterte sie.

Was? sagte er. Ich kann dich nicht hören.

Nein, sagte sie ein wenig lauter.

Wenn du nicht ordentlich reden kannst, werd' ich dir einen Lautsprecher besorgen, sagte er. Zum letzten Mal: Willst du aussteigen, oder willst du mit mir zurückfahren?

Mit dir zurückfahren, sagte sie heiser, wie ein kleines Mädchen. Aber sie schaute ihn nicht an. Sie blickte auf ihre Hände, die auf ihrem Schoß lagen. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Okay, sagte er. Du kannst mit mir zurückfahren. Aber zuerst muß du sagen: Ich habe vergessen, daß ich in deiner Gegenwart nicht rauchen soll, Tom.

Sie blickte zu ihm auf, mit flehenden, verständnislosen Augen. Du kannst mich dazu zwingen, sagten ihre Augen, aber bitte tu's nicht. Tu's nicht, Tom, bitte, ich liebe dich... kann es nicht vorüber sein?

Sag es.

Ich habe vergessen, daß ich in deiner Gegenwart nicht rauchen soll, Tom.

Gut. Und jetzt sag: Es tut mir leid.

Es tut mir leid, sagte sie tonlos.

Die Zigarette lag glimmend auf dem Pflaster. Leute, die aus dem Kino kamen, schauten zu ihnen herüber, zu dem Mann, der in der offenen Autotür stand, zu der Frau, die im Auto saß, und deren Haar im Standlicht golden funkelte.

Er trat die Zigarette mit dem Fuß aus.

Jetzt sag: Ich werde es nie wieder ohne deine Erlaubnis tun.

Ich werde... werde es n-n-n-

Sag es!

.. .nie wieder ohne deine Erlaubnis tun.

Er schlug die Tür zu, ging wieder ums Auto herum, setzte sich ans Steuer und fuhr in sein Apartment in der Innenstadt. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Zur Hälfte war ihre Beziehung nun geklärt; die andere Hälfte folgte.

Sie wollte nicht mit ihm schlafen (zumindest sagte sie das; in ihren Augen

glaubte er aber etwas anderes lesen zu können). Er überredete sie dazu. Küßte sie. Liebkoste sie. Schmeichelte und drohte ihr. Aber es war keine Vergewaltigung.

Und während des Liebesakts war er zärtlich. Er bewegte sich in ihrem Rhythmus, er benutzte sie, aber er ließ sich auch von ihr benutzen, und von einem bestimmten Zeitpunkt an begann sie hilflos unter ihm zu zucken, ihre Hüften immer stärker an ihn zu pressen (damals war kein Bierbauch im Wege gewesen, zumindest kein so großer); sie grub ihre Nägel in sein Fleisch, zerkratzte ihm den Rücken. Und gegen Ende schrie sie an seinem Hals zweimal auf.

Wie oft ist es dir gekommen? fragte er hinterher.

Sie wandte ihr Gesicht ab. So etwas fragt man nicht, sagte sie leise.

Er nahm ihr Gesicht in die Hand - drückte ihr den Daumen in eine Wange, wölbte die Handfläche um ihr Kinn, drückte die Finger in ihre andere Wange.

Sag es Tom. Hörst du mich, Bev? Sag es Papa.

Dreimal, sagte sie widerstrebend.

Gut, sagte er und lächelte. Du kannst eine Zigarette rauchen.

Sie sah ihn mißtrauisch an. Ihr rotes Haar war über beide Kissen ausgebreitet. Wenn er nur ihr Haar so ausgebreitet sah, stieg die Erregung wieder in ihm auf. Er nickte.

Rauch ruhig, sagte er. Es ist okay.

Drei Monate später wurden sie standesamtlich getraut. Zwei seiner Freunde wohnten der Zeremonie bei; von Bevs Bekannten kam nur Kay McCall, die Tom >diese Scheiß-Emanze< nannte.

All das rollte nun blitzartig vor seinem geistigen Auge ab, wie ein Film mit Zeitraffer, während er auf der Schwelle stand und sie beobachtete. Sie war jetzt bei der untersten Schublade ihrer - wie sie sich manchmal ausdrückte ->Wochenendkommode < angelangt und warf Unterwäsche in den Koffer -nicht jene Art von Unterwäsche, die er liebte, glattes Satin und schimmernde Seide; dies war Baumwollzeug, das meiste davon verblichen, manches gestopft. Ein Baumwollnachthemd. Sie wühlte weiter in der Schublade herum.

Tom Huggins schlich währenddessen barfuß auf dem dicken Teppich zu seinem Schrank. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen - sie hatte immer noch die Zigarette zwischen den Lippen, und dünne Rauchwolken stiegen auf. Es hatte lange gedauert, bis sie jene erste Lektion vergessen hatte. Seitdem hatte es weitere gegeben, sehr viele sogar, und an manchen Tagen hatte sie langärmelige Blusen getragen, Wollwesten an heißen Tagen, Sonnenbrillen an grauen, regnerischen Tagen. Aber jene allererste Lektion war so spontan, so grundlegend wichtig gewesen...

Sie nun rauchen zu sehen, verwirrte ihn mehr als der Anruf. Sie rauchen zu sehen bedeutete, daß etwas passiert war, wodurch sie Tom Huggins zeitweilig vergessen hatte. Was das war, spielte keine Rolle (er nahm an, daß jemand in ihrer Familie, von der sie nur sehr selten sprach, gestorben war oder im Sterben lag). Solche Dinge durften in diesem Hause nicht vorkommen.

An einem der Haken auf der Innenseite der Schranktür hing ein Gürtel ohne Schnalle. Die Schnalle hatte er vor langer Zeit abgemacht. Es war einfach ein breiter schwarzer Lederriemen, der an jenem Ende, wo die Schnalle gewesen war, doppelt lag und eine Schlinge bildete, durch die Tom Huggins jetzt seine Hand schob.

Tom, du warst ungezogen, hatte seine Mutter manchmal gesagt- nun ja, >manchmal< war vielleicht nicht das richtige Wort, >oft< hätte vielleicht besser gepaßt. Komm her, Tommy. Ich muß dir eine Tracht Prügel verabreichen. Im College, als er schließlich von Zuhause weg, als er endlich in Sicherheit war, hatte er im Traum manchmal ihre Stimme gehört: Komm her, Tommy, Ich muß dir eine Tracht Prügel verabreichen. Muß dir eine Tracht Prügel verabreichen. Prügel... Prügel... Prügel...

Tom war das älteste von vier Kindern gewesen. Drei Monate nach der Geburt seiner jüngsten Schwester Cory war Ralph Huggins gestorben - na ja, auch >gestorben< war vielleicht nicht ganz das richtige Wort, >hatte Selbstmord begangen< wäre wohl der korrektere Ausdruck gewesen. Jedenfalls hatte seine Mutter wieder angefangen zu arbeiten, und Tom mußte mit seinen elf Jahren auf seine Geschwister aufpassen. Und wenn er irgend etwas falsch machte - wenn er vergaß, Cory an der Ecke der Broad Street auf dem Weg zum Kinderhort zu bekreuzigen, und diese neugierige Mrs. Gant sah es... oder wenn er sich im Fernsehen > American Bandstand< anschaute, und der siebenjährige Joey aus dem Fenster im ersten Stock aufs Verandadach kletterte, und jene neugierige Mrs. Eggert sah es... oder wenn er vergaß, darauf zu achten, daß Beryl ihre Vitaminpillen nahm (sie versteckte sie manchmal unter ihrem Teller und erzählte ihm, sie hätte sie geschluckt), und seine Mutter sie dann fand, wenn sie von der Fabrik heimkam, wo sie in einem Nebengebäude Stoffreste und Ausschußware verkaufte... Dann wurde der Rohrstock hervorgeholt, und sie rief die Einleitungsformel: Komm her, Tommy, ich muß dir eine Tracht Prügel verabreichen...

Er erinnerte sich gern daran, wie er es Beverly abgewöhnt hatte, in seiner Gegenwart zu rauchen, aber diese andere Erinnerung war unangenehm und verwirrend.

Der Gürtel hing jetzt von seiner geballten Faust herab wie eine tote Natter und schwang sachte durch die Luft. Und sein Kopfweh war wie durch ein Wunder verschwunden.

Sie hatte inzwischen ganz hinten in der Schublade gefunden, was sie noch gesucht hatte - einen alten weißen Baumwoll-BH mit verstärkten Körbchen. Ganz flüchtig war ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen, ob ihr nächtlicher Anruf nicht von einem Liebhaber sein könnte... aber das war natürlich lächerlich. So etwas würde sie niemals wagen. Und außerdem packte eine Frau, die zu ihrem Liebhaber fahren will, nicht gerade ihre älteste abgetragene Unterwäsche ein.

»Beverly«, sagte er leise, und sie zuckte zusammen, richtete sich sofort auf und drehte sich nach ihm um, mit wehenden langen Haaren und weit aufgerissenen Augen.

Die Hand, die den Riemen hielt, zögerte... senkte sich etwas. Er starrte sie an, und wieder stieg dieses leichte Unbehagen in ihm auf, das fast schon an Furcht grenzte. Ja, genauso hatte sie vor den großen Modenschauen ausgesehen, und damals hatte er sich ihr lieber nicht in den Weg gestellt, denn

er begriff, daß sie mit einer Mischung aus Angst und Aggressivität so angefüllt war, daß ein falsches Wort oder eine falsche Bewegung auf sie die gleiche Wirkung haben würde wie ein Funken in einem mit Leuchtgas gefüllten Raum; sie würde einfach explodieren. Sie hatte die Modenschauen nicht nur als Chance betrachtet, sich von >Delia Fashions< lösen und ihren Lebensunterhalt (oder vielleicht sogar ein Vermögen) selbständig verdienen zu können, sondern als eine Art Oberexamen, das sie vor grimmigen Lehrern ablegen mußte. Wäre sie ein Rennpferd gewesen, so wäre es für die Stallburschen fast unmöglich gewesen, sie in ihre Box zu bringen.

Und all das stand ihr auch jetzt im Gesicht geschrieben.

Nein, nicht nur im Gesicht. Es war eine fast sichtbare Ausstrahlung um ihre ganze Gestalt, eine Hochspannung, die sie plötzlich reizvoller und gefährlicher als seit Jahren auf ihn wirken ließ. Er hatte vielleicht Angst, weil sie vor ihm stand, ihr eigentliches Ich, das sich grundlegend von der Frau unterschied, die Tom in ihr sehen wollte, zu der er sie gemacht hatte.

Sie sah geschockt und ängstlich aus. Zugleich wirkte sie aber irrsinnig aufgekratzt. Ihre Wangen glühten hektisch, unter den Unterlidern hatte sie weiße Flecken, die fast wie ein zweites Augenpaar aussahen, und ihre glänzende Stirn reflektierte das Licht.

Sie hatte ihre Zähne so fest in den Zigarettenfilter gegraben, als wollte sie ihn durchbeißen.

Die Zigarette. Diese verdammte Zigarette! Allein dieser Anblick ließ die dumpfe Zorneswelle wieder in ihm hochsteigen. Ganz dunkel und schwach erinnerte er sich an etwas, das sie eines Nachts im Dunkeln zu ihm gesagt hatte, mit dumpfer, tonloser Stimme: Eines Tages wirst du mich umbringen, Tom. Weißt du das? Eines Tages wirst du einfach zu weit gehen, und das wird das Ende sein. Du wirst überschnappen.

Und er hatte darauf geantwortet: Du brauchst nur zu tun, was ich will, Bev, dann wird dieser Tag nie kommen.

Und nun fragte er sich, bevor die Wut jeden klaren Gedanken auslöschte, ob dieser Tag vielleicht gekommen war.

Die Zigarette. Es ging jetzt nicht um den Anruf, um ihr Packen, um ihren Gesichtsausdruck. Er würde sie nur für die Zigarette bestrafen, und dann würde er sie ficken, und dann konnten sie über den Rest diskutieren.

»Tom«, sagte sie. »Tom, ich muß...«

»Du rauchst«, sagte er. Seine Stimme schien aus einiger Entfernung zu kommen, wie über ein gutes Radio. »Es sieht so aus, als hättest du's vergessen, Baby. Wo hattest du sie versteckt?«

»Sieh mal, ich werf sie ja weg«, sagte sie und ging zur Badezimmertür. Sie warf die Zigarette - er konnte die Abdrücke ihrer Zähne auf dem Filter sehen - ins WC. Fsss. Sie kam wieder heraus. »Tom, das war ein alter Freund. Ein alter alter Freund. Ich muß...«

»Halt die Klappe!« brüllte er sie an, und sie verstummte. Aber die Angst, die er sehen wollte - die Angst vor ihm - stand ihr nicht im Gesicht geschrieben. Da war zwar Angst, aber sie zielte in irgendeine andere Richtung. Es war fast so, als würde sie den Riemen nicht sehen, als würde sie ihn nicht sehen, und wieder spürte er jene verwirrte Angst in seiner eigenen Brust aufsteigen und in seinem Magen rumoren. Es war so, als sei sie... mit ihren

Gedanken völlig woanders. Er geriet immer mehr in Rage. Er war Tom Huggins, Tom Huggins, bei Gott, und wenn sie das jetzt nicht wußte, so würde sie es bald erfahren.

»Ich muß dir eine Tracht Prügel verabreichen«, sagte er. »Tut mir leid, Baby!«

Was hatte er vorhin gedacht? Daß die Mischung aus Angst und Aggressivität in ihr so leicht entflammbar war wie Leuchtgas? Vor der letzten Modenschau für Einkäufer im Jahre 1982, der Modenschau Mitte September, wenn die Einkäufer ihre gewichtigen Vorweihnachtsbestellungen machen, hatte er gesehen, wie sie über eine Näherin hergefallen war, die schlampige Arbeit geleistet hatte, wie sie diese Näherin in ihrer Wut so angebrüllt hatte, daß diese - einer Hysterie nahe - davongerannt war. Später hatte Bev sich entschuldigt und die Sache bereinigt, aber in jenem Moment hatte sie einer wilden Dschungelkatze geglichen, die ihr Territorium, ihr Leben bedroht glaubt.

Jetzt richtete sich ihre Aggressivität gegen ihn; zum erstenmal richtete sie sich jetzt gegen ihn.

»Leg den Gürtel hin«, sagte sie. »Ich muß zum O'Hare-Flughafen.«

Er ließ den Gürtel wie ein Pendel hin und her schwingen, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Bev«, sagte er mit großem Nachdruck, »du wirst nirgends hingehen außer ins Bett.«

»Tom, jetzt hör mir mal zu! In meiner Heimatstadt gibt es Probleme. Schlimme Probleme. Ich hatte dort damals gute Freunde. Einer von ihnen wäre vermutlich so was wie mein fester Freund geworden, wenn wir dafür nicht noch zu jung gewesen wären. Er war damals ein elfjähriger Junge, der furchtbar stotterte. Heute ist er Schriftsteller. Du hast, glaube ich, sogar eines seiner Bücher gelesen.. . >The BlackRapids<. Dieses Buch lag wochenlang hier, herum, aber ich habe es nie in Verbindung gebracht mit meinem Kinderfreund Bill. Das alles lag so weit zurück - ich habe seit einer Ewigkeit nicht mehr an Derry gedacht. Na ja, jedenfalls hatte Bill einen Bruder, George, und der wurde ermordet - das war, bevor ich Bill kennenlernte. Und im Sommer darauf...«

Aber Tom hatte jetzt endgültig genug von diesem ganzen Blödsinn. Er bewegte sich rasch auf sie zu und hob den rechten Arm wie ein Speerwerfer. Der Riemen pfiff durch die Luft. Beverly versuchte ihm auszuweichen, aber ihre rechte Schulter streifte den Türrahmen, und der Riemen schlug klatschend auf ihrem linken Unterarm auf und hinterließ eine weiße Strieme, die sofort rot anlief.

»Muß dich verprügeln«, sagte Tom. Seine Stimme klang bedauernd, aber ein gefrorenes Lächeln entblößte seine weißen Zähne. Er wollte jenen Ausdruck in ihren Augen sehen, jenen herrlichen Ausdruck von Angst und Schrecken und Scham - jenen Ausdruck, der besagte: Ja, du hast recht, ich hab 's verdient - bevor sie die Augen senken würde. Später dann Liebe und Freundlichkeit. Später konnten sie sogar, wenn sie wollte, darüber reden, wer angerufen hatte, was überhaupt los war. Denn er liebte Bev. Aber das alles mußte warten. Jetzt brauchte sie erst mal wieder eine Lektion. Die gute alte zweiteilige Lektion. Erst eine Tracht Prügel, dann einen Fick.

»Tut mir leid, Baby.«

»Tom, nicht!«

Wieder holte er weit aus und schlug zu. Der Riemen schlang sich um ihre Hüfte und klatschte auf ihren Hintern. Und... du lieber Himmel, sie packte den Gürtel]

Einen Augenblick lang war Tom Huggins so perplex über diese unerhörte Auflehnung, daß der Riemen ihm entglitten wäre, wenn er die Schlinge nicht fest um die Knöchel seiner rechten Hand gewickelt hätte.

Er riß ihn zurück.

»Versuch nie wieder, mir etwas wegzunehmen!« sagte er heiser. »Hörst du mich? Wenn du es je wieder versuchen solltest, wirst du einen Monat lang nicht sitzen können.«

»Tom, hör auf!« rief sie, und allein ihr Ton versetzte ihn in Wut - sie klang wie ein Spielplatzaufseher, der einem kleinen Jungen sagt, die Pause sei vorbei. »Ich muß fort. Das ist kein Scherz. Menschen sind tot... Menschen sind tot, und ich habe vor langer Zeit ein Versprechen gegeben...«

Tom hörte nichts von alldem. Er brüllte auf und rannte mit gesenktem Kopf auf sie los wie ein Stier. Er holte mit dem Gürtel weit aus, schlug zu, vertrieb sie von der Badezimmertür und verfolgte sie entlang der Schlafzimmerwand. Er holte aus, schlug zu, holte aus, schlug zu, holte aus, schlug zu. Am nächsten Tag konnte er seinen Arm kaum über Augenhöhe hinaus heben, aber im Augenblick konnte er an nichts anderes denken als an die Tatsache, daß sie ihm trotzte; sie hatte nicht nur geraucht, sondern auch noch versucht, ihm den Gürtel zu entreißen. Sie hatte ihn in höchstem Maße provoziert, und er konnte vor dem Thron des Allmächtigen beschwören, daß sie dafür büßen würde.

Er trieb sie die Wand entlang und ließ Schläge auf sie herniederhageln. Sie hielt die Hände hoch, um ihr Gesicht zu schützen. Der Riemen traf ihre Brüste, ihren Bauch, ihr Gesäß, ihre Beine. In dem stillen Zimmer hörte sich das an wie das Knallen einer Ochsenpeitsche. Aber Beverly schrie nicht wie sonst manchmal, und sie bat ihn auch nicht aufzuhören, was sie früher meistens tat. Was aber am schlimmsten war - sie weinte nicht, und das tat sie sonst immer. Das einzige Geräusch, vom Klatschen des Gürtels abgesehen, waren die Atemzüge - seine schwer und keuchend, ihre leicht und rasch.

Und plötzlich machte sie einen Ausfall zum Bett, zum Toilettentisch auf ihrer Bettseite. Ihre Schultern waren rot von den Schlägen. Ihre Haare glichen lodernden Flammen. Er folgte ihr schwerfällig; er war langsamer, sehr groß und dick; bis vor zwei Jahren hatte er Squash gespielt, aber dann hatte er sich eine Sehnenzerrung zugezogen, und seitdem war sein Gewicht ein wenig außer Kontrolle geraten... oder, besser gesagt, nicht ein wenig, sondern sehr stark. Er erschrak etwas, als er feststellte, daß er völlig außer Atem war.

Sie erreichte den Toilettentisch, griff nach etwas... drehte sich um... und plötzlich schwirrten seltsame Flugkörper durch die Luft. Sie schleuderte Kosmetikartikel nach ihm - Cremedöschen, Parfumflaschen. Eine Flasche Chantilly traf seinen nackten behaarten Brustkorb, und er wurde plötzlich von einer betäubenden Duftwolke eingehüllt.

»Hör auf!« brüllte er. »Hör auf, du verdammtes Luder!«

Ihre Augen schleuderten Blitze. Sie packte blindlings, was ihr unter die F inger kam und warf es nach ihm.

Er griff sich fassungslos an die Brust, wo die Chantillyflasche ihn getroffen hatte. Der Glasrand der Flasche hatte ihn verletzt. Es war nur eine kleine Schnittwunde, kaum mehr als ein dreieckiger Kratzer, aber er blutete, bei Gott, er blutete, und eine gewisse rothaarige Lady würde den Sonnenaufgang in einem Krankenhausbett erleben, eine gewisse rothaarige Lady, die...

Eine Cremedose traf ihn mit überraschender Kraft oberhalb der rechten Augenbraue; einen Moment lang tanzten Sterne vor seinen Augen, und er taumelte ein-zwei Schritte zurück.

Eine Niveacremetube traf seinen Bierbauch - und - das war doch wohl nicht möglich! Allmächtiger Gott, sie schrie ihn an!

»Ich komme hier schon raus, du Dreckskerl! Ich muß etwas Wichtiges erledigen, und ich gehe! Ich gehe! Hörst du, Tom? ICH gehe!«

Etwas Rotes floß ihm ins Auge, heiß und salzig. Auch seine schmerzende Stirn blutete also.

Einen Augenblick stand er wie versteinert da und starrte sie an, als hätte er sie noch nie gesehen. In gewissem Sinne war das auch tatsächlich der Fall. Ihre Brüste hoben und senkten sich rasch. Ihr Gesicht, eine Mischung aus fahler Blässe und glühender Röte, war von erschreckender Wildheit. Sie hatte ihre ganze Munition verschossen - der Toilettentisch war jetzt leer. Er konnte die Angst in ihren Augen lesen - aber es war nicht Angst vor ihm.

»Leg die Kleider zurück«, sagte er und bemühte sich, beim Sprechen nicht zu keuchen. Das würde einen schlechten Eindruck machen. Und seine Kopfschmerzen waren wieder da - schlimmer als zuvor. »Dann bringst du den Koffer an seinen Platz zurück. Dann legst du dich in dieses Bett. Und vielleicht werde ich dich dann nicht allzusehr verprügeln, Bev. Vielleicht wirst du schon nach zwei Tagen aus dem Haus gehen können anstatt nach zwei Wochen.«

Sie sah ihn an und sprach sehr langsam und deutlich. »Tom, wenn du mir noch einmal nahe kommst, bringe ich dich um. Verstehst du das, du ekelhafter elender Fettwanst? Ich bringe dich um.«

Und plötzlich - vielleicht aufgrund des grenzenlosen Ekels in ihrem Gesicht, vielleicht aufgrund der Verachtung oder auch nur aufgrund der rebellisch wirkenden Art und Weise, wie ihre Brüste sich hoben und senkten -plötzlich überfiel ihn wieder die Angst, jene schreckliche Angst... keine Frau konnte... seine Mutter... keine Frau...

Tom Huggins kam auf seine Frau zu. Diesmal brüllte er nicht. Er näherte sich ihr schweigend. Jetzt ging es nicht mehr darum, sie zu verprügeln oder zu unterjochen; jetzt wollte er sie umbringen.

Er dachte, sie würde versuchen wegzurennen. Vermutlich ins Bad, vielleicht auch zur Treppe. Statt dessen blieb sie stehen, wo sie war. Ihre Hüfte prallte gegen die Wand, als sie unter Aufbietung aller Kräfte den Toilettentisch an einer Seite hochstemmte, wobei sie sich zwei Nägel tief einriß, weil ihre verschwitzten Finger etwas ausglitten. Bei dem Toilettentisch handelte es sich um eine billige Ausführung aus dünnen Spanplatten. Wäre er schwerer gewesen, so hätte er niemals eine wirksame Waffe sein können.

So aber hielt sie ihn an einer Seite hoch, drehte ihn etwas, und als Toms Arme vorschössen wie plumpe Kolben, kippte sie den Toilettentisch mit seinem großen ovalen Spiegel nach vorne. Im Innern klirrten Flaschen. Die Vorderkante traf Toms Oberschenkel wie eine Guillotine. Er stürzte zu Boden. Sie sah, wie er entsetzt die Augen aufriß und mit dem Ellbogen sein Gesicht zu schützen versuchte, als der Spiegel auf ihn fiel. Er schrie. Der Riemen schlug auf dem Teppich auf.

Jetzt erst kamen ihr die Tränen. Sie schluchzte. Von Zeit zu Zeit hatte sie sich ausgemalt, daß sie Tom und seine Tyrannei verlassen würde wie die ihres Vaters, daß sie sich nachts mit Sack und Pack davonstehlen würde. Sie war nicht dumm, mit Sicherheit nicht dumm genug, um zu glauben, daß sie Tom nie geliebt hatte. Sogar jetzt noch, inmitten all der Scherben, liebte sie ihn irgendwie. Aber das schloß die Angst nicht aus... auch nicht den Haß. Deshalb herrschte in ihrem Innern ein wilder Aufruhr, und sie schluchzte und fühlte, daß sie bald anfangen würde zu schreien.

Aber durch diesen inneren Aufruhr hindurch drang plötzlich Mike Han-ions trockene, ruhige Stimme: ES ist zurückgekehrt, Beverly... ist zurückgekehrt ... zurückgekehrt... und du hast versprochen...

Mein Gott, wie hatte sie nur ihr Leben so verpfuschen können! Und das Allerschlimmste war vielleicht, daß sie auch noch geglaubt hatte, glücklich zu sein.

Der Toilettentisch bewegte sich auf und ab, als ob er atmete - einmal, zweimal.

Mit nach unten verzogenen, krampfhaft zuckenden Mundwinkeln zwang sie sich zum Handeln. Behende bahnte sie sich auf Zehenspitzen einen Weg durch die Glasscherben und packte ein Ende des Gürtels, gerade als Tom den Toilettentisch zur Seite hievte.

Sie verlagerte ihr Gewicht nach hinten und riß mit aller Kraft an dem Riemen. Die Schlinge glitt so leicht von seiner Hand, daß sie gegen die Wand taumelte und sich den Hinterkopf anschlug. Einen Moment lang verschwamm ihr alles vor den Augen. Der Druck von Klee, den aufzuhängen Tom ihr erst nach langem Bitten erlaubt hatte (»Das Bild sieht so aus, wie ich mich fühle, wenn ich einen Kater habe«, hatte er gesagt. »Warum zum Teufel sollte ich immer so 'nen verdammten Kater anschauen wollen, Bev?«), fiel zu Boden. Der Glasrahmen zerbrach. Noch mehr Zeug zum Zusammenkehren, dachte sie und konnte ein irres Gelächter nicht unterdrücken.

Tom stand mühsam auf. Der Spiegel hatte ihn am Kopf getroffen, und er hatte neue Schnittwunden auf beiden Wangen und auf der Stirn - vom linken Haaransatz zur rechten Braue. Blut floß ihm ins Auge, so daß er sie anstierte wie ein einäugiger Pirat. Auch seine Boxershorts waren blutbefleckt. Er sah aus wie ein Irokese nach irgendeinem unheimlichen Stammesritual.

»Gib mir den Gürtel«, sagte er heiser.

Statt dessen wickelte sie ihn zweimal um ihre Hand und sah ihn herausfordernd an.

»Schluß jetzt, Bev! Hör jetzt endlich auf mit dem Unsinn.«

»Wenn du einen Schritt näher kommst, prügle ich dir die Scheiße aus dem Arsch«, sagte sie und konnte nicht glauben, daß das ihre eigenen Worte gewesen waren. Wessen Gesicht war das? Toms Gesicht? Oder das ihres Vaters? O Gott! O Gott, hilf mir, o Gott, hilf mir jetzt...

»Ich prügle die Scheiße aus dir raus!« sagte diese andere Beverly. »Du bist fett und langsam, Tom. Ich gehe. Ich glaube, ich gehe für immer. Alles ist vorüber, glaube ich.«

»Wer ist dieser Denbrough?«

»Vergiß es. Ich war...«

Sie erkannte erst im allerletzten Moment, daß seine Frage nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Er machte wieder einen Schritt auf sie zu, und sie ließ den Gürtel in weitem Bogen vor ihren Augen durch die Luft sausen, und das Geräusch, mit dem er auf Toms Mundpartie landete, glich dem eines Korkens, der aus der Flasche gezogen wird.

Er brüllte vor Schmerz laut auf und schlug sich die Hände vor den Mund, mit weit aufgerissenen, fassungslosen und entsetzten Augen, den Augen eines kleinen Jungen, der gerade mit ansehen mußte, wie sein Hund überfahren wurde. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch und rann ihm über die Handrücken.

»Du hast mir die Zähne eingeschlagen, du Drecksluder!« rief er erstickt. »O Gott, du hast da drin alles zerschlagen!«

Trotzdem gab er nicht auf. Er nahm die Hände vom Mund und versuchte von neuem, sie zu packen. Sein Mund war ein roter Fleck, mit Weiß gesprenkelt. Seine Zähne, dachte sie dumpf. O Tom... Daddy... bitte, nicht mehr, ich werde sonst noch verrückt...

Während jene andere Beverly - jene, die das wahnwitzige Frohlocken eines plötzlich unerklärlicherweise befreiten Galeerensträflings verspürt hatte, als Mike ihr am Telefon die schrecklichen Neuigkeiten berichtete -dachte: gut! schlucksie! erstickdaran!

Es war jene andere Beverly, die nun zum letzten Mal mit dem Gürtel weit ausholte, mit demselben Gürtel, mit dem er in den letzten vier Jahren ihr Gesäß, ihre Beine, ihre Brüste bearbeitet hatte. Eine genau abgestufte Zahl von Hieben für Vergehen von verschiedener Schwere. Für kalt gewordenes Abendessen gab es zwei Hiebe mit dem Riemen. Wenn sie abends noch im Studio arbeitete und vergaß, zu Hause anzurufen, setzte es drei Hiebe. Bei Zigarettenrauch im Haus, wenn er heimkam - einen, quer über die Brüste. Er war gut. Er verletzte sie selten. Es tat nicht einmal so sehr weh; was schmerzte, war die Demütigung. Und am meisten schmerzte das Wissen, daß irgendein kranker und dummer Teil von ihr nach dieser Demütigung verlangte.

Mit diesem letzten Schlag zahlte sie ihm alles heim.

Sie holte aus, zielte tief, und der Riemen sauste auf seine Hoden herab. Das war's. Jede Kampflust entwich schlagartig aus Tom Huggins.

Er kreischte und fiel auf die Knie, als wollte er beten, die Hände zwischen den Beinen, den Kopf zurückgeworfen; seine Halsadern traten wie dicke Stränge hervor, sein Mund war eine Tragödenmaske der Qual.

Sein linkes Knie landete genau auf der großen zackigen Scherbe einer Parfumflasche, und er ließ sich auf eine Seite fallen, riß eine Hand von seinen Eiern los und griff nach dem blutenden Knie.

Das Blut, dachte sie entsetzt. Er blutet überall.

Er wird's überleben, erwiderte jene andere Beverly ganz kalt. Mach lieber, daß du schleunigst hier rauskommst, bevor er auf die Idee kommt, diesen Tanz weiterzuführen. Bevor es ihm einfällt, seine Winchester aus dem Keller zu holen.

Sie machte einige Schritte rückwärts, verspürte einen heftigen Schmerz in ihrem eigenen nackten Fuß, als sie auf eine Glasscherbe des zerbrochenen Bilderrahmens trat und bückte sich nach ihrem Koffer. Sie ließ Tom keinen Moment aus den Augen. Sie ging rückwärts zur Tür, dann den Flur entlang, wobei sie blutige Fußspuren hinterließ.

Sie ging rasch die Treppe hinab, ohne nachzudenken. Sie zwang sich dazu, nicht nachzudenken. Aber sie hatte ohnehin den starken Verdacht, daß sie im Moment keinen zusammenhängenden Gedanken fassen könnte, selbst wenn sie wollte; in ihrem Innern brauste und toste es - es glich einem geborstenen Damm, durch den das Wasser wild hervorschießt.

Sie spürte eine leichte Berührung an einem Bein.

Sie schaute nach unten und sah, daß sie den Riemen noch immer um die Hand gewickelt hatte und daß er an ihrem Bein entlangstreifte. Im trüben Licht auf der Treppe sah er mehr denn je einer toten Schlange ähnlich.

Sie schauderte vor Entsetzen, schleuderte ihn von sich und sah, wie er S-förmig unten auf dem Flurteppich landete.

Im Erdgeschoß angelangt, packte sie den Saum ihres weißen blutbefleckten Spitzennachthemdes und zog es sich über den Kopf. Sie warf es beiseite - es blieb wie ein Fallschirm auf dem Gummibaum am Eingang zum Wohnzimmer hängen - und bückte sich nackt zum Koffer hinunter.

BEVERLY, KOMM SOFORT RAUF!

Sie stieß keuchend den Atem aus. Sie öffnete den Koffer und holte einen Slip, eine Bluse und alte Levis-Jeans heraus. An der Tür stehend, die Treppe ständig im Auge behaltend, streifte sie die Kleidungsstücke über. Aber Tom tauchte oben auf dem Treppenabsatz nicht auf. Er brüllte nur zweimal ihren Namen, und jedesmal zuckte sie bei diesem Laut zusammen, mit gehetztem und zugleich irgendwie furchterregendem Blick.

Sie schloß die Blusenknöpfe, so rasch sie konnte. Die beiden oberen Knöpfe fehlten - es war komisch, sie kam so gut wie nie dazu, ihre eigenen Näharbeiten zu erledigen - und sie vermutete, daß sie ein wenig aussah wie eine Freizeitnutte auf Kundensuche - ohne BH, was deutlich zu sehen war, und mit nacktem Brustansatz. Aber es mußte einfach auch so gehen.

ICH BRINGE DICH UM, DU DRECKSLUDER! Du VERDAMMTES DRECKSLUDER!

Sie warf den Kofferdeckel zu und schloß mit zitternden Händen die Schnallen, ohne darauf zu achten, daß ein Blusenärmel wie eine Zunge aus dem Koffer heraushing. Dann warf sie rasch einen Blick in die Runde -vermutlich würde sie dieses Haus nie wiedersehen.

Es war ein befreiender Gedanke.

Sie öffnete die Tür und trat hinaus.

Sie ging schnell, ohne genau zu wissen wohin, und erst, als sie drei Blocks von ihrem Haus entfernt war, bemerkte sie, daß sie barfuß lief. Der Fuß, mit dem sie in die Scherbe getreten war, pochte dumpf. Sie mußte etwas an die Füße bekommen, und es war fast zwei Uhr morgens. Sie hatte kein Geld. Ihre Brieftasche und ihre Kreditkarten lagen zu Hause. Sie hatte keinen Cent bei sich.

Sie betrachtete diese vornehme Wohngegend - hübsche Häuser, gepflegter Rasen, kultivierte Blumenbeete, dunkle Fenster.

Und plötzlich begann sie zu lachen.

Beverly Huggins saß auf einer niedrigen Steinmauer, den Koffer zwischen ihren nackten, schmutzigen Füßen, und lachte. Die Sterne schienen -wie hell sie waren. Sie warf den Kopf zurück, um sie besser sehen zu können, und lachte und lachte, und jenes verrückte Hochgefühl - jenes undefinierbare Verlangen - durchströmte sie wieder wie eine riesige Flutwelle, die einen emporhebt und trägt; und dieses Gefühl war so stark, so mächtig, daß jeder bewußte Gedanke darin völlig unterging.

Sie lachte zu den Sternen hinauf, verängstigt, aber frei, sie war ganz erfüllt von einem angsterfüllten Jubel wie bei einer Fahrt mit der Berg- und Talbahn; und als im oberen Stockwerk des Hauses, auf dessen Steinmauer sie saß, ein Licht anging, packte sie ihren Koffer und flüchtete - immer noch lachend - in die Nacht hinein.

6. Bill Denbrough nimmt sich etwas Zeit für eine Erklärung

»Wegfahren?« sagte Audra und warf ihm vom anderen Ende des Wohnzimmers aus einen verwunderten Blick zu. In den Räumen war es schon wieder empfindlich kühl, 27. Mai hin oder her. Der Frühling in Südengland war dieses Jahr ungewöhnlich naßkalt gewesen, und bei seinen regelmäßigen Morgen- und Abendspaziergängen hatte Bill Denbrough unwillkürlich mehr als einmal an Maine gedacht... und an Derry. Der Makler hatte die Zentralheizung des Hauses besonders hervorgehoben, aber Bill und Audra hatten schon kurz nach Beginn der Dreharbeiten festgestellt, was die Briten unter Zentralheizung verstanden - nämlich, daß man morgens keine Eisschicht in der Kloschüssel wegpissen mußte.

»Wegfahren?« sagte sie noch einmal, als wäre es ein schwerverständliches Fremdwort. »Bill, du kannst doch nicht einfach wegfahren.«

»Ich muß«, sagte er und ging zum Schrank. Er holte eine Flasche >100 Pi-pers< heraus und schenkte sich ein Glas ein, wobei er etwas verschüttete. »Verdammt!«

»Worüber bist du so beunruhigt?« fragte sie schrill. »Wer war da vorhin am Telefon, Bill?«

»Ich bin nicht beunruhigt.«

»Oh? Zittern deine Hände immer so? Hast du plötzlich die Brightsche Krankheit, Liebling?«

Er setzte sich wieder in seinen Sessel und versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht so recht. »Man sieht es mir an, wie?«

Im Fernsehen war der BBC-Sprecher gerade am Ende der schlechten Nachrichten dieses Abends angelangt und ging nun zu den Fußballergebnissen über. Als sie einen Monat vor Beginn der Dreharbeiten in der kleinen Vorstadt Fleet angekommen waren, waren sie beide von der technischen

Qualität des Fernsehens begeistert gewesen - mehr Zeilen oder irgend so was, hatte Bill gesagt. Ich weiß nicht, was es ist, hatte Audra gesagt, aber es sieht so fantastisch aus, als könnte man mit einem Schritt mitten im Geschehen stehen. Das war, bevor sie entdeckt hatten, daß ein großer Teil des Programms aus amerikanischen Fernsehserien bestand - > Charlie's Angels< und >Happy Days< bis hin zu >Dallas<.

»Natürlich sieht man es dir an«, sagte sie.

»Ich habe in letzter Zeit sehr viel an Zuhause gedacht«, sagte er und schlürfte seinen Drink.

»An Zuhause?« wiederholte sie und sah so verwirrt aus, daß er kurz auflachte und danach sein Glas leerte.

»Arme Audra«, meinte er. »Fast elf Jahre mit mir verheiratet - und du weißt überhaupt nichts von mir. Was sagst du dazu?« Wieder lachte er kurz auf, und die Art dieses Lachens gefiel ihr überhaupt nicht. Sie hatte noch nie ein Lachen gehört, das so große Ähnlichkeit mit einem Schmerzensschrei hatte. »Ich frage mich, ob die anderen auch Ehepartner haben, die gerade ähnliche Erfahrungen machen.«

»Bill, ich weiß jedenfalls, daß ich dich liebe«, sagte sie. »Und ich weiß auch, daß du mir etwas Angst einjagst. Bitte, erzähl mir, was los ist. Bitte!«

Sie sah ihn mit ihren herrlichen grauen Augen beschwörend an, diese Frau, die er geliebt und geheiratet hatte und immer noch liebte. Er versuchte sich mit ihren Augen zu sehen, es wie eine Story zu sehen, und er kam zu dem Schluß, daß solch eine Geschichte sich nicht gut verkaufen ließe.

Da ist ein armer Junge aus dem Bundesstaat Maine, der dank eines Stipendiums die Universität besucht. Er wollte immer Schriftsteller werden, aber als er dann die Schreibkurse besucht, stellt er fest, daß er sich ohne Kompaß in eine seltsame, beängstigende Welt verirrt hat; dieser Bursche will ein zweiter Updike werden, jener ein zweiter Faulkner; ein Mädchen bewundert Joyce Carol Oates, glaubt aber, daß die Oates aufgrund ihres Heranwachsens in einer sexistischen Gesellschaft unfähig zur >Reinheit< ist; es selbst werde reinere Werke schreiben, behauptet es.

Da ist ein kleiner Kerl mit dicken Brillengläsern, dessen Sprechen eher ein Murmeln ist. Er schreibt ein Stück mit sieben Personen, von denen jede nur ein Wort sagt; ganz allmählich sollen die Zuschauer begreifen, daß die Personen folgenden Satz zum besten geben: >Krieg ist das Werkzeug der sexistischen Todeshändler. < Das Stück wird vom Universitätslehrer für kreatives Schreiben, der außer seiner Doktorarbeit vier Gedichtbände bei Univer-sity Press veröffentlicht hat, mit der besten Zensur - einem > A< - benotet. Es wird von der experimentellen Theatergruppe einstudiert und während des Streiks zur Beendigung des Vietnamkrieges für würdig befunden, als echtes >Guerilla-Theaterstück< aufgeführt zu werden.

Bill Denbrough hat währenddessen mehrere Horrorgeschichten, eine geheimnisvolle Erzählung um ein verschlossenes Zimmer und drei Sciencefiction-Stories geschrieben. Für eine der Science-fiction-Geschichten hat er ein >B< bekommen. »Diese Geschichte ist besser«, hat der Lehrer darunter-geschrieberi. >Im Gegenschlag der Außerirdischen wird der Zirkelschluß dargestellt, daß Gewalt neue Gewalt erzeugt. Mir gefiel besonders das >nadelförmig zugespitzte< Raumschiff als symbolträchtiges Element der feindlichen Invasion. Die phallischen Untertöne sind zwar etwas konfus, aber interessant.« Bills andere Arbeiten sind allesamt nur mit >C< benotet worden.

Schließlich meldet er sich eines Tages im Unterricht zu Wort, nachdem die Diskussion über einige wenige Zeilen eines blassen Mädchens bereits 70 Minuten gedauert hat. Das blasse Mädchen, das eine Zigarette nach der anderen raucht und von Zeit zu Zeit an seinen Schläfenpickeln kratzt, besteht darauf, daß seine Zeilen ein sozio-kulturelles Statement darstellen. Der größte Teil der Klasse - und der Lehrer - ist der Meinung des Mädchens, aber die Diskussion geht immer noch weiter.

Die Augen der ganzen Klasse sind auf Bill Denbrough gerichtet. Deutlich artikuliert, ohne zu stottern (er stottert seit mehr als fünf Jahren nicht mehr), sagt er: »Ich verstehe das überhaupt nicht. Ich verstehe nichts von alldem. Warum muß eine Geschichte politisch oder sozial oder kulturell motiviert sein? Sind das nicht ganz natürliche Bestandteile jeder gut erzählten Geschichte? Ich meine...« Er blickt in die Runde, sieht feindselige Augenpaare und erkennt niedergeschlagen, daß sie in seiner Äußerung einen Angriff sehen - möglicherweise den Angriff eines geheimen sexistischen Todeshändlers in ihrer Mitte. »Ich meine... kann eine Geschichte nicht einfach eine Geschichte sein?«

Niemand erwidert etwas darauf. Schweigen breitet sich aus. Er steht da und blickt von einem kühlen Augenpaar zum anderen. Das blasse Mädchen stößt Rauchwolken aus und drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus.

Schließlich sagt der Lehrer sehr sanft wie zu einem Kind, das einen unerklärlichen Wutanfall hat: »Glauben Sie, daß William Faulkner einfach Geschichten erzählte? Glauben Sie, daß Shakespeare nur daran interessiert war, Geld zu verdienen? Los, Bill. Sagen Sie uns Ihre Meinung.«

»Ich glaube, daß das, was Sie soeben gesagt haben, sehr nahe an die Wahrheit herankommt«, erklärt Bill, und an den Augen der anderen Kursteilnehmer kann er ablesen, daß sie ihn verdammen.

»Ich würde sagen«, äußert sich der Lehrer, mit seinem Federhalter spielend und mit halb geschlossenen Augen nachsichtig lächelnd, »daß Sie noch eine ganze Menge lernen müssen.«

Der Beifall setzt irgendwo in den hinteren Reihen ein.

Bill geht - aber in der folgenden Woche ist er wieder da, fest entschlossen, nicht aufzugeben. Er schreibt eine Geschichte mit dem Titel >The Dark< ->Das Dunkel< -, die von einem kleinen Jungen handelt, der im Keller seines Hauses ein Monster entdeckt, den Kampf mit ihm aufnimmt und es schließlich tötet. Er verspürt eine Art heiliger Erregung, als er daran geht, diese Geschichte niederzuschreiben; er hat sogar das Gefühl, daß nicht er die Geschichte erzählt, sondern daß die Geschichte ihn nur als eine Art schreibendes Medium benutzt; und an einer Stelle legt er die Feder aus der Hand und geht in die Dezemberkälte hinaus, um seiner heißen, schmerzenden Hand etwas Erholung zu gönnen; er schlendert umher, der Schnee knirscht unter seinen kurzen grünen Stiefeln, und die Geschichte scheint seinen Kopf aufzublähen; es ist etwas beängstigend, wie stark sie hinausdrängt. Er hat das Gefühl, daß sie ihm in ihrem übermächtigen Drang die Augen aus dem

Kopf drücken wird, wenn ihr der Weg über seine Hand verwehrt wird. Er lacht unsicher auf. Ihm wird bewußt, daß er plötzlich nach zehn Jahren des Herumexperimentierens das Geheimnis des Schreibens entdeckt hat. Und er kann nicht länger warten; die Geschichte drückt regelrecht gegen seine Augen und Trommelfelle. Wenn er sie nicht jetzt gleich niederschreibt, wird sie ein Loch in seinen Kopf sprengen - ein rundes blutiges Loch wie von einer Pistolenkugel -, um herauszukommen.

Er stürzt in sein Zimmer und schreibt wie im Fieber die Geschichte zu Ende, schreibt bis vier Uhr morgens... und wenn jemand ihm gesagt hätte, daß er über seinen Bruder George schrieb, so wäre er höchst überrascht gewesen, denn er war der ehrlichen Überzeugung, seit Jahren nicht mehr an George gedacht zu haben.

Eine Woche später gibt der Lehrer ihm die Geschichte zurück. Über den Titel ist ein >F< geschmiert, und darunter steht in Großbuchstaben: schund.

Bill tippt die erste Seite - die Seite mit dem >F< - noch einmal ab und schickt seine Geschichte an eine Männerzeitschrift namens > White Tie<. Und er ist überrascht und außer sich vor Freude, als der Bellestristik-Redakteur >Das Dunkel< für 200 Dollar kauft und in einem kurzen Brief als »die beste Horrorgeschichte seit Bradburys >The Jar'<« bezeichnet.

Bill Denbrough begibt sich zu seinem Studienberater und läßt sich von diesem die Karte unterschreiben, auf der steht, daß er aus dem Kurs >Kreati-ves Schreiben 5< ausscheiden möchte. Bill Denbrough heftet diese Karte an den Brief des Redakteurs und befestigt beides am schwarzen Brett an der Tür des Lehrers für kreatives Schreiben. In der Ecke des schwarzen Bretts entdeckt er einen Anti-Kriegs-Cartoon. Und plötzlich schreibt er auf den unteren Rand des Cartoons: Wenn Belletristik und Politik austauschbar wären, wie Sie glauben, würde ich mich umbringen. Belletristik schreiben heißt erzählen, nicht politisieren. Ich weiß das, weil die Politik sich laufend ändert, der Wert einer Geschichte hingegen nie. Nach kurzem Zögern fügt er noch hinzu: Ich würde sagen, daß Sie noch eine ganze Menge lernen müssen.

Drei Tage später erhält er die Bescheinigung über sein Ausscheiden mit der Post zugeschickt. Der Lehrer hat sie unterschrieben. An der Stelle, die für die zensur zur zeit des Ausscheidens frei gelassen ist, steht nicht >ab-gebrochen< oder das >C<, das er nach seinen bisherigen Noten verdient hätte, sondern wieder ein >F<.

Bill könnte diese Angelegenheit vor den Dekan für Kunst und Wissenschaften oder vor den Fakultätsleiter bringen, aber er will mit dem Lehrer für kreatives Schreiben nichts mehr zu tun haben - weder mit dem Mann noch mit seiner Friedenspolitik noch mit seiner Klassenzimmerpolitik der allumfassenden intellektuellen Kriegführung.

Er läßt die ganze Angelegenheit fallen, nimmt sein >F< hin und macht Rhetorik zu seinem Hauptfach.

In seinem letzten Studienjahr schreibt er einen Roman... der Roman wird veröffentlicht und verkauft sich gut... und das Märchen nimmt seinen Anfang. Mit 22 Jahren ist Stotter-Bill Denbrough ein Erfolgsautor; drei Jahre später erlangt er - 3000 Meilen vom nördlichen Neuengland entfernt -eine ihm unangenehme Berühmtheit, indem er einen Filmstar heiratet, der fünf Jahre älter ist als er selbst.

Sowohl seine als auch Audras Freunde (und Feinde) prophezeien, daß die Ehe nicht länger halten wird als sieben Monate. Die Klatschkolumnisten sind derselben Meinung; vom Altersunterschied einmal abgesehen, sind sie auch sonst viel zu verschieden. Er ist groß, neigt aber zur Körperfülle, er trägt eine Brille und hat schütteres Haar. Er spricht langsam, und manchmal scheint er sich überhaupt nicht artikulieren zu können. Sie ist schlank, rotblond, schön - weniger eine irdische Frau als vielmehr ein Wesen aus irgendeiner halbgöttlichen Superrasse.

Er ist engagiert worden, das Drehbuch-Expose seines zweiten Romans >The Black Rapids< - >Die schwarzen Stromschnellen< - zu schreiben - hauptsächlich deshalb, weil er ohne diese Chance die Filmrechte nicht verkaufen wollte. Zum allgemeinen Erstaunen - auch zu seinem eigenen - erweist sich sein Drehbuch als ausgezeichnet. Er wird nach Universal City eingeladen, um dort an den Produktionsversammlungen teilzunehmen und gewisse Änderungen vorzunehmen.

Seine Agentin, ein kleines Persönchen namens Susan Browne, das außergewöhnlich energisch ist, rät ihm davon ab. »Überlaß ihnen die Sache«, sagt diese Frau, die genau 5 Fuß groß und 88 Pfund schwer ist und faszinierende braune Augen hat. »Nimm das Geld und lauf weg. Wenn du dich dorthin begibst, werden sie dich erstens deiner Selbstachtung berauben, zweitens deiner schriftstellerischen Fähigkeiten und - last not least - deiner Eier. Du schreibst großartig, aber du bist ein Kind.«

»Ich muß hin«, sagt Bill. »Ich muß von Neuengland wegkommen.«

»Weshalb denn nur, um Gottes willen?«

»Ich weiß nicht. Es muß einfach sein.«

Susan seufzt. Sie liegen zusammen im Bett. Ihre Brüste sind wie kleine Äpfel, süße Äpfel. Sie zündet eine Zigarette an, und vielleicht glaubt sie, daß er ihre Tränen nicht sieht, aber er sieht sie. Er liebt sie zwar nicht, aber er hat sie sehr gern.

»Dann geh«, sagt sie, und als sie sich ihm wieder zuwendet, sind ihre Augen trocken. »Ruf mich an, wenn du fertig bist. Dann komme ich und sammle die Stücke auf, wenn noch welche von dir übrig sein sollten.«

Audra spielt die Hauptrolle in dem Film - Audra Phillips. Und das einzige, was er in Universal City verliert, ist sein Herz.

»Bill«, sagt Audra wieder und brachte ihn damit in die Gegenwart zurück. Er sah, daß sie den Fernseher ausgeschaltet hatte. Er blickte aus dem Fenster - kalter Nebel drückte gegen die Fensterscheiben, Leichenhänden gleich.

»Ich werde dir erklären, soviel ich kann«, sagte er. »Du verdienst es. Aber zuerst bitte ich dich, zwei Dinge für mich zu tun.«

»In Ordnung.«

»Mach dir einen Drink zurecht und erzähl mir, was du von mir weißt. Was du zu wissen glaubst...«

Sie "sah ihn verwirrt an und ging zum Schrank. »Ich weiß, daß du aus Maine stammst«, sagte sie, während sie sich einen schwachen Gin mit Tonic mixte. Sie hatte einen ganz leichten britischen Akzent, obwohl sie keine Britin war; sie brauchte diesen Akzent für ihre Rolle in >Attic Room< - >Dach-zimmer< -, dem Film, den sie hier drehten. Es war Bills erstes Originaldrehbuch. Man hatte ihm auch angeboten, selbst Regie zu führen; Gott sei Dank hatte er das abgelehnt. Sonst hätte es einen noch größeren Krach gegeben, wenn er jetzt plötzlich nach Amerika flog. Es würde ohnehin schon jede Menge Gerede geben. Bill Denbrough hat endlich sein wahres Gesicht gezeigt, würde es heißen. Er ist eben auch nur so ein verdammter Schriftsteller, verrückter als eine Scheißhausratte.

Weiß Gott, im Augenblick hatte er tatsächlich das Gefühl, verrückt zu sein.

»Ich weiß, daß du einen Bruder hattest, den du sehr liebtest, und daß er starb«, fuhr Audra fort. »Ich weiß, daß du mit deinen Eltern von Bangor nach Portland umgezogen bist, als du zwölf warst, und daß dein Vater an Lungenkrebs gestorben ist, als du siebzehn warst. Du hast einen Bestseller geschrieben als du noch auf dem College warst... das muß sehr merkwürdig für dich gewesen sein.«

Er sah es an ihrem Gesicht - ihre plötzliche Erkenntnis, daß es zwischen ihnen Geheimnisse gab.

»Im darauffolgenden Jahr hast du >Die schwarzen Stromschnellen< geschrieben, und ein Jahr später bist du nach Hollywood gekommen, um für Universal das Drehbuch zu schreiben. Und in der Woche vor Beginn der Dreharbeiten fand eine Party statt, und du trafst eine sehr komplizierte junge Frau namens Audra Phillips, die fünf Jahre zuvor noch schlicht und einfach Audrey Philpott geheißen hatte. Und diese junge Frau war am Ertrinken. ..«

»Audra, nicht«, sagte er.

Ihr Blick hielt dem seinigen stand. »Jawohl, am Ertrinken. Zuviel Alkohol, zuviel Aufputschmittel am Morgen und zuviel Beruhigungsmittel am Abend, damit ich - damit sie - einschlafen konnte. Zuviel Interviews, zuviel Sex, zuviel Partys, zuviel gutes Essen. Natürlich waren das alles nur Symptome. Nur Teile des einen großen Syndroms. Weißt du, wie ich es jetzt bezeichne, Bill?«

»Nein.«

Sie nippte an ihrem Drink und lächelte, wobei sie ihm immer noch in die Augen blickte. »Ich nenne es das Freddy-Prinze-Syndrom. Wenn... wenn einfach alles auf einen einströmt. Wie die letzten 15 Minuten von >2001<. Wenn man nicht wegschauen kann. Weißt du, was das für ein Gefühl war?«

»Ich glaube, ich...«

»Ich werde es dir erzählen, denn du weißt es nicht. Du hast dieses Gefühl nie kennengelernt... nein, schüttle nicht den Kopf. Du hast es nie kennengelernt. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Kennst du das Transportband, das es auf dem internationalen Flughafen von Los Angeles gibt?«

Er lachte laut auf, nicht weil das Gespräch plötzlich eine neue Wendung genommen zu haben schien, sondern weil er genau wußte, worauf sie abzielte . Das Lachen tat gut; das Lachen machte alles ein wenig besser, ein wenig erträglicher. Er nickte.

»Es ist etwa eine Viertelmeile lang«, sagte sie. »Und man braucht nur dazustehen, und es bringt einen zur Gepäckhalle. Aber wenn man will, kann man darauf auch gehen. Oder rennen. Und es kommt einem so vor, als gehe oder laufe oder renne man ganz normal, wie immer- denn der Körper vergißt völlig, daß man sich dabei nicht nur mit dem eigenen Tempo bewegt, sondern daß das Tempo des Transportbandes noch hinzukommt. Deshalb auch die Schilder am letzten Stück, auf denen steht: tempo verlangsamen, TRANSPORTBAND BEWEGT SICH.

Als ich dich traf, fühlte ich mich, als wäre ich von einem solchen Ding direkt auf einen Boden gerannt, der sich nicht mehr bewegte. Da war ich nun mit meinem Körper, der meinen Füßen neun Meilen voraus war. Man kann dabei das Gleichgewicht nicht halten. Früher oder später fällt man hin. Aber du hast mich aufgefangen.«

Sie stellte ihr Glas ab und zündete eine Zigarette an, ohne den Blick von ihm zu wenden. Nur an der Tatsache, daß die Feuerzeugflamme das Zigarettenende ein paarmal verfehlte, konnte man erkennen, daß ihre Hände zitterten.

Sie zog intensiv an der Zigarette und stieß den Rauch aus.

»Du schienst alles so völlig unter Kontrolle zu haben«, fuhr sie fort. »Du schienst es nie eilig zu haben, zum nächsten Drink, zur nächsten Versammlung oder zur nächsten Party zu kommen. Du schienst dir sicher zu sein, daß all diese Dinge dasein würden... wenn du sie wolltest. Du sprachst langsam. Zum Teil lag das vermutlich an der gedehnten Sprechweise in Maine, aber zum größten Teil an deiner eigenen Persönlichkeit. Ich mußte langsamer werden, um dir zuhören zu können. Ich betrachtete dich, Bill, und ich sah einen Menschen, der auf dem Transportband ruhig dastand und sich vorwärtsbewegen ließ. Du schienst so unberührt von all der Hektik und Hysterie. Du hast dir nie einen Rolls-Royce gemietet, um damit am Samstagnachmittag auf dem Rodeo Drive zu protzen. Du hast nie eine von Judith Rossners Partys besucht. Du hast nie eine Show abgezogen.«

»Das können Schriftsteller gar nicht, es sei denn, daß sie Kartentricks beherrschen«, sagte er grinsend. »Es ist so eine Art Nationalgesetz.«

»Du hast mich gefragt, was ich von dir weiß«, sagte sie, ohne zu lächeln. »Ich weiß, daß du da warst, als ich dich brauchte. Du warst da, als ich mit voller Geschwindigkeit vom Transportband flog. Du hast mich aufgefangen. Vielleicht hast du mich davor bewahrt, nach zuviel Alkohol die falsche Tablette zu schlucken, oder vielleicht hast du mich davor bewahrt durchzudrehen, als mit 27 meine Brüste anfingen, ihre Straffheit zu verlieren. Vielleicht hätte ich es auch allein geschafft, vielleicht dramatisiere ich alles viel zu sehr. Aber tief im Innern glaube ich das nicht. Ich glaube, es ist die volle Wahrheit.«

Sie drückte die Zigarette aus, an der sie nur zweimal gezogen hatte, und die nun im Aschenbecher lag wie ein langes weißes Insekt mit gebrochenem Rücken.

»Seitdem warst du immer für mich da, das weiß ich. Wir waren gut füreinander, nicht nur im Bett, sondern auch sonst, das weiß ich. Ich weiß, daß du zuviel Bier trinkst und dich zu wenig bewegst, und ich weiß, daß du nachts manchmal schlecht träumst...«

»Ich träume nie«, sagte er bestürzt - bestürzt und beunruhigt.

Sie lächelte. »Das erzählst du den Journalisten, wenn sie dich fragen, woher du deine Ideen hast. Aber ich höre dich manchmal nachts stöhnen.«

»Spreche ich im Schlaf?« fragte er vorsichtig. Er konnte sich überhaupt nicht an irgendwelche Träume erinnern.

Audra lächelte ein wenig traurig. »Manchmal. Aber ich kann nie verstehen, was du sagst. Und einige Male hast du geweint.«

Er sah sie bestürzt an. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund und in der Kehle, bitter wie aufgelöstes Aspirin. Er vermutete, daß es Angst war... und er vermutete, daß er sich an diesen Geschmack gewöhnen würde. Wenn er lang genug lebte. Wenn er...

Erinnerungen versuchten auf ihn einzustürzen. Es war so, als würde irgendein geheimnisvolles schwarzes Ei in seinem Gehirn immer größer, als drohte es, schädliche Bilder aus seinem Unterbewußtsein in sein geistiges Gesichtsfeld zu schleudern, wo sie ihn zum Wahnsinn treiben würden. Er versuchte sie zurückzustoßen, aber zuvor hörte er eine Stimme aus jenem Grab - eine junge, ängstliche Stimme, die vor Asthma keuchte: Eddie Kasp-braks Stimme. Du hast mir das Leben gerettet, Bill. Diese großen Jungen - ich hab' Schiß vor ihnen. Manchmal glaube ich, daß sie mich wirklich umbringen wollen...

Und dann war Eddie in Tränen ausgebrochen, während er gleichzeitig keuchte und verzweifelt nach Atem rang.

»Deine Arme«, rief Audra. Sie starrte ihn mit großen ängstlichen Augen an.

Bill schaute hinab. Er hatte an beiden Armen eine Gänsehaut - eine unheimliche Gänsehaut mit weißen Erhebungen, die so groß wie Insekteneier waren.

Sie starrten beide darauf wie auf ein interessantes Exponat im Museum. Langsam verging die Gänsehaut wieder.

Audra brach das Schweigen, indem sie sagte: »O ja, und ich weiß noch etwas anderes. Jemand hat dich heute abend aus den Staaten angerufen, und jetzt sagst du, daß du mich verlassen mußt.«

Er stand auf und mixte sich noch einen Drink.

»Du weißt, daß ich einen Bruder hatte, und du weißt, daß er starb - aber du weißt nicht, daß er ermordet wurde«, sagte er. Audra gab hinter ihm ein keuchendes Geräusch von sich. Bill drehte sich nach ihr um. Sie preßte ihre Finger vor den Mund; ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Ermordet«, murmelte sie. »O Bill, warum hast du es...«

»Dir nicht erzählt?« Er lachte - es war wieder jenes bellende Geräusch, das sich anhörte wie ein schmerzerfülltes Heulen. »Ich weiß nicht. Es geschah an einem regnerischen Tag. Es hatte eine Überschwemmung gegeben. Und es war nicht Bangor, Audra. Es war eine kleine Großstadt oder eine große Kleinstadt - nenne es, wie du willst - namens Derry, etwa 25 Meilen südlich von Bangor. Jedenfalls war die Überschwemmung fast vorbei, und George wollte, daß ich ihm aus Zeitungspapier ein Boot machte. Er wollte es in den Rinnsteinen von Witcham Street und Jackson Street schwimmen lassen. Ich bastelte ihm also ein Boot und machte es wasserdicht, aber ich konnte nicht mit ihm nach draußen gehen, weil ich Grippe hatte. Ziemlich starke Grippe. Es ging mir zwar schon wieder besser, aber ich hatte noch Fieber, deshalb konnte ich ihn nicht begleiten. Andernfalls hätte ich ihn vielleicht gerettet. Ja, vielleicht hätte ich ihn retten können.«

Er hielt inne und fuhr sich mit der rechten Hand über die linke Wange, als suche er dort nach Bartstoppeln. Seine Augen, vergrößert durch die dicken Brillengläser, starrten nachdenklich ins Leere.

»Nun, er lief hinaus, und jemand ermordete ihn direkt auf der Witcham Street. Riß ihm den linken Arm aus, so wie ein Zweitkläßler einer Fliege die Flügel ausreißt, und ließ ihn dann im Rinnstein liegen und sterben.«

»O Gott, Bill!« Ihre Worte klangen fast wie ein Schrei.

»Aber du wolltest wissen, warum ich es dir nie erzählt habe«, fuhr er fort. »Wir sind seit fast elf Jahren verheiratet, und ich habe dir das nie erzählt. Ich weiß über deine ganze Familie Bescheid - sogar über deine Onkel und Tanten, obwohl ich sie manchmal durcheinanderbringe. Ich weiß, daß dein Großvater in lowa gestorben ist, als er in betrunkenem Zustand in seiner Garage an einer Bandsäge herumhantierte. Ich weiß diese Dinge, weil verheiratete Menschen, ganz egal, wie beschäftigt sie sind, nach einer gewissen Zeit fast alles erfahren, es sei denn, daß die Kommunikationskanäle so verstopft sind, daß sie einfach nicht miteinander reden können. Das alles stimmt doch, Audra, oder nicht?«

»Ja«, sagte sie leise. »Ich glaube, es stimmt.«

»Und wir konnten doch immer miteinander reden, nicht wahr?«

»Das... das dachte ich auch immer«, sagte sie. »Bis heute abend.«

»Das ist Blödsinn, und das weißt du selbst. Du weißt alles, was ich in den letzten zehn Jahren gemacht habe. Du weißt auch, daß ich mit Susan Browne geschlafen habe. Du weißt, daß ich sehr rührselig werde, wenn ich zuviel trinke. Du kennst genau all meine Hoffnungen, du liest das Zeug, das ich schreibe...«

»Aber das alles...« Sie brach mitten im Satz ab, dann setzte sie neu an: »Wieviel hat das... das alles... mit deinem Bruder George zu tun?«

»Laß mich auf meine Weise darauf kommen«, sagte Bill, und nun sah er sie fast flehend an. »Es ist so... so seltsam und so schrecklich..., daß ich vermutlich versuche, langsam darauf zuzukriechen. Weißt du... mir ist überhaupt nie in den Sinn gekommen, dir von Georgie zu erzählen.«

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an und schüttelte leicht den Kopf: Ich verstehe nicht.

»Ich habe seit zwanzig Jahren oder mehr nicht mehr an Georgie gedacht«, sagte er langsam.

»Aber du hast mir erzählt, du hättest einen Bruder gehabt, der George...«

»Ich habe einfach eine Tatsache berichtet«, sagte er. »Weiter nichts - sein Name war für mich nur ein Wort. Ich habe mich nie in Gedanken mit ihm beschäftigt.«

»Vielleicht träumst du von ihm«, sagte Audra. Ihre Stimme war sehr ruhig.

»Du meinst das Stöhnen?« fragte er. »Das Weinen und Murmeln im Schlaf?«

Audra nickte.

»Vielleicht ist es so«, stimmte er zu. »Du hast höchstwahrscheinlich recht. Aber das zählt eigentlich nicht, weil ich mich an keinen dieser Träume erinnere.«

Er sah ihren zweifelnden Blick, nickte ihr zu und grinste unfroh. »Gott ist mein Zeuge, Audra.«

»Ich glaube dir«, sagte sie. »Aber du willst mir doch nicht erzählen, daß du überhaupt nie an deinen Bruder gedacht hast, Billy - diese entsetzliche Art, wie er gestorben ist -, es muß doch Dinge geben, gute oder schlechte, die dich ab und zu an ihn erinnern. Ich weiß, du warst noch ein Kind, als es passierte, aber...«

»Und doch ist es genau das, was ich dir klarzumachen versuche.«

Sie sah ihn an und schüttelte wieder leicht den Kopf.

»Ich habe seit zwanzig Jahren oder mehr nicht an ihn gedacht«, wiederholte er. »Er ist mir überhaupt nie in den Sinn gekommen. Georgie nicht, Derry nicht, und nicht die Kinder, mit denen ich dort eng befreundet war -Eddie Kaspbrak und Richie Tozier, Stan Uris, Bev Marsh...« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und lachte unsicher auf. »Ich glaube wirklich, ich habe den schlimmsten Gedächtnisschwund gehabt, von dem ich je gehört habe. Und dann rief Mike Hanion an...«

»Wer ist Mike Hanion?«

»Auch eines der Kinder, mit denen ich nach Georgies Tod eng befreundet war. Natürlich ist er jetzt kein Kind mehr. Wir alle nicht mehr. Er rief mich aus den Staaten an. Er sagte: >Hallo? Bin ich mit der Wohnung der Den-broughs verbunden?< Ich bestätigte es, und er fragte: >Bill, bist du's?< Ich sagte ja, und er sagte: >Hier spricht Mike Hanion, Bill. Aus Derry. < Und es war so, als öffne sich plötzlich eine Tür in meinem Innern, Audra, und ein schreckliches Licht schiene daraus hervor, und ich erinnerte mich plötzlich wieder an Mike - und an all die anderen - und an Georgie - und ich wußte, daß er mich bitten würde zu kommen, noch bevor er es sagte.«

»Nach Derry zurückzukommen?«

»Ja«, sagte er. Er nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und blickte sie an. Nie im Leben hatte sie einen so angsterfüllten Mann gesehen. »Nach Hause. Zurück nach Derry. Wir hätten es versprochen, sagte Mike, und das stimmt, Audra. Wir haben es versprochen, wir alle. Wir standen in einem Bach, der durch die Barrens floß, und wir standen im Kreis und hielten uns an den Händen, und wir hatten uns die Handflächen aufgeritzt, so als ob wir Blutsbruderschaft schließen< spielten - nur war das kein Spiel, es war unser völliger Ernst.«

Er streckte ihr seine Hände hin, und in der Mitte jeder Handfläche konnte sie eine laufmaschenartige weiße Linie erkennen, bei der es sich um ein Narbengewebe handeln konnte. Sie hatte unzählige Male seine Hand -beide Hände - gehalten, aber es war ihr nie zuvor aufgefallen. Die Narben waren schwach, aber man hätte glauben sollen...

Und dann jene Party! Nicht die, auf der sie sich kennengelernt hatten, sondern die Abschiedsparty nach Beendigung der Dreharbeiten von >Die schwarzen Stromschnellen<, mit denen alle sehr zufrieden gewesen waren. Und Audra Phillips sogar noch mehr als die anderen, denn sie hatte sich in dieser Zeit in William Denbrough verliebt.

Es war eine lärmende Party gewesen, bei der viel getrunken wurde. Wie hatte doch jenes Mädchen geheißen? Es fiel ihr im Moment nicht ein. Jedenfalls war es die Assistentin des Maskenbildners gewesen (und in >Die schwarzen Stromschnellen<, einem Film über wandelnde Tote, hatte der Maskenbildner viel zu tun gehabt). Sie hatte irgendwann während der Party ihre Bluse ausgezogen (darunter hatte sie, wie Audra noch genau wüßte, einen sehr durchsichtigen BH getragen) und sie sich um den Kopf gewickelt wie ein Zigeunerkopftuch. Den Rest des Abends hatte sie den Partygästen aus der Hand gelesen... zumindest bis sie soviel süßen Rotwein intus hatte, daß sie einschlief.

Audra erinnerte sich nicht mehr daran, ob diese Assistentin ihre Sache als Wahrsagerin gut oder schlecht gemacht hatte - sie war an jenem Abend selbst ziemlich high gewesen - woran sie sich aber genau erinnern konnte, war der Moment, als die Frau nach Bills Hand gegriffen und die Linien mit dem Finger nachgezeichnet hatte, und wie sie selbst sofort von leichter Eifersucht gepackt worden war - wie albern in jener merkwürdigen kleinen Subkultur, wo Männer den Frauen so routiniert die Hintern tätscheln wie anderswo die Wangen!

Aber... damals war in Bills Hand kein weißes Narbengewebe zu sehen gewesen. Dessen war sie sich ganz sicher, und das sagte sie Bill.

Er nickte. »Du hast völlig recht. Die Narben waren damals nicht da. Und obwohl ich es nicht beschwören könnte, glaube ich, daß sie gestern abend auch noch nicht da waren. Ralph und ich haben im >Pitt and Barrow< wieder mal ein Handringen um Bier veranstaltet, und ich denke, daß sie mir dabei aufgefallen wären.«

Er grinste sie an. Es war ein trockenes, unfrohes, beunruhigendes Grinsen.

»Ich glaube, sie sind zum Vorschein gekommen, als Mike Hanion anrief. Das ist es, was ich glaube.«

»Bill, das ist unmöglich.« Aber sie griff nach ihren Zigaretten.

Bill betrachtete seine Hände. »Stanley hat es gemacht«, sagte er. »Mit der Scherbe einer zerbrochenen Cola-Flasche. Ich erinnere mich jetzt so deutlich daran.« Er schaute Audra an, und die Brille reflektierte seine verstörten, verwirrten Augen. »Ich kann mich erinnern, wie diese Scherbe in der Sonne funkelte, und ich erinnere mich, wie Stanley zuletzt seine eigenen Hände aufritzte, wobei er zuerst so tat, als würde er sich die Pulsadern aufschneiden. Er machte natürlich nur Spaß, aber ich wäre ihm fast in den Arm gefallen... um ihn davon abzuhalten. Denn einen Augenblick lang sah es so aus, als sei es sein völliger Ernst.«

»Bill, nicht«, sagte sie leise. Diesmal mußte sie den Knöchel ihrer rechten Hand mit der linken festhalten, um die Feuerzeugflamme an die Zigarette halten zu können. »Narben können nicht plötzlich wieder auftauchen. Entweder sind sie da, oder sie sind nicht da.«

»Aber du hast sie nie zuvor gesehen.«

»Sie sind sehr schwach«, erwiderte sie schärfer als beabsichtigt.

»Wir bluteten alle«, erzählte er weiter. »Und wir standen im Wasser, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Eddie Kaspbrak und Ben Hanscom und ich den Damm gebaut hatten...«

»Doch nicht Ben Hanscom, der Architekt?« rief sie bestürzt.

»Gibt es denn einen Architekten dieses Namens?«

»Du lieber Himmel, Bill, er hat das neue BBC-Kommunikationszentrum gebaut! Es wird immer noch darüber diskutiert, ob es nun ein Traum oder aber ein Alptraum ist!«

»Ich weiß nicht, ob das derselbe Ben Hanscom ist. Möglich wäre es. Der

Ben, den ich als Jungen kannte, konnte solche Dinge ganz fantastisch. Wir standen da, und ich hielt Bev Marshs linke Hand in meiner rechten und Richie Toziers rechte Hand in meiner linken. Wir standen da draußen im Wasser wie bei irgendeiner Taufzeremonie des Südens, und ich erinnere mich, daß ich den Wasserturm von Derry am Horizont sehen konnte, so weiß, wie man sich die Kleider der Erzengel vorstellt, und wir versprachen, wir schworen, daß - wenn es jemals wieder geschehen sollte, wir zurückkehren und dem ein Ende bereiten würden. Ein für allemal.«

»Wem ein Ende bereiten?« schrie sie, plötzlich wütend auf ihn. »Wem ein Ende bereiten? Verdammt, wovon redest du?«

»Ich wünschte, du würdest nicht f-f-fragen...«, begann Bill und verstummte. Ein Ausdruck verwirrten Schreckens huschte über sein Gesicht. »Gib mir eine Zigarette«, sagte er.

Sie reichte ihm die Packung. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte ihn seit fast sechs Jahren keine Zigarette mehr rauchen sehen.

»Ich habe damals gestottert«, sagte er.

»Du hast gestottert?«

»Ja. Du hast einmal zu mir gesagt, daß ich auf dich eine beruhigende Wirkung ausübte, weil ich nicht wie die Leute aus New York oder Kalifornien sprach. Erinnerst du dich noch daran? Du sagtest, ich würde langsam sprechen, und dadurch würdest du langsam denken und manchmal auch langsamer - und deshalb klüger - handeln...«

»Ich erinnere mich.«

»Du glaubtest, es hinge damit zusammen, daß ich aus Maine stamme. Aber das stimmt nicht, Audra. Alle ehemaligen Stotterer sprechen sehr langsam. Es ist einer der Tricks, die man lernt - genauso wie man lernt, an seinen Familiennamen zu denken, bevor man sich irgendwo vorstellt, denn Stotterer haben mit Substantiven mehr Schwierigkeiten als mit anderen Wörtern, und die größten Schwierigkeiten haben sie mit ihrem eigenen Vornamen.«

»Du hast gestottert?« Audra lächelte etwas verwirrt, so als hätte sie die Pointe eines Witzes nicht verstanden.

»Bis zu Georgies Tod habe ich mäßig gestottert«, fuhr Bill fort, und schon begann er im Geiste Wörter doppelt zu hören, wie in zeitlich unendlich weit voneinander entfernten Stereo-Lautsprecherboxen; die Wörter kamen mühelos heraus, in seiner langsamen und deutlichen Sprechweise, aber im Geiste hörte er >m-m-mäßig<. Auch das war eine unangenehme Erinnerung, auf die er gern verzichtet hätte. »Das heißt, es gab auch damals schon schlimme Momente - hauptsächlich in der Schule, wenn ich aufgerufen wurde - besonders dann, wenn ich die richtige Antwort wußte und geben wollte. Aber meistens hielt es sich in Grenzen. Nach Georgies Tod wurde das Stottern viel schlimmer. Als ich dann 14 oder 15 war, wurde es wieder besser. Wir hatten an der neuen High School in Portland eine Sprachthera-peutin, Mrs. Thomas, und sie half mir - sie lehrte mich den Trick, an meinen Nachnamen zu denken, bevor ich >Bill< sagte. Ich lernte damals in der Schule Französisch, und sie brachte mir bei, in die französische Sprache überzuwechseln, wenn ich etwas auf englisch nicht herausbekam. Wenn ich beispielsweise dastand und hilflos stotterte >Dieses B-B-B-B-<, konnte

ich auf französisch ausweichen und >cette livre< sagen. Das ging mir ganz leicht von den Lippen. Und meistens konnte ich dann auch auf englisch ohne Schwierigkeiten >dieses Buch< sagen.

All das half mir, aber hauptsächlich besserte sich mein Stottern, weil ich Derry und alles, was dort geschehen war, vergaß. Ja, Audra, damals vergaß ich alles. Auf der High School. Nicht von einem Augenblick zum anderen, aber in bemerkenswert kurzer Zeit. In vier Monaten oder so. Mein Stottern und meine Erinnerungen an die Geschehnisse in Derry verschwanden zur selben Zeit.«

Er stand auf, ging zur Bar, überlegte kurz und spülte dann sein Glas in dem kleinen Ablauf, Audra den Rücken zuwendend. »Vor wenigen Minuten habe ich gestottert. Bei dem Wort >fragen<. Ich glaube, es war das erste Mal seit 21 Jahren, daß ich gestottert habe.«

Er drehte sich nach ihr um.

»Die Narben und jetzt das St-Stottern. H-Hörst du es?«

»Das machst du jetzt absichtlich!« rief sie. Sie hatte plötzlich schreckliche Angst.

»Nein«, sagte er. »Ich glaube, man kann es niemand anderem begreiflich machen, aber ich kann das Stottern hören, bevor es herauskommt. Es ist wie ein leises Echo in meinem Kopf.« Er schloß den Barschrank und lehnte sich dagegen. Er sah erschöpft aus, und sie dachte mit Unbehagen daran, wie hart er in den letzten 13 Jahren gearbeitet hatte, als könnte er sein - wie er glaubte - bescheidenes Talent, das nur im Geschichten-Erzählen bestand, irgendwie rechtfertigen oder steigern, indem er unermüdlich arbeitete. Sie fragte sich beunruhigt, ob der Anrufer von vorhin vielleicht Ralph gewesen war, der Bill zu einem Bier in die Kneipe eingeladen hatte, oder vielleicht auch Firestone, der Regisseur von >Dachstube< oder vielleicht sogar jemand, der falsch verbunden gewesen war. Sie fragte sich, ob alles übrige vielleicht nur eine Halluzination von ihm war, der Beginn eines Nervenzusammenbruchs.

Aber die Narben - wie erklärst du dir dann die Narben? Er hat recht

- sie waren

vorher nicht da. Und du weißt das selbst.

»Was ist in Derry passiert?« fragte sie. »Erzähl mir auch den Rest, Bill. Wer hat deinen Bruder George ermordet? Und was ist danach geschehen?«

Er ging zu ihr und nahm ihre Hände.

»Ich nehme an, daß ich es dir erzählen könnte«, sagte er leise. »Ich glaube, ich könnte es, wenn ich wirklich wollte. Ich erinnere mich sogar jetzt nicht daran, aber ich kann die Erinnerungen spüren... wie Kinder, die darauf warten, geboren zu werden. Kinder, die... nicht gut sind. Vielleicht kann ich diese Erinnerungen ertragen, wenn ich mit den anderen zusammen bin, mit den anderen, die das durchgemacht haben...«

»Den anderen?«

»Mike hat sie alle angerufen«, erklärte er. »Er sagte, er glaube, daß sie alle kommen würden, vielleicht mit Ausnahme von Stanley. Er sagte, Stanley habe sich... sonderbar angehört.«

»Für mich hört sich das alles sehr sonderbar an«, sagte sie. »Du jagst mir schreckliche Angst ein, Bill.«

»Das tut mir leid, Liebling«, sagte er und küßte sie. Aber es war so, als würde sie von einem Fremden geküßt. Sie ertappte sich dabei, daß sie Mike Hanion haßte. Sie hatte ihn nie gesehen, aber sie haßte ihn.

»Ich hielt es für besser, dir zu erklären, soviel ich konnte. Besser, als sich einfach aus dem Staub zu machen, wie es vermutlich einige der anderen tun werden. Aber ich muß hin. Ich glaube, daß auch Stanley kommen wird, ob er sich nun sonderbar angehört hat oder nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, nicht hinzufahren.«

»Weil George dein Bruder war?«

Bill schüttelte langsam den Kopf. »Ich könnte dir zustimmen, daß das der Grund ist, aber es wäre eine Lüge. Ich liebte ihn. Ich weiß, wie merkwürdig sich das anhören muß, nachdem ich dir erzählt habe, daß ich seit zwanzig Jahren oder länger nicht mehr an ihn gedacht habe, aber ich liebte dieses Kerlchen wahnsinnig. Aber das ist nicht der Grund. Ich kann nicht erklären, was es ist. Ich...«

Er schüttelte den Kopf und blickte in den Nebel hinaus.

»Ich fühle mich so, wie sich ein Vogel fühlen muß, wenn es Herbst wird, und wenn er spürt... irgendwie spürt..., daß er heimfliegen muß.« Er blickte auf sie hinab. »Das ist Instinkt, Baby. Man kann nicht nein sagen. Man kann einfach nichts dagegen machen. Ich muß gehen. Jenes Versprechen.. . es steckt in meinem Gehirn wie ein A-A-Angelhaken.«

Sie stand auf, ging auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Dann nimm mich mit.«

In seinem Gesicht spiegelte sich plötzlich so nacktes Entsetzen- eine derartige Angst um sie -, daß sie erschüttert zurückwich.

»Nein«, rief er. »Nein, daran darfst du nicht denken, Audra. Du darfst nicht einmal in die Nähe von Derry kommen. Derry wird in nächster Zeit ein sehr schlechter Aufenthaltsort sein, nehme ich an. Du wirst hierbleiben und deine Rolle spielen und mich überall entschuldigen... dir den Klatsch anhören oder was auch immer... aber du wirst hierbleiben. Versprich mir das!«

»Versprechen?« fragte sie und schaute ihm in die Augen. »Du hast einmal ein Versprechen abgegeben - und sieh dir an, in welchen Schlamassel dich das gebracht hat! Und mich ebenfalls, weil ich deine Frau bin und dich liebe.«

»Versprich es mir. Wenn du mich liebst, Audra, so versprich es mir.«

Sie sah ihn wortlos an - sie war sich nicht sicher, was sie sagen würde, wenn sie jetzt sprechen würde. Sie war völlig durcheinander. Seine großen Hände lasteten schmerzhaft auf ihren Schultern.

»Versprich es mir! V-V-V-«

Sie konnte das nicht aushallen - dieses hilflos in seinem Mund steckengebliebene Wort.

»Ich verspreche es!« sagte sie und brach in Tränen aus. »Okay, ich verspreche es - bist du jetzt zufrieden? O Gott, du bist verrückt, die ganze Sache ist verrückt!«

Er legte den Arm um sie und führte sie zur Couch. Brachte ihr einen Brandy. Sie nippte daran und faßte sich allmählich wieder.

»Wann reist du also ab?«

»Morgen«, sagte er. »Firestone wollte mich nach dem Mittagessen sehen.

Du wirst wie gewöhnlich um neun bei den Dreharbeiten sein, und ansonsten spielst du die Unwissende. Verstehst du?«

Sie nickte widerstrebend.

»Ich fliege mit der Concorde, und ich werde in New York sein, bevor es hier überhaupt auffällt, daß ich nicht da bin. Vor Sonnenuntergang werde ich schon in Derry sein, wenn ich gute V-V-Verbindungen habe.«

»Und wann werde ich dich wiedersehen?« fragte sie leise.

Er legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich, und später liebten sie einander lange und hingebungsvoll - aber ihre Frage beantwortete er nicht.

Derry: Erstes Zwischenspiel

(Aus >Derry: Eine nicht autorisierte Stcdtgeschichte<, von Michael Hanion; unveröffentlichte Aufzeichnungen,, die im Keller der Stadtbücherei Derry gefunden wurden. Oben genannter Titel stand auf dem Ordner, in dem diese Aufzeichnungen lagen. In den Notizen selbst gibt der Autor seinem Werk dann mehrmals den Titel: >Derry: Ein Blick durch die Hintertür der Hölle<. MOn kann entnehmen, daß der Gedanke an eine Veröffentlichung populärer Art Mr. Hanion häufig durch den Kopf

ging-)

2. Januar

1985

Kann eine ganze Stadt heimgesucht werden?

Nicht nur eine einzelne Person, ein einzelnes Haus oder eine einzige Ecke einer einzigen Straße, nicht ein einzelnes Auto oder ein einziges Basketballfeld in einem einzigen kleinen Park, wo der netzlose Korb bei Sonnenuntergang hervorsteht wie ein obskures blutiges Folterinstrument; nicht nur ein einzelnes Loch in der Wand oder eine einzelne historische Sehenswürdigkeit; nicht nur solche Dinge - sondern alles?

Kann also eine ganze Stadt heimgesucht werden?

Heimsuchung: schweres großes Unglück; Besuch, meistens lästiger oder unangenehmer Art; Plage

heimsuchen: in freundlicher oder feindlicher Absicht jemanden aufsuchen; überfallen; treffen, schlagen (Leiden, Unglück);

Beispiele zum Gebrauch: von einer Seuche heimgesucht werden; von einer Heuschreckenplage heimgesucht werden; von Geistern heimgesucht werden.

Wovon wird Derry heimgesucht?

Wovon, in Gottes Namen?

In gewisser Weise ist es interessant - zumindest nehme ich das an. Ich hatte mir nicht vorstellen können, daß es möglich ist, mit einer solchen Angst zu leben, nach außen hin sogar sein ganz normales Leben weiterzuführen. In einer Geschichte würde ich erst am Schluß von dieser Angst überwältigt werden, wenn der Erzähler (vermutlich in gesteppter Jacke und Pfeife rauchend) mich tot am Kamin in meinem Arbeitszimmer finden würde, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet, mit völlig weißem Haar, mit einem starren Zeige-

finger, der in die Dunkelheit des Zimmers weist, aus der heraus die Heimsuchung plötzlich aufgetaucht ist...

Aber wenn dies eine Geschichte ist, so jedenfalls keine nach Art der klassischen Horrorgeschichten von Lovecraft, Machen oder Poe. Ich weiß zwar bei weitem nicht alles, aber doch eine ganze Menge. Ich habe mit meinen Nachforschungen nicht erst angefangen, nachdem ich letzten September in den >Derry News< von der ursprünglichen Aussage des Unwin-Jungen gelesen und erkannt hatte, daß der Clown, der George Denbrough ermordete, wieder aufgetaucht sein könnte. Ich habe schon seit 1980 Nachforschungen angestellt - ja, ich glaube, um jene Zeit herum ist ein Teil von mir erwacht, der bis dahin geschlafen hatte... so als hätte ich gewußt, daß auch Es in absehbarer Zeit wieder erwachen könnte.

Welcher Teil von mir? Ich nehme an, der Wachposten in mir.

Vielleicht war es aber auch die Stimme der Schildkröte. Ja, ich glaube, so muß es gewesen sein. Ich weiß jedenfalls, daß Bill Denbrough dieser Ansicht wäre.

Ich habe in alten Büchern Schilderungen alter Schrecken entdeckt, in alten Zeitschriften von alten Greueltaten gelesen; mit jedem Tag wurde eine Art Wellenrauschen in meinem Unterbewußtsein ein klein wenig lauter, so als spürte ich den heranziehenden Sturm; mit jedem Tag schien der bittere Geruch kommender Blitze stärker zu werden. Ich begann Notizen für ein Buch zu machen, das ich höchstwahrscheinlich nie schreiben werde. Und gleichzeitig nahm mein Leben - zumindest nach außen hin - seinen ganz gewöhnlichen Gang. Einerseits lebte und lebe ich mit den schlimmsten Schrecken, die man sich überhaupt vorstellen kann; andererseits führe ich das ruhige Leben eines Bibliothekars. Ich leihe Bücher aus und nehme sie wieder in Empfang. Ich stelle Bücher und Zeitschriften in die Regale zurück; ich schalte das Mikrofilmlesegerät aus, was unachtsame Benutzer manchmal zu tun vergessen; ich scherze mit Carole Danner, wie gern ich mit ihr ins Bett gehen würde; und sie geht auf meinen Scherz ein und sagt ihrerseits, wie gern sie mit mir ins Bett gehen würde, und wir wissen beide, daß sie wirklich nur Spaß macht, ich hingegen nicht, ebenso wie wir beide wissen, daß sie nicht lange in einem kleinen Ort wie Derry bleiben wird, daß ich aber immer hier sein werde, eingerissene Seiten in >Business Week< kleben werde und zu den monatlichen Sitzungen, wo es um die Neuanschaffungen geht, Platz nehmen werde, Pfeife und Aschenbecher in der einen Hand, den Stoß >Publisher's Weeklys< in der anderen.

Mein Haar ist nicht weiß geworden. Es wird immer schütterer, aber das war schon der Fall, bevor es wieder begonnen hat - wenn es wieder begonnen hat. Es ist noch zu früh, um das entscheiden zu können, und es ist noch Winter. Morgen wird erst der dritte Tag von 1985 sein. Beim letzten Mal begann es langsam, und richtig begann es dann im Sommer 1958.

Aber, mein Gott, was Adrian Mellon passiert ist, hat solche Ähnlichkeit mit dem, was dem Bruder von Stotter-Bill im Herbst 1957 zugestoßen ist.

Wenn es tatsächlich wieder begonnen hat, werde ich sie anrufen müssen.

Ich werde es tun müssen. Aber noch ist es zu früh. Deshalb warte ich ab und fülle die Wartezeit mit Aufzeichnungen aus; und manchmal betrachte ich mich lange im Spiegel, betrachte den Fremden, in den der Junge von einst sich verwandelt hat. Dieser Junge hatte das schüchterne Gesicht eines Bücherwurms; der Spiegel zeigt mir einen Mann, der aussieht wie ein Bankkassierer in einem Western, der immer eine farblose Gestalt ist und nichts weiter zu tun hat als ängstlich auszusehen und die Hände hochzunehmen, wenn die Bankräuber das befehlen.

Und meistens wird er erschossen, während die Bankräuber fliehen.

Derselbe alte Mike. Leichte dunkle Ringe unter den Augen, ein bißchen abgespannt vom unruhigen Schlaf, jedoch nicht so, daß es jemandem stark auffallen würde. Wenn jemand einen flüchtigen Blick auf mich wirft, während ich sein Buch abstemple, wird er höchstens denken: Er liest zuviel von seinen eigenen Büchern - vermutlich die heißen Stellen. Aber das ist auch schon alles. Niemand würde auf die Idee kommen, daß der Mann im weißen Hemd mit dezenten roten Streifen, den man seinem Gesicht nach eher auf 45 als auf 37 schätzen würde, der Mann ohne Ringe an den Fingern, der Mann mit einer Nickelbrille auf der Nase - daß dieser Mann gegen eine panische Angst ankämpft, die ihn nicht mehr losläßt.

Wenn ich anrufe, könnte diese Nachricht einige von ihnen umbringen.

Das gehört zu den Dingen, die mich während der langen Nächte beschäftigen, wenn ich nicht schlafen kann, wenn ich in meinem hellblauen Pyjama im Bett liege, meine Brille und ein Glas Wasser neben mir auf dem Nachttisch. Ich frage mich, woran sie sich noch erinnern mögen, und irgendwie bin ich überzeugt davon, daß sie sich an gar nichts mehr erinnern können. Ich bin der einzige, der die Stimme der Schildkröte hört, der sich erinnert, weil ich der einzige bin, der hier in Derry geblieben ist, wo alles sich ereignete. Und weil sie in alle vier Winde verstreut sind, können sie auch nichts von den identischen Mustern ihres Lebens wissen. Sie zurückholen, ihnen jenes Muster aufzeigen... es könnte einige von ihnen umbringen, es könnte sie alle umbringen.

Ich denke immer und immer wieder darüber nach; ich denke an sie und versuche zu entscheiden, wer von ihnen am verletzbarsten ist. Tozier, glaube ich manchmal, Tozier, der so oft von Criss und Huggins und Bowers schikaniert wurde (Bowers, in erster Linie war es Bowers, vor dem Richie Angst hatte); wenn ich ihn anriefe - würde das für ihn so eine Art schrecklicher Wiederkehr seiner Peiniger bedeuten, von denen zwei im Grabe liegen und einer bis zum heutigen Tage im Irrenhaus von Augusta Tobsuchtsanfälle bekommt? Manchmal glaube ich - Kaspbrak. So leicht für ihn, schwach zu sein, ängstlich zu sein, nach Hause zur Mama zu laufen, seinen Aspirator in der einen Hand, seine Tabletten in der anderen. Zuviel Tabletten. Eine Überdosis, wie man es nennt. Und dann keine Träume mehr. Zumindest soviel wir wissen. Oder vielleicht Denbrough, wenn er mit einem Horror konfrontiert wird, den er nicht einfach dadurch bannen kann, daß er die Hülle über seine Schreibmaschine zieht? Stan Uris? Oder Beverly, die immer versuchte, die Starke zu spielen, aber genauso Angst hatte wie wir alle?

Ein rasiermesserscharfes Fallbeil hängt über ihren Köpfen, aber ich glaube nicht, daß sie das wissen. Und ich kann es auf sie niedersausen lassen, einfach indem ich mein Adreßbuch öffne, in dem ihre Telefonnummern stehen, und sie anrufe.

Ich klammere mich an die schwache Hoffnung, daß ich einfach die Angstschreie meines eigenen begrenzten Verstandes fälschlicherweise für die Stimme der Schildkröte halte. Was habe ich denn schließlich in der Hand? Ein Kind, das letzten Oktober tot aufgefunden wurde; ein weiteres, das Anfang Dezember, kurz vor dem ersten Schneefall, ermordet wurde. Vielleicht war es wirklich ein Landstreicher, wie die Zeitungen schreiben. Oder ein Verrückter, der Derry inzwischen verlassen oder Selbstmord begangen hat. Vielleicht. Aber das Albrecht-Mädchen wurde im Witcham Park umgebracht, nur eine Viertelmeile von der Stelle entfernt, wo 27 Jahre zuvor George Denbrough umgebracht wurde... und es geschah am gleichen Tag. Und dann der Johnson-Junge, der verstümmelt auf der Outer Jackson Street lag.

Es könnte Zufall sein. Zufall oder sogar eine Art böses Echo. Ist so etwas möglich? Ja, ich glaube, daß es hier in Derry sehr wohl möglich ist. Vielleicht waren die Ereignisse von 1957 und 1958 so etwas wie ein lauter, schrecklicher Schrei, der in einen wie auch immer gearteten psychischen Canyon drang. 27 Jahre vergehen, und dann kommt das Echo jenes Schreis zurück, reflektiert von irgendeiner Felswand am äußersten Ende der Realität. Zwei Kinder und ein armer Schwuler sterben, und... Schluß. Tout fi-nis.

Möglich?

Wenn man geneigt ist, an Gespenster und Monster und Geisterspuk zu glauben, kann man es vermutlich durchaus für möglich halten.

Aber glaube ich an diese Erklärung?

Nein, Gott steh' mir bei.

Ich glaube, daß es immer noch hier ist, jenes Etwas, das schon früher hier war, 1957 und 1958, jenes Etwas, das 1929 und 1930 hier war, als der >Black Spot< von der Maine Legion of White Decency niedergebrannt wurde, jenes Etwas, das 1902 und 1903 hier war, als die Kitchner-Eisenhütte explodierte, jenes Etwas, das 1875 und 1876 hier war, jenes Etwas, das etwa alle 27 Jahre hier aufgetaucht ist, mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks, dessen Auftauchen sich sehr weit zurückverfolgen läßt, obwohl es natürlich immer verschwommener wird, je weiter man zurückgeht, weil es über jene Zeiten wenig schriftliche Quellen gibt, weil die Mottenlöcher in der Geschichte dieses Ortes größer und größer werden.

Ja, ich glaube, es ist zurückgekehrt. Ich glaube, ich werde anrufen müssen. Wir sind dazu ausersehen: das spüre ich. Irgendwie, entweder durch blinden Zufall oder durch das Wirken eines blinden Schicksals, sind'wir diejenigen, die auserwählt wurden, ihm für immer Einhalt zu gebieten. Oder ist es wieder jene verdammte Schildkröte? Erteilt sie vielleicht auch Befehle? Ich weiß es nicht. Und ich glaube, das ist auch nicht weiter wichtig. Vor vielen Jahren sagte Bill: Die Schildkröte kann uns nicht helfen, und wenn es damals so war, so wird es auch jetzt so sein.

Ich denke daran, wie wir dort im Wasser standen, uns bei den Händen hielten und jenen Schwur leisteten zurückzukommen, wenn es jemals wieder beginnen sollte - wir standen fast wie Druiden im Kreis, Handfläche an Handfläche, unser Versprechen mit unserem Blut besiegelnd. Ein unbewußt vollzogenes Ritual, das vielleicht so alt ist wie die Menschheit, ein unbewußter Zapfen, der in den Baum der Allmacht getrieben wurde - jenen

Baum, der an der Grenze all unseres Wissens und dem Land all unserer Vermutungen wächst.

Denn die Ähnlichkeiten...

In meinem Gehirn ist ein Echo am Werk, ein inneres Stottern, das mich veranlaßt, diese Angelegenheit immer und immer wieder durchzugehen -einige wenige Tatsachen und eine Menge unangenehmer Vermutungen; und ich werde immer besessener davon, je mehr Zeit verstreicht. Aber es ist so schwer, auf Ereignisse zu warten.

Diese Aufzeichnungen sind ein Versuch, der Besessenheit ein wenig Herr zu werden - oder vielleicht auch nur, ihren Gesichtskreis zu erweitern, sich auf mehr zu konzentrieren als nur auf sechs Jungen und ein Mädchen, die alle nicht glücklich waren und von ihren Altersgenossen nicht akzeptiert wurden, und die während eines heißen Sommers, als Eisenhower noch Präsident war, in einen Alptraum hineinstolperten. Es ist ein Versuch, die Kamera ein wenig zurückzuschieben, um die ganze Stadt in den Blickpunkt zu bekommen, einen Ort, wo fast 35000 Menschen arbeiten und essen und schlafen und sich lieben und einkaufen und Auto fahren und Spazierengehen und die Schule besuchen und gelegentlich sterben.

Um zu wissen, wie ein Ort ist, muß man wissen, wie er war - davon bin ich überzeugt. Und wenn ich angeben müßte, wann dies alles für mich wieder begonnen hat, so würde ich sagen, es war jener Frühlingstag 1980, als ich Albert Carson aufsuchte - er ist letzten Sommer mit 91 Jahren gestorben. Er war der Leiter der hiesigen Bücherei von 1914 bis 1960 - eine unglaubliche Zeitspanne (aber er war auch ein unglaublicher Mann), und ich glaubte, wenn überhaupt jemand mir würde sagen können, welches das beste Geschichtsbuch über diese Gegend ist, so Albert Carson. Ich stellte ihm also meine Frage, und er gab mir seine Antwort mit heiserer, krächzender Stimme - er hatte Kehlkopfkrebs, dem er dann schließlich auch erlag.

»Sie taugen alle einen Dreck«, sagte er. »Wie Sie selbst verdammt gut wissen.«

»Womit soll ich dann Ihrer Meinung nach den Anfang machen?« fragte ich.

»Fangen Sie mit den Büchern von Fricke und Michaud an«, krächzte er. »Werfen Sie sie in den Papierkorb. Dann lesen Sie Bullinger. Branson Bul-linger war ein verdammt schlampiger Forscher und ein verdammter Weichling in Geschäftsdingen, aber wenn es um Derry ging, hatte er das Herz auf dem rechten Fleck. Er hat fast alles falsch gemacht, aber er hat es mit Gefühl falsch gemacht.«

Ich lachte ein wenig, und Carson verzog seine rissigen, ledrigen Lippen zu einem Grinsen - ein etwas beängstigender Ausdruck guter Laune. Er sah wie ein Geier aus, der zufrieden ein soeben getötetes Tier bewacht und darauf wartet, daß es genau das richtige Stadium wohlschmeckender Verwesung erreicht.

»Dann machen Sie mit dem Geschichtsbuch von Ives weiter«, sagte er. »Machen Sie sich eine Liste von allen Leuten, mit denen er gesprochen hat. Sandy Ives lehrt noch an der University of Maine. Suchen Sie ihn auf. Laden Sie ihn zum Abendessen ein. Fragen Sie ihn aus. Notieren Sie sich Adressen. Reden Sie mit den Alteingesessenen, mit denen er geredet hat. Dann werden Sie zumindest einen Anhaltspunkt haben. Sie werden eine Menge herausfinden, wenn Sie genügend Leute aufspüren, Mike. Eine Menge davon wird Ihnen vielleicht den Schlaf rauben.«

»Derry«, sagte ich. »Mit Derry... mit Derry stimmt etwas nicht, oder?«

»Stimmt etwas nicht?« fragte er in jenem krächzenden Flüstern. »Was heißt >stimmt etwas nichtSie darunter, Mike? Oder genauer gesagt, was verstehen Sie überhaupt unter >stimmen

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Entweder er wußte es, oder er wußte es nicht. Ich glaubte, er wisse es; und das glaube ich auch heute noch.

»Oh, es gab unerfreuliche Ereignisse«, sagte er. »Die Geschichte einer Stadt hat Ähnlichkeit mit einem großen alten Herrensitz - viele Säle und kleine Zimmerchen und Waschküchen und Türmchen und Kellergewölbe ... und ein-zwei Geheimgänge. Ist es das, was Sie meinen? Sie werden sie finden, Mike, wenn Sie danach suchen. O ja. Vielleicht wird es Ihnen hinterher leid tun, aber Sie werden sie finden.« Und seine Augen funkelten mich mit all der Schläue eines alten Mannes an. »Oder vielleicht haben Sie sie auch schon gefunden. Vielleicht glauben Sie sogar, schon auf das Schlimmste gestoßen zu sein... aber Sie könnten herausfinden, daß Sie sich geirrt haben.«

»Was...«

»Und jetzt werden Sie mich entschuldigen müssen, Mike. Meine Kehle tut heute sehr weh, und es ist Zeit für meine Medizin und mein Nickerchen.«

Mit anderen Worten, hier hast du das Brett, mein Freund, nun sieh mal zu, was für ein Spiel du darauf spielen kannst.

Ich begann, wie Carson mir geraten hatte, mit den Geschichtsbüchern von Fricke und Michaud. Sie waren genauso schlecht, wie er gesagt hatte. Lloyd Doddsworth Fricke war der Abkömmling einer alteingesessenen Familie reicher Holzhändler, ein Polospieler und Schreiberling mit literarischen Ambitionen. Das Buch war ein Privatdruck, und der Grund dafür wurde mir rasch klar. Bürgermeister Gagnon wurde darin als >wahrer Merkur der Politik< bezeichnet, General Sullivan, der in Gettysburg geholfen hatte, Picketts Mannen zurückzuschlagen, war >die wahre Inkarnation von Mars auf dem Pferderücken, und sein Schwert funkelte in der Sonne wie das des Damokles<; und Alan Baxter, der 1956 (vier Jahre, bevor das Buch erschien) bei >The Sixty-Four Thousand Dollar Question< 24000 Dollar gewann, war >ein wahrer dreiköpfiger Zerberus des Intellekts<.

Das 1924 in Bangor erschienene Geschichtsbuch von Michaud war ein bißchen spannender, aber ebenfalls sehr ungenau. Gemäß dem Autor, Grover Michaud, wurde die ursprüngliche Schar von Siedlern in jener Gegend, wo heute Derry steht, von >einer Horde betrunkener rasender Irokesen ausnahmslos alle massakriert, bis hin zur letzten Frau und zum letzten Kind<. Natürlich hat es in Maine nie Irokesen gegeben, und - soviel ich weiß - hat es in Zentralmaine überhaupt nie ein von Indianern angerichtetes Massaker gegeben. Das tatsächliche Schicksal der ersten Siedler war viel seltsamer...

Ich las das Werk von Bullinger, widmete speziell seinen Fußnoten viel Aufmerksamkeit und Zeit und jagte jedem kleinsten Hinweis nach: Die Ergebnisse waren aber letztlich ziemlich mager.

Interessanter und fruchtbarer waren meine Unterhaltungen mit Sandy Ives. Er hatte gar nicht den Ehrgeiz gehabt, eine vollständige Geschichte der Stadt zu schreiben, sondern in den Jahren 1963-1966 eine Artikelserie über Derry veröffentlicht, wobei er sehr viele mündliche Quellen auswertete. Die meisten der alteingesessenen Einwohner, mit denen er gesprochen hatte, waren schon tot, als ich mit meinen Nachforschungen begann. Aber sie hatten Söhne, Töchter, Neffen, Cousins. Ich fuhr 1980 und Anfang 1981 eine Menge in der Gegend herum und unterhielt mich mit vielen von ihnen. Ich saß auf Veranden, ich trank heißen Tee, Eistee, Narragansett-Bier, selbstgebrautes Bier, Leitungswasser und Quellwasser. Ich hörte aufmerksam zu, und mein Kassettenrecorder lief.

Bullinger und Ives stimmten in einem Punkt überein: die erste Schar von 300 Siedlern ließ sich auf einer Fläche nieder, die heute Derry, den größten Teil Newports und kleine Stückchen im Nordwesten an Newport grenzender Städte umfaßt. Alle diese Siedler verschwanden im Jahre 1741 einfach. Im Juni jenes Jahres waren sie noch da, im Oktober nicht mehr. Das kleine Dorf mit seinen Holzhütten war völlig menschenleer. Eine der Hütten, die etwa an der Stelle der heutigen Kreuzung Witcham Street und Jackson Street stand, war bis auf den Grund niedergebrannt. Vielleicht war das der Ursprung von Michauds farbiger Geschichte eines Indianermassakers. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, daß der Ofen in dieser Hütte zu heiß wurde und sie in Flammen aufging, als, was immer auch damals geschehen sein mag, geschah.

Sie verschwanden einfach. Alle. Alle dreihundert Personen.

Soviel ich weiß, ist der einzige vergleichbare Fall in der amerikanischen Geschichte das Verschwinden der Siedler auf Roanoke Island in Virginia. Jedes Schuldkind im Lande weiß darüber Bescheid; aber wer weiß außerhalb von Maine etwas über Derry?

Dreihundert Personen. Alle auf einmal verschwunden. Und auch das Jahr, in welchem das geschah, paßt ins Schema hinein.

Oh, ich habe vielen Leuten zugehört, auf Veranden und im kühlen Schatten von Holzschuppen. Ein alter Mann erzählte mir, daß seine Frau in den drei Wochen vor dem Tod ihrer Tochter - das war im Frühwinter 1957, das Mädchen war eines der damaligen Mordopfer - aus dem Ablauf ihrer Küchenspüle Stimmen gehört hatte. »Ein richtiges Stimmengewirr«, erzählte er mir. »Und obwohl sie Angst hatte, hat sie einmal geantwortet. Sie hat sich dicht über den Ablauf gebeugt und hinuntergerufen: >Wie heißt ihr?< Und sie erzählte mir, all diese Stimmen hätten ihr geantwortet - grunzend und lallend, heulend und jaulend, schreiend und lachend. Und meine Frau sagte, sie hätten gerufen, was der Besessene zu Jesus sagte: >Legion, denn wir sind viele. < Meine Frau ging danach ein Jahr lang nicht mehr in die Nähe dieser verdammten Spüle. Und ich mußte den ganzen verfluchten Abwasch machen.«

Er trank Cola aus der Dose, ein etwa siebzigjähriger Mann mit Falten um die Augen und auf den Wangen. Er trug verblichene graue Arbeitskleidung und ging zwischen dem Erzählen immer wieder einmal hinaus, um Kunden in seiner Tankstelle an der Kansas Street zu bedienen.

»Na ja, Sie werden mich wahrscheinlich für verrückt halten«, sagte er, »aber ich könnte Ihnen noch etwas anderes erzählen, wenn Sie Ihr Karussell da mal anhalten.«

Ich schaltete meinen Kassettenrecorder aus und lächelte ihm zu.

Er lächelte zurück, aber es war kein frohes Lächeln. »Eines Abends spülte ich das Geschirr - es war im Spätherbst 1958, nachdem alles vorüber war. Meine Frau schlief oben. Betty war das einzige Kind gewesen, das Gott uns geschenkt hatte, und nach ihrer Ermordung schlief meine Frau sehr viel. Na ja, ich ließ also das Wasser ablaufen. Sie kennen ja das Geräusch, wenn ein Spülmittel mit drin ist - ein irgendwie undeutliches, saugendes Geräusch. Und als es fast verklungen war, hörte ich da unten meine Tochter. Ich hörte Betty irgendwo da unten in den Leitungsrohren. Sie lachte. Sie lachte dort unten im Dunkeln. Nur klang es für meine Ohren mehr wie ein Hilferuf. Sie schrie und lachte da unten in den Rohren. Das war das einzige Mal, daß ich irgend so was gehört habe. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Aber... ich glaube es nicht.«

Er sah mich an, und ich erwiderte seinen Blick. Durch die schmutzigen Fenster der Tankstelle drang helles Sonnenlicht, aber mir war kalt, eiskalt.

»Glauben Sie, daß ich Ihnen einen Bären aufbinden will?« fragte der alte Mann, der 1957 etwa 45 Jahre alt gewesen sein muß, der alte Mann, dem Gott nur eine einzige Tochter geschenkt hatte. Sie hieß Betty Ripsom, und sie wurde kurz nach Weihnachten jenes Jahres in einem Straßengraben an der Outer Jackson Street aufgefunden - mit weit aufgeschlitztem Leib.

»Nein«, erwiderte ich ernst. »Das glaube ich keineswegs.«

Vielleicht hätte er mir noch mehr erzählt, aber ein lautes Klingeln unterbrach uns - draußen war wieder ein Auto zum Tanken vorgefahren. Mr. Ripsom stand auf und schlurfte hinaus.

Ich habe Albert Carson etwa einen Monat vor seinem Tod zum letzten Mal gesehen. Der Zustand seines Kehlkopfes hatte sich verschlimmert. Er konnte nur noch flüstern. »Ich nehme an, Sie wollen eine Geschichte von Derry schreiben, stimmt's?«

»Ich habe mit dieser Idee gespielt«, sagte ich, aber ich glaube, ich wußte damals schon, daß etwas anderes in der Luft lag. Ich hatte das unerklärliche, aber sehr starke Gefühl, ich müßte den Dingen auf den Grund gehen. Vielleicht wird ein Eichhörnchen im Herbst von einem ähnlichen Gefühl dazu veranlaßt, sich Nußvorräte anzulegen. Ich hatte das Gefühl, hilflos in irgendeine verrückte Maschinerie geraten zu sein, mich von der Strömung einfach tragen lassen zu müssen, wenn ich nicht ertrinken wollte.

»Sie werden zwanzig Jahre dazu brauchen, und das Höchste, was sie erhoffen können, ist, daß Ihr Werk ein klein wenig besser als Bullingers wird«, flüsterte er. »Lassen Sie es lieber bleiben, Mike. Kein Mensch würde Ihr Buch lesen. Kein Mensch würde es lesen wollen. Wissen Sie, daß Bullinger Selbstmord begangen hat?«

Ich wußte es schon seit einiger Zeit.

»Wissen Sie über den Zyklus Bescheid?«

Ich starrte ihn verblüfft an.

»O ja, ich kenne ihn«, flüsterte Carson. »Alle 26 oder 27 Jahre. Auch Bullinger kannte diesen Zyklus. Von den Alten wissen sehr viele darüber Bescheid, auch wenn sie es um nichts in der Welt zugeben würden. Lassen Sie es bleiben, Mike.«

»Ich kann nicht«, sagte ich.

»Dann seien Sie auf der Hut«, krächzte er. »Seien Sie auf der Hut.« Und plötzlich hatte dieser sterbende alte Mann die riesigen, schreckensweit aufgerissenen Augen eines Bundes.

Derry. Meine Heimatstadt. Nach der gleichnamigen Grafschaft in Irland benannt. Derry. Ich kam im hiesigen Community Hospital zur Welt; ich bin hier zur Schule gegangen, habe die hiesige Junior High School besucht. Danach die High School. Anschließend war ich auf der University of Maine ->gleich hier um die Ecke<, wie man hier sagt - und dann kehrte ich hierher zurück, in die Stadtbücherei. Nichts Besonderes. Ein Kleinstadtleben.

Im Jahre 1876 fand eine Gruppe von Holzfällern eine andere Gruppe, die im Winter in einem Lager am oberen Kenduskeag eingeschneit worden war. Neun Männer, alle in Stücke gehackt. Köpfe lagen herum... und Arme... und ein - zwei Füße...

Im Jahre 1849 vergiftete John Markson seine ganze Familie und verschlang dann selbst einen ganzen weißen Knollenblätterpilz. Er muß furchtbare Todesqualen gelitten haben. Der Stadtpolizist, der ihn fand, schrieb in seinem ersten Bericht, er habe geglaubt, die Leiche grinse ihn an; er schrieb von >Marksons fürchterlichem weißen Lächeln<. Es stellte sich dann heraus, daß dieses >weiße Lächeln< darauf zurückzuführen war, daß Markson den ganzen Mund voll Knollenblätterpilz hatte; er hatte noch weitergegessen, als die Wirkung schon eingetreten war und er sich in Todeskrämpfen gewunden hatte.

Am Osternachmittag des Jahres 1903 veranstalteten die Eigentümer der Kitchner-Eisenhütte eine Ostereiersuche für >alle braven Kinder von Derry<. Gefährliche Teile der Eisenhütte wurden abgeschlossen und über 500 mit bunten Bändern geschmückte Schokoladeneier im übrigen Gebäude versteckt. Bullingers Darstellung zufolge waren mindestens soviel Kinder gekommen wie Eier versteckt waren, und sie rannten fröhlich lachend und schreiend durch die sonntäglich stille Eisenhütte und fanden die bunten Eier in den Schreibtischschubladen der Vorarbeiter, zwischen den großen rostigen Zähnen der Getrieberäder, in tiefen Gußformen im zweiten Stockwerk, die auf den alten Fotos aussehen wie Kuchenformen aus der Küche eines Riesen. Drei Generationen von Kitchners waren anwesend, um dem fröhlichen Treiben zuzuschauen und Preise zu verteilen. Genau um Viertel nach drei an jenem Nachmittag explodierte die Eisenhütte. Über hundert Personen, darunter 88 Kinder, kamen ums Leben. Am nächsten Tag, als die ganze Stadt von der Tragödie noch wie gelähmt war, fand eine Frau den Kopf eines neunjährigen Jungen, Robert Dohay, in ihrem Apfelbaum hinter dem Haus. Der Kopf hatte Schokolade an den Zähnen und Blut an den Haaren. Neun Kinder und ein Erwachsener wurden nie gefunden. Die Ursache der Tragödie - der schlimmsten in Derrys Geschichte, sogar noch schlimmer als das Feuer im >Black Spot< 1930 - wurde nie geklärt. Alle vier Kessel der Eisenhütte waren verschlossen gewesen.

Die Mordrate in Derry ist sechsmal so hoch wie in jeder anderen Stadt Neuenglands vergleichbarer Größe. Nicht zwei- oder dreimal so hoch. Nein - sechsmal. Pro Jahr verschwinden durchschnittlich 40 bis 60 Kinder, die nie gefunden werden. Bei den meisten handelt es sich um Teenager, und die offizielle Version lautet, daß sie von Zuhause weglaufen. Vielleicht sind wirklich einige Ausreißer darunter. Einige.

Und in den Jahren 1930 und 1958 war die Rate viel höher. 1930 verschwanden laut Polizeiakten 170 Kinder. Das ist ohne weiteres verständlich, erklärte mir der jetzige Polizeichef, als ich ihm die Statistik zeigte. Es war die Zeit der Depression. Die meisten hatten es vermutlich einfach satt, ständig Kartoffelsuppe zu essen oder hungrig ins Bett zu gehen; sie haben sich aus dem Staub gemacht, auf der Suche nach etwas Besserem.

1958 verschwanden 127 Kinder im Alter von drei bis 19 Jahren. Gab es 1958 auch eine Depression, fragte ich Polizeichef Rademacher. Nein, sagte er, aber die Leute ziehen eben sehr oft um, Hanion. Und nicht immer informieren sie die Polizei. Und Kinder laufen nun mal leicht von zu Hause fort. Sie bekommen Krach mit ihren Eltern, weil sie zu spät nach Hause gekommen sind - und schon sind sie auf und davon.

Ich zeigte Rademacher das Foto von Chad Löwe, das im April 1958 in den >Derry News< veröffentlicht worden war. Glauben Sie, daß dieser Junge auch nach einem Krach mit seinen Eltern weggelaufen ist? Er war gerade dreieinhalb Jahre alt, als er verschwand!

Rademacher warf mir einen bösen Blick zu und sagte, es sei zwar sehr nett gewesen, mit mir zu plaudern, er habe aber sehr viel zu tun. Ich ging.

Heimsuchung - unangenehmer Besuch, Plage...

Heimsuchen - in feindlicher Absicht aufsuchen, überfallen...

Heimgesucht werden - von Seuchen, von bösen Geistern...

Das Albrecht-Mädchen. Der Johnson-Junge.

Noch ein Kind, und ich werde anrufen; aber erst, wenn es unbedingt sein muß. In der Zwischenzeit habe ich meine Vermutungen, meinen gestörten Schlaf und meine Erinnerungen. Diese verdammten Erinnerungen ... Und ich habe dieses Notizbuch, das ich benutze wie ein Löwendompteur seine Peitsche und seinen Stuhl. Ich sitze da, und meine Hand zittert so stark, daß ich kaum schreiben kann, ich sitze in der leeren Bücherei, wenn sie geschlossen ist, ich sitze da, lausche auf die leisen Geräusche in den dunklen Bücherregalen und beobachte die Schatten, um sicher zu sein, daß sie sich nicht bewegen, nicht verändern.

Ich sitze neben dem Telefon.

Ich lege meine freie Hand auf den Hörer... berühre die Löcher in der Wählscheibe... dieser Apparat könnte in Windeseile die Verbindung zu meinen alten Freunden herstellen.

Wir sind gemeinsam in die Tiefe gestiegen.

Wir sind gemeinsam in die Dunkelheit hinabgestiegen.

Würden wir aus dieser Dunkelheit wieder herauskommen, wenn wir ein zweites Mal hinabstiegen?

Ich glaube kaum.

Ich bete zu Gott, daß ich sie nicht anrufen muß.

Ich bete zu Gott.

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