Dritter Teil ERWACHSENE

Zehntes Kapitel Das Treffen (1985)


l. Bill Denbrough bekommt einen Anruf

Das Telefon klingelte und riß ihn aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Er tastete nach dem Hörer, ohne die Augen zu öffnen. Wenn das Klingeln aufgehört hätte, wäre er mühelos wieder in Schlaf versunken. Seine Finger glitten über die Wählscheibe, rutschten ab, versuchten es von neuem. Er hatte eine dunkle Vorahnung, daß es Mike Hanion sein würde, Mike Hanion, der aus Derry anrief, um ihm zu sagen, er müsse zurückkommen, er müsse sich erinnern, weil sie einmal ein Versprechen abgegeben hätten, weil Stan Uris ihre Handflächen mit der Scherbe einer Colaflasche geritzt hätte und sie ein Versprechen abgegeben hätten...

Nur, daß das alles bereits geschehen war.

Er öffnete ein Auge und griff nach dem Hörer. Doch der glitt ihm aus der Hand und fiel auf den Tisch. Nun öffnete Bill auch das zweite Auge. Er hatte das Gefühl einer totalen Leere in seinem Kopf. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wo er war. Und er hatte absolut keine Ahnung, wie spät es war.

Es gelang ihm endlich, den Hörer in die Hand zu nehmen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und hielt ihn ans Ohr. »Hallo?«

»Bill?« Es war Mike Hanions Stimme. Noch vor einer Woche hatte er sich überhaupt nicht an Mike erinnert, und nun genügte ein einziges Wort, und er erkannte ihn an der Stimme. Es war erstaunlich... und ziemlich unheimlich.

»Ja, Mike.«

»Ich habe dich wohl aufgeweckt?«

»Ja, das hast du. Macht aber nichts.« An der Wand über dem Fenster hing ein Gemälde, das Hummerfänger in gelben Regenmänteln und -mutzen darstellte, die Hummerfallen auslegten, und als Bill es sah, fiel ihm ein, wo er sich befand. Dies war das Derry Town House auf der oberen Main Street. Eine halbe Meile weiter oben war auf der anderen Straßenseite der Bassey Park... und der Kanal. »Wieviel Uhr ist es, Mike?«

»Viertel vor zehn.«

»Welches Datum?«

»Der 29.« Mike klang ein bißchen amüsiert.

»Ja. Okay.« Nun fiel ihm auch alles andere wieder ein. Landung auf dem Kennedy Airport gestern pünktlich um Viertel vor elf - die Concorde mochte fast bankrott sein, pünktlich war sie immer noch. Delta-Anschluß-flug von New York nach Bangor. Mit dem Bus von Bangor nach Derry, weil weder Hertz noch Avis noch National einen Leihwagen für ihn hatten. Ankunft in Derry bei Sonnenuntergang - er hatte sich wie gerädert gefühlt, sein innerer Kompaß war völlig durcheinander geraten, sein Kopf hatte gedröhnt. Er hatte nicht das geringste Bedürfnis verspürt herumzuschlendern und alte, vertraute Plätze aufzusuchen. Er war schnurstracks ins

Town House gegangen, hatte sich am Empfang eingetragen und war ins Bett gefallen.

»Ich habe ein kleines Treffen arrangiert«, sagte Mike etwas unsicher.

»Ja?« Bill schwang seine Beine aus dem Bett. »Sind alle gekommen?«

»Alle außer Stan Uris«, sagte Mike, und jetzt klang etwas Undefinierbares in seiner Stimme mit. »Bev war die letzte. Sie kam gestern am späten Abend an.«

»Warum sagst du, sie war die letzte, Mike?« fragte Bill. »Stan könnte doch heute noch kommen.«

»Bill, Stan ist tot.«

»Was? Wie ist das passiert? Ist sein Flugzeug...?«

»Nichts Derartiges«, sagte Mike. »Hör mal, wenn es dir recht ist, würde ich lieber bis zum Treffen warten. Es wäre besser, wenn ich es euch allen gleichzeitig erzählen könnte.«

»Hat es damit etwas zu tun?«

»Ich glaube schon.« Nach kurzem Schweigen verbesserte er sich: »Ich bin mir da ganz sicher.«

Bill spürte, wie die vertraute Klammer der Angst wieder sein Herz zusammenpreßte - war sie demnach etwas, an das man sich so rasch gewöhnen konnte? Oder hatte er sie immer mit sich herumgetragen und sie einfach nicht bemerkt, nicht an sie gedacht - ebensowenig wie an die unausweichliche Tatsache seines eigenen Todes?

Er griff nach seinen Zigaretten, zündete eine an und blies das Streichholz aus.

»Okay«, sagte er. »Wo findet unser Treffen statt?«

»Erinnerst du dich noch, wo die alte Eisenhütte war?«

»Na klar - Pasture Road.«

»Du bist leider nicht auf dem laufenden, alter Junge. Sie heißt jetzt Mall Road. Wir haben hier das drittgrößte Einkaufszentrum des ganzen Staates. >48 verschiedene Geschäfte unter einem Dach, damit Sie bequem einkaufen können».«

»Hört sich wirklich sehr a-a-amerikanisch an.«

»Bill?«

»Was?«

»Geht's dir gut?«

»Ja.« Aber er hatte Herzklopfen, und das Ende seiner Zigarette zitterte etwas. Er hatte gestottert. Und Mike hatte es gehört.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sagte Mike: »Gleich hinter dem Einkaufszentrum gibt es ein Restaurant namens >Jade of the Oriente Sie haben dort Räume für geschlossene Gesellschaften. Ich habe gestern einen reservieren lassen. Wir können den ganzen Nachmittag dort bleiben, wenn wir wollen.«

»Glaubst du, daß es so lange dauern wird?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wird ein Taxifahrer wissen, wie man hinkommt?«

»Klar.«

»Okay«, sagte Bill und notierte sich den Namen des Restaurants. »Warum ausgerechnet dort?«

»Weil es neu ist, glaube ich«, antwortete Mike langsam. »Ich hatte das Gefühl, es sei... wie soll ich es ausdrücken...«

»Neutraler Boden?« schlug Bill vor.

»Ja. Ich glaube, das war's.«

»Ist das Essen dort gut?«

»Keine Ahnung«, gab Mike zu. »Wie steht's denn nun mit deinem Appetit?«

Bill stieß eine Rauchwolke aus, hustete und lachte. »Nicht besonders, alter Mikey.«

»Jaaa«, sagte Mike. »Ich glaube, ich habe in den letzten fünf, sechs Monaten die Idealdiät entdeckt, Bill. Sie heißt Angst.«

»Um zwölf?«

»Eher so gegen eins. Beverly soll noch ein bißchen ausschlafen können.«

Bill drückte die Zigarette aus. »Ist sie verheiratet?«

Mike zögerte wieder. »Das werden wir alles bald hören.«

»Ganz, wie wenn man nach zehn Jahren zum High-School-Klassentref-fen geht, was?« sagte Bill. »Interessant zu sehen, wer fett geworden ist, wer eine Glatze bekommen hat, wer Kinder in die Welt gesetzt hat.«

»Ich wünschte, unser Treffen diente nur diesem Zweck.«

»Ja, ich auch, Mikey. Ich auch.«

Er legte den Hörer auf, duschte ausgiebig und bestellte ein Frühstück, auf das er gar keinen Appetit hatte, und das er kaum anrührte. Mike hatte recht

- Angst war eine gute Diät.

2. Bills Taxifahrt

Bill kam um zehn nach eins im >Jade of the Orient< an. Er hatte bei der Yellow Gab Company angerufen und für Viertel vor eins ein Taxi bestellt, das ihn im Town House abholen sollte. Er hatte gedacht, daß eine Viertelstunde leicht ausreichen würde, um zur Pasture Road zu gelangen (er konnte sich an den Namen Mall Road einfach nicht gewöhnen, nicht einmal, als er das Einkaufszentrum dann sah), aber er hatte das hohe Verkehrsaufkommen zur Mittagszeit unterschätzt... und das Wachstum von Derry in den vergangenen 25 Jahren.

1958 war es eine große Kleinstadt gewesen. Innerhalb der eingetragenen Stadtgrenzen hatte es etwa 30000 Einwohner gezählt, und außerhalb derselben - in Derrytown, wie diese Randbezirke hießen - weitere 7000.

Jetzt war es eine kleine Großstadt - sehr klein im Vergleich zu London oder New York, aber ganz ordentlich für Maine, wo Portland, die größte Stadt des Staates, nicht ganz 200000 Einwohner hatte.

Während das Taxi langsam die Main Street hinabfuhr (wir sind jetzt über dem Kanal, dachte Bill; man kann ihn nicht sehen, aber er ist da unten, fließt im Dunkeln dahin) und dann in die Center Street abbog, registrierte er erstaunt, wieviel sich hier verändert hatte, und er verspürte darüber ein Bedauern, das ihn selbst überraschte. Er hatte seine hier verbrachte Kindheit als problematische, angsterfüllte Zeit in Erinnerung... nicht nur wegen des Sommers 1958, als sie zu siebt mit dem Bösen konfrontiert worden waren,

sondern auch wegen Georgies Tod, des ständigen Spotts über sein Stottern, der Verfolgungen durch Bowers, Huggins und Criss nach jener Steinschlacht in den Barrens - das war Anfang Juli gewesen, kurz bevor er und Ben und Richie die Silberkugeln gegossen hatten - und wegen des allgemeinen Gefühls, daß Derry kalt und unfreundlich war, daß Derry sich einen Dreck darum kümmerte, ob sie lebten oder starben, ob sie Pennywise, den Clown (in Ermangelung eines besseren Namens), besiegten oder nicht. Derry hatte schon so lange mit Pennywise gelebt... und vielleicht hatte die Stadt mit der Zeit - so verrückt sich das auch anhören mochte - sogar Verständnis für ihn aufgebracht. Vielleicht mochte sie ihn, brauchte sie ihn. Liebte ihn gar? Ja, vielleicht liebte sie ihn sogar.

Weshalb dann also dieses Bedauern über die Veränderungen?

Vielleicht nur, weil es so stupide Veränderungen waren. So sinnlos und doch zugleich so typisch. Oder vielleicht auch deshalb, weil Derry für ihn sein charakteristisches Aussehen verloren hatte.

Das >Bijou Theater< war verschwunden - ein Parkplatz befand sich jetzt an dieser Stelle. Auch das >Shoe-Boat< (das Carter Clark gehört hatte, dem Vater der berühmten Clark-Zwillinge, Calvin und Cissy) und daneben >Bai-ley's Lunch< gab es nicht mehr. Eine Filiale der Northern National Bank machte sich dort jetzt breit. Über ihrem Eingang prangte eine riesige Digitaltafel mit Zeit- und Temperaturanzeige, letztere sowohl in Fahrenheit als auch in Celsius. Der Center Street Drugstore, wo Bill einst Eddies Asthmamedizin besorgt hatte, war auch verschwunden, ebenso wie die Richard's Alley, ein Gäßchen zwischen Center und Main Street. Da war jetzt etwas entstanden, das > Mini-Einkaufscenter« hieß. Während das Taxi an einer Ampel halten mußte, entdeckte Bill unter anderem ein Schallplattengeschäft, einen Naturkostladen und eine Spielzeughandlung.

Mit einem Ruck fuhr das Taxi wieder an. »Wird 'n Weilchen dauern«, sagte der Fahrer. »Ich wünschte, diese ganzen gottverdammten Banken würden nicht alle zur selben Zeit Mittagspause machen. Nichts für ungut, falls Sie 'n frommer Mensch sind.«

»Macht nichts«, sagte Bill. Draußen war es bewölkt, und ein paar Regentropfen fielen auf die Windschutzscheiben des Wagens. »Wann hat man denn diese ganzen Bankkästen gebaut?«

»Oh, die meisten Ende der 6oer, Anfang der 70er Jahre«, antwortete der Fahrer. Er war ein großer, kräftiger Mann mit einem Stiernacken. Er trug ein rotschwarzkariertes Jagdjackett. Auf dem Kopf hatte er eine leuchtend orangefarbene Kappe, die mit Maschinenöl beschmutzt war. »Sie haben diese Geldmittel zur Stadtsanierung bekommen und alles einfach abgerissen. Und dann sind die Banken reingekommen. Ich nehm an, sie waren die einzigen, die sich das leisten konnten. Eine Schande ist das! Und so was nennt sich Stadtsanierung! Ich nenne es einfach totale gottverdammte Scheiße! Nichts für ungut, falls Sie 'n frommer Mensch sind. Was haben sie nicht alles geredet von wegen toller Belebung der Innenstadt und all so was. Schöne Belebung! Die meisten alten Geschäfte haben sie niedergerissen und 'n Haufen Banken und Parkplätze hingestellt. Und trotzdem findet man nirgends 'n gottverdammten Parkplatz. An den Schwänzen aufhängen sollte man den ganzen Stadtrat! Mit Ausnahme dieses Polock-Weibes -das müßte man an den Titten aufhängen! Aber wenn ich's mir genau überleg, glaub ich, sie hat gar keine. Platt wie 'ne gottverdammte Flunder. Nichts für ungut, falls Sie 'n frommer Mensch sind.«

»Bin ich«, sagte Bill grinsend.

»Dann machen Sie, daß Sie aus mei'm Taxi rauskommen und geh'n Sie in Ihre gottverdammte Kirche«, sagte der Fahrer, und sie brachen beide in schallendes Gelächter aus.

»Leben Sie schon lange hier?« fragte Bill.

»Seit meiner Geburt im St. Joe's. Und eines Tages wird man meine gottverdammten Überreste auf dem Mount Hope Cemetary einbuddeln.«

»Nicht schlecht«, sagte Bill.

»Find' ich auch«, meinte der Taxifahrer. Er räusperte sich, kurbelte sein Fenster herunter und spuckte in den Wind.

»Alles hat sich aber doch nicht verändert«, sagte Bill, während er die deprimierende Ansammlung von Banken und Parkplätzen auf der rechten Seite der Center Street betrachtete. Auf der Höhe des Hügels angelangt, kam das Taxi endlich etwas schneller vorwärts. »Das >Aladdin< existiert immer noch.«

»Jaaa«, mußte der Fahrer zugeben. »Aber auch das wollten diese Superarschlöcher niederreißen.«

»Für ein weiteres Bankgebäude?« fragte Bill, und ein Teil von ihm amüsierte sich darüber, daß ein anderer Teil von ihm empört war. Er konnte nicht glauben, daß jemand, der bei Verstand war, diesen prächtigen Vergnügungspalast abreißen lassen wollte, dieses Wunderwerk mit seinem funkelnden Kronleuchter aus Glas, den breiten Treppen rechts und links, die zum Balkon emporführten, und dem grünen Vorhang, der bei Beginn der Vorstellung nicht einfach aufgezogen wurde, sondern sich in großen Falten wie durch Zauberei hob. Nicht das Aladdin, rief jener empörte Teil von ihm. Wie konnten sie jemals auch nur im Traum daran denken, das Aladdin für eine Bank abzureißen?

»O ja, für 'ne Bank«, sagte der Fahrer. »Sie kapieren wirklich verdammt schnell, Mister. Nichts für ungut. Es war die First Bank of Penobscot County. Wollten hier was hinstellen, was sie >Komplettes Bankzentrum< nannten. Hatten schon sämtliche Genehmigungen vom Stadtrat bekommen, und es sah ganz so aus, als war's um das Aladdin geschehen. Dann haben aber Leute so'n Komitee gegründet - Leute, die schon lange hier wohnen - und 'ne Petition eingereicht und protestiert und demonstriert, und schließlich gab's 'ne öffentliche Stadtratsitzung, und Hanion hat' s diesen Arschlöchern gezeigt.« Der Taxifahrer schien darüber sehr befriedigt zu sein.

»Hanion?« fragte Bill erstaunt. »Mike Hanion?«

»Genau der«, sagte der Fahrer und warf Bill einen flüchtigen Blick zu. Er hatte ein rundes Gesicht mit vielen Falten und trug eine Hornbrille mit alten Spritzern weißer Farbe auf dem Gestell. »Der Bibliothekar. Ein Schwarzer. Kennen Sie ihn?«

»Ich habe ihn früher mal sehr gut gekannt«, sagte Bill und dachte daran, wie er Mike im Juli 1958 kennengelernt hatte. Es waren Bowers, Criss und Hüggins gewesen... natürlich! Bowers, Criss und Huggins auf Schritt und Tritt - die drei Rowdies, die ihre eigenen Ziele verfolgt und damit doch, ganz gegen ihren Willen, sieben Kinder fest zusammengeschmiedet hatten... fest, fester, am festesten. »Wir haben als Kinder zusammen gespielt.«

»Na so was!« sagte der Taxifahrer. »Die Welt ist doch gottverdammt klein, nichts für ungut...«

»Falls Sie 'n frommer Mensch sind«, stimmte Bill mit ein.

»Ja, so ist das alles«, meinte der Fahrer behaglich, und eine Zeitlang fuhren sie schweigend dahin, bis der Taxifahrer sagte: »Ja, in Derry hat sich viel verändert, alles was recht ist. Aber einiges ist doch noch stehengeblieben. Das Town House, wo ich Sie abgeholt hab'. Das alte Gouverneurshaus draußen auf der Jackson Street. Erinnern Sie sich noch daran, Mister? Als Kinder glaubten wir, daß es dort spukt.«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Seh'n Sie mal, das ist das Krankenhaus. Erkennen Sie's wieder?«

Rechts von ihnen lag jetzt das Derry Community Hospital. Dahinter floß der Kenduskeag auf seine Mündung in den Penobscot zu. Unter dem wolkenverhangenen, regnerischen Frühlingshimmel hatte er die Farbe von mattem Silber. Das Krankenhaus, an das Bill sich erinnerte - ein dreistöckiges weißes Fachwerkgebäude mit zwei Seitenflügeln -, stand noch, aber es war jetzt umgeben von einem ganzen Gebäudekomplex - etwa einem Dutzend. Links davon konnte er einen großen Parkplatz erkennen, auf dem mindestens 500 Autos parkten.

»Mein Gott, das ist ja kein Krankenhaus mehr, sondern ein ganzer gottverdammter College-Campus!« rief Bill.

Der Taxifahrer kicherte. »Nachdem ich kein frommer Mensch bin, nehm ich Ihnen Ihre Ausdrucksweise nicht übel. O ja, es ist jetzt so groß wie das Eastern Maine in Bangor. Sie haben Bestrahlungslabors und 'n Therapiezentrum und 600 Krankenzimmer und ihre eig'ne Wäscherei und Gott weiß was sonst noch alles. Aber das alte Gebäude gibt's immerhin auch noch. Da drin ist jetzt die Verwaltung.«

Bill hatte ein eigenartiges Gefühl der Gespaltenheit im Kopf, ein ähnliches Gefühl wie damals, als er zum erstenmal einen dreidimensionalen Film gesehen hatte. Der Versuch, zwei Bilder, die nicht völlig übereinstimmten, zusammenzusetzen. Man konnte Augen und Gehirn dazu bringen, diesen Trick auszuführen, aber man bekam davon irrsinniges Kopfweh, daran erinnerte er sich noch genau... und auch jetzt bekam er leichte Kopfschmerzen. Das neue Derry, großartig. Aber das alte Derry gab es trotzdem noch, genauso wie das Fachwerkgebäude des Krankenhauses. Es wirkte unter den vielen neuen Bauwerken fast wie begraben... aber irgendwie wurden die Blicke magisch vom Alten angezogen.

»Was ist mit dem Wasserturm?« fragte er den Taxifahrer.

»Den gibt's auch noch.«

»Den Güterbahnhof aber vermutlich nicht mehr?«

Der Fahrer lachte erfreut. »Für einen, der als Kind hier wegzog, haben Sie ein verdammt gutes Gedächtnis, Mister«, sagte er und Bill dachte: Du hättest mich letzte Woche sehen müssen, mein fluchender Freund. »Doch, den gibt's noch, aber die Gleise sind rostig, und alles ist verfallen. Die Güterzüge halten dort nicht mal mehr. Irgend so 'n Kerl wollte das Gelände kaufen und dort so 'n Vergnügungspark hinstellen - mit Minigolf, Baseballfeld,

Übungsplatz zum Autofahren, Go-Karts, Buden und Gott weiß was sonst noch allem -, aber es ist noch nicht geklärt, wem das Grundstück überhaupt gehört. Ich nehm an, daß der Bursche es schließlich kriegen wird - er ist verdammt hartnäckig, aber momentan gibt's noch jede Menge gerichtlicher Auseinandersetzungen.«

»Und der Kanal«, murmelte Bill, als sie von der Outer Center Street in die Pasture Road abbogen - die jetzt, wie Mike gesagt hatte, Mall Road hieß, was auch auf einem grünen Straßenschild zu lesen war. »Der Kanal ist doch noch da?«

»O ja«, sagte der Fahrer. »Den wird's immer geben, nehm ich an.«

Links von ihnen lag jetzt das Einkaufszentrum, und als sie daran vorbeifuhren, hatte Bill wieder jenes eigenartige Gefühl der Gespaltenheit. Als sie Kinder gewesen waren, war hier nur ein großes, langgestrecktes Feld mit hohem Gras und riesigen Sonnenblumen gewesen - das nordöstliche Ende der Barrens. Dahinter, etwas westlich, erstreckte sich die Arme-Leute-Sied-lung Old Cape. Bill erinnerte sich daran, wie sie dieses Feld erforscht hatten, sehr vorsichtig, um nicht in das große gähnende Kellerloch der Kitch-ner-Eisenhütte zu stürzen, die am Ostersonntag 1903 explodiert war. Mit dem feierlichen Interesse von Archäologen, die ägyptische Ruinen erforschen, hatten sie hier alle möglichen Überreste der Eisenhütte ausgegraben: Ziegelsteine, Schwimmer, Eisenstücke mit rostigen Riegeln, Glasscheiben, Flaschen mit irgendwelchem undefinierbaren Zeugs, das bestialisch stank. Irgendwas war hier draußen auch mal passiert; irgendwas mit einem Vogel, der Mike Hanion verfolgt hatte. Aber was...?

Er schüttelte den Kopf. Fragmente. Strohhalme im Wind. Das war alles.

Das Feld war jetzt verschwunden, ebenso wie die Überreste der Eisenhütte. Plötzlich erinnerte Bill sich an den großen Schornstein der Eisenhütte. Mit Ziegeln verkleidet, die letzten zehn Fuß seiner Länge mit dickem Ruß verkrustet, hatte er im hohen Gras gelegen wie eine riesige Pfeife. Irgendwie waren sie raufgeklettert und oben lachend entlanggelaufen, mit ausgebreiteten Armen, wie Seiltänzer...

Er schüttelte wieder den Kopf, als wollte er das Trugbild des Einkaufszentrums verscheuchen, eines häßlichen Gebäudekomplexes mit Aufschriften wie sears und J. C. penny und woolworth und CVS und york's steak house und walden-books und so weiter und so fort. Seitenstraßen führten zu unzähligen Parkplätzen. Das Einkaufszentrum verschwand nicht, denn es war kein Trugbild. Die Kitchner-Eisenhütte war verschwunden, und ebenso das Feld, das ihre Ruinen überwuchert hatte. Das Einkaufszentrum war die Realität, nicht seine Erinnerungen.

Und doch konnte er das nicht so recht glauben.

»Da wär'n wir, Mister«, sagte der Taxifahrer und steuerte auf den Parkplatz eines Gebäudes zu, das wie eine große Plastikpagode aussah. »Bißchen spät, aber besser zu spät als nie. Stimmt's oder hab' ich recht?«

»Stimmt haargenau«, sagte Bill und gab ihm einen Fünf-Dollar-Schein. »Behalten Sie den Rest.«

»Verdammt gutes Geschäft!« rief der Fahrer. »Wenn Sie wieder mal 'n

Taxi brauchen, rufen Sie bei Yellow an und fragen Sie nach Dave. Fordern Sie ausdrücklich mich an.«

»Ich werd' einfach nach dem frommen Kerl fragen«, sagte Bill grinsend, »der sich auf dem Mount Hope Cemetary schon ein schönes Plätzchen rausgesucht hat.«

»Tun Sie das«, sagte Dave lachend. »Alles Gute, Mister.«

»Ihnen auch, Dave.«

Er stand einen Augenblick im Nieselregen und blickte dem Taxi nach. Ihm fiel ein, daß er den Fahrer noch etwas hatte fragen wollen, es dann aber vergessen hatte - vielleicht absichtlich.

Er hatte Dave fragen wollen, ob er gern in Derry lebte.

Bill Denbrough drehte sich abrupt um und betrat das >Jade of the Oriente Mike saß im Foyer in einem Korbstuhl mit übertrieben hoher Rückenlehne. Zuerst dachte Bill, daß nur der große Korbstuhl Mike so klein wirken ließ, aber als Mike aufstand, versetzte es ihm einen Schock, und er mußte an Mikes Worte am Telefon denken: daß Angst die wirksamste Diät sei.

Er hatte immer noch einen Jungen vor Augen gehabt, der fünf Fuß drei groß, hübsch und sehr flink war. Und jetzt stand ein Mann vor ihm, der etwa fünf Fuß sieben groß und sehr mager war. Die Kleider schlotterten ihm am Leibe. Und die Falten in seinem Gesicht deuteten eher auf Ende Vierzig als auf Ende Dreißig hin.

Mike mußte ihm seinen Schrecken am Gesicht angesehen haben, denn er sagte ruhig: »Ich weiß, wie ich aussehe.«

Errötend widersprach Bill. »Das ist es nicht, Mike. Es ist einfach so, daß ich dich immer noch als Jungen vor Augen hatte. Weiter nichts.«

»Wirklich nicht?«

»Du siehst etwas müde aus.«

»Ich bin etwas müde«, sagte Mike, »aber ich werd's überleben, nehm' ich an.« Er lächelte; es war ein warmes Lächeln, das sein ganzes Gesicht verwandelte, und nun erkannte Bill wieder den Jungen, den er vor 27 Jahren gekannt hatte. So wie das alte Fachwerkgebäude des Krankenhauses zwischen den modernen Glas- und Betonbauten fast verschwand, so war auch der Junge, den Bill einst gekannt hatte, unter den unausweichlichen Accessoires des Erwachsenseins fast verschwunden. Er hatte Stirnfalten, tiefe Linien führten von den Mundwinkeln zum Kinn, und über den Ohren wurde sein Haar schon grau. Aber ebenso wie das alte Krankenhaus immer noch da war, immer noch zu sehen war, so auch der Junge, den Bill gekannt hatte.

Mike streckte die Hand aus und sagte: »Willkommen in Derry, Big Bill.«

Bill achtete nicht weiter auf die ausgestreckte Hand und umarmte Mike. Auch Mike umarmte ihn nun kräftig, und Bill spürte sein festes, krauses Haar an seiner Schulter und an seinem Hals.

»Was auch immer los sein mag, Mike, wir werden uns darum kümmern«, sagte Bill. Er hörte, daß seine Stimme rauh vor Tränen war, aber das machte ihm nichts aus. »Wir haben Es schon einmal besiegt, und wir k-k-können es w-wieder b-b-besiegen.«

Mike löste sich aus der Umarmung, und obwohl er immer noch lächelte, hatten seine Augen jetzt einen verdächtigen Glanz. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sie ab. »Klar, Bill«, sagte er. »Jede Wette.«

»Würden die Herren mir bitte folgen?« fragte die Empfangsdame. Sie war eine Orientalin in einem aparten pinkfarbenen Kimono mit gesticktem Drachen, dessen Schwanz paillettenbesetzt war. Ihr dunkles Haar war kunstvoll hochgesteckt und wurde von Elfenbeinkämmen gehalten.

»Ich kenne den Weg, Rose«, sagte Mike.

»Ausgezeichnet, Mr. Hanion.« Sie lächelte die beiden Männer an. »Sie sind wohl sehr gute Freunde?«

»Ich glaube schon«, sagte Mike. »Hier entlang, Bill.« '•

Er führte ihn einen matt beleuchteten Korridor entlang, vorbei am großen Speisesaal, auf eine Tür zu, die durch einen Perlenschnurvorhang halb verdeckt war.

»Sind die anderen...?«

»Sie sind alle da«, erwiderte Mike. »Alle, die kommen konnten.«

Bill blieb einen Augenblick lang zögernd vor der Tür stehen. Plötzlich hatte er Angst. Nicht vor dem Unbekannten, dem Übernatürlichen. Es war einfach das Bewußtsein, daß er seit damals um 15 Zoll gewachsen war und den größten Teil seiner Haare verloren hatte. Es war ein plötzliches Unbehagen - fast schon Schrecken - bei dem Gedanken, sie alle wiederzusehen, die Kindergesichter durch den Zahn der Zeit fast verschwunden, fast begraben. Er wußte, sie anzuschauen bedeutete, dem lauernden Tod in seinem eigenen Innern ins Auge zu blicken, der unaufhaltsam näher rückte.

Er sah Mike verunsichert und ängstlich an. »Wie sehen sie aus?« hörte er sich fragen. »Mike... wie sehen sie aus?«

»Geh rein, dann weißt du's«, sagte Mike sanft und führte Bill in den kleinen Nebenraum.

3. Bill Denbroughs erste Eindrücke

Vielleicht bewirkte die matte Beleuchtung jene Illusion, die nur ganz kurz anhielt, aber Bill fragte sich später, ob es nicht eine ausschließlich für ihn bestimmte Botschaft gewesen war: daß das Schicksal auch gütig sein konnte.

In jenem kurzen Moment kam es ihm so vor, als wäre er nicht nur über eine Türschwelle getreten, sondern auch über eine Zeitschwelle - so als wären sie alle noch ganz die alten.

Richie Tozier räkelte sich ungezwungen auf seinem Stuhl und sagte gerade etwas zu Beverly Marsh, die sich eine Hand vor den Mund hielt, um ein Kichern zu verbergen; Richie grinste wie früher unverschämt übers ganze Gesicht. Links von Beverly saß Eddie Kaspbrak, und vor ihm auf dem Tisch, neben seinem Wasserglas, lag eine Druckflasche mit einem pistolengriffartigen Aufsatz. Ein Aspirator. An einem Ende des Tisches saß Ben Hanscom und beobachtete das Trio mit jenem altvertrauten Ausdruck, der eine Mischung von Eifer, Amüsement und Konzentration war.

Hallo, hallo, die ganze Bande ist hier versammelt, dachte Bill. Wir alle - das heißt, mit Ausnahme von Stan.

Er wollte sich mit der Hand an den Kopf greifen und erkannte mit melancholischer Belustigung, daß er nahe daran gewesen war zu glauben, er könnte durch ein Wunder sein Haar wieder haben - jenes dünne rote Haar,

das schon in seinem zweiten Collegejahr begonnen hatte, sich zu lichten.

Das brach den Zauber. Richie trug keine Brille mehr, stellte er fest und dachte: Vermutlich hat er jetzt Kontaktlinsen - er haßte seine Brille von jeher. Anstelle der früheren T-Shirts und Kordhosen trug er jetzt einen Anzug, der bestimmt nicht von der Stange war - Bill schätzte diesen Maßanzug auf gut und gern 900 Dollar.

Beverly Marsh (wenn ihr Name noch Marsh war) war eine hinreißend schöne Frau geworden. Statt des einstigen Pferdeschwanzes fiel ihr das Haar - sie hatte fast die gleiche Haarfarbe wie er - offen über die Schultern. Bei dieser schummerigen Beleuchtung glänzte es nur matt und weich; bei Tageslicht - sogar an einem bewölkten Tag wie diesem - mußte es jedoch einer lodernden Flamme gleichen. Und er ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, die Hände in diesem Haar zu vergraben. Die älteste Geschichte der Welt, dachte er ironisch. Ich liebe meine Frau, aber Mann o Mann.

Eddie hatte als Erwachsener eine frappierende Ähnlichkeit mit Anthony Perkins. Sein Gesicht war zerfurchter, als es seinem Alter entsprach (obwohl seine Bewegungen jugendlicher waren als Richies und Bens), und die randlose Brille ließ ihn noch älter erscheinen - es war eine Brille, die gut zu einem angesehenen britischen Rechtsanwalt gepaßt hätte, der gerade in den Akten blättert oder zur Richterbank schreitet. Sein Haar war kurz und altmodisch frisiert; Ende der 50er und Anfang der 6oer Jahre war dieser Schnitt unter dem Namen >Ivy League< sehr verbreitet gewesen. Er trug ein grellkariertes Sportjackett, das aussah, als stammte es aus dem Ausverkauf eines Herrenbekleidungsgeschäfts, das kurz vor der Schließung stand... aber die Digitaluhr an seinem Handgelenk war eine Patek Philippe, und der Ring am kleinen Finger seiner rechten Hand war ein Rubin. Der Stein war so vulgär groß und auffallend, daß er nur echt sein konnte.

Ben war derjenige, der sich am meisten verändert hatte, und als Bill ihn jetzt genauer betrachtete, gewann die Realität endgültig Oberhand in ihm. Bens Gesicht war noch das alte; seine Haare waren jetzt zwar länger, doch er hatte immer noch denselben ungewöhnlichen Rechtsscheitel. Aber er war schlank geworden. Er saß ganz leger da, in einer schlichten dunkelbraunen Strickweste über dem blauen Baumwollhemd, Levis-Jeans, Cowboystiefeln und einem Ledergürtel mit gehämmerter Silberschnalle. Diese Kleidung paßte ausgezeichnet zu seiner schlanken, schmalhüftigen Figur. An einem Handgelenk hatte er ein Armband aus schweren Gliedern - nicht aus Gold, sondern aus Kupfer. Er ist schlank geworden, dachte Bill. Er ist sozusagen nur noch ein Schatten seiner selbst... der gute alte Ben ist schlank geworden. Wunder gibt es immer wieder...

Zwischen den sechs Menschen herrschte einen Moment lang Schweigen. Es war ein unbeschreiblicher Moment, ein Moment, der zu den seltsamsten gehörte, die Bill bisher erlebt hatte. Stan Uris war nicht hier, aber ein Siebenter war dennoch anwesend - die Zeit, deren Gegenwart in diesem Nebenzimmer eines Restaurants so greifbar war, als stünde sie personifiziert vor ihnen - doch nicht als alter Mann in weißem Gewand mit einer Sense über der Schulter. Vielmehr als all das, was zwischen 1958 und 1985 lag -und was mochte das alles sein? Beverly Marsh in einem kurzen Rock, der ihre langen prachtvollen Beine zur Schau stellte, eine Beverly Marsh in weißen Go-Go-Stiefeln, mit in der Mitte gescheitelten, glattgekämmten Haaren? Richie Tozier mit einem Plakat, das die Aufschrift beendet den krieg trug? Ben Hanscom mit einem gelben Helm auf dem Kopf, einen Bulldozer fahrend, ohne Hemd, der über seiner Hose hängende Bauch immer kleiner werdend? War diese siebente Person schwarz? Mit dem legendären SwingNigger hatte dieser junge Mann keinerlei Ähnlichkeit; er trug weiße Hemden und verblichene weite Hosen aus dem Kaufhaus, und er saß in der Bibliothek der University of Maine und schrieb Abhandlungen über die Entstehung von Fußnoten und über die möglichen Vorteile von ISBN-Num-mern bei der Katalogisierung von Büchern, während draußen Protestmärsche stattfanden, Phil Ochs sang: »Richard Nixon, find yourself another country to be part of«, und Männer mit heraushängenden Gedärmen starben, für Dörfer, deren Namen sie nicht einmal aussprechen konnten; er saß da, eifrig über seine Arbeit gebeugt (Bill sah ihn direkt), mit konzentriertem Gesichtsausdruck, sich der Tatsache voll bewußt, daß man als Bibliothekar dem besten Platz in der Lokomotive der Ewigkeit so nahe kommt, wie es einem Menschen überhaupt nur möglich ist. War das der Siebente? Oder war es ein junger Mann, der vor dem Spiegel stand und seine immer höher werdende Stirn betrachtete, der die zahlreichen ausgekämmten roten Haare betrachtete, der im Spiegel den Stapel Notizbücher auf dem Schreibtisch betrachtete, Notizbücher, die den fertiggestellten wirren ersten Entwurf eines Romans mit dem Titel >]oanna< enthielten, der ein Jahr später veröffentlicht wurde?

Einiges davon, alles oder auch nichts davon.

Eigentlich spielte das auch keine Rolle. Jener Siebente war mit ihnen in diesem Zimmer, und in diesem Moment spürten sie das alle... und verstanden die schreckliche Macht von dem, was sie zurückgeführt hatte. Es lebt, dachte Bill, und ihn fröstelte. Was immer Es auch gewesen sein mag, Es ist wieder hier, in Derry. Es.

Und er spürte plötzlich, daß Es der Siebente war; daß Es und Zeit irgendwie austauschbare Größen waren, daß Es auch ihre Gesichter annehmen konnte, ebenso wie die tausend anderen, unter denen Es Entsetzen verbreitet und gemordet hatte... und der Gedanke, daß Es ihre Gestalt annehmen könnte, war irgendwie am erschreckendsten. Wieviel von uns blieb hier zurück? dachte er mit plötzlich aufsteigendem Entsetzen. Wieviel von uns hat nie die Abflußkanäle verlassen, in denen Es lebte... in denen Es sich ernährte? Haben wir deshalb vergessen? Weil ein Teil von jedem von uns nie erwachsen wurde, Derry nie verließ? Ist das der Grund?

Er sah keine Antwort in den Gesichtern der anderen... nur Fragen.

Gedanken kommen und gehen innerhalb von Sekunden oder Millisekunden, und dies alles schoß Bill Denbrough in nicht mehr als fünf Sekunden durch den Kopf.

Dann grinste Richie Tozier wieder und sagte: »Oh, schaut euch das nur mal an! Das ist doch tatsächlich Rundschädel Bill Denbrough. Wie lange hast du deinen Kopf poliert, Big Bill?«

Und Bill, der keine Ahnung hatte, was er darauf erwidern sollte, öffnete den Mund und hörte sich sagen: »Ach, beiß dich selbst in den Arsch, und ebenso den Gaul, auf dem du hergeritten bist, Richie.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen... und dann dröhnte das Zimmer vor schallendem Gelächter. Bill ging auf sie zu und schüttelte Hände, und obwohl sein Gefühl dabei etwas Schreckliches an sich hatte, so war es doch zugleich auch angenehm und tröstlich: dieses Gefühl, heimgekehrt zu sein. Für immer heimgekehrt zu sein.

4. Ben Hanscom wird schlank

Mike Hanion bestellte Getränke, und nun begannen alle durcheinander zu reden, so als wollten sie das kurze Schweigen wettmachen. Es stellte sich heraus, daß Beverly Marsh jetzt Beverly Huggins hieß. Sie sei, erzählte sie, mit einem wunderbaren Mann in Chicago verheiratet, der ihr ganzes Leben verändert habe, und dem es wie durch Zauberei gelungen sei, das einfache Nähtalent seiner Frau in ein erfolgreiches Bekleidungsgeschäft zu verwandeln. Eddie Kaspbrak hatte ein Mietwagen-Unternehmen in New York. »Soviel ich weiß, könnte meine Frau jetzt gerade mit AI Pacino im Bett liegen«, sagte er mit leichtem Lächeln, und alle lachten schallend.

Alle wußten natürlich, was Bill und Ben erreicht hatten, aber Bill wurde das Gefühl nicht los, daß sie diese Namen - Bens als Architekt, seinen eigenen als Schriftsteller - bis vor ganz, ganz kurzer Zeit nicht mit ihren Freunden der Kindheit assoziiert hatten. Beverly hatte Taschenbuchausgaben von zwei seiner Romane in ihrer Handtasche und bat ihn, sie zu signieren. Bill tat es und stellte dabei fest, daß beide Bücher in tadellosem Zustand waren - als hätte Beverly sie nach der Landung in einem Flughafen-Buchladen gekauft.

In ähnlicher Weise sagte Richie zu Ben, wie sehr er das BBC-Kommu-nikationszentrum in London bewundere... aber seine Augen hatten dabei einen etwas verwirrten Ausdruck, so als könnte er jenes Gebäude nicht ganz in Einklang mit diesem Mann bringen... oder mit dem fetten, ernsthaften Jungen, der ihnen gezeigt hatte, wie man einen Teil der Barrens mit geklauten Brettern und einer rostigen Autotür überschwemmen konnte.

Richie war Disc-Jockey in Kalifornien. Er erzählte ihnen, er sei bekannt als >Mann der tausend Stimmen<, und Bill stöhnte. »O Gott, Richie, deine Stimmen waren immer so schrecklich.« Als Beverly Richie fragte, ob er jetzt Kontaktlinsen hätte, sagte er leise: »Komm ein bißchen näher, Baby. Schau mir in die Augen.« Er legte den Kopf ein wenig schief, und sie rief begeistert, daß sie den unteren Rand der Kontaktlinsen sehen könne.

»Ist in der Bücherei noch alles beim alten?« fragte Ben Mike Hanion.

Mike holte aus seiner Brieftasche eine Luftaufnahme der Bücherei. »Ein Bekannter hat's von einem Sportflugzeug aus gemacht«, erklärte er, während das Foto von Hand zu Hand ging. »Ich hab' versucht, den Stadtrat oder irgendeinen wohlbetuchten Privatmann dazu zu bringen, eine Spende zu machen, um es für die Kinderbücherei auf Wandgröße abziehen zu lassen. Bisher ohne Erfolg. Aber es ist ein gutes Foto, nicht wahr?«

Alle stimmten ihm zu. Ben betrachtete das Foto am längsten. Schließlich deutete er auf den Glaskorridor zwischen den beiden Gebäuden. »Hast du so was schon mal woanders gesehen, Mike?«

Mike lächelte. »Bei deinem Kommunikationszentrum«, sagte er, und wieder mußten alle sechs lachen.

Die Getränke wurden serviert, und sie setzten sich. Bill stellte fest, daß es zumindest bei den Getränken keine Überraschungen gab - alle hatten genau das bestellt, was er von ihnen erwartet hätte: Bev eine Weißweinschorle, Ben und Mike Bier vom Faß, Richie einen Chivas Regal on the rocks, er selbst einen Martini.

Plötzlich breitete sich wieder jenes verwirrende Schweigen aus. Sie schauten einander etwas verlegen an.

»Nun«, fragte Beverly mit ihrer verführerischen, etwas heiseren Stimme. »Worauf trinken wir?«

»Auf uns«, sagte Richie. Er lächelte nicht. Er schaute Bill an, und mit schier unerträglicher Intensität überfiel Bill plötzlich die Erinnerung daran, wie er und Richie einander am Straßenrand umarmt und zusammen geweint hatten, nachdem jenes Wesen - vielleicht ein Clown, vielleicht aber auch ein Werwolf - verschwunden war. Als er sein Glas hob, zitterte seine Hand so, daß er etwas von seinem Drink aufs Tischtuch verschüttete.

Richie stand langsam auf, und die anderen folgten seinem Beispiel: zuerst Bill, dann Ben und Eddie, dann Beverly und zuletzt Mike. »Auf uns«, wiederholte Richie, und auch seine Hand zitterte etwas. »Auf den Klub der Verlierer von 1958.«

»Auf die Verlierer«, sagte Beverly leicht amüsiert.

»Auf die Verlierer«, sagte Eddie. Sein Gesicht war bleich und wirkte alt.

»Auf die Verlierer«, wiederholte Ben. Ein schwaches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

»Auf die Verlierer«, sagte Mike leise.

»Auf die Verlierer«, wiederholte Bill als letzter den Toast.

Sie stießen miteinander an und tranken.

Wieder trat Schweigen ein, und diesmal brach Richie es nicht. Diesmal schien es notwendig zu sein.

Sie setzten sich wieder, und Bill sagte: »Also los, Mike, spuck's aus. Erzähl uns, was hier vorgeht, und was wir tun können.«

»Zuerst wollen wir essen«, meinte Mike. »Danach werden wir dann über alles sprechen.«

Also aßen sie... und sie aßen ausgiebig und mit Genuß. Wie jener alte Witz über den zum Tode Verurteilten, dachte Bill, aber auch sein eigener Appetit war besser als seit ewigen Zeiten... seit Kindertagen. Das Essen war zwar nicht außergewöhnlich gut, aber auch alles andere als schlecht, und es war sehr reichlich. Sie reichten sich die Platten über den Tisch hinweg zu - Spareribs, Moo-goo-gai-pan, delikat geschmorte Hühnerflügel, Eierrollen, in Speck gehüllte Maronen, Rindfleischscheiben auf dünnen Holzspießen.

»Mein Gott«, sagte Ben hinterher, »soviel habe ich seit meiner frühen Jugend nicht mehr gegessen.« Alle schauten ihn an, und er errötete etwas.

»Wirklich«, sagte er. »Das war die üppigste Mahlzeit, die ich seit meinem zweiten Jahr auf der High School gegessen habe.«

»Hast du eine Schlankheitskur gemacht?« fragte Eddie.

»Ja«, antwortete Ben, »so könnte man's wohl nennen.«

»Was hat dich dazu veranlaßt?« erkundigte sich Richie.

»Ihr wollt doch bestimmt nicht diese uralte Geschichte hören...« Ben rückte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.

»Ich kann natürlich nicht für die anderen sprechen«, sagte Bill, »aber ich würde sie gern hören. Nun komm schon, Ben. Erzähl's uns! Wie kam es, daß aus Haystack dieser Mann mit der Idealfigur wurde, den wir jetzt vor uns sehen?«

Richie kicherte. »Haystack, stimmt ja! Ich hatte das ganz vergessen.«

»Die Geschichte hat wirklich nichts Sensationelles an sich«, sagte Ben. »Nach jenem Sommer - nach 1958 - blieben wir noch zwei Jahre in Derry. Dann wurde meine Mutter arbeitslos, und wir zogen nach Nebraska, weil sie dort eine Schwester hatte, die sich erboten hatte, uns aufzunehmen, bis meine Mutter wieder auf eigenen Füßen stehen würde. Es war keine schöne Zeit. Tante Jean war eine sehr geizige Person, die uns ständig vorhielt, wie glücklich wir sein müßten, daß meine Mutter eine Schwester hätte, die so nächstenliebend sei; wie dankbar wir sein müßten, nicht auf das Sozialamt angewiesen zu sein. Na ja, all so 'n Gerede. Ich haßte sie, weil sie ständig über meine Fettleibigkeit herzog. >Ben, du solltest wirklich mehr Sport treiben. Ben, du wirst an Herzschlag sterben, bevor du vierzig bist, wenn du nicht abnimmst. Ben, wo soviel kleine Kinder auf der Welt verhungern, solltest du dich wirklich schämen. < Diese armen verhungernden Kinder warf sie mir aber auch dann vor, wenn ich meinen Teller nicht leer aß, das war das Perverse daran.« Richie lachte und nickte verständnisvoll. Auch er hatte früher solche blödsinnigen Redensarten zu hören bekommen. »Na ja, es dauerte fast ein Jahr, bis meine Mutter wieder eine Dauerbeschäftigung fand. Das war 1961, als das Land sich allmählich von der Rezession erholte. Als wir endlich bei Tante Jean ausziehen konnten und in Omaha eine eigene Wohnung bezogen, hatte ich gegenüber der Zeit, als ihr mich kanntet, etwa neunzig Pfund zugenommen. Ich glaube, ich hatte so viel in mich hineingestopft, nur um meine Tante zu ärgern.«

Eddie pfiff leise vor sich hin. »Dann mußt du ja etwa...«

»Ja, ich habe etwa 210 Pfund gewogen«, sagte Ben ernst. »Na ja, ich ging auf die East Side High School in Omaha, und die Turnstunden waren... ziemlich schlimm. Die anderen Jungs nannten mich >Tonne< und lachten mich aus.

Das ging etwa sieben Monate so, und dann eines Tages, als wir uns nach dem Turnunterricht umzogen, fingen zwei oder drei Jungen an, mir... mir auf den Bauch zu klatschen. Schinkenklopfen nannten sie das. Bald beteiligten sich zwei, drei andere. Es wurden immer mehr, und schließlich jagten sie alle hinter mir her, hetzten mich durch den Umkleideraum und den Korridor und schlugen mich auf den Bauch, auf den Hintern, auf den Rük-ken, auf die Schenkel. Na ja, und ich bekam's mit der Angst zu tun und fing an zu heulen. Und das fanden sie natürlich irrsinnig komisch. Sie lachten sich halbtot.

Wißt ihr«, sagte er mit gesenktem Kopf und spielte mit seinem Besteck, »das war, soviel ich weiß, das letzte Mal, daß ich an Henry Bowers gedacht habe, bis Mike mich vor zwei Tagen anrief. Der Junge, der mit dem Schinkenklopfen angefangen hatte, war so ein kräftiger Bauernbursche mit großen Händen, und während sie mich jagten, dachte ich, Henry wäre zurückgekommen. Ich glaube... nein, ich weiß, daß ich darum so in Panik geriet.

Sie jagten mich also den Korridor entlang. Ich war nackt und krebsrot. Ich hatte jedes Schamgefühl verloren... vermutlich überhaupt jedes Selbstwertgefühl. Ich schrie um Hilfe. Und sie rannten hinter mir her und brüllten: >Schinkenklopfen, Fettkloß! Schinkenklopfen! Schinkenklopfen, Tonne!< Da war eine Bank...«

»Ben, du brauchst diese quälenden Erinnerungen nicht wieder wachzurufen«, fiel Beverly ihm plötzlich ins Wort. Ihr Gesicht war aschfahl. Sie spielte mit ihrem Wasserglas und warf es fast um.

»Laß ihn zu Ende erzählen«, sagte Bill.

Ben schaute ihn einen Moment lang an und nickte dann. »Da war eine Bank am Ende des Korridors, und ich stolperte über sie und schlug mir den Kopf an. Gleich darauf umringten sie mich wieder alle, und dann rief plötzlich eine Stimme: >Okay. Jetzt reicht's, Jungs. Geht euch umziehen.«

Es war der Turnlehrer, der da in seinem weißen T-Shirt und den blauen Shorts mit den weißen Seitenstreifen auf der Schwelle stand. Ich weiß nicht, wie lange er schon dort gestanden hatte. Sie schauten ihn alle an, einige grinsend, einige etwas schuldbewußt, einige einfach völlig ausdruckslos. Sie zerstreuten sich. Und ich heulte.

Der Turnlehrer stand dort in der Tür zur Sporthalle und betrachtete mich, diesen nackten Fettkloß, dessen Haut vom Schinkenklopfen krebsrot war, und der heulend auf dem Boden saß.

Und schließlich sagte er: >Benny, hör auf zu flennen, verdammt noch mal!<

Und ich war so überrascht, ihn fluchen zu hören, daß ich tatsächlich aufhörte. Er kam herüber und setzte sich auf eine der Bänke. Er beugte sich über mich, und die Pfeife um seinen Hals schlug mir gegen die Stirn. Im ersten Moment dachte ich, er wollte mich küssen oder irgend so was, und ich wich etwas zurück, aber statt dessen griff er nach meinen Titten und drückte fest zu. Dann wischte er sich die Hände an seinen Hosen ab, so als hätte er etwas Schmutziges angefaßt.

>Du glaubst wohl, daß ich dich trösten werde?< sagte er. >Das tu' ich nicht. Die Jungs ekeln sich vor dir, und mir geht's genauso. Nur haben wir dafür verschiedene Grunde, denn im Gegensatz zu mir sind sie noch Kinder. Sie wissen nicht, warum sie sich vor dir ekeln. Ich weiß es. Ich ekle mich, weil ich sehe, daß du den dir von Gott gegebenen Körper unter riesigen Fettmassen begräbst. Du bist einfach zu nachsichtig dir selbst gegenüber, ein dummer Schwächling, weiter nichts, und das finde ich zum Kotzen. Und jetzt hör mir mal gut zu, Benny, denn ich sag's dir nur einmal. Ich bin Turnlehrer, Trainer für Football und Basketball und Leichtathletik, und dazwischen muß ich auch noch Schwimmkurse abhalten. Deshalb sag' ich's dir nur einmal. Du bist hier oben fett .< Und er klopfte mir auf den Kopf. >Hier oben sitzt bei dir das Fett, genau hier. Setz das, was zwischen deinen Ohren ist, auf Diät, dann magerst du ab. Aber Schwächlinge wie du schaffen das nie.<«

»Was für ein Arschloch!« rief Beverly empört.

»Ja«, sagte Ben grinsend. »Aber er war so dumm, daß er gar nicht wußte, was für ein Arschloch er war. Er glaubte mir einen Gefallen zu tun. Und wie sich herausstellen sollte, stimmte das auch. Denn damals fiel mir etwas ein. Ich dachte...«

Er senkte den Blick und runzelte die Stirn, und eigenartigerweise wußte Bill, was jetzt kommen würde, noch bevor Ben es aussprach.

»Ich habe euch erzählt, daß ich zum letztenmal an Henry Bowers dachte, als die Jungen mich jagten und Schinkenklopfen mit mir machten. Na ja, und als der Turnlehrer dann aufstand, da dachte ich zum letztenmal an das, was wir im Sommer 1958 getan hatten. Ich dachte...«

Er verstummte wieder und schaute sie der Reihe nach aufmerksam an, als wollte er in ihren Gesichtern lesen. Dann fuhr er langsam fort:

»Ich dachte daran, was für gute Arbeit wir gemeinsam geleistet hatten, was wir getan hatten, und wie wir es getan hatten, und mir wurde plötzlich klar, daß Turnlehrer Woodleigh, wenn er mit etwas Derartigem konfrontiert worden wäre, schlagartig graue Haare und einen Herzinfarkt bekommen hätte. Natürlich war es nicht fair, aber er war zu mir auch nicht fair gewesen. Was dann passierte, könnte ihr euch vielleicht vorstellen...«

»Dich hat die Wut gepackt«, sagte Bill.

Ben lächelte. »Ja, so war's«, sagte er. »Ich rief: >Herr Lehrer!<

Er drehte sich nach mir um. >Sie sind doch auch Trainer für Wettläufe?< fragte ich.

>Stimmt<, erwiderte er. >Aber dir kann das doch völlig egal sein.<

>Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie blöder gehirnamputierter Kerl<, sagte ich, und ihm klappte glatt der Unterkiefer runter, und er riß die Augen sperrangelweit auf. >Im März werde ich zur Mannschaft gehören. Was halten Sie davon?<

>Ich finde, du solltest schleunigst den Mund halten, bevor du große Schwierigkeiten bekommst<, sagte er.

>Ich werde jeden Läufer besiegen, den Sie aussuchen<, sagte ich. >Ich werde Ihren besten Läufer besiegen. Und dann erwarte ich von Ihnen eine Entschuldigung. <

Er ballte die Fäuste, und einen Moment lang dachte ich, er würde mich verprügeln. Aber dann entspannte er sich wieder. >Große Töne spucken ist kinderleicht, Fettkloß<, sagte er sanft. >Du bist nur ein Großmaul. Aber an dem Tag, an dem du meinen besten Läufer besiegst, werde ich hier meine Koffer packen und wieder Mais ernten gehen.< Und damit verzog er sich.«

»Und du hast daraufhin wirklich abgenommen?« fragte Richie.

»Das hab' ich«, sagte Ben. »Aber der Trainer hatte unrecht. Es fing nicht in meinem Kopf an. Es fing mit meiner Mutter an. Ich kam an jenem Abend nach Hause und erklärte ihr, ich wolle abnehmen. Es gab einen Riesenkrach, und zuletzt heulten wir beide. Sie wiederholte ihr altes Lied: ich sei nicht fett, ich hätte nur schwere Knochen, und ein großer Junge, der ein großer, starker Mann werden wolle, müsse viel essen, um bei Kräften zu bleiben. Ich glaube, es war bei ihr so 'ne Art... so 'ne Art Sicherheitsgefühl. Es war schwierig für sie, einen Jungen allein auf zuziehen. Sie hatte keine große Bildung und keine besonderen Fähigkeiten, nur eine Bereitschaft, hart zu arbeiten. Und wenn sie mir eine zweite Portion geben konnte... oder wenn sie mich über den Tisch hinweg anschaute und sah, daß ich kräftig war...«

»Dann hatte sie das Gefühl, den Kampf zu gewinnen«, fiel Mike ein.

»Jaaa.« Ben trank sein Bier aus. »Mit ihr hatte ich die größten Probleme. Monatelang weigerte sie sich, meinen Entschluß zu akzeptieren. Sie machte mir die Kleidung weder enger noch kaufte sie mir neue. Ich hatte angefangen, mich im Rennen zu trainieren, ich legte sämtliche Wege rennend zurück, und manchmal hatte ich dabei so starkes Herzklopfen, daß ich glaubte, im nächsten Moment umzukippen. Als ich zum erstenmal eine Meile gerannt war, übergab ich mich und wurde dann ohnmächtig. Übergeben hab ich mich nach meinen Läufen noch 'ne ganze Weile. Und dann mußte ich allmählich beim Rennen meine Hose festhalten.

Ich besorgte mir 'nen Job als Zeitungsausträger, und ich rannte mit der Tasche um den Hals, während ich gleichzeitig meine Hose festhielt. Meine Hemden flatterten an mir herum wie Segel. Und wenn ich abends heimkam und meinen Teller nur zur Hälfte aufaß, heulte meine Mutter und sagte, ich liebte sie nicht mehr, es sei mir ganz egal, wie schwer sie die ganze Zeit für mich geschuftet hätte.«

»Mein Gott«, murmelte Richie und zündete sich eine Zigarette an. »Ich weiß nicht, wie du das alles ausgehalten hast, Ben.«

»Ich hielt mir immer das Gesicht des Turnlehrers vor Augen«, sagte Ben, »so wie er damals ausgesehen hatte, nachdem er mich an der Brust gepackt hatte. Das half mir durchzuhalten. Mit dem Geld vom Zeitungsaustragen kaufte ich mir neue Klamotten, und der alte Mann aus der Wohnung im ersten Stock machte mir mit seiner Ahle neue Löcher in meinen Gürtel - ich glaube, es waren fünf oder so.

Etwa zur gleichen Zeit hatten wir in der Schule Nahrungsmittelkunde, und ich erfuhr, daß man von Rohkost soviel essen konnte, wie man wollte, ohne zuzunehmen. Und als meine Mutter dann eines Abends einen Salat aus Lattich, rohem Spinat, Apfelstückchen und Schinkenresten machte, aß ich davon drei Portionen und versicherte ihr immer wieder, wie großartig das schmecke - obwohl ich mir aus Kaninchenfutter nie viel gemacht habe.

Das verkleinerte meine Schwierigkeiten ganz beträchtlich. Vermutlich war es ihr nicht so wichtig, was ich aß, solange ich nur viel aß. Sie stopfte mich mit Salaten voll. Ich aß sie drei Jahre lang. Manchmal mußte ich direkt in den Spiegel schauen, um mich zu vergewissern, daß meine Nase noch nicht zuckte.«

»Und wie ging die Sache mit dem Turnlehrer aus?« fragte Eddie. »Bist du zum Wettlauf angetreten?«

»O ja«, sagte Ben. »Beim Zwei-Zwanziger und beim Vier-Vierziger. Bis dahin hatte ich 70 Pfund verloren und war um zwei Zoll gewachsen, so daß sich die restlichen Pfunde besser verteilten. Ich gewann das ZweiZwanziger um sechs Längen und das Vier-Vierziger um acht. Dann ging ich zu Woodleigh rüber, der völlig fassungslos aussah, und ich sagte zu ihm: >Sieht ganz so aus, als müßten Sie wieder raus aufs Maisfeld. Wann machen Sie sich auf den Weg nach Kansas?<

Na ja, er holte aus und versetzte mir 'nen Kinnhaken. >Mach, daß du hier rauskommst !< brüllte er. >Ich will dich nicht in meiner Mannschaft haben, du großschnäuziger kleiner Dreckskerl !<

>Ich würde auch nicht in Ihrer Mannschaft mitmachen - nicht mal auf ausdrückliche Bitte von Präsident Kennedy hin<, erwiderte ich und wischte mir das Blut aus dem Mundwinkel. >Und weil ich Ihnen den Anstoß zum Abnehmen verdanke, will ich Sie auch nicht beim Wort nehmen... aber denken Sie mal wenigstens kurz an mich, wenn Sie nächstes Mal vor einer großen Schüssel Maiskolben sitzen. <

Er sagte, wenn ich nicht sofort verschwände, würde er Kleinholz aus mir machen.« Ben lächelte ein wenig... aber es war kein frohes Lächeln. »Das waren seine genauen Worte. Inzwischen spitzten alle schon die Ohren, einschließlich der beiden Jungen, die ich besiegt hatte. Beide sahen total verwirrt und verlegen aus. Deshalb sagte ich nur: >Ich werde Ihnen mal was sagen, Herr Lehrer. Ich halte Ihnen einiges zugute, weil Sie einfach ein lausiger Verlierer sind, aber zu alt, um sich noch ändern zu können. Doch wenn Sie mir noch einmal ein Haar krümmen, werde ich alles daran setzen, daß Sie Ihren Job verlieren. Ich bin nicht sicher, ob ich das schaffe, aber versuchen könnte ich's jedenfalls. Ich habe abgenommen, um etwas Ruhe und Achtung genießen zu können. Für solche Dinge lohnt es sich zu kämpfend«

Bill hörte sich sagen: »Das klingt ja alles großartig, Ben... aber der Schriftsteller in mir fragt sich, ob ein Kind wirklich jemals so geredet hat.«

Ben nickte, immer noch mit jenem freudlosen Lächeln. »Ich bezweifle auch, daß ein Kind das je getan hat - jedenfalls ein Kind, das nicht das durchgemacht hat, was wir durchgemacht hatten. Aber ich hab's gesagt... und ich habe es völlig ernst gemeint.«

Bill dachte darüber nach, dann nickte er seinerseits. »Okay, das leuchtet mir ein.«

»Woodleigh stand da, die Hände auf die Hüften gestemmt«, fuhr Ben fort. »Er öffnete den Mund, dann schloß er ihn wieder. Niemand sagte etwas. Ich entfernte mich, und seitdem hatte ich mit ihm nichts mehr zu schaffen. Auf diese Weise hab ich also abgenommen. Den Anstoß dazu gab mir Woodleigh... doch es war der Gedanke an euch, der mich wirklich daran glauben ließ, daß ich es schaffen konnte. Und ich hab's dann ja auch geschafft.« Er zuckte die Achseln, aber Bill glaubte, an seinem Haaransatz feine Schweißperlen zu erkennen. »Ende der Beichte. Jetzt könnte ich noch ein Bier vertragen. Reden macht durstig.«

»Bittet, so wird euch gegeben«, sagte Mike und winkte der Kellnerin.

Alle bestellten noch etwas zu trinken und redeten über Nebensächlichkeiten, bis die Drinks kamen. Bill spielte mit seinem Martiniglas und beobachtete den leicht öligen Glanz des Gins und die Olive, die größer zu werden schien, wenn sie dem ihm am nächsten Punkt des Glases zuschwamm. Das wäre ein großartiger Titel für ein Gemälde. Amüsiert und zugleich erschrocken registrierte er, daß er hoffte, jemand würde noch eine Geschichte aus den Jahren erzählen, in denen sie sich nicht gesehen hatten - er wünschte, Beverly würde ihnen von dem wunderbaren Mann erzählen, den sie geheiratet hatte (sogar wenn er langweilig war, wie die meisten wunderbaren Männer das zu sein pflegen), oder Richie würde sich über >Lustige Zwischenfälle im Rundfunkstudio< verbreiten, oder Eddie würde ihnen erzählen, wie Teddy Kennedy in Wirklichkeit ist, wieviel Trinkgeld Robert Redford gibt... oder ihnen irgendwie verständlich machen, warum er immer noch von seinem Aspirator abhängig war, während Ben es geschafft hatte, sein Übergewicht loszuwerden.

Tatsache ist, dachte Bill, daß Mike jetzt jeden Moment das Wort ergreifen wird, und ich bin mir nicht sicher, ob ich hören will, was er zu sagen hat. Tatsache ist, daß mein Puls etwas zu schnell ist und meine Hände etwas zu kalt sind. Tatsache ist, daß ich 25 Jahre zu alt bin, um solche Schreckensnachrichten zu hören. Wir alle sind zu alt cazu. Also sagt schon was, irgendwer, irgendwas. Reden wir über Karrieren und Ehepartner und wie es ist, alte Knderfreunde wiederzusehen und zu erkennen, daß man von der Zeit ein paar ganz ordentliche Schläge auf die Nase abbekommen hat. Reden wir über Sex, Baseball, die Benzinpreise, die Zukunft der Staaten des Warschauer Pakts. Über alles mögliche, nur nicht über das, was uns hierhergeführt hat. So sag doch jemand was!

Und jemand sagte tatsächlich etwas - Eddie Kaspbrak. Aber es war nicht das, was Bill sich gewünscht hatte.

»Wann ist Stan Uris gestorben, Mike?«

»Vor zwei Tagen.«

»Hatte es etwas mit... mit dem zu tun, weshalb wir jetzt hier sind?«

»Ich könnte natürlich ausweichend antworten, daß niemand das genau wissen kann, weil Stan keinen Brief hinterlassen hat«, sagte Mike. Er sprach langsam und mit großem Ernst. »Aber da es kurz nach meinem Anruf passiert ist, glaube ich es mit fast hundertprozentiger Sicherheit annehmen zu dürfen.«

»Er hat sich umgebracht, nicht wahr?« fragte Beverly tonlos. »O mein Gott, armer Stan!«

Die anderen schauten alle Mike an, der sein Bier austrank und dann sagte: »Ja, er hat Selbstmord begangen. Offenbar hat er sich kurz nach meinem Anruf ins Bad begeben, hat Wasser in die Wanne eingelassen, sich hineingesetzt und sich die Pulsadern aufgeschnitten.«

Bill blickte in die Runde und sah nur bleiche, entsetzte Gesichter am Tisch

- keine Körper, nur diese Gesichter. Wie weiße Kreise. Wie weiße Ballons, gebunden durch ein altes Versprechen, das eigentlich schon längst hätte verjähren müssen.

»Wie hast du es erfahren?« fragte Richie. »Stand es in den hiesigen Zeitungen?«

»Nein«, erwiderte Mike. »Ich beziehe schon seit längerem die Zeitungen eurer Wohnorte. Ich habe euch über all die Jahre hinweg nicht aus den Augen verloren.«

»>Ich der Spion<«, kommentierte Richie säuerlich. »Danke, Mike.«

»Es war meine Pflicht«, sagte Mike schlicht.

»Armer Stan«, wiederholte Beverly. Sie schien die Nachricht nicht verkraften zu können, war wie betäubt. »Aber er war doch so tapfer... damals. So... so entschlossen.«

»Die Menschen verändern sich«, meinte Eddie.

»Wirklich?« fragte Bill. »Stan war...« Er strich mit den Händen übers Tischtuch und versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Er war ein ordnungsliebender Mensch. Er gehörte zu jener Kategorie, die ihre Bücher auf den Regalen streng nach Belletristik und Sachbüchern trennt... und jede Abteilung alphabetisch ordnet. Vielleicht war es einfach zu viel für ihn, als Mike anrief. Vielleicht verändern sich die Menschen gar nicht so sehr, wie wir oft glauben. Vielleicht... vielleicht werden sie nur unflexibler.«

Nach kurzem Schweigen sagte Richie: »Okay, Mike. Was passiert hier in Derry? Erzähl's uns.«

»Ich kann euch einiges erzählen«, sagte Mike. »Ich kann euch beispielsweise erzählen, was zur Zeit passiert - und ich kann euch ein paar Dinge über euch selbst erzählen. Aber ich kann euch nicht alles erzählen, was damals im Sommer 1958 passiert ist, und ich glaube auch nicht, daß das notwendig sein wird. Es wird euch schließlich von allein einfallen. Und ich glaube, wenn ich euch jetzt zuviel erzählen würde, bevor ihr in der Lage seid, euch selbst zu erinnern, dann könnte...«

»... uns das gleiche passieren wie Stan?« fragte Bill ruhig.

Mike nickte. »Ja. Genau davor habe ich Angst.«

»Dann erzähl uns, soviel du kannst, Mike«, forderte Bill ihn auf.

»In Ordnung«, sagte Mike.

5. Der Klub der Verlierer wird aufgeklärt

»Die Morde haben wieder angefangen«, begann Mike leise.

Er schaute jeden an, dann heftete er seinen Blick auf Bill.

»Der erste der neuen Morde - wenn ich sie so nennen darf, obwohl es sich gräßlich anhört - begann auf der Main Street Bridge und endete unter dieser Brücke. Das Opfer war ein homosexueller und etwas kindlicher Mann namens Adrian Mellon. Er litt unter Asthma.«

Eddie streckte die Hand aus und berührte seinen Aspirator.

»Es geschah am Abend des 21. Juli, dem letzten Abend des Kanal-Festivals, einer Art Stadtfest...«

Er berichtete ihnen in Kurzform, was Adrian Mellon zugestoßen war, und sah, wie ihre Augen immer größer, ihre Gesichter immer bestürzter wurden. Er erzählte ihnen, was in den >Derry News< gestanden hatte und was nicht... er erzählte ihnen von den ersten Aussagen Don Hagartys und Chris Unwins, sie hätten unter der Brücke einen Clown gesehen, der - Hagarty zufolge - ausgeschaut hätte wie eine Mischung zwischen Ronald McDonald und Bozo.

Wenn du Hilfe brauchst, Don, dann bedien dich mit einem Luftballon. Sie schweben. Hier unten schweben wir alle...

»Das war er«, sagte Ben mit belegter, heiserer Stimme. »Das war dieser verdammte Pennywise.«

»Da ist auch noch etwas anderes«, sagte Mike und blickte Bill an. »Einer der Polizeibeamten, die den Mord untersuchten, war Harold Gardener. Er war es, der Adrian Mellon aus dem Kanal holte.«

»O mein Gott«, murmelte Bill erschüttert.

»Bill?« Beverly legte ihm eine Hand auf den Arm. Ihre Stimme klang bestürzt und beunruhigt. »Bill, was ist los?«

»Harold mußte damals etwa fünf gewesen sein«, sagte Bill benommen und sah Mike fragend an.

»Ja.«

»Was ist, Bill?« fragte nun auch Richie.

»H-H-Harold Gardener war der Sohn von Dave Gardener«, erklärte Bill. »Dave wohnte 1957 in unserer Nähe. Er war damals als erster bei G-G-G-G... bei meinem Bruder, und er brachte ihn in eine Decke gehüllt zu uns zurück.«

Sie saßen wortlos da. Beverly legte kurz eine Hand über ihre Augen.

»Es paßt alles ein bißchen zu gut, nicht wahr?« sagte Mike schließlich.

»Ja«, murmelte Bill. »Das kann man wohl sagen.«

»Die Sache geht aber noch weiter. Im Oktober 1984 wurde die Leiche von Lisa Albrecht im Witcham Park gefunden - keine halbe Meile von der Stelle entfernt, wo George ermordet wurde - und es geschah am gleichen Tag. Dein Bruder starb am 18. Oktober 1957- die kleine Albrecht am 18. Oktober 1984.«

Bill konnte ihn nur noch völlig fassungslos anstarren.

»Ich habe euch sechs in all den Jahren immer im Auge behalten, wie ich euch schon erzählt habe«, fuhr Mike fort, »aber erst damals begann ich zu verstehen, warum ich das getan hatte - daß ich dafür einen ganz konkreten Grund hatte. Trotzdem beschloß ich abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Wißt ihr, ich hatte das Gefühl, absolut sicher sein zu müssen, bevor ich... bevor ich euer Leben durcheinanderbrachte. Nicht zu 90 Prozent sicher, auch nicht zu 99 Prozent. Ich mußte hundertprozentig sicher ein.

Im Dezember des Vorjahres wurde ein achtjähriger Junge namens Steven Johnson auf der Outer Jackson Street gefunden, auf der Straßenseite der Autobahnauffahrt. Wie Adrian Mellon und das Albrecht-Mädchen, so war auch er gräßlich verstümmelt. Nicht sexuell mißbraucht, sondern verstümmelt.«

»War das die Stelle, wo 1957 das Ripsom-Mädchen gefunden wurde?« fragte Beverly. Sie war unter ihrer roten Haarsträhne fast durchscheinend bleich. »Es war dieselbe Stelle, nicht wahr?«

»Ja, in etwa«, bestätigte Mike. »Obwohl die Autobahn damals ja erst im Bau war. Aber du hast recht: das Muster ist deutlich zu erkennen.«

»Wieviel insgesamt?« fragte Eddie. Er sah nicht so aus als wollte er es wirklich wissen.

»Es ist schlimm«, sagte Mike.

»Wieviel?« wiederholte Bill.

»Bisher neun.«

»Das kann doch nicht sein!« schrie Beverly. »Das hätte ich doch in der Zeitung gelesen - in den Fernsehnachrichten gesehen... als jene Kinder in Atlanta ermordet wurden...«

»Ja, darüber habe ich sehr viel nachgedacht«, sagte Mike. »Manchmal habe ich mich gefragt, ob da unten vielleicht etwas Ähnliches los war...

oder auch in London, in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als Jack the Ripper dort sein Unwesen trieb. Angeblich hat er insgesamt nur fünf Nutten ermordet, aber wir wissen nicht, wieviel andere, die nie gefunden wurden, seinem Messer zum Opfer gefallen sind... ebenso wie wir nicht wissen, wieviel Kinder, die hier in Derry als vermißt in den Polizeiakten geführt werden, in Wirklichkeit vielleicht ermordet wurden.«

Er schaute sie der Reihe nach an. »In gewisser Hinsicht ist jener AtlantaVergleich das, was mich an der ganzen Sache am meisten ängstigt«, fuhr er fort, »denn Beverly hat völlig recht. Die Medien im ganzen Land hätten darüber berichten müssen. Neun Morde an Kindern... Fernsehkorrespondenten hätten herkommen müssen, Pseudopsychologen, Reporter von >The At-lanticMonthly< und >RollingStone<... kurz gesagt, der ganze Zirkus.«

»Aber es ist nicht passiert«, sagte Bill.

»Nein«, antwortete Mike. »Oh, in der Sonntagsausgabe des Portlander >Telegmm< - vielmehr in der Beilage - stand ein kurzer Artikel darüber, und der Bostoner >Globe< brachte nach den letzten beiden Morden auch einen. Eine Bostoner TV-Station berichtete in ihrer Sendereihe >Good Day< im Februar über ungelöste Morde, und dabei kamen auch diejenigen in Derry zur Sprache, aber der Experte erwähnte sie nur beiläufig... und er hatte bestimmt keine Ahnung, daß es hier ähnliche Mordserien schon 1957/58 und davor 1929/30 gegeben hat.

Natürlich könnte man. dafür einige scheinbar einleuchtende Erklärungen anführen - Atlanta, New York, Chicago, Detroit... das sind Städte mit Medien aller Art, und wenn in solchen Städten etwas passiert, gibt es sofort einen großen Wirbel. In Derry hingegen gibt es keine einzige Rundfunkstation - es sei denn, man wollte den kleinen FM-Sender der Englischen Fakultät unserer High School mitzählen - und keine einzige TV-Station. Was die Medien angeht, hat Bangor das große Sagen.«

»Abgesehen von den >Derry News<«, warf Eddie ein, und alle lachten.

»Aber wir wissen, daß das in der Welt von heute eigentlich keine Rolle spielen dürfte«, fuhr Mike fort. »Wir haben ein so dichtes Kommunikationsnetz, daß diese Vorfälle irgendwann nationale Aufmerksamkeit hätten erregen müssen. Aber das ist nicht geschehen. Und ich glaube, dafür gibt es nur eine Erklärung: Es will das nicht.«

»Es«, murmelte Bill leise vor sich hin.

»Es«, wiederholte Mike. »Irgendwie müssen wir Es doch nennen, und da können wir es doch gleich bei dieser Bezeichnung belassen. Wißt ihr, ich glaube allmählich, daß Es jetzt schon so lange hier ist - was immer Es auch in Wirklichkeit sein mag -, daß Es ein Teil von Derry geworden ist, daß Es ebenso zur Stadt gehört wie der Wasserturm, der Kanal, Bassey Park oder die Bücherei. Nur hat Es natürlich nichts mit äußerer Geographie zu tun. Es ist... innen. Irgendwie ist Es ins Innere eingedrungen. Nur so kann ich mir all das Schreckliche erklären, das hier immer wieder passiert - das scheinbar Erklärbare als auch das Unerklärliche. Im Jahre 1930 gab es einen Brand im >Black Spot<, einem Negerklub. Ein Jahr zuvor wurde eine Banditenbande auf der Canal Street erschossen.«

»Die Brady-Bande«, sagte Bill. »Das FBI hat sie zur Strecke gebracht, stimmt's?«

»So steht's in den Geschichtsbüchern«, sagte Mike, »aber es stimmt nicht. Soviel ich feststellen konnte - und ich würde viel darum geben zu glauben, daß es nicht so war, denn trotz allem liebe ich diese Stadt -, wurde die Brady-Bande, alle sieben, in Wirklichkeit von den braven Bürgern der Stadt niedergeschossen. Irgendwann erzähl ich euch Näheres darüber.

Im Jahre 1903 explodierte die Kitchner-Eisenhütte während einer Ostereiersuche für Kinder. Im selben Jahr gab es eine schreckliche Serie von Tierverstümmelungen. Schließlich wurde festgestellt, daß Andrew Rhulin dafür verantwortlich war - der Großonkel des Mannes, der jetzt die Rhulin Farms leitet. Er wurde von den drei Schutzmännern, die ihn verhaften sollten, zu Tode geprügelt. Keiner der drei kam jemals vor Gericht.«

Mike zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin. Ohne aufzuschauen, berichtete er weiter. »Im Jahre 1876 gab es innerhalb der Stadtgrenzen vier Fälle von Lynchjustiz. Einer der Männer, die aufgeknüpft wurden, war der Laienprediger der Methodistenkirche, der anscheinend seine vier Kinder wie junge Katzen in der Badewanne ertränkt und anschließend seiner Frau einen Kopfschuß verpaßt hatte. Er hatte ihr danach die Pistole in die Hand gedrückt, damit es wie Selbstmord aussehen sollte, aber auf diesen Schwindel fiel niemand rein. Ein Jahr zuvor wurden vier Holzfäller in einer Hütte am Kenduskeag tot aufgefunden - sie waren buchstäblich in Stücke gerissen. In alten Tagebüchern findet man Aufzeich-hungen über das Verschwinden von Kindern, von ganzen Familien... aber in keinem öffentlichen Dokument. Das geht endlos so weiter, doch vermutlich versteht ihr schon, worauf ich hinauswill.«

Er schloß das Notizbuch, schob es wieder in die Tasche und schaute sie

ruhig an.

»Wenn ich nicht Bibliothekar, sondern Versicherungsagent wäre«, fuhr er fort, »würde ich es euch vielleicht grafisch aufzeichnen. Dieses Diagramm würde eine außergewöhnlich hohe Rate aller uns bekannter Verbrechen aufzeigen - einschließlich Vergewaltigung, Inzest, Einbruch und Raubmord, Autodiebstahl, Kindesmißhandlung, Mißhandlung von Ehefrauen und Sittlichkeitsverbrechen aller Art. Wenn man ein solches Diagramm auf ein durchsichtiges Blatt Papier zeichnen und dann auf ein Diagramm für eine wesentlich größere Stadt - sagen wir mal Boston - legen würde, schnitte es immerhin noch recht günstig ab... wenn das der richtige Ausdruck ist.«

»Ist es nicht«, murmelte Richie, »aber mir fällt auch kein besserer ein.«

»In Texas gibt es eine mittlere Großstadt, Austen, glaube ich, wo die Verbrechensrate wesentlich niedriger ist, als man bei einer Stadt dieser Größe und Rassenstruktur erwarten dürfte. Die ungewöhnliche Ausgeglichenheit und Sanftmut der Einwohner wird auf irgendeine'n Bestandteil des dortigen Wassers zurückgeführt. In Derry ist genau das Gegenteil der Fall - auch in ganz normalen Jahren gibt es hier ungewöhnlich viele Gewalttaten. Aber alle 27 Jahre schnellt diese Gewalttätigkeit enorm hoch - obwohl dieser Zyklus immer nur annähernd stimmt -, und dieses Phänomen hat niemals nationale Aufmerksamkeit erregt.«

»Du willst damit sagen, daß hier eine Art Krebskrankheit am Werk ist«, sagte Beverly.

»Keineswegs«, widersprach Mike. »Wenn Krebs nicht behandelt wird, führt er unweigerlich zum Tod. Derry ist nicht ausgestorben; ganz im Gegenteil, es wächst und gedeiht... natürlich auf unauffällige Weise, die kein Aufsehen erregt. Es ist einfach eine ziemlich reiche, blühende kleine Großstadt in einem verhältnismäßig schwach besiedelten Staat; eine Stadt, in der viel zu häufig schlimme Dinge passieren... und in der etwa jedes Vierteljahrhundert besonders schlimme, grausame Dinge geschehen.«

»Läßt sich das wirklich genau zurückverfolgen?« fragte Ben.

Mike nickte. »Über mehrere Jahrhunderte hinweg. 1714/15, dann - besonders schlimm - 1740-43, dann 1769/70, bis hin zur Gegenwart. Und es scheint immer schlimmer zu werden, vielleicht weil die Einwohnerzahl von Derry stetig wächst, vielleicht auch aus irgendeinem anderen Grund. Und 1958 scheint der Zyklus ein vorzeitiges Ende gefunden zu haben. Und das war unser Werk.«

Bill Denbrough beugte sich vor. Seine Augen strahlten plötzlich. »Bist du dessen sicher? Ganz sicher?«

»Ja«, sagte Mike. »Alle anderen Zyklen erreichten ihren Höhepunkt ungefähr im September und flauten dann allmählich ab, so daß sich bis Weihnachten - spätestens bis Ostern - das Leben wieder mehr oder weniger normalisierte ... mit anderen Worten, etwa alle 27 Jahre dauerte der Schrecken 14 bis 20 Monate. Aber das Schreckensjahr, das mit der Ermordung deines Bruders im Oktober 1957 begann, endete ganz abrupt im August 1958.«

»Warum?« fragte Eddie eindringlich. Sein Atem ging pfeifend, und Bill wußte aus früherer Erfahrung, daß Eddie jetzt bald seinen Aspirator benutzen würde. »Was haben wir denn getan?«

Die Frage hing in der Luft. Mike schien sie zu prüfen... und schließlich schüttelte er den Kopf. »Ihr werdet euch von selbst daran erinnern«, sagte er. »Es wird euch zur richtigen Zeit von selbst einfallen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann... gnade Gott uns allen.«

»Neun Kinder in diesem Jahr ermordet«, murmelte Richie. »Gütiger Himmel!«

»Lisa Albrecht und Steven Johnson Ende 1984«, sagte Mike. »Im Februar verschwand ein Junge namens Dennis Torrio, der die High School besuchte. Seine Leiche fand man Mitte März in den Barrens. Verstümmelt. Dies hier wurde in der Nähe gefunden.«

Er hatte einen kleinen Stapel Fotos aus derselben Tasche geholt wie zuvor das Notizbuch. Jetzt nahm er das oberste, und es machte seine Runde um den Tisch. Beverly und Eddie betrachteten es nur leicht verwirrt, aber Rich Tozier reagierte heftig. Er ließ es fallen wie eine heiße Kartoffel. »Mein Gott! Mein Gott, Mike!« Mit weit aufgerissenen Augen schaute er auf. Dann reichte er das Bild an Bill weiter.

Bill warf einen Blick darauf und spürte, wie alles um ihn herum verschwamm, und einen Augenblick lang war er sicher, daß er ohnmächtig werden würde. Er hörte ein Stöhnen und wußte, daß er selbst dieses Geräusch verursacht hatte. Er ließ das Foto fallen.

»Was ist los?« hörte er Beverly fragen. »Was bedeutet das, Bill?«

»Es ist das Schulfoto meines Bruders«, sagte Bill schließlich. »Es ist G-G-

Georgie. Das Foto aus seinem Album. Das sich bewegt hat. Auf dem mir mein Bruder zugezwinkert hat.«

Alle betrachteten es daraufhin noch einmal, während Bill regungslos am Kopfende des Tisches saß und ins Leere starrte. Es war ein Foto jenes Fotos. Das zerrissene Schulfoto hob sich darauf von einem weißen Hintergrund ab

- es handelte sich um ein Polizeifoto. Auf dem Schulbild war tatsächlich George Denbrough zu sehen, die Haare mit Wasser angefeuchtet und glattgekämmt, die lächelnden Lippen etwas geöffnet, so daß zwei Zahnlücken zum Vorschein kamen, die nie durch neue Zähne geschlossen worden waren (es sei denn, daß sie noch im Sarg wachsen, dachte Bill schaudernd). Auf dem unteren Rand von Georgies Bild stand: Schulfreunde 1957/58.

»Und es wurde dieses Jahr gefunden?« fragte Beverly. Mike nickte, und sie wandte sich Bill zu. »Wann hast du es zuletzt gesehen, Bill?«

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, versuchte zu sprechen. Er brachte kein Wort heraus. Er versuchte es noch einmal - er war sich bewußt, daß er jetzt wieder stotterte, und er kämpfte dagegen an, kämpfte gegen das lähmende Entsetzen an.

»Ich habe dieses Foto seit Oktober 1958 nicht mehr gesehen«, sagte er. »Ein Jahr nach Georgies Tod. Damals machte ich meinen Eltern eine Szene. Ich bekam fast einen W-W-Wutanfall. Ich überredete sie, G-G-Georgies Zimmer auszur-r-räumen und das Zeug entweder zu v-v-verbrennen oder auf den Dachboden zu bringen. Ich dachte, dieses A-A-Album hätte zu den Sachen gehört, die sie verbrannt haben. Aber ich habe mich wohl g-g-geirrt.«

»O Bill«, stöhnte Beverly und griff nach seiner Hand. »Es tut mir so leid.«

Ein lautes Keuchen lenkte die Aufmerksamkeit aller plötzlich auf Eddie. Er legte gerade seinen Aspirator auf den Tisch zurück und sah ein bißchen |verlegen aus.

»Gibst du den Geist auf, Big Ed?« fragte Richie, und dann kam gespenstisch die Stimme des >Tönende-Wochenschau<-Reporters aus Richies Mund: »Heute ist in Derry die ganze Stadt auf den Beinen, um die Parade der Asthmatiker zu sehen, und der Star der Show ist Big Ed, die Rotznase, der in ganz Neuengland bekannt ist als...«

Er brach abrupt ab, und seine Hände schnellten zum Gesicht hoch, so als wollte er seine Augen damit bedecken, und Bill dachte plötzlich mit neuem Entsetzen: Nein, nein, das ist es nicht. Nicht um seine Augen zu bedecken, sondern um seine Brille hochzuschieben. Die Brille, die nicht mehr da ist. O mein Gott, was geht hier nur vor?

»Eddie, es tut mir leid«, sagte Rich. »Das war gemein von mir. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Er schaute bestürzt in die Runde.

Mike Hanion brach das Schweigen.

»Ich hatte mir nach der Entdeckung von Steven Johnsons Leiche geschworen, euch anzurufen, sobald noch etwas passierte - sobald noch ein klarer Fall vorlag -, und dann habe ich diese Anrufe doch zwei Monate lang immer wieder aufgeschoben. Es war so, als sei ich hypnotisiert von den Ereignissen. Georges Foto wurde neben einem umgestürzten Baum, keine zehn Fuß von der Leiche des Torrio-Jungen entfernt, gefunden. Es war nicht versteckt - ganz im Gegenteil. Es war so, als hätte der Mörder gewollt, daß es gefunden würde. Und ich bin überzeugt davon, daß das tatsächlich in seiner Absicht lag.«

»Wie bist du an das Polizeifoto herangekommen, Mike?« fragte Ben. »Denn es ist doch eins, oder?«

»Ja. Es gibt einen Burschen bei der Polizei, der nicht abgeneigt ist, sich ein bißchen was dazuzuverdienen. Ich zahle ihm so an die 20 Dollar monatlich

- mehr könnte ich mir nicht leisten. Er ist meine geheime Informationsquelle.

Die Leiche von Dawn Roy wurde vier Tage nach der des Torrio-Jungen gefunden«, berichtete Mike weiter. »Im McCarron-Park. Das Mädchen war 13 Jahre alt. Die Leiche war verstümmelt.

23. April dieses Jahres. Adam Terrault. Sechzehn. Er wurde als vermißt gemeldet, nachdem er vom Üben mit einer Band nicht zurückkam. Am nächsten Tag wurde er dicht neben dem Weg gefunden, der durch den Grüngürtel hinter West Broadway führt. Auch er war verstümmelt.

Weiter - 6. Mai. Ein Junge namens Frederick Cowan. Zweieinhalb Jahre alt. Er wurde in einem Badezimmer gefunden, mit dem Kopf in der Toilette.«

»O Mike!« schrie Beverly.

»Ja, es ist schlimm«, sagte er fast ärgerlich. »Glaubt ihr, ich wüßte das nicht?«

»Ist die Polizei überzeugt davon, daß es nicht... na ja, ein Unfall gewesen sein könnte?« fragte Bev.

Mike schüttelte den Kopf. »Seine Mutter hängte auf dem Hinterhof Wäsche auf. Sie hörte Geräusche von einem Kampf... hörte ihren Sohn schreien. Sie rannte ins Haus, so schnell sie konnte. Das Bad war im ersten Stock, und auf der Treppe hörte sie mehrmals die Toilettenspülung - und ein Lachen. Sie sagte, es hätte nicht wie das Lachen eines Menschen geklungen.«

»Und sie sah überhaupt nichts?« fragte Eddie.

»Ihren Sohn. Seine Wirbelsäule war gebrochen, und er hatte eine Schädelfraktur. Die Glastür der Dusche war eingeschlagen. Überall war Blut. Und die zerbrochene Brille neben der Toilette. Die Frau befindet sich jetzt in der Nervenklinik in Bangor. Mein... mein Mann bei der Polizei sagt, sie hätte völlig den Verstand verloren.«

»Kein Wunder«, murmelte Richie heiser. »Wer hat eine Zigarette für mich?«

Beverly gab ihm eine, und er zündete sie mit zitternder Hand an.

»Die Polizei behauptet, der Mörder wäre durch die Vordertür hereingekommen, während die Mutter des Jungen auf dem Hinterhof ihre Wäsche aufhängte. Und als sie dann die Treppe hinauf rannte, wäre er aus dem Badezimmerfenster auf den Hof gesprungen und auf diese Weise entkommen. Aber das Fenster ist sehr klein; ein siebenjähriges Kind müßte sich schon sehr verrenken, um rauszukommen. Und dann ein Sprung aus 25 Fuß Höhe auf eine mit Steinfliesen ausgelegte Veranda! Aber über solche Dinge redet Rademacher nicht gern, und niemand von der Presse hat ihn richtig in die Zange genommen.«

Mike trank einen Schluck Wasser und ließ dann ein weiteres Foto von

Hand zu Hand gehen, ausnahmsweise keine Polizeiaufnahme. Es war wieder ein Schulfoto, diesmal das eines etwa dreizehnjährigen grinsenden Jungen. Er hatte für dieses Schulfoto vermutlich seine beste Kleidung angezogen, und seine Hände waren sauber und auf dem Schoß gefaltet... aber seine Augen funkelten verschmitzt. Er war schwarz.

»Jeffery Holly«, kommentierte Mike. »13. Mai. Eine Woche nach der Ermordung des Cowan-Jungen. Tatort - Bassey-Park, dicht am Kanal.

Neun Tage später, am 22. Mai, wurde ein Fünftkläßler namens John Feury auf der Neibolt Street tot aufgefunden...«

Eddie stieß einen hohen kreischenden Schrei aus. Er tastete nach seinem Aspirator und warf ihn dabei vom Tisch. Bill hob ihn auf. Eddies Gesicht war krankhaft gelb. Sein Atem pfiff in seiner Kehle.

»Holt ihm was zu trinken«, rief Richie. »Holt doch...«

Aber Eddie schüttelte den Kopf. Er schob sich den Aspirator in den Mund, und sein Brustkorb dehnte sich, als er gierig Luft einsaugte. Dann lehnte er sich keuchend, mit halb geschlossenen Augen, zurück.

»Es wird mir gleich wieder bessergehen«, japste er. »Nur noch 'n Augenblick, dann bin ich wieder okay.«

»Eddie, bist du ganz sicher?« fragte Beverly besorgt. »Vielleicht solltest du dich etwas hinlegen?«

»Mir geht's schon wieder ganz gut«, sagte er eigensinnig. »Es war nur... nur der Schock. Der Schock, wißt ihr. Ich hatte die Neibolt Street total vergessen.«

Niemand erwiderte etwas darauf; es war auch nicht notwendig. Sie alle hatten diesen Schock soeben am eigenen Leibe erfahren. Bill hatte das Gefühl, als würde er davon erdrückt, als könnte er sich weder bewegen noch einen klaren Gedanken fassen. Man glaubte gerade, das Schlimmste hinter sich zu haben, und dann nannte Mike noch einen Namen und noch einen -wie ein böser Zauberer, der unzählige schreckliche Kunststücke auf Lager hat -, und immer neue riesige Wellen des Entsetzens schlugen über einem zusammen. Es war einfach zuviel des Schrecklichen auf einmal, ein unglaublicher Strom unerklärlicher Gewalt - und direkt für die hier Versammelten bestimmt - zumindest legte Georges Foto diese Vermutung sehr nahe.

»Beide Beine John Feurys waren verschwunden«, fuhr Mike leise fort, »aber der Gerichtsmediziner sagt, er sei erst nach seinem Tod verstümmelt worden. Er scheint buchstäblich vor Angst gestorben zu sein - Herzschlag. Er wurde vom Briefträger gefunden, der unter der Veranda eine Hand herausragen sah...«

»Es war Nummer 29, nicht wahr?« sagte Richie, und Bill schaute rasch zu ihm hinüber. Richie erwiderte seinen Blick und nickte, dann wandte er sich wieder Mike zu. »Neibolt Street Nummer 29.«

»Ja«, bestätigte Mike ruhig. »Es war Nummer 29.« Er trank wieder einen Schluck Wasser. »Bist du wieder okay, Eddie?«

Eddie nickte. Seine Atmung hatte sich fast wieder normalisiert.

»Einen Tag nachdem man Feurys Leiche gefunden hatte, nahm Rademacher eine Verhaftung vor«, berichtete Mike. »An jenem Tag war in einem Leitartikel auf der ersten Seite der >News< sein Rücktritt gefordert worden.«

»Nach acht Morden«, sagte Ben. »Ganz schön radikal von den Leuten, findet ihr nicht auch?«

»Wer wurde denn verhaftet?« fragte Beverly.

»Ein Mann, der in einer kleinen Hütte an der Route 7 wohnt, fast schon an der Stadtgrenze zwischen Derry und Newport«, sagte Mike. »Er ist so 'ne Art Eremit. Verbrennt Abfallholz in seinem Ofen, hat das Dach seiner Hütte mit weggeworfenen Schachteln gedeckt. Heißt Harold Earl. Sieht vermutlich in einem ganzen Jahr nicht mal 200 Dollar an Bargeld. Ein Autofahrer sah ihn auf seinem Hof stehen und den Himmel betrachten, an dem Tag, als John Feurys Leiche gefunden wurde. Seine Kleidung war mit Blut befleckt.«

»Vielleicht ist dann...«, begann Richie hoffnungsvoll.

»Er hatte drei erlegte Hirsche in seinem Schuppen«, berichtete Mike. »Er hatte das Wild nachts mit Feuer angelockt. Das Blut auf seinen Kleidern war Hirschblut. Rademacher fragte ihn, ob er John Feury ermordet hätte, und Earl soll geantwortet haben: >O ja, ich hab' 'ne Menge Leute ermordet. Die meisten hab' ich erschossen - im Krieg. < Er sagte auch, er hätte nachts in den Wäldern etwas gesehen. Blaue Lichter, die einige Zoll vom Boden entfernt schwebten. Leichenlichter nannte er sie.

Man brachte ihn in die psychiatrische Klinik in Bangor, und dem medizinischen Befund zufolge ist seine Leber fast hin. Er hat Farbenverdünner getrunken.. .«

»O mein Gott!« murmelte Beverly.

»... und neigt zu Halluzinationen. Bis vor drei Tagen klammerte sich Rademacher an seine Idee, daß Earl der wohl Verdächtigste sei. Er schickte acht seiner Leute raus, die seine Hütte auf den Kopf stellten und überall nach fehlenden Leichenteilen, Lampenschirmen aus Menschenhaut und Gott weiß was suchten.«

Mike schwieg ein Weilchen mit gesenktem Kopf und fuhr dann fort. Seine Stimme war jetzt etwas heiser. »Ich habe die Anrufe immer wieder aufgeschoben. Aber als ich dies hier sah, rief ich euch an. Ich wünschte bei Gott, ich hätte es früher getan.«

»Zeig uns das Foto«, sagte Ben abrupt.

»Das Opfer war wieder ein Fünftkläßler«, sagte Mike. »Ein Klassenkamerad des Feury-Jungen. Er wurde dicht neben der Kansas Street gefunden, in der Nähe der Stelle, wo Bill immer sein Fahrrad versteckte, wenn wir in den Barrens waren. Sein Name war Jerry Bellwood. Er war in Stücke gerissen. Was... was von ihm übrig war, wurde neben einer Stützmauer aus Beton gefunden, die vor etwa 12 Jahren entlang der Kansas Street errichtet wurde, um die Bodenerosion zu stoppen. Dieses Polizeifoto jenes Teils der Mauer wurde weniger als eine halbe Stunde nach Entfernung der Leiche des Jungen aufgenommen. Hier.«

Er reichte das Foto Richie Tozier, der es betrachtete und an Beverly weitergab. Sie warf einen kurzen Blick darauf, zuckte zusammen und gab es Eddie, der es lange versunken studierte, bevor er es Ben zeigte. Dieser gab es nach einem ganz flüchtigen Blick Bill.

In schiefen Druckbuchstaben war auf der Betonmauer zu lesen:

KOMMT HEIM KOMMT HEIM KOMMT HEIM

Bill sah Mike grimmig an. Langsam stieg Zorn in ihm auf, und darüber war er froh - Zorn war nicht gut, aber besser als der Schock, besser als die elende Angst. »Ist es das, was es zu sein scheint?«

»Ja«, sagte Mike. »Die Kreatur, die Jerry Bellwood ermordete, schrieb diese Worte mit dem Blut des Jungen.«

6. Richie Tozier wird ausgepiept

Mike hatte die Fotos wieder an sich genommen und sie in seine innere Jak-kentasche geschoben. Daraufhin fühlten sich alle irgendwie erleichtert.

»Neun Kinder«, sagte Beverly leise. »Ich kann's einfach nicht glauben. Ich meine... ich glaub's schon, aber was ich nicht glauben kann, ist... neun Kinder und - nichts?«

»Ganz so ist es nicht«, erwiderte Mike. »Die Leute sind zornig und beunruhigt. Die Retten-wir-unsere-Kinder-Komitees treffen sich wieder in der Fairmount-Schule und in der High School. Sechzehn Kriminalbeamte vom Justizministerium halten sich in der Stadt auf, und ein Kontingent von FBI-Leuten - ich weiß nicht, wieviel es sind, Rademacher rückt nicht raus damit. Die Sperrstunde ist wieder eingeführt worden...«

»O ja, die berühmte Sperrstunde!« sagte Ben sarkastisch und rieb sich langsam den Nacken. »Die hat 1958 ja wahre Wunder bewirkt.«

»... und es gibt Müttergruppen, die dafür sorgen sollen, daß die kleineren Kinder auf dem Schulweg von jemandem begleitet werden. Die >News< haben in den letzten drei Wochen über 2000 Leserbriefe bekommen, in denen eine Erklärung verlangt wird. Und die Stadtflucht hat auch wieder begonnen.«

»Was für eine Stadtflucht?«

»Es hat jedesmal eine gegeben, sobald diese Ereignisse anfingen - alle 27 Jahre. Es gibt immer Leute, die keine Lust haben, an die Zeitung zu schreiben oder Komitees beizutreten oder zu verlangen, daß der Polizeichef zurücktritt. Sie packen einfach ihre Koffer und machen, daß sie hier rauskommen. Es läßt sich nicht feststellen, wieviel es sind, denn es fällt nie auf ein Volkszählungsjahr. Aber meiner Meinung nach sind es ziemlich viele. Sie rennen davon wie Kinder, die versuchen, aus einem Haus rauszukommen, in dem es spukt.« Mike seufzte. »Vielleicht haben diese Leute recht - vielleicht sind sie am klügsten.«

»Kommt heim, kommt heim, kommt heim«, flüsterte Beverly. Ihr ängstlicher, fragender Blick heftete sich auf Bill, nicht auf Mike. »Es wollte, daß wir zurückkommen. Warum?«

»Ich nehme an, daß Es - was immer Es auch sein mag- sich an uns rächen will«, beantwortete Mike ihre Frage. »Wir haben Es einmal behindert.«

»Es will sich rächen... oder einfach die alte Ordnung wiederherstellen.«

Mike nickte. »Ist euch eigentlich bewußt, daß euer aller Leben ebenfalls nicht ordnungsgemäß, nicht in den richtigen Bahnen verläuft? Keiner von euch hat Derry unbeeinflußt verlassen. Ihr hattet alle vergessen, was 1958 hier geschehen ist, und selbst jetzt sind eure Erinnerungen an jenen Sommer äußerst bruchstückhaft. Habe ich recht?«

Sie schauten von Mike zu Bill, der für sie alle nickte.

»Dann ist da die äußerst merkwürdige Tatsache, daß ihr alle reich seid«, fuhr Mike fort.

»Na hör mal!« rief Richie. »Reich würde ich mich...«

»Sachte, sachte«, sagte Mike und lächelte leicht. »Reich nach den Maßstäben eines Bibliothekars, der netto im Jahr knapp elf Riesen verdient. Okay?«

Rich zuckte ein wenig verlegen die Achseln. Ben war scheinbar ganz damit beschäftigt, seine Papierserviette zu zerreißen. Außer Bill schaute niemand Mike direkt an.

»Ihr seid alle sogar nach den Maßstäben der oberen Mittelschicht sehr wohlhabend«, fuhr Mike fort. »Wenn jemand von euch auf seiner Einkommensteuererklärung für 1984 weniger als 90000 Dollar eingetragen hat, so möge er die Hand heben.«

Sie warfen einander verstohlene Blicke zu, verlegen, wie Amerikaner es über ihren Erfolg immer zu sein scheinen. Bill spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß, aber er konnte nichts dagegen machen. Er hatte allein für den ersten Entwurf des Drehbuchs von >Attic Room< 10000 Dollar mehr als die von Mike erwähnte Summe bekommen, und weitere 20000 Dollar für jede der beiden abgeänderten Fassungen. Angesichts von Mikes Einkommen von knapp 11000 Dollar im Jahr wirkte dieses leicht verdiente Geld fast ungeheuerlich.

»Bill Denbrough, ein erfolgreicher Schriftsteller in einer Gesellschaft, in der nur ganz, ganz wenige Schriftsteller vom Schreiben leben können«, sagte Mike. »Beverly Huggins, die sich als Modedesignerin auf einem Gebiet betätigt, wo noch weniger Leute Erfolg haben. Und trotzdem ist sie inzwischen wohl die gefragteste Designerin im mittleren Drittel des Landes.«

»Das ist Toms Verdienst«, fiel Beverly ihm ins Wort. Sie lachte nervös und zündete sich an der glimmenden Kippe einer Zigarette die nächste an. »Ohne ihn würde ich immer noch Säume heften und nähen. Ich habe überhaupt keinen Geschäftssinn, das sagt sogar Tom. Es ist einfach... na ja, einfach Glück, wißt ihr.« Sie zog an ihrer Zigarette und drückte sie aus.

»Ich glaub', die Lady protestiert 'n bißchen zu sehr«, sagte Richie verschmitzt.

Sie drehte sich abrupt zu ihm um und warf ihm mit hochroten Wangen einen scharfen Blick zu. »Was soll denn das heißen, Richie Tozier?«

»Nicht schlagen, Miß Scarlett!« schrie Richie mit hoher, zitternder Stimme - und in diesem Moment konnte Bill den Jungen von einst mit gespenstischer, unheimlicher Deutlichkeit sehen; es war keine verborgene Gegenwart, die unter Richies Backenknochen oder der Form seines Kinns lauerte - nein, sie war realer als der erwachsene Mann. »Nicht schlagen! Lassen Sie mich Ihnen noch 'nen Pfefferminztee bringen, Miß Scarlett! Nur nicht mich armen schwarzen Jungen auspeitschen, bitte nicht!«

»Du bist einfach unmöglich!« sagte Beverly kühl. »Du solltest endlich erwachsen werden, Richie.«

Richie schaute sie an, nun wieder ganz ernst. »Ich hielt mich dafür - bis ich hierher zurückkam!«

»Richie, du bist der vielleicht erfolgreichste Discjockey in den Vereinigten

Staaten«, ergriff Mike wieder das Wort. »Los Angeles frißt dir jedenfalls aus der Hand. Außerdem moderierst du auch noch zwei Shows, die von anderen Sendern übernommen werden. Eddie, du hast ein sehr erfolgreiches, lukratives Mietwagen-Unternehmen in einer Großstadt, in der es vor derartigen Unternehmen nur so wimmelt. Ben, du bist vielleicht der erfolgreichste junge Architekt der ganzen Welt.«

Ben öffnete den Mund, so als wollte er protestieren, schloß ihn aber wortlos wieder.

Mike lächelte ihnen zu. »Ich möchte niemanden in Verlegenheit bringen,

| aber diese Dinge müssen einfach gesagt werden. Natürlich - es gibt Men-|schen, die schon in jungen Jahren erfolgreich sind, es gibt Menschen, die als Spezialisten auf irgendeinem besonderen Gebiet Erfolg haben, und es gibt Menschen, die gegen alle Wahrscheinlichkeit erfolgreich sind. Wenn nur einer oder zwei von euch so erfolgreich wären, brauchten wir es nicht zu erwähnen. Aber ihr seid es alle - und das schließt auch Stan Uris ein. Er war der wohl erfolgreichste Marktforscher in der ganzen Gegend von Atlanta. Die logische Schlußfolgerung daraus ist für mich, daß euer Erfolg eng mit den Ereignissen vor 27 Jahren zusammenhängt. Es hat euch alle tief geprägt. Es hat euch sein Siegel aufgedrückt. Will jemand von euch das bestreiten?«

Er blickte sie der Reihe nach an. Niemand antwortete.

»Nur dich nicht«, sagte Bill schließlich. »Was ist mit dir passiert?«

»Was mit mir passiert ist?« wiederholte Mike leise. »Liegt das nicht auf der Hand? Ich bin hiergeblieben.«

»Du hast hier die Stellung gehalten«, murmelte Ben. »Das bereitet mir ziemliches Unbehagen, Mike.«

»Mir auch«, meinte Beverly.

Mike schüttelte geduldig den Kopf. »Ihr braucht absolut keine Schuldge-ihle zu haben. Keiner von euch. Glaubt ihr, es sei meine freie Entschei-iung gewesen, hier in Derry zu bleiben - oder eure freie Wahl, es zu verlasen? Verdammt, wir waren Kinder. Aus diesen oder jenen Gründen sind eure Eltern weggezogen - und euch haben sie natürlich mitgenommen, Meine Eltern sind hiergeblieben. Und war das wirklich ihre freie Wahl - war es die freie Wahl eurer Eltern? Ich glaube nicht. Auf welche Weise wurde entschieden, wer hierbleiben und wer fortgehen würde? War es Zufall? chicksal? Es? Irgendein anderer? Ich weiß es nicht. Aber jedenfalls waren es nicht wir Kinder. Also macht euch keine Vorwürfe.«

»Du bist nicht... nicht verbittert?« fragte Eddie schüchtern. »Dazu habe ich viel zuviel zu tun«, sagte Mike. »Ich beobachte und warte nun schon sehr lange... bewußt seit etwa fünf Jahren. Und seit Jahresbeginn führe ich so eine Art Tagebuch. Und wenn jemand schreibt, so denkt er schärfer nach, glaube ich... vielleicht konzentriert man sich aber auch nur besser auf ein bestimmtes Thema. Wie dem auch sei, ich hatte fünf Monate Zeit, um über all das nachzudenken, und ich bin der Meinung, daß keiner von euch und keiner der Einwohner von Derry als Individuum für die Vorgänge in dieser Stadt verantwortlich gemacht werden kann. Es verändert sich, das wissen wir. Ich glaube, daß Es auch manipuliert, und daß Es einfach durch seine Natur den Menschen sein Siegel aufdrückt - so wie man

den Gestank eines Skunks in den Haaren behält, selbst nach dem Waschen, wenn er sein Drüsensekret in unmittelbarer Nähe verspritzt hat. Oder so wie ein Messerschnitt eine Narbe hinterläßt.«

»Willst du damit sagen, daß Es nicht böse ist?« fragte Richie plötzlich. »Daß Es ein Teil der... der natürlichen Weltordnung ist?«

»Es ist kein Teil der natürlichen Weltordnung, die wir zu begreifen vermögen«, sagte Mike, »und es gibt keinen Grund, weshalb wir Es nur wegen dieses Unvermögens nicht bekämpfen sollten... oder wegen der Tatsache, daß Es mordet. Bill hat das eher begriffen als jeder andere von uns. Erinnerst du dich noch, Bill?«

Bill nickte. »Ich wollte Es töten«, sagte er. »Weil Es meinen Bruder ermordet hatte. Weil Es Georgie ermordet hatte.«

»Und willst du das immer noch?« fragte Mike.

Bill dachte intensiv darüber nach. Er betrachtete seine auf dem Tisch liegenden Hände und dachte an George im gelben Regenmantel mit Kapuze, das Papierboot mit der dünnen Paraffinschicht in der Hand haltend. Dann schaute er Mike an.

»Mehr denn je!« sagte er.

Mike nickte. »Das hat jedoch nichts mit seinem Platz in der natürlichen Weltordnung zu tun«, sagte er. »Als Hiob mit Gott haderte, fragte Gott ihn, wo er gewesen sei, als er die Welt schuf... das heißt, das menschliche Begreifen-Können ist sehr begrenzt.«

»Von Philosophie bekomme ich immer Kopfweh«, klagte Eddie.

Die anderen lachten, und Mike lächelte ein wenig. »Dies ist wichtig«, sagte er. »Zumindest glaube ich, daß es wichtig ist. Es hat uns sein Siegel aufgedrückt - ja, sogar mir. Es hat - entschuldigt den ziemlich melodramatischen Ausdruck - Es hat uns seinen Willen aufgezwungen. Und genauso bin ich überzeugt davon, daß Es seinen Willen auf subtile und doch verheerende Weise dieser ganzen Stadt aufgezwungen hat. Ich will es euch mal mit einem Vergleich verdeutlichen: Eltern leben tagein, tagaus mit einem Kind und sehen keine großen Veränderungen an ihm. Wenn aber eine Tante einmal im Jahr zu Besuch kommt, ruft sie: >Wie bist du gewachsen!< oder >Wie hast du dich verändert!<«

Bill dachte an seine Taxifahrt zum Restaurant und nickte zustimmend.

»Aber« - Mike hob den Zeigefinger - »auch wir haben ihm in gewisser Hinsicht unseren Willen aufgezwungen. Wir haben Es gestoppt. Haben wir Es verletzt? Haben wir Es irgendwie geschwächt? Ich glaube, daß wir genau das getan haben. Ich glaube, daß wir Es fast getötet haben... daß wir eine Zeitlang geglaubt haben, Es wirklich getötet zu haben.«

»An diesen Teil der ganzen Geschichte erinnerst du dich also auch nicht?« fragte Ben.

Mike schüttelte den Kopf. »Ich kann mich an alles erinnern. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was wir damals getan haben... oder wie wir es getan haben. Erinnert sich einer von euch an irgend etwas?«

Alle schüttelten ihre Köpfe.

»Etwas haben wir getan«, sagte Mike ruhig. »Wir waren imstande, irgendeinen Willen durchzusetzen, eine gewisse Macht auszuüben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erlangten wir ein gewisses Verständnis - entweder bewußt oder unbewußt.« Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Ich wünschte, Stan wäre hier. Ich hatte stets das Gefühl, daß Stan... Stan mit seiner logischen Denkweise... eine Ahnung haben könnte.«

»Vielleicht stimmt das tatsächlich«, sagte Beverly. Alle Blicke richteten sich auf sie. »Vielleicht hat er deshalb Selbstmord begangen. Vielleicht begriff er, daß - wenn uns damals irgendwelche magischen Kräfte zur Verfügung standen - Erwachsene nicht mehr darüber verfügen.«

»Ich glaube dennoch, daß wir immer noch darüber verfügen können«, erwiderte Mike langsam. »Wir sechs haben nämlich noch etwas Gemeinsames. Ich frage mich, ob es einem von euch schon aufgefallen ist.«

Bill öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben.

»Diesen ganzen Frühling hindurch«, fuhr Mike fort, »während Unschuldige niedergemetzelt, ermordet wurden, habe ich mich mit dieser Idee der Natur, der natürlichen Weltordnung herumgeschlagen. Wenn es so etwas gibt, muß man es sich, glaube ich, als eine Reihe kosmischer Rechnungen und Gegenrechnungen, Gewichte und Gegengewichte, Bilanzen und Gegenbilanzen vorstellen. Wenn ein Ende der Wippe sich hebt, senkt sich das andere. Wenn irgendwo Ordnung besteht, muß irgendwo anders das Chaos herrschen.«

»Mein Gott, was für ein angenehmer Gedanke!« sagte Richie und nahm sich eine von Beverlys Zigaretten.

»Ich drücke mich nicht sehr gut aus, weil ich nicht glaube, daß man es überhaupt gut ausdrücken kann. Aber wenn die Dinge einer Ordnung unterliegen, muß das Gute entweder genau im Gleichgewicht mit dem Bösen sein oder um ein ganz klein wenig überwiegen. Und wenn es bestimmte Voraussetzungen für das Gute oder für den Glauben an magische Kräfte gibt, der es ermöglicht, die erforderlichen magischen Kräfte auszuüben, so werden sich diese Voraussetzungen unweigerlich einstellen.«

Mike sah die anderen etwas ängstlich an.

»Begreift ihr, was ich sagen will?«

»Du w-willst sagen, daß es k-k-keinen f-freien W-W-Willen gibt«, meinte Bill.

»Nein... ich sage nur, daß der freie Wille - wenn es ihn gibt - innerhalb der Grenzen eines natürlichen Rahmens existiert, den wir nur vage zu begreifen imstande sind. Ich kann mir Flügel aus Pergament anheften und aus freiem Willen von einem Felsen herabspringen, aber mein freier Wille wird mich nicht zum Fliegen befähigen, weil er jene Grenzlinie überschreitet -jene Grenzlinie, wo der freie Wille endet und das Naturgesetz ins Spiel kommt. Ebenso könnte ich auch meine Lenden mit dem Schwert umgürten, um den Kampf mit dem aufzunehmen, wovon...« - Mike schluckte hörbar - »wovon Derry heimgesucht wird, und mein ganzer Wille, es zu töten, würde mir nichts nützen, wenn ich unter Nichtbeachtung des Naturgesetzes vorginge. Könnt ihr mir folgen?«

»Ich glaube schon«, sagte Beverly zögernd.

Rich nickte.

»Ich will mit all dem nur sagen, daß jene Rechnungen und Gewichte und Bilanzen dazu dienen, Dinge innerhalb jener Grenzen zu halten, damit der freie Wille wirksam werden kann. Anders ausgedrückt, könnte man sagen, daß die natürliche Ordnung des Universums - vielleicht Gott - dazu da ist, für eine gewisse Ausgewogenheit des Spiels zu sorgen. Ich glaube, daß es so sein muß, denn andernfalls wäre die Welt schon vor langer Zeit in Blut ertrunken.«

Er schaute Bill an. »Also, Bill, sag's laut. Du weißt, was es ist, glaube ich.« Er grinste - es war ein überraschend warmes, sonniges Lächeln. »Du warst schon immer schnell von Begriff.«

»Ich bin nicht sicher, daß ich's kapiert habe«, sagte Bill, »und vielleicht täusche ich mich. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Niemand von uns hat Kinder. Das ist die zweite Eigentümlichkeit, stimmt's?«

Einen Moment lang herrschte bestürztes Schweigen.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Mike.

»Was hat denn das mit der Sache zu tun?« fragte Eddie. »Allmächtiger Gott! Wer hat dich nur auf die Idee gebracht, daß jeder auf der Welt Kinder haben muß? Das ist doch völliger Blödsinn!«

»Haben deine Frau und du versucht, Kinder zu bekommen?« fragte ihn Mike.

»Wir verwenden keine Verhütungsmittel, wenn du das meinst«, sagte Eddie würdevoll, aber mit hochrotem Kopf. Er schaute die anderen fast ärgerlich an. »Zufälligerweise hat meine Frau ein bißchen... nein, sehr viel Übergewicht. Wir waren bei einer Ärztin, und sie sagte, daß wir wahrscheinlich nie Kinder haben werden. Sind wir deshalb Verbrecher?«

»Nimm's leicht, Eddie«, beruhigte Richie ihn.

»Was ist mit dir und Tom, Beverly?« fragte Mike.

»Keine Kinder«, antwortete sie. »Keine Verhütungsmittel. Tom möchte Kinder haben... und ich natürlich auch«, fügte sie hastig hinzu und warf einen raschen Blick in die Runde. Bill dachte, daß ihre Augen etwas zu sehr strahlten - wie bei einer guten Schauspielerin, die eine tolle Vorstellung gibt. »Es hat einfach noch nicht geklappt.«

»Habt ihr medizinische Tests machen lassen?« fragte Ben.

»O ja, selbstverständlich«, sagte sie und lachte, als wollte sie demonstrieren, was für eine dumme Frage das war... und plötzlich wurde Bill - wie das bei Menschen, die von Natur aus neugierig sind, manchmal der Fall ist -schlagartig so manches über Beverly und ihren Mann klar, jenen wundervollen, fantastischen Tom Huggins. Vielleicht hatte sie sich Fruchtbarkeitstests unterzogen. Aber Bill war überzeugt davon, daß Tom sich geweigert hatte.

»Und was ist mit dir und deiner Frau, Big Bill?« fragte Rich, und alle schauten ihn neugierig an... vermutlich, weil seine Frau Schauspielerin war - zwar keineswegs die berühmteste oder beliebteste Schauspielerin der Welt, aber doch eine Fremde, deren schönes Gesicht ihnen bekannt war. Beverly schien besonders neugierig zu sein.

»Wir haben's in den letzten sechs Jahren immer wieder vergeblich probiert«, sagte Bill. »Vor vier Jahren haben wir in New York die Tests machen lassen. Die Ärzte entdeckten einen sehr kleinen gutartigen Tumor in Aud-ras Gebärmutter, und sie meinten, das sei ein Glück gewesen, denn er hätte eine Schwangerschaft zwar nicht verhindert, aber zu einer Eileiterschwangerschaft führen können. Nein, wir sind beide fruchtbar.«

»Das beweist immer noch nichts«, beharrte Eddie eigensinnig. »Nicht das Geringste.«

»Aber es gibt einem doch sehr zu denken«, sagte Ben.

»Keine kleinen Pannen, was dich angeht, Ben?« fragte Bill.

Er lächelte ein wenig. »Ich war nie verheiratet«, antwortete er, »und ich war immer sehr vorsichtig. Deshalb eigne ich mich nicht sehr gut für irgendwelche Beweise.«

»Wollt ihr was Komisches hören?« fragte Richie. Er lächelte, aber seine Augen waren ernst.

»Na klar«, meinte Bill. »Als Komiker warst du schon immer gut, Tozier.«

»Du bist 'n Riesenarschloch, Junge«, sagte Richie mit der Stimme des irischen Bullen. Es war eine fantastische Imitation. Du hast sagenhafte Fortschritte gemacht, Richie, dachte Bill. Als Junge war deine Stimme eines irischen Bullen einfach grauenhaft... bis auf ein einziges Mal, Wann war das nur? »Daran hat sich nichts geändert. Du warst und bleibst 'n Riesenarschloch!«

Ben Hanscom hielt sich plötzlich die Nase zu und rief: »Piep-piep! Pieppiep! Piep-piep!«

Einen Augenblick später hielten auch Eddie und Beverly sich die Nasen zu und fielen ein.

»Schon gut! Schon gut!« rief Richie. »Ich hör' ja auf.«

»Das Piep-piep hat dir auch schon früher dein freches Mundwerk gestoppt, Tozier!« schrie Eddie und warf sich in seinem Stuhl zurück. Vor Lachen rannen ihm Tränen über die Wangen.

»Piep-piep«, sagte Beverly kichernd. »Mein Gott, das hatte ich total vergessen. Wir haben immer gesagt, du hättest 'nen Vogel, Richie.«

»Ihr wußtet wahres Talent eben nie zu schätzen, das ist alles«, sagte Richie, aber auch er lächelte - und diesmal war es ein richtiges Lächeln. »Das war damals dein kleiner Beitrag zum Klub der Verlierer, nicht wahr, Hay-stack?«

»Piep-piep, Richie«, sagte Ben feierlich und brach sodann in schallendes Gelächter aus. »Immer noch derselbe Roadrunner.«

»Wollt ihr meine Geschichte nun hören oder nicht?« fragte Richie. »Ihr dürft mich auch ruhig mit eurem >Piep-piep< zum Schweigen bringen, wenn's euch zuviel wird. Ich kann einiges vertragen. Schließlich habt ihr hier einen Mann vor euch, der einmal ein Interview mit Ozzy Osborne gemacht hat.«

»Erzähl«, sagte Bill. Er warf einen Blick auf Mike und stellte fest, daß Mike jetzt glücklicher aussah - oder entspannter - als bisher. Kam das daher, daß er - wie Bill selbst - eine fast unbewußte Annäherung, ein neu erwachendes Zusammengehörigkeitsgefühl der Anwesenden spürte, was bei alten Freunden, die sich nach Jahren wiedersehen, kaum je der Fall ist? Höchstwahrscheinlich war es so, dachte Bill... und ihm fiel ein, was Mike vor kurzem gesagt hatte:... wenn es bestimmte Voraussetzungen... _für den Glauben an magische Kräfte gibt, der es ermöglicht, die erforderlichen magischen Kräfte auszuüben, so werden sich diese Voraussetzungen unweigerlich einstellen.

Ein kalter Schauder überlief ihn. Es war eine Sache, solche Ideen auszusprechen, Ideen, die einem vage möglich und zugleich unmöglich und verrückt vorkamen, aber eine völlig andere, mit eigenen Augen zu erleben, wie diese Ideen sich verwirklichten. Piep-piep, in der Tat. Ben hatte damals damit angefangen, und sie hatten es alle von ihm übernommen, dieses Pieppiep des Roadrunners aus den Cartoons der Warner Brothers. Es war ein Spottruf, gleichzeitig aber auch eine Art Schlachtruf und sogar so etwas wie ein Losungswort gewesen. Er hatte seit 1958 nicht mehr daran gedacht.

»Nun, ich könnte eine lange, sentimentale Geschichte daraus machen, aber ich werde euch nur die Readers-Digest-Fassung servieren«, sagte Richie. »In dem Jahr, in dem ich nach Kalifornien umzog, lernte ich ein Mädchen kennen. Wir verliebten uns irrsinnig ineinander. Zogen zusammen. Anfangs nahm meine Freundin die Pille, aber sie vertrug sie schlecht, und außerdem konnte man gerade damals überall lesen, daß die Pille wohl doch nicht das Idealrezept, der Weisheit letzter Schluß wäre, wie die Leute in den 6oer Jahren geglaubt hatten.

Wir unterhielten uns sehr oft über Kinder und stimmten völlig überein, daß man in diese gefährliche, beschissene Welt keine Kinder setzen sollte. Außerdem fanden wir es beide problematisch, ein Kind in einer Gesellschaft aufzuziehen, in der elektronische Spiele und modernste Superfahrräder etwas ganz Selbstverständliches waren, während in anderen Teilen der Welt Tausende und Abertausende von Kindern verhungerten.«

Er sah, daß Eddie etwas einwenden wollte, und nickte ihm zu.

»Wir waren eben jung und idealistisch. Ich beharre keineswegs auf der Richtigkeit eines Entschlusses, den wir faßten, als ich 23 und meine Freundin 22 war. Ich erzähle nur, wie's war. Spring mir also bitte nicht ins Gesicht, Ed.«

»Piep-piep, Richie«, sagte Eddie lächelnd.

Richie schnaubte, dann fuhr er fort: »Na ja, jedenfalls unterzog ich mich dann einer Vasektomie. Ließ meine Drähte kappen, wie die Typen von Beverly Hills es mit ihrem unvergleichlichen vulgären Chic ausdrücken. Die Operation verlief problemlos und hatte auch keine unangenehmen Nachwirkungen. Ein Freund von mir hatte hinterher geschwollene Eier etwa von der Reifengröße eines Cadillacs, aber ich konnte anderthalb Wochen nach dem Eingriff schon wieder problemlos die himmlischen Gefilde meiner Freundin durchpflügen.«

»Das hast du sehr schön mit deinem sprichwörtlichen Takt- und Anstandsgefühl ausgedrückt, Richie«, bemerkte Bill trocken, und Beverly begann sofort wieder zu kichern.

Richie grinste. »Herzlichen Dank, Bill, für diese anerkennenden Worte aus so berufenem Munde. In deinem letzten Buch kam zweihundertsechsmal das Wort >ficken< vor. Ich hab's nachgezählt.«

»Piep-piep, Richie«, sagte Bill feierlich, und wieder lachten alle. Bill konnte kaum glauben, daß sie vor weniger als zehn Minuten über ermordete Kinder gesprochen hatten. Dieses ganze Treffen hatte etwas Unwirkliches an sich.

»Erzähl weiter, Richie«, sagte Ben. »Aber fasse dich möglichst kurz. Die Zeit steht nicht still.«

»Wir lebten zweieinhalb Jahre zusammen«; fuhr Richie fort. »Zweimal hätten wir fast geheiratet. Gut, daß wir's letzten Endes doch gelassen haben

- dadurch sind uns die ganzen Probleme mit Aufteilung des gemeinsamen

Besitzes etc. erspart geblieben. Sie bekam ein sehr günstiges Angebot, in einer auf Körperschaftsrecht spezialisierten Kanzlei in Washington zu arbeiten. Ich wollte aber ums Verrecken nicht nach Washington. Außerdem hatte ich gerade die Chance, bei KLAD als Wochenend-Disc-Jockey einzusteigen - das war zwar nicht viel, aber immerhin ein Anfang. Na ja, wir hatten endlose Diskussionen, und zuletzt trennten wir uns.

Etwa ein Jahr später beschloß ich, die Vasektomie wenn möglich, rückgängig zu machen. Ich hatte eigentlich keinen besonderen Grund dafür, und ich hatte gelesen, daß die Chancen für einen solchen Eingriff nicht überwältigend waren, aber ich wollt's probieren.«

»Hattest du damals 'ne feste Freundin?« fragte Bill.

»Nein, das ist ja das Komische an der Sache«, sagte Richie mit gerunzelter Stirn. »Ich beschäftigte mich mit mehreren Damen, aber das war alles nichts Ernsthaftes. Ich wachte einfach eines schönen Tages mit dieser Schnapsidee auf, es rückgängig zu machen.«

»Ich hab' gehört, daß eine solche Operation ganz schön kompliziert ist«, sagte Eddie. »Vollnarkose statt örtlicher Betäubung wie bei der Vasektomie, und all so was.«

»Das alles schreckte mich nicht ab«, sagte Richie. »Ich... ich weiß auch nicht, ich hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt.«

Bill spürte wieder jenen kalten Schauder im Rücken. Er dachte:... so werden sich diese Voraussetzungen unweigerlich einstellen.

»Also ging ich zu dem Arzt, der mich operiert hatte, und sprach mit ihm darüber«, fuhr Richie fort. »Ich... ich tischte ihm allerdings Lügen über meine Gründe auf, denn in Wirklichkeit hatte ich ja keinen plausiblen Grund, zumindest keinen, den ich hätte anführen können. Ich erzählte ihm also, daß ich vorhätte zu heiraten und meine Ansichten über Kinder geändert hätte. Er fragte mich, ob ich wüßte, daß die Operation ein Glücksspiel sei. Ich bejahte. Er sagte, als erstes müsse er eine Spermauntersuchung vornehmen, um ganz sicher zu sein, daß die Operation notwendig sei. Er erklärte mir, die Chancen für eine spontane Regeneration der durchtrennten Samenleiter seien zwar sehr gering, aber überprüfen müsse er es doch. Also ging ich aufs Klo und wichste in einen Glaszylinder...«

»Piep-piep, Richie«, rief Beverly vorwurfsvoll.

»Ja, ja, ich weiß schon«, sagte Richie, nicht im geringsten verlegen. »Also drücken wir's folgendermaßen aus: Ich hatte eine absolut klinische Ejakulation in ein steriles Gefäß, okay?«

Bev lachte und winkte errötend ab.

»Drei Tage später rief der Arzt mich an und sagte: >Was möchten Sie zuerst hören, die gute oder die schlechte Nachricht?<

>Zuerst die gute<, sagte ich.

>Also - die Operation ist überflüssig< erklärte er. >Und die schlechte Nachricht ist, daß jede Frau, mit der Sie in den letzten drei Jahren geschlafen haben, gegen Sie eine Vaterschaftsklage einreichen könnte.<

>Du lieber Himmel! < rief ich. >Wollen Sie damit sagen, daß ich nicht unfruchtbar bin?<

>Genau das<, sagte er. >In der Spermaprobe waren Millionen Samenzel-len<

>Und wie lange ist das schon so?< fragte ich.

>Das läßt sich unmöglich sagen<, meinte er. Möglicherweise schon kurz nach der Spermienzählung nach Ihrer Vasektomie .< Das war eine Untersuchung zehn Tage nach dem Eingriff gewesen. >Das hört sich jetzt vielleicht so an, wie wenn man jemandem rät, den Stall abzuschließen, nachdem das Pferd bereits gestohlen ist - aber Ihre Tage des sorglosen Geschlechtsverkehrs sind vorüber, Richard .<

Ich bedankte mich bei ihm und legte den Hörer auf«, berichtete Richie. »Als nächstes rief ich meine ehemalige Freundin in Detroit an. In ihrem Apartment erreichte ich sie nicht; ihre Vermieterin teilte mir dann mit, sie hätte Ende des Vorjahres geheiratet und wäre ausgezogen. Also rief ich sie in der Kanzlei an. >Rich!< sagte sie. >Wie schön, wieder mal von dir zu hören. Ich habe geheiratete

>Gratuliere!< sagte ich. >Übrigens, du hast nicht zufällig ein Kind bekommen, nachdem du von Kalifornien weggezogen bist?<

>Wovon redest du?< fragte sie, und ich erzählte es ihr.

Sie lachte schallend, und als ich sie fragte, was denn daran so komisch sei, sagte sie: >Diesmal bist du also der Gelackmeierte, Richie. Wieviel Bastarde hast du denn produziert, seit ich weg bin?<

>Ich nehme an, das bedeutet, daß du die Freuden der Mutterschaft noch nicht erlebt hast?< fragte ich sie.

>Im Juli wird es soweit sein<, antwortete sie. >Sonst noch Fragen, Ri-chie?<

Ich dankte ihr und legte auf.« Richie blickte in die Runde. »Ich fragte den Arzt, wie groß die Wahrscheinlichkeit für so eine spontane Regeneration sei. Wißt ihr, was er sagte?«

Bill schüttelte den Kopf.

»Verschwindend klein, sagte er mir. So gut wie Null. Da bin ich nun also, mit spontan regenerierten Samenleitern, und kann trotzdem kein Kind vorweisen. Wenn man bedenkt, daß meine Freundin im November geheiratet hatte und ihr Kind im Juli erwartete, so muß sie wirklich äußerst fruchtbar gewesen sein. Aber... bei uns beiden war trotzdem nichts passiert.« Er schaute Eddie an. »Ändert das deine Meinung irgendwie, mein Guter?«

»Es ist immer noch kein Beweis...«

»Nein«, sagte Bill. »Aber immerhin legt es einen ursächlichen Zusammenhang sehr nahe. Die Frage ist - was tun wir jetzt? Hast du darüber nachgedacht, Mike? Was kommt als nächstes?«

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Mike. »Aber ihr versteht bestimmt, daß es für mich unmöglich war, den nächsten Schritt genau festzulegen, bevor ihr alle wieder hier wart, bevor wir miteinander geredet hatten. Ich konnte schließlich nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie dieses Treffen verlaufen würde, für euch oder für mich.«

Er schwieg lange und schaute sie nachdenklich an.

»Ich habe eine Idee«, sagte er schließlich, »aber bevor ich sie euch mitteile, sollten wir, glaube ich, klären, ob wir hier eine Aufgabe haben oder nicht. Wollen wir versuchen, das zu tun, was wir schon 1958 versucht haben? Wollen wir noch einmal versuchen, Es zu töten? Oder wollen wir einfach die Essensrechnung durch sechs teilen und wieder auseinandergehen?«

»Es sieht so aus, als ob...«, begann Beverly, aber Mike schüttelte den Kopf.

»Ihr müßt verstehen, daß unsere Erfolgschancen sich unmöglich vorher

> sagen lassen«, sagte er. »Ich glaube, sie wären viel, viel besser gewesen,

| wenn auch Stan gekommen wäre. Ohne Stanley ist der Kreis, den wir an je-Jnem Tag bildeten, unterbrochen. Ich glaube nicht, daß wir Es mit einem unterbrochenen Kreis vernichten oder auch nur für eine gewisse Zeit besiegen können. Wenn wir das versuchen, wird Es uns töten, einen nach dem ande-en, und zwar höchstwahrscheinlich auf besonders scheußliche Art, davon bin ich überzeugt. Auf irgendeine Weise, die ich bis heute nicht verstehe, bildeten wir als Kinder einen perfekten Kreis. Wenn wir beschließen weiterimachen, müssen wir versuchen, einen kleineren vollständigen Kreis zu bilden. Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Wir könnten eventuell glauben, es wäre uns gelungen, nur um dann festzustellen - wenn es zu spät ist -, daß wir uns getäuscht haben.«

Mike sah sie wieder der Reihe nach an. Seine Augen in dem braunen Gesicht waren tief eingesunken und wirkten sehr müde. »Ich glaube also, wir müssen abstimmen. Wollen wir hierbleiben und es wieder versuchen, oder gehen wir einfach nach Hause? Ich habe euch kraft eines alten Versprechens hergeholt; ich war mir nicht sicher, ob ihr euch überhaupt noch daran erinnern würdet. Aber ich kann euch nicht gegen euren Willen hier festhalten. Ich würde es auch gar nicht versuchen, denn es würde unweigerlich zu einer Katastrophe führen.«

Er schaute Bill an, und Bill begriff sofort, was jetzt kommen würde. Er hatte Angst davor, schreckliche Angst, aber er akzeptierte es: Mike hatte sie nach Derry geholt, doch nun gab er die Führungsrolle ab, gab sie an jene Person, die sie 1958 innegehabt hatte.

»Also, Big Bill, was sagst du? Führ du die Abstimmung durch.«

»Ist jedem klar, worum es geht?« fragte Bill. »Bev, du wolltest vorhin was sagen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Okay«, sagte Bill. »Die Frage ist also - bleiben wir hier und kämpfen, oder lassen wir die ganze Sache sein? Wer stimmt für den Kampf?«

Etwa fünf Sekunden lang saßen alle völlig regungslos da, und Bill wurde an Auktionen erinnert, bei denen der Preis für irgendeinen Gegenstand so hochgeschnellt war, daß jene, die nicht mehr mitsteigern wollten, buchstäblich zu Statuen erstarrten und Angst hatten, eine juckende Stelle zu kratzen oder eine Fliege von der Nase zu scheuchen, weil der Auktionär ihre Bewegung mißverstehen und für ein neues, höheres Angebot halten könnte.

Bill dachte an Georgie, Georgie, der niemandem etwas zuleide getan hatte, Georgie, der in einer Hand sein Boot gehalten und mit der anderen die Druckknöpfe seines gelben Regenmantels geschlossen hatte.

Danke, Billy. Es ist ein tolles Boot.

Er spürte, wie der alte Zorn in ihm hochstieg, aber jetzt war er älter und hatte einen weiteren Horizont. Eine gräßliche Kette von Namen zog sich durch seinen Kopf: sein Bruder George; Betty Ripsom; Cheryl Lamonica, die aus dem Kenduskeag gefischt worden war; Matthew Clements, der von seinem Dreirad gezerrt worden war; die neunjährige Veronica Grogan, die man in einem Abzugskanal gefunden hatte; Patrick Hochstetter; Steven Johnson; Lisa Albrecht; all die anderen; und Gott weiß wie viele, die in den Polizeiakten von Derry als vermißt geführt wurden.

Langsam hob er die Hand und sagte: »Laßt uns den Hundesohn umbringen! Bringen wir Es diesmal wirklich um!«

Einen Moment lang war seine Hand allein, wie die Hand des einzigen Schülers in der Klasse, der die richtige Antwort weiß, und den die übrigen Kinder deswegen hassen. Dann seufzte Richie Tozier, hob die Hand und sagte: »Verdammt! Es wäre ja ohnehin sinnlos, diesen gewieften Schreiberling zum Heimfahren überreden zu wollen.«

Beverly Huggins hob die Hand. Sie hatte hektisch rote Flecken auf den Wangen und sah sowohl furchtbar aufgeregt als auch zu Tode geängstigt aus.

Mike hob die Hand.

Ben hob die Hand.

Eddie Kaspbrak lehnte sich in seinem Stuhl zurück und erweckte den Eindruck, als würde er am liebsten hineinkriechen und auf diese Weise unsichtbar werden. Sein schmales, zartes Gesicht sah mitleiderregend ängstlich aus, als er zuerst nach rechts und dann nach links auf die erhobenen Hände starrte. Einen Moment lang war Bill überzeugt davon, daß Eddie einfach aufspringen und ohne zurückzuschauen aus dem Zimmer stürzen würde; aber dann hob er eine Hand und umklammerte mit der anderen seinen Aspirator.

»Piep-piep«, sagte Eddie leise.

7. Der Klub der Verlierer bekommt ein Dessert

»So, Mike, und nun erzähl mal, was für 'ne Idee du hast«, sagte Bill. Sie waren von der Kellnerin gestört worden, die auf einer Platte sechs Glücks-Kuchen gebracht hatte. Sie hatte die sechs Personen, die ihre Hände in die Höhe streckten, mit höflichem Mangel an Neugier betrachtet. Sie hatten hastig die Hände gesenkt und geschwiegen, bis die Kellnerin wieder gegangen war.

»Sie ist ganz einfach«, sagte Mike, »aber sie könnte auch verdammt gefährlich sein.«

»Laß hören«, forderte Richie ihn auf.

»Ich dachte, daß wir uns für den Rest des Nachmittags trennen sollten«, sagte Mike, »und jeder von uns sollte den Ort aufsuchen, an den er oder sie sich am besten erinnert... das heißt, abgesehen von den Barrens. Ich glaube, dorthin sollte keiner von uns gehen... noch nicht. Man könnte es vielleicht einfach als eine Reihe Spaziergänge betrachten.«

»Und welchen Sinn soll das haben, Mike?« fragte Ben.

»Ich bin mir selbst nicht sicher«, erwiderte Mike. »Ihr müßt verstehen -ich verlasse mich ganz auf meine Intuition. Das ist schwierig, aber genau

deshalb glaube ich, daß es richtig sein könnte. Kinder neigen dazu, völlig ihrer Intuition zu vertrauen. Erwachsene gewöhnen sich das im allgemeinen ab. Ich habe diese Tatsache mit dem verknüpft, was ich vorhin gesagt habe... daß die Voraussetzungen sich einstellen.«

»Du meinst, wir sollten uns in die damalige Situation zurückversetzen«, sagte Richie. »Stimmt's?«

»Ich glaube schon«, meinte Mike. »Meine Idee - mein Vorschlag, oder wie immer ihr es nennen wollt - besteht einfach darin, daß jeder von uns diesen kleinen Spaziergang macht, und daß wir uns dann heute abend in der Bücherei treffen und unsere Erlebnisse austauschen... falls überhaupt etwas passiert.«

»Was wird deiner Meinung nach passieren?« fragte Bill.

Mike schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht gar nichts. Das andere Extrem wäre, daß einer von euch heute abend einfach nicht in der Bücherei aufaucht. Ich habe keine plausible Begründung für solche Annahmen. .. nur wieder meine Intuition.«

Nach diesen Worten trat ein längeres Schweigen ein.

»Aber warum allein?« fragte Beverly schließlich. »Wenn wir diese Aufgabe als Gruppe ausführen wollen - weshalb sollen wir dann allein spazie-engehen?«

»Ich glaube, diese Frage kann ich beantworten«, sagte Bill.

»Dann tu's, Bill.« Mike hörte sich sehr erleichtert an.

»Jeder von uns war allein, als die Sache damals anfing«, erklärte Bill, an Beverly gewandt. »Ich erinnere mich nicht an alles - noch nicht -, aber soviel weiß ich noch. Das Foto in Georgies Zimmer, das sich bewegte. Bens Mumie. Der Aussätzige, den Eddie unter der Veranda auf der Neibolt Street sah. Mike, der in der Nähe des Kanals, im Bassey-Park, auf die Blutspur stieß. Bei dir war es die Stimme aus dem Abfluß und das Blut, das aus dem Rohr hervorschoß, Beverly. Und bei Richie...« Aber an dieser Stelle verstummte er verwirrt.

»Ich war nicht allein«, sagte Richie leise. »Ich hatte meine erste Erfahrung mit etwas Übernatürlichem in Georgies Zimmer. Als du und ich hingingen und jenes Foto von der Center Street am Kanal sich bewegte. Aber da waren wir zu zweit, Bill.«

»Es muß davor etwas anderes gegeben haben«, sagte Bill. »Erinnerst du dich an gar nichts Außergewöhnliches, das sich vor jenem Tag ereignet hat?«

»Ich...« Richies Augen flackerten ein wenig. Langsam sagte er: »Aber das war nur ein Traum. Im McCarron-Park. Ich...« Er verstummte.

»Was war es, Richie?« fragte Beverly.

»Nichts«, erwiderte Richie kurz. Er schaute Mike an. »Aber ich hab' nichts gegen einen Spaziergang. Es ist ein guter Zeitvertreib für den Nachmittag. Ein Streifzug durch die alte Heimatstadt.«

»Sind alle damit einverstanden?« fragte Bill. Sie nickten. »Und wir treffen uns dann um sieben in der Bücherei?«

»Klingelt, wenn ihr zu spät kommt«, sagte Mike. »Werktags schließt die Bücherei um sieben, bis in den Schulen die Sommerferien beginnen.«

»Und seid vorsichtig«, mahnte Bill. »Denkt daran, daß keiner von uns

richtig weiß, was wir eigentlich tun. Dies ist nur so eine Art Erkundungsgang. Wenn ihr irgendwas seht - rennt weg.«

Mike nickte. »Ja, das ist wichtig.«

»Wenn wir diesen Spazier- oder Erkundungsgang machen wollen, sollten wir allmählich aufbrechen«, sagte Ben. Er verzog den linken Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln, das halb amüsiert und halb bitter war. »Obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, wohin ich gehen soll, wenn die Barrens tabu sind. Das war für mich das Tollste - mit euch dorthin zu gehen.« Seine Blicke schweiften zu Beverly und blieben einen Moment lang auf ihr haften. Dann schaute er wieder weg. »Mir fällt kein anderer Ort ein, der mir viel bedeutet hätte. Vermutlich werde ich einfach ein paar Stunden durch die Stadt schlendern, mir Gebäude anschauen und nasse Füße bekommen.«

»Du wirst schon 'nen Ort finden, alter Haystack«, sagte Richie. »Besuch doch einfach ein paar deiner alten Futterplätze und stärk dich ein bißchen.«

Ben lachte. »Ich kann bei weitem nicht mehr soviel essen wie als Zehnjähriger. Ich bin schon jetzt so voll, daß ihr mich gleich hier rausrollen müßt.«

»Also dann, gehen wir!« sagte Eddie.

»Wartet!« rief Beverly, als sie ihre Stühle zurückzuschieben begannen. »Unsere Glückskuchen!«

»Ja«, sagte Richie. »Ich kann mir den Inhalt von meinem gut vorstellen. DU WIRST BALD VON EINEM RIESIGEN MONSTER GEFRESSEN WERDEN. ELNEN SCHÖNEN TAG!«

Sie lachten, und Mike gab Richie die kleine Platte, der sie dann weiterreichte. Bill fiel auf, daß niemand seinen Kuchen öffnete, bevor nicht alle versorgt waren; jeder saß da, einen kleinen hutförmigen Kuchen vor sich auf dem Teller, und als Bev ihren lächelnd in die Hand nahm und in zwei Hälften brach, hätte er fast geschrien: Tu's nicht, leg ihn zurück, rühr ihn nicht an!

Aber es war schon zu spät. Beverly brach ihren Kuchen in zwei Hälften, Ben ebenfalls, Eddie zerteilte seinen sorgfältig mit der Gabel, und gerade als Beverlys Lächeln sich in eine Grimasse des Entsetzens verwandelte, dachte Bill: Und wir wußten es, irgendwie wußten wir es, denn niemand von uns hat einfach in den Kuchen gebissen, was das Normalste gewesen wäre. Irgendwie erinnern wir uns immer noch... an alles.

Und dieses unterbewußte Wissen war eigentlich das Allerschlimmste; es war ein überzeugender Beweis für Mikes Worte, wie tief Es sie geprägt hatte... und daß sie sein Siegel immer noch trugen.

Blut spritzte aus Beverlys Kuchen wie aus einer aufgeschnittenen Arterie. Es rann an ihren Fingern herab und tropfte auf das weiße Tischtuch, färbte es rot, sickerte ein... und breitete sich immer mehr aus.

Eddie Kaspbrak stieß einen erstickten Schrei aus und schob seinen Stuhl so heftig vom Tisch weg, daß dieser fast umkippte. Ein großes Insekt mit häßlich gelb-braunem Rückenpanzer schob sich aus seinem Glückskuchen wie aus einem Kokon. Die schwarzen Augen starrten blind nach vorne. Als es auf Eddies Brotteller taumelte, rieselten Kuchenkrumen von seinem harten Panzer; Bill hörte es ganz deutlich, und das Geräusch verfolgte ihn in jener Nacht im Traume. Als er sich ganz aus dem Kuchen befreit hatte, rieb es

seine dünnen Hinterbeine aneinander, wodurch ein leises Summen entstand, und Bill erkannte, daß es eine Art schrecklich verändertes Heimchen war. Es rutschte über den Tellerrand und fiel auf den Rücken.

»O mein Gott!« brachte Richie mit erstickter Stimme hervor. »O mein Gott, Big Bill, es ist ein Auge, gütiger Gott, es ist ein Auge, es ist ein Auge...«

Bill drehte sich um und sah, daß Richie wie hypnotisiert auf seinen Glückskuchen starrte, in dem ein menschlicher Augapfel lag. Kuchenkrumen waren auf der blanken braunen Iris verstreut und in die weiße Augenhaut eingebettet.

Ben Hanscom schleuderte seinen Kuchen entsetzt von sich. Er rollte über den Tisch, und Bill sah im hohlen Innern zwei Zähne, deren Wurzeln von altem, geronnenem Blut dunkel verfärbt waren. Sie rasselten gegeneinander wie Samen in einem hohlen Kürbis... eigentlich konnten sie ein solches Geräusch unmöglich erzeugen, aber alle hörten es.

Bill blickte hoch und sah, daß Beverly den Atem anhielt und gleich schreien würde. Sie starrte auf das Insekt, das aus Eddies Kuchen gekrochen war und jetzt hilflos auf dem Tischtuch zappelte.

Bill reagierte blitzartig, ohne nachzudenken. Intuition, schoß es ihm durch den Kopf, während er aufsprang und Beverly mit seiner Hand den Mund zuhielt, bevor sie schreien konnte. Ich handle rein intuitiv. Mike müßte stolz auf mich sein.

Anstatt eines Schreis war nur ein ersticktes Mmmpf! zu hören.

Eddie gab jene pfeifenden Töne von sich, an die Bill sich von früher so gut erinnerte. Von dieser Seite drohten also keine Schreie. Bill sah die anderen scharf an. »Hört auf! Alle! Haltet den Mund!«

Rich fuhr sich mit der Hand über den Mund. Mikes Gesicht war ganz grau, aber er nickte Bill anerkennend zu. Sie waren alle vom Tisch weggesprungen. Bill hatte seinen eigenen Glückskuchen nicht geöffnet, aber nun sah er, daß die Seiten sich langsam bewegten - sich auswölbten und wieder einsanken - während die ihm zugedachte Überraschung, was immer das auch sein mochte, versuchte herauszukommen.

»Mmmpf!«

Bill löste seine Hand von Bevs Mund. »Sei still!« warnte er sie.

Ihr Gesicht schien nur aus Augen zu bestehen. Ihr Mund zuckte. »Bill... Bill, hast du gesehen...« Sie starrte wieder auf das Heimchen, das dem Tode nahe war. Die schwarzen runzeligen Augen schienen ihren Blick direkt zu erwidern, und Beverly begann zu stöhnen.

»Hör auf!« sagte Bill scharf. »Und setz dich wieder an den Tisch!«

»Ich kann nicht, Billy, ich kann nicht...«

»Du kannst! Du mußt!« Er hörte leichte Schritte auf dem Gang, die sich dem Perlenvorhang an der Tür näherten. »Das gilt für euch alle! Setzt euch wieder an den Tisch! Redet! Benehmt euch völlig normal!«

Beverly warf ihm einen flehenden Blick zu, aber Bill schüttelte den Kopf. Er setzte sich, zog seinen Stuhl an den Tisch heran und bemühte sich, nicht den Kuchen auf seinem Teller anzustarren, der pulsierte wie ein Herz kurz vor dem Stillstand. Ich hätte hineinbeißen können, dachte er entsetzt.

Eddie schob seinen Aspirator wieder in den Mund und inhalierte tief.

»Was glaubst du - wer wird den Sieg davontragen?« sagte Bill an Mike gewandt und lächelte verzerrt, gerade als Rose mit höflich fragendem Gesichtsausdruck hereinkam. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, daß Bev wieder am Tisch saß. Braves Mädchen, dachte er.

»Ist alles in Ordnung?« erkundigte sich Rose.

»Alles b-bestens«, sagte Bill und deutete mit dem Daumen auf Eddie. »Unser Freund hatte einen Asthmaanfall. Aber es geht ihm schon wieder besser, seit er seine Arznei genommen hat.«

Rose schaute Eddie besorgt an.

»Mir geht's wirklich schon viel besser«, keuchte Eddie.

Rose warf einen Blick auf den Tisch. »Sollen wir abräumen?«

»In Kürze«, sagte Mike mit breitem unechten Lächeln.

»Hat's Ihnen geschmeckt?« fragte sie. Ihre Blicke glitten wieder über den Tisch. Sie sah weder das Heimchen, das nur noch schwach zuckte, noch den großen Blutfleck auf dem Tischtuch, noch das Auge, das aus einem der Glückskuchen starrte, hoch die Zähne in einem der anderen Kuchen; sie sah auch nicht, daß Bills Kuchen rhythmisch pulsierte. Sie sah nichts davon, aber sie spürte, daß etwas nicht in Ordnung war.

»Ausgezeichnet«, sagte Beverly und lächelte - es war ein wesentlich natürlicheres Lächeln als Mikes und Bills. Mädchen können sich fantastisch beherrschen, dachte Bill.

»Waren die Glückskuchen gut?« fragte Rose.

Bill hörte ein leises Geräusch. Er warf einen Blick auf seinen Kuchen und sah ein Insektenbein herausragen und blindlings auf seinem Teller herumtasten.

Ich hätte hineinbeißen können, dachte er wieder, behielt aber sein starres Lächeln bei. »Sehr gut«, sagte er.

Richie starrte auf Bills Teller. Eine große grauschwarze Fliege kroch aus dem Kuchen, den sie aufgebrochen hatte wie ein gräßliches Ei. Ihre Membranflügel waren naß und klebten an ihrem Körper. Sie summte schwach.

»Na dann...«, sagte Rose mit unsicherem Lächeln.

»Ein wunderbares Essen«, lobte Richie. »Höchst ungewöhnlich.«

Ihr Lächeln wurde natürlicher. »Dann verlasse ich Sie jetzt wieder«, sagte sie und ließ ihren Worten die Tat folgen.

Kaum war sie verschwunden - die Perlenschnüre bewegten sich noch -, als alle ihre Stühle wieder vom Tisch wegschoben.

»Was ist das?« flüsterte Ben heiser, während er das Insekt auf Bills Teller anstarrte.

»Eine Fliege«, sagte Bill. »Oder vielmehr eine Fliegen-Mutation. Die Erfindung eines Schriftstellers namens George Langlahan. Er schrieb eine Geschichte mit dem Titel >The Fly<. Sie wurde Ende der 5oer oder Anfang der 6oer Jahre im >Playboy< veröffentlicht und hat mir Alpträume verursacht. In letzter Zeit habe ich sehr oft daran gedacht. Es wendet wieder seine alten Tricks an.«

»Ich glaube, ich muß mich übergeben«, sagte Beverly. »Entschuldigt mich bitte.«

Sie ging rasch hinaus, noch bevor einer der Männer aufstehen konnte.

Bill warf seine Serviette über die Fliege, die etwa die Größe eines jungen

Schmetterlings hatte. Es war eigentlich unmöglich, daß etwas so Großes aus einem kleinen chinesischen Glückskuchen geschlüpft war... und doch war es so. Sie summte wütend unter der Serviette, dann verstummte sie.

»Mein Gott«, murmelte Eddie.

Wir können im Foyer auf Beverly warten«, sagte Mike. »Machen wir, laß wir hier schleunigst rauskommen.«

Alle standen auf und entfernten sich vom Tisch. Im Hinausgehen warf Bill noch einen Blick zurück. Aus Beverly s aufgebrochenem Kuchen tropfte immer noch Blut. Die Ausbuchtung unter seiner Serviette zuckte nur noch ganz schwach.

Beverly kam aus der Damentoilette, als sie gerade im Foyer angelangt waren. Sie war bleich, aber gefaßt. Mike stellte einen Scheck aus, und sie traten in den regnerischen Nachmittag hinaus.

»Hat jemand durch diesen Vorfall seine Meinung geändert?« fragte Mike.

»Ich nicht«, sagte Ben.

»Nein«, sagte Richie.

»Nein«, sagte Eddie. »Ich glaube, zum Umkehren ist es jetzt zu spät.«

Bill schüttelte den Kopf und schaute Beverly an.

»Ich bleibe«, sagte sie. »Bill, was hast du gemeint, als du sagtest, daß Es seine alten Tricks anwendet?«

»Ich habe in letzter Zeit sehr viel an diese Langlahan-Geschichte gedacht«, erklärte er. »>The Fly< wurde mit Vincent Price verfilmt, und kürzlich fragte mich ein Filmproduzent, Richard Kobritz, ob ich Interesse daran hätte, das Drehbuch für eine Neuverfilmung zu schreiben. Das hat mich sehr beschäftigt. Bei dir war es Blut, Beverly. Warum hattest du Blut im Sinn?«

»Vermutlich wegen des Blutes aus dem Abfluß«, sagte Beverly sofort. »Damals im Bad, als wir Kinder waren.« Aber stimmte das wirklich? Eigentlich glaubte sie selbst nicht an diese Erklärung. Denn als das warme Blut ihr über die Finger geflossen war, hatte sie sofort an jenen blutigen Fußabdruck gedacht, den sie hinterlassen hatte, nachdem sie in die Scherbe getreten war. Tom.

Und

(Bevvie, manchmal mache ich mir schreckliche Sorgen)

ihr Vater.

Bill wandte sich Eddie zu. »Warum war es ein Heimchen?«

»Unser Keller«, erklärte Eddie. »Wir haben Heimchen im Keller. Sie machen uns nachts total verrückt. Ein paar Nächte vor Mikes Anruf hatte ich einen schrecklichen Alptraum. Mir träumte, daß ich aufwachte und das ganze Bett von Heimchen nur so wimmelte. Myra rief den Kammerjäger an, aber er sagte, er könne erst Mitte Juni kommen. Ich mag keine Insekten.«

»Rose hat nichts gesehen«, sagte Ben. »Sie schaute direkt auf diese... diese ganze Schweinerei und sah nichts.« Er schaute Beverly an. »So wie deine Eltern das Blut aus dem Abfluß nicht gesehen haben.«

»Ja«, flüsterte sie. »Genauso.«

Sie standen in dem feinen Frühlingsregen und sahen einander an.

Mike warf einen Blick auf seine Uhr. »In 20 Minuten oder so fährt ein Bus«, sagte er, »ich kann aber auch Taxis bestellen. Was euch lieber ist.«

»Ich glaube, ich gehe gleich von hier aus zu Fuß«, sagte Bill. »Ich kann jetzt etwas frische Luft gut gebrauchen.«

»Ich glaub', ich nehm' ein Taxi«, meinte Ben.

»Ich fahr' mit, wenn du mich in der Innenstadt aussteigen läßt«, sagte Richie.

»Okay. Wohin willst du?«

Richie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es noch nicht.«

Die anderen beschlossen, auf den Bus zu warten.

»Heute abend um sieben«, erinnerte Mike Bill. »Und - Bill!«

»Ja?«

»Sei vorsichtig.«

»Das w-w-werde ich.« Er schlenderte davon, die Hände in den Taschen, froh über die frische Luft, froh darüber, den feinen nebelartigen Regen auf seinem Gesicht zu spüren, hauptsächlich aber heilfroh darüber, daß das Treffen jetzt vorüber war und daß jetzt Taten folgen konnten.

Elftes Kapitel Sechs Spaziergänge

1. Ben Hanscom leiht ein Buch aus

Richie Tozier stieg an der Kreuzung Kansas-, Center- und Main Street aus dem Taxi und Ben oben auf dem Up-Mile Hill. Eigentlich hätte er genausogut mit Richie aussteigen können, aber es war vielleicht besser, von Anfang an allein loszugehen.

Er stand an der Ecke Kansas Street und Daltrey Close, seine Hände in den Hosentaschen, blickte dem Taxi nach, das sich wieder in den Verkehr einordnete, und versuchte, den gräßlichen Abschluß des Mittagessens aus seinen Gedanken zu verscheuchen. Aber es gelang ihm nicht; immer wieder hatte er jene grauschwarze Fliege vor Augen, die aus dem Glückskuchen auf Bills Teller gekrochen war, und deren Flügel am Rücken geklebt hatten. Er bemühte sich immer wieder, an etwas anderes zu denken, und jedesmal, wenn er gerade glaubte, es wäre ihm gelungen, stellte er fest, daß seine Gedanken schon wieder um diese entsetzliche Szene kreisten.

Ich versuche, irgendeine logische Erklärung dafür zu finden, dachte er. Wenn man Bauwerke errichtete, mußte man bestimmte Naturgesetze beachten; Naturgesetze lassen sich in Gleichungen fassen; Gleichungen sind logisch aufgebaut. Wo lag die logische Erklärung für das, was vor einer knappen halben Stunde geschehen war?

Denk nicht mehr daran, sagte er sich zum x-ten Male. Du kannst es nicht erklären, also laß es sein.

Aber dazu war er nicht imstande. Er erinnerte sich daran, daß sein Leben am Tag nach seiner Begegnung mit der Mumie auf dem vereisten Kanal ganz normal weitergegangen war. Er hatte immer noch das Gefühl gehabt, daß jene Kreatur - was immer es auch gewesen sein mochte - ihn um ein Haar erwischt hätte, aber sein Leben ging ganz normal weiter: Er war zur Schule gegangen, hatte eine Klassenarbeit im Rechnen geschrieben, war nach der Schule in die Bücherei gegangen und hatte mit seinem üblichen herzhaften Appetit gegessen. Er hatte die Erscheinung auf dem Kanal einfach in sein Leben integriert, und wenn sie ihn auch um ein Haar getötet hätte... nun, Kinder waren dem Tod immer sehr nahe. Sie überquerten Straßen, ohne nach links und rechts zu schauen, sie paddelten auf dem See herum und stellten plötzlich fest, daß sie auf ihren Gummiflößen viel zu weit hinausgetrieben waren, sie fielen von Kletterstangen und Bäumen herunter.

Während Ben jetzt im Nieselregen vor einem Eisenwarengeschäft stand -1958 war hier ein Pfandleihhaus gewesen, erinnerte er sich -, wurde ihm durch eigene Erfahrung klar, worüber Mike und Bill beim Mittagessen gesprochen hatten (bevor die Insekten aus den Kuchen herauskrochen, flüsterte eine innere Stimme, die er nicht zum Schweigen bringen konnte - vor dem Hut, dem Auge und jenen Zähnen). Kinder konnten das Unerklärliche besser in ihr Leben integrieren. Sie glaubten ohnehin an die unsichtbare Welt.

Über wundersame Ereignisse - ob positiver oder negativer Art - wurde zwar durchaus nachgedacht, aber die Welt stand dadurch keineswegs still. Ein plötzliches überwältigendes Ereignis schöner oder schrecklicher Art verschlug einem Zehnjährigen nicht im geringsten den Appetit.

Aber das änderte sich, wenn man älter wurde. Als Erwachsener lag man nicht mehr wach im Bett und war überzeugt davon, daß im Schrank etwas lauerte oder unermüdlich am Fenster kratzte... aber wenn dann tatsächlkh etwas passierte, war man völlig überfordert, geriet ins Schleudern, die Vorstellungskraft versagte. Man konnte das unerklärliche Ereignis nicht so ohne weiteres mit der Lebenserfahrung in Übereinstimmung bringen. Es war unverdaulich. Der Verstand beschäftigte sich immer wieder damit... bis man schließlich entweder verrückt oder zumindest völlig unfähig zum Handeln wurde.

Und wenn das passiert, dachte Ben, hat Es gewonnen. Dann bin ich - sind wir - verloren.

Er spazierte die Kansas Street hinauf, scheinbar ohne festes Ziel.

Und plötzlich dachte er: Was haben wir nur mit den Silberdollars gemacht? Er konnte sich immer noch nicht daran erinnern.

Er ging dahin und beschäftigte sich mit der zentralen Frage: Waren sie überhaupt noch eines solch elementaren Glaubens fähig, der für die Bewältigung dieser Aufgabe notwendige Voraussetzung war? Vielleicht hätten sie lieber wegrennen sollen, so schnell sie nur konnten.

Die Silberdollars, Ben... Beverly hat dir mit ihnen das Leben gerettet... dir... höchstwahrscheinlich auch allen anderen. Aber wie? Was hat sie nur gemacht? Und wie war es möglich, daß sie damit Erfolg hatte? Sie hat Es irgendwie in die Flucht geschlagen, und wir alle haben ihr dabei geholfen. Aber wie?

Ihm fiel plötzlich ein Wort ein, mit dem er nichts anfangen konnte, das ihm aber unwillkürlich eine Gänsehaut verursachte: Chüd.

Chüd

Was bedeutete das?

»Ich weiß es nicht«, sagte er laut, und als er sich rasch umschaute, ob jemand sein Selbstgespräch gehört hatte, stellte er fest, daß er - entweder zufällig oder unbewußt - von der Kansas Street in die Costello Avenue abgebogen war. Beim Mittagessen hatte er den anderen erzählt, die Barrens seien der einzige Ort in Derry gewesen, wo er sich als Kind wirklich glücklich gefühlt hätte... aber das stimmte nicht ganz, fiel ihm jetzt ein. Es hatte noch einen zweiten Ort gegeben. Entweder zufällig oder unbewußt war er an diesen anderen Ort gegangen: zur Bücherei von Derry.

Ein, zwei Minuten stand er davor, die Hände in den Taschen. Hier hatte sich nichts verändert; es war immer noch dasselbe alte graue Steingebäude, und er bewunderte es jetzt wieder genauso wie als Kind. Wie so viele andere gut entworfene Steinbauten, so verwirrte auch dieses den scharfen Beobachter durch Widersprüchlichkeiten: Trotz des soliden Steingefüges wirkte es durch die Bögen und die schlanken Säulen nicht plump, sondern eher grazil; es sah vertrauenerweckend stabil aus, zugleich aber auch anmutig, und die in schmale Eisenstreifen gefaßten, oben abgerundeten Fenster verliehen ihm eine gewisse Leichtigkeit.

Diese widersprüchlichen Elemente bewahrten es davor, häßlich zu wirken, und Ben stellte überrascht fest, daß er dieses Gebäude liebte.

Er blickte die Straße entlang und sah die Stadthalle. Hier auf der Costello Avenue schien sich demnach nicht viel verändert zu haben.

Er durchquerte den Rasen und bemerkte nicht einmal, daß seine Schuhe naß wurden - er wollte einen Blick auf jenen Glaskorridor zwischen Erwachsenen- und Kinderbücherei werfen. Auch er war unverändert, und als Ben neben den tiefhängenden Zweigen einer Trauerweide stehenblieb, konnte er in dem Korridor Leute hin und her laufen sehen. Die alte verzückte Begeisterung ergriff von ihm Besitz, und jetzt vergaß er zum erstenmal, was zum Abschluß des Mittagessens geschehen war. Er erinnerte sich daran, daß er auch vor 27 Jahren manchmal an dieser Stelle gestanden hatte, nur war es damals Winter gewesen, und er hatte sich durch fast hüft-hohen Schnee einen Weg gebahnt und oft eine Viertelstunde hier verweilt.

Er war in der Dämmerung hergekommen, erinnerte er sich, und auch damals hatte ihn der Kontrast so fasziniert, daß er darüber seine vor Kälte raupen Fingerspitzen und den schmelzenden Schnee in seinen grünen Gummistiefeln vergaß. Draußen, wo er stand, wurde es allmählich dunkel, der Himmel war im Osten aschfarben, im Westen purpurrot. Draußen, wo er stand, war es kalt, zehn Grad minus oder noch mehr, wenn der Wind - wie es oft der Fall war - von den vereisten Barrens her pfiff.

Aber dort, keine 40 Yards von seinem Standort entfernt, liefen die Leute hemdsärmelig hin und her. Dort, keine 40 Yards von seinem Standort entfernt, war ein heller Lichttunnel. Kleine Kinder tuschelten und kicherten da, verliebte Pärchen aus der High School hielten Händchen (und wenn die Bibliothekarin sie sah, rief sie sie zur Ordnung). Für ihn war das so etwas wie Zauberei, herrliche Zauberei - er war damals zu jung gewesen, um diese Zauberwirkung mit so nüchternen Dingen wie elektrischem Strom und Ölheizung zu erklären. Für ihn war jener strahlende Zylinder voll Licht und Leben, der die beiden Gebäude wie eine Rettungsleine miteinander verband, ein Wunder; es war ein Wunder, daß dort Leute umhergingen, unberührt von Dunkelheit und Kälte. Irgendwie wurden sie dadurch zu etwas Besonderem - zu gottähnlichen Wesen.

Wenn er dann schließlich seinen Standort verließ (was er auch jetzt tat) und um das Gebäude herum zum Vordereingang ging (was er auch jetzt tat), blieb er immer noch einmal stehen und warf einen Blick zurück (was er auch jetzt tat), bevor die vorragende Steinmauer der Erwachsenenbücherei ihm die Sicht nahm. Aus der Entfernung konnte man keine Menschen erkennen, nur jenen horizontalen Lichtkorridor im Schnee, der aussah wie ein exotisches Raumschiff, das aus einem Science-fiction-Film auf die Erde herniedergefallen war.

Leicht amüsiert über den nostalgischen Schmerz in seinem Herzen, dachte Ben, daß es nur allzu verständlich war, daß er unbewußt diesen Korridor für die Briten neu geschaffen hatte. Er war für ihn ein Wunder gewesen, und offensichtlich war dieser Zauber immer noch wirksam.

Er ging die Stufen zur Tür der Erwachsenenbücherei hinauf und blieb einen Augenblick auf der schmalen offenen Veranda hinter den Pfeilern stehen, wo es immer so herrlich kühl gewesen war, auch an den heißesten

Sommertagen. Dann zog er die große eisenbeschlagene Holztür mit dem Buchschlitz in der Mitte auf und tauchte in die Stille ein.

Einen Moment lang war ihm fast schwindelig, mit solcher Kraft brach die Erinnerung über ihn herein, als das gedämpfte Licht der Kugellampen ihn umfing. Es war jenes seltsame Gefühl, das die Menschen in Ermangelung eines besseren Ausdrucks >Deja-vu-Erlebnis< nennen. Ben hatte dieses Gefühl auch früher schon erlebt, aber nie mit derart überwältigender Intensität; während er so dastand, wußte er buchstäblich nicht mehr genau, wie alt er wirklich war - 37 Jahre oder 10.

Hier herrschte immer noch dieselbe behagliche Stille, die nur von einem gelegentlichen Flüstern, den schwachen Geräuschen beim Stempeln von Büchern oder Leihkarten, dem leisen Rascheln beim Umblättern von Zeitungen oder Zeitschriften durchbrochen wurde. Heute wie damals liebte er das Licht, das durch die hohen, schmalen Fenster einfiel; an diesem regnerischen Nachmittag war es so grau wie ein Taubenflügel, einschläfernd und irgendwie gemütlich.

Er ging über den Fußboden mit dem rotschwarzgemusterten Linoleumbelag und versuchte wie früher, möglichst geräuschlos aufzutreten - die Bücherei hatte in der Mitte eine Kuppel, in der jedes Geräusch laut widerhallte.

Er sah, daß die eisernen Wendeltreppen zum Büchermagazin noch da waren, auf beiden Seiten der hufeisenförmigen Ausleihtheke, aber er entdeckte auch etwas Neues - einen kleinen käfigartigen Aufzug. Er fühlte sich richtig erleichtert, denn das trieb einen Keil in jenes übermächtige Gefühl.

Während er den großen Saal durchquerte, kam er sich wie ein Eindringling, wie ein Spion aus einem anderen Land vor (aus dem Land der Vergangenheit? dachte er verwirrt), und er erwartete fast, daß die Bibliothekarin an der Ausleihtheke den Kopf heben, ihn mustern und sodann mit lauter Stimme - jeder Leser würde aufschrecken, und alle Blicke würden sich auf ihn richten - rufen würde: »Sie! Ja, Sie! Was machen Sie hier? Sie haben hier nichts zu suchen - Sie sind ein Fremder! Gehen Sie dorthin zurück, woher Sie gekommen sind! Gehen Sie sofort, bevor ich die Polizei rufe!«

Sie schaute tatsächlich auf, ein hübsches junges Mädchen, und einen absurden Moment lang glaubte Ben, daß seine Fantasiegespinste gleich Wirklichkeit würden, und sein Herz pochte laut, als ihre hellblauen Augen ihn musterten. Dann wandte sie ihren Blick gleichgültig ab, und Ben erwachte aus seiner Erstarrung. Wenn er ein Spion war, so war er unentdeckt geblieben.

Er ging an einer der schmalen und selbstmörderisch steilen Wendeltreppen vorbei und stellte amüsiert fest, daß er schon wieder in eine alte Kindergewohnheit verfallen war. Er hatte hochgeschaut, in der Hoffnung, ein Mädchen im Rock die Treppe herabkommen zu sehen. Er erinnerte sich daran, daß er eines Tages im Alter von acht oder neun Jahren rein zufällig den Kopf gehoben und plötzlich einem hübschen jungen Mädchen direkt unter den Rock geschaut und den sauberen rosa Slip gesehen hatte. Ebenso wie das Funkeln von Beverly s Fußkettchen in der Sonne an jenem letzten Schultag 1958 sein Herz mit einem Pfeil von etwas anderem als einfacher Liebe oder Zuneigung durchbohrt hatte, so auch jener Slip des jungen Mäd-

chens. Er erinnerte sich daran, daß er mindestens 20 Minuten in der Kinderbücherei gesessen und diesen unerwarteten Anblick vor Augen gehabt hatte, mit hochrotem Kopf, ein Buch über die Geschichte der Eisenbahn aufgeschlagen auf dem Tisch; aber anstatt darin zu lesen, hatte er sich ausgemalt, daß er jenes Mädchen heiraten würde, daß sie beide in einem kleinen Haus am Rande der Stadt wohnen und unglaubliche Wonnen erleben würden - obwohl er sich darunter überhaupt nichts Konkretes vorstellen konnte.

Diese Gefühle waren ebenso plötzlich wieder verschwunden, wie sie gekommen waren, aber seitdem war er nie wieder unter der Treppe durchgegangen, ohne hinaufzuschauen. Er hatte nie wieder etwas so Interessantes und Erregendes gesehen (einmal war eine fette Frau schwerfällig die Treppe heruntergewatschelt, doch von diesem Anblick hatte er sich hastig und irgendwie beschämt abgewandt), aber er hatte die Angewohnheit beibehalten - und selbst jetzt, nach all den vielen Jahren, hatte er als Erwachsener hochgeschaut.

Er ging langsam durch den Glaskorridor zur Kinderbücherei. Als er diese Liliput-Welt mit ihren kleinen Tischen und Stühlen aus hellem Holz betrat, diese Welt, wo der Trinkbrunnen nur vier Fuß hoch war, fiel ihm eine weitere Veränderung ins Auge: das gerahmte Bild an der Wand gegenüber zeigte nicht Dwight D. Eisenhower, sondern Ronald Reagan. Aber...

Wieder überkam ihn jenes übermächtige Gefühl. Er war ihm hilflos ausgeliefert, und diesmal verspürte er das dumpfe Entsetzen eines Mannes, der nach einer halben Stunde unbeholfener Schwimmversuche schließlich erkennt, daß das Ufer nicht näher gerückt ist, daß er ertrinken wird.

Es war gerade Vorlesestunde, und drüben in der Ecke saßen etwa zwölf kleine Kinder auf ihren Miniaturstühlchen im Halbkreis und lauschten aufmerksam. »Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke?« las die Bibliothekarin mit der tiefen, brummenden Stimme des Trolls in der Geschichte, und Ben dachte: Wenn sie den Kopf hebt, werde ich sehen, daß es Miß

Davies ist, es wird Miß Davies sein, und sie wird keinen Tag älter aussehen als da

mals ...

Aber als sie dann wirklich den Kopf hob, sah er eine Frau, die noch viel jünger war als damals Miß Davies.

Einige der Kinder hielten sich die Hand vor den Mund und kicherten, aber andere hingen gebannt an ihren Lippen, und ihre Augen spiegelten die ewige Faszination des Märchens wider: Würde das Ungeheuer besiegt werden... oder würde es die Guten auffressen?

»Ich bin's, Billy Goat's Gruff, der über deine Brücke trippelt und trappelt«, las die Bibliothekarin weiter, und Ben ging bleich im Gesicht an ihr vorbei.

Aber wie kann es nur dieselbe Geschichte sein? Genau dieselbe Geschichte? Soll ich das vielleicht für reinen Zufall halten? Das tu' ich nicht... nein, verdammt, das kann ich einfach nicht! Und er hörte Mike sagen: Jene Voraussetzungen werden sich unweigerlich einstellen.

Ich müßte mit jemandem sprechen, dachte er in panischem Schrecken. Mit Mike... Bill... mit irgendjemandem. Wenn es diese Voraussetzungen tatsächlich gibt - ist das Vermischen von Gegenwart und Vergangenheit dann ein Bestandteil davon? Denn ich bin mir nicht sicher, ob ich das verkrafte. Ich...

Sein Blick fiel auf die Ausleihtheke, und ihm blieb einen Moment lang fast das Herz stehen, bevor es rasend zu pochen begann. Das Plakat war einfach, knapp... und altvertraut. Es stand darauf:

DENKT AN DIE SPERRSTUNDE!

19 UHR

POLIZEISTATION DERRY.

.. .jene Voraussetzungen werden sich unweigerlich einstellen.

Und in diesem Moment wurde ihm schlagartig, blitzartig alles klar- er erkannte, daß ihre Abstimmung ein Witz gewesen war. Sie hatten keine Wahl, hatten nie eine gehabt. Sie befanden sich auf einer vorherbestimmten Bahn...

»Mein Gott«, murmelte er und rieb sich die Wange.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?« fragte eine Stimme dicht neben ihm, und er zuckte zusammen. Es war ein etwa siebzehnjähriges Mädchen, dessen dunkelblonde Haare mit Spangen aus dem hübschen Gesicht gehalten wurden. Eine Büchereihilfskraft, wie es sie auch 1958 schon gegeben hatte -Mädchen und Jungen von der High School, die Bücher einordneten, den Kindern zeigten, wie man die Katalogkästen benutzte und über Buchbesprechungen und Schülerzeitungen diskutierten. Sie wurden erbärmlich schlecht bezahlt, aber es fanden sich trotzdem immer Interessenten, denn die Arbeit war leicht und angenehm.

Als er den zwar freundlichen, aber fragenden Blick des Mädchens sah, wurde ihm bewußt, daß er hier im Kinderland ein Fremdling war, ein Riese im Zwergenland. In der Erwachsenenbücherei hatte der Gedanke, gemustert oder angesprochen zu werden, ihm Unbehagen bereitet, aber jetzt fühlte er sich dadurch direkt erleichtert. Zum einen bewies es, daß er ein Erwachsener war, und auch die Tatsache, daß das Mädchen unter seinem dünnen Westernhemd ohne jeden Zweifel keinen BH trug, war eher erleichternd als erregend: die deutlich sichtbaren Brustwarzen unter dem Baumwollhemd waren Beweis genug - jetzt war 1985 und nicht 1958.

»Nein, danke«, erwiderte er, und dann hörte er sich plötzlich aus unerfindlichem Grunde sagen: »Ich habe nach meinem Sohn Ausschau gehalten.«

»Oh! Wie heißt er denn? Vielleicht habe ich ihn gesehen.« Das Mädchen lächelte. »Ich kenne die meisten Kinder.«

»Sein Name ist Ben Hanscom«, sagte er. »Aber ich sehe ihn hier nicht.«

»Sagen Sie mir, wie er aussieht, dann richte ich ihm gern etwas aus.«

»Na ja«, sagte Ben, der sich inzwischen etwas unbehaglich fühlte, »er ist ziemlich stämmig, und er sieht mir ein bißchen ähnlich. Aber es ist nichts Wichtiges. Wenn Sie ihn sehen sollten, richten Sie ihm bitte nur aus, sein Vater hätte auf dem Heimweg hier reingeschaut.«

»Das tu' ich«, sagte das Mädchen und lächelte, aber es lächelte nicht mit den Augen, und plötzlich begriff Ben, was los war. Das Mädchen war Hilfskraft in der Kinderabteilung der öffentlichen Bücherei in einer Stadt, in der innerhalb von acht Monaten neun Kinder brutal ermordet worden waren. Das Mädchen hatte einen seltsamen Mann in dieser Liliput-Welt gesehen, wohin sich kaum ein Erwachsener verirrte, es sei denn, um sein Kind hinzubringen oder abzuholen. Du bist verdächtig, Ben... ganz klar.

Er kehrte durch den Glaskorridor zur Erwachsenenbücherei zurück und ging zur Ausleihtheke, einem Impuls folgend, den er nicht verstand... aber vielleicht war das unwichtig. Er hatte das Gefühl, daß sie an diesem Nachmittag einfach ihren Impulsen folgen und sehen sollten, wohin sie das führte.

Das Namensschildchen auf der Ausleihtheke wies die junge, hübsche Bibliothekarin als Carol Danner aus. Hinter ihr konnte Ben eine Tür mit Milchglasscheibe sehen, auf der zu lesen stand: Michael hanlon, Leiter

DERBÜCHEREI.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte Miß Danner.

»Ich glaube schon«, sagte Ben. »Das heißt, ich hoffe es. Mein Name ist Benjamin Hanscom. Ich hätte gern eine Leihkarte.«

»Ausgezeichnet«, sagte sie und holte ein Formular heraus. »Wohnen Sie hier in Derry?«

»Nein.«

»Wie lautet dann Ihre Heimatadresse?«

»Rural Star Route 2, Hemingford Home, Nebraska.«

»Soll das ein Scherz sein?« fragte sie mit einem schwachen Lächeln.

»Keineswegs.«

»Ein ziemlich weiter Weg, um Bücher auszulernen, meinen Sie nicht? Gibt es in Nebraska keine Büchereien?«

»Es ist pure Sentimentalität«, sagte Ben. Wider Erwarten machte es ihn nicht verlegen, das einer wildfremden Person zu erklären. »Ich bin in Derry aufgewachsen, müssen Sie wissen, und jetzt bin ich zum erstenmal seit meiner Kindheit wieder hier. Ich bin herumgeschlendert und habe geschaut, was sich hier verändert hat und was nicht. Und plötzlich ist mir eingefallen, daß ich etwa neun Jahre meines Lebens - von drei bis zwölf - hier verbracht und doch keinen einzigen Erinnerungsgegenstand an all diese Jahre habe. Nicht einmal eine Postkarte. Ich hatte ein paar Silberdollars, aber die habe ich einem Freund geschenkt. Ich glaube, ich möchte einfach ein Andenken an meine Kindheit haben. Ein bißchen spät - aber besser spät als gar nicht, heißt es nicht so?«

Miß Danner lächelte, und das Lächeln verschönte noch ihr ohnehin hübsches Gesicht. »Das ist wirklich sehr süß«, sagte sie. »Wenn Sie ein bißchen schmökern möchten, werde ich inzwischen die Karte ausstellen.«

Ben grinste ein wenig. »Vermutlich muß ich eine Gebühr bezahlen«, sagte er. »Nachdem ich ja kein Einwohner von Derry bin und so.«

»Hatten Sie als Junge eine Karte?«

»Aber ja«, sagte Ben und fügte wahrheitsgetreu hinzu: »Abgesehen von meinen Freunden war das wohl das wichtigste...«

»Ben, willst du nicht raufkommen?« rief plötzlich eine laute Stimme, die die Stille der Bücherei abrupt durchbrach.

Er zuckte schuldbewußt zusammen, wie Leute das so an sich haben, wenn jemand in einer Bücherei schreit, und drehte sich rasch um. Er sah niemanden, den er kannte... und einen Moment später bemerkte er, daß niemand aufgeschaut hatte. Die alten Männer lasen immer noch ihre Zeitungen und Zeitschriften: die >Derry News<, >Globe<, »National Geographic<, >Time< und >Newsweek<. An den Tischen im Raum mit den Nachschlagewerken steckten zwei High School-Mädchen immer noch ihre Köpfe über einem Stoß Zeitungen und einem Stapel Karteikarten zusammen. Mehrere Personen schmökerten in den Büchern auf den Regalen mit der Aufschrift NEUERSCHEINUNGEN BELLETRISTIK, NUR FÜR EINE WOCHE AUSLEIHBAR.

Ein alter Mann mit einer lächerlichen Taxifahrermütze, eine kalte Pfeife zwischen den Zähnen, blätterte in einem Band Kurzgeschichten von de la Varga.

Ben wandte sich wieder der jungen Frau zu, die ihn verwirrt betrachtete.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein«, sagte Ben lächelnd. »Ich glaubte nur, was gehört zu haben. Vermutlich hat der Flug mich doch mehr angestrengt, als ich dachte. Was wollten Sie vorhin sagen?«

»Wenn Sie eine Leihkarte hatten, als Sie hier wohnten, wird Ihr Name im Mikrofilmarchiv sein«, erklärte sie. »Ich kann nachschauen und Ihnen dann eine neue Karte geben. Das kostet keine Gebühr.«

»Das ist...«, begann Ben, und dann durchbrach jene Stimme wieder die geheiligte Stille der Bücherei, diesmal noch lauter und gräßlich fröhlich: »Komm doch rauf, Ben! Komm doch rauf, du fettes kleines Dreckschwein! Es geht um dein Leben, Ben Hanscom!«

Ben räusperte sich. »Das ist sehr praktisch«, sagte er.

»Ja.« Sie schaute ihn aufmerksam an. »Ist es draußen warm geworden?«

»Ein wenig«, erwiderte er. »Warum?«

»Sie...«

»Ben Hanscom hat es getan!« schrie die Stimme. Sie kam von oben - vom Büchermagazin. »Ben Hanscom hat die Kinder ermordet! Packt ihn! Schnappt ihn!«

»... schwitzen!« sagte die Bibliothekarin.

»Wirklich?« fragte er völlig verwirrt.

»Ich werde Ihre Karte gleich fertigmachen«, sagte sie.

»Vielen Dank.«

Sie ging zu der alten Schreibmaschine am Ende der Ausleihtheke.

Ben entfernte sich langsam; er hatte rasendes Herzklopfen. Ja, er schwitzte; er spürte jetzt, daß ihm der Schweiß von der Stirn und aus den Achselhöhlen rann, und daß die Haare auf seiner Brust schweißnaß waren. Er schaute hoch und sah den Clown, Pennywise, der oben an der linken Wendeltreppe stand und auf ihn herabblickte. Sein Gesicht war dämonisch weiß, der blutrot gemalte Mund zu einem mörderischen Grinsen verzogen. Anstelle der Augen gähnten nur leere Höhlen. Er hielt eine Traube Ballons in der einen, ein Buch in der anderen Hand.

Nicht er, dachte Ben. Es. Ich stehe hier mitten in der Stadtbücherei von Derry; es ist Spätfrühling 1985, ich bin ein erwachsener Mann, und ich werde mit dem schlimmsten Alptraum meiner Kindheit konfrontiert. Ich stehe IHM von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Nicht er, dachte Ben. Es.

»Komm rauf, Ben«, rief Pennywise ihm zu. »Ich tu' dir nichts. Ich habe ein Buch für dich... und einen Ballon, wenn du einen haben willst. Komm rauf zu mir.«

Ben öffnete den Mund und wollte rufen: Du bist verrückt, wenn du glaubst, daß ich raufkomme, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, daß dann alle ihn anstarren und denken würden: Wer ist denn dieser Wahnsinnige?

»Oh, ich weiß, daß du nicht antworten kannst«, rief Pennywise und kicherte. »Aber ich hätte dich fast aufs Glatteis geführt, stimmt's?«

Der Clown am oberen Ende der Treppe warf den Kopf zurück und bog sich vor Lachen. Es dröhnte und hallte in der Kuppel, und Ben brachte es nur mit äußerster Willenskraft fertig, sich nicht die Ohren zuzuhalten.

»Komm rauf, Ben«, rief Pennywise wieder. »Wir werden uns unterhalten. Neutraler Boden. Was meinst du dazu?«

Ich gehe nicht rauf, dachte Ben. Wenn ich schließlich zu dir komme, wirst du mich bestimmt nicht sehen wollen. Wir werden dich nämlich töten.

Der Clown lachte wieder schallend. »Mich töten? Mich töten?« Und plötzlich imitierte er Richie Toziers Stimme, oder vielmehr nicht Richies eigene Stimme, sondern seine Niggerjungen-Stimme. »Nicht töten, Herr, ich bin ein guter Nigger, nicht mich schwarzen Jungen töten, Haystack.« Und dann erneut dieses schrille Gelächter.

Zitternd, mit leichenblassem Gesicht durchquerte Ben den Saal, der vom schrecklichen Lachen des Clowns widerhallte. Er hatte das Gefühl, sich demnächst übergeben zu müssen. Vor einem Regal blieb er stehen und zog aufs Geratewohl ein Buch heraus. Mit eiskalten Händen blätterte er darin, ohne auch nur das geringste aufzunehmen.

»Du hast nur eine einzige Chance, Haystack!« rief die Stimme von hinten, immer noch lachend. »Verlaß diese Stadt! Verlaß sie noch heute vor Einbruch der Dunkelheit! Heute nacht werde ich dich schnappen... dich und die anderen. Du bist zu alt, um mir etwas antun zu können, Ben. Ihr seid alle viel zu alt dazu. Zu alt, um irgend etwas anderes zu erreichen als euren eigenen Tod. Verschwinde aus dieser Stadt, Ben! Oder willst du heute nacht dies hier sehen?«

Ben drehte sich langsam um, das Buch immer noch in den eiskalten Händen. Er wollte nicht hinschauen, aber es war so, als würde eine unsichtbare Hand ihm das Kinn nach oben drücken.

Der Clown war verschwunden. Am oberen Ende der Wendeltreppe stand Dracula, aber es war kein Film-Dracula: es war nicht Bela Lugosi oder Christopher Lee oder Frank Langella oder Reggie Nalder. Ein uraltes menschenähnliches Wesen mit einem Gesicht wie eine verkrümmte Wurzel stand dort oben. Dieses Gesicht war leichenblaß; die Augen waren purpurrot, mit Blut gefüllt. Der Mund war weit geöffnet und enthüllte eine Menge stählerner Rasierklingen, die in Winkeln zueinander aus dem Zahnfleisch herausragten. Es war, als blicke man in ein tödliches Spiegellabyrinth, wo ein falscher Schritt zur Folge hat, daß man in zwei Hälften zerschnitten wird.

»KRRRR!« knurrte es und ließ seinen Kiefer zuschnappen. Ein rotschwarzer Blutstrom ergoß sich aus seinem Mund. Abgeschnittene Lippenfetzen fielen auf sein blendend weißes Seidenhemd und glitten die Brust hinab, Blutspuren hinterlassend.

»Was hat Stan Uns gesehen, bevor er starb?« brüllte der Vampir zu Ben hinab und lachte durch seine blutige Mundöffnung. »Was hat er gesehen, Ben? Willst auch du es sehen? Was hat er gesehen? Was hat er gesehen?« Dann wieder jenes quiekende Lachen, und Ben wußte, daß er gleich losschreien würde, o ja, es war unmöglich, diesen Schrei zu unterdrücken. Blut prasselte in einer Art gräßlicher Dusche von der Treppe hinab, und ein Tropfen war auf die gelbliche, arthritisverkrümmte Hand eines alten Mannes gefallen, der das > Wall Street Journah las, und rann jetzt zwischen seinen Knöcheln, ohne daß der Mann das Blut sah oder spürte.

Ben hielt den Atem an, überzeugt davon, daß im nächsten Moment sein Schrei die Stille dieses regnerischen Frühlingstages grell durchschneiden würde wie ein Messer... oder eine Rasierklinge.

Was statt dessen mit zittriger, schwankender Stimme herauskam, leise vor sich hingesprochen wie ein Gebet, waren die Worte: »Wir haben Kugeln daraus gemacht, genau. Wir haben aus den Silberdollars Silberkugeln gemacht.«

Der Mann mit der Taxifahrermütze, der in den Kurzgeschichten von de la Varga gelesen hatte, blickte hoch und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Unsinn!« sagte er. Jetzt schauten die Leute tatsächlich auf; jemand zischte verärgert: »Pssst!«

»Es tut mir leid«, sagte Ben mit leiser, zitternder Stimme. Ganz am Rande nahm er wahr, daß sein Gesicht jetzt schweißüberströmt war, und daß sein Hemd am Körper klebte. »Ich habe laut gedacht...«

»Unsinn!« wiederholte der alte Mann noch lauter. »Man kann keine Silberkugeln aus Silberdollars machen. Weit verbreiteter Irrtum. Taucht in Schundliteratur immer wieder auf. Das Problem besteht im spezifischen Gewicht...«

Plötzlich stand die Bibliothekarin, Miß Danner, neben ihnen. »Mr. Brock-hill, Sie müssen leise sein«, sagte sie freundlich. »Die Leute wollen lesen. ..«

»Der Mann da ist krank«, sagte Brockhill scharf und schaute wieder in sein Buch. »Geben Sie ihm ein Aspirin, Carol.«

Carol Danner warf Ben einen Blick zu und machte ein sehr besorgtes Gesicht. »Geht es Ihnen nicht gut, Mr. Hanscom? Sie sehen sehr schlecht aus.«

»Ich... ich habe chinesisch zu Mittag gegessen«, erwiderte Ben. »Ich glaube, das ist mir nicht gut bekommen.«

»Wenn Sie sich hinlegen möchten - in Mr. Hanions Büro steht eine Couch. Sie könnten...«

»Nein, vielen Dank, das ist nicht nötig.«

Er wollte jetzt nur noch eins - so schnell wie möglich aus der Bücherei herauskommen. Er blickte hoch. Der Clown war verschwunden. Ebenso der Vampir. Aber an das niedrige Treppengeländer war ein Luftballon gebunden. Auf der blauen Kugel standen die Worte: ich wünsche einen SCHÖNEN TAG! HEUTENACHT STIRBST DU!

»Ich habe Ihre Leihkarte ausgestellt«, sagte die Bibliothekarin und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Möchten Sie sie noch?«

»Ja, vielen Dank.« Ben holte tief Luft. »Es tut mir sehr leid.«

»Ich hoffe nur, daß es keine Lebensmittelvergiftung ist«, sagte sie.

»Sache würde nicht funktionieren!« brummte Mr. Brockhill, ohne von seinem Buch aufzuschauen oder seine Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Eine Erfindung der Schundliteratur. Kugel würde nicht richtig fliegen.«

Und Ben antwortete ganz automatisch, ohne es vorher zu wissen: »Es war keine Munition für eine Schußwaffe, sondern für eine Schleuder. Wir haben rasch erkannt, daß wir keine Pistolenkugeln herstellen konnten. Schließlich waren wir Kinder. Und deshalb...«

»Pssst!« zischte wieder jemand.

Brockhill warf Ben einen leicht verwirrten Blick zu, bevor er sich erneut in seine Kurzgeschichten vertiefte.

An der Ausleihtheke händigte Miß Danner ihm eine kleine orangefarbene Karte mit der Aufschrift Stadtbücherei derry aus. Immer noch leicht benebelt, aber doch schon wieder etwas gefaßt, dachte Ben, daß dies die erste Erwachsenen-Leihkarte seines Lebens war. Seine Kinderkarte war kanarienvogelgelb gewesen.

»Sind Sie ganz sicher, daß Sie sich nicht etwas hinlegen möchten, Mr. Hanscom?«

»Ich fühle mich schon wieder etwas besser, danke.«

»Bestimmt?«

Ben brachte ein kleines Lächeln zustande. »Ganz bestimmt.«

»Sie sehen ein bißchen besser aus«, sagte sie, aber es klang nicht sehr überzeugt. Dann legte sie ein Buch unter das Mikrofilmgerät, mit dem neuerdings Ausleihen registriert wurden, und Ben verspürte eine fast hysterische Belustigung. Sie hat das Buch registriert, das ich aus dem Regal geholt habe, als der Claim mit Richies Stimme redete, dachte er. Ich habe zum erstenmal seit 25 Jahren ein Buch aus der Stadtbücherei Derry entliehen, und ich weiß nicht einmal, was es ist. Aber es ist mir auch ganz egal. Ich will nur hier rauskommen - dann bin ich schon zufrieden.

»Danke«, sagte er und klemmte sich das Buch unter den Arm.

»Nichts zu danken, Mr. Hanscom. Sind Sie sicher, daß Sie kein Aspirin möchten?«

»Ganz sicher«, antwortete er, zögerte etwas und fuhr dann fort: »Sie wissen nicht zufällig, was aus Mrs. Starrett geworden ist? Barbara Starrett. Sie war die Leiterin der Kinderbücherei.«

»Sie ist gestorben«, berichtete Miß Danner. »Vor drei Jahren. Es war ein Herzschlag, soviel ich weiß. Wirklich ein Jammer - sie war noch verhältnismäßig jung... 58 oder 59, glaube ich. Mr. Hanion hat damals die Bücherei für einen Tag geschlossen.«

»Oh!« sagte Ben tief betroffen. Das kam dabei heraus, wenn man nach langer Zeit an einen vertrauten Ort zurückkehrte. Der Guß auf dem Kuchen war süß, aber darunter schmeckte er bitter. Menschen vergaßen einen, oder sie starben, oder sie verloren ihre Haare und Zähne - in manchen Fällen auch den Verstand. Oh, das Leben war wirklich großartig.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Sie hatten sie gern, nicht wahr?«

»Alle Kinder mochten Mrs. Starrett«, sagte Ben und stellte bestürzt fest, daß er den Tränen nahe war.

»Geht es Ihnen...«

Wenn sie mich noch einmal fragt, ob es mir gut geht, kriege ich wirklich noch das große Heulen, glaube ich. Oder einen Schreikrampf.

Mit einem Blick auf seine Armbanduhr sagte er rasch: »Ich muß mich beeilen, Miß Danner. Danke dafür, daß Sie so nett waren.«

»Einen schönen Tag noch, Mr. Hanscom.«

Na klar doch. Und heute nacht sterbe ich dann.

Er winkte ihr zu, brachte mühsam ein Lächeln zustande und durchquerte den Saal. Mr. Brockhill warf ihm, als er vorbeiging, einen scharfen, mißtrauischen Blick zu.

Ich werde nicht rennen, dachte Ben, und er tat es auch wirklich nicht... aber ihm war sehr danach zumute. Er schaute ein letztes Mal auf die linke Wendeltreppe. Der Ballon schwebte immer noch oben am Ende der Treppe, ans Geländer gebunden. Aber die Aufschrift lautete jetzt:

ICH HABE BARBARA STARRETT UMGEBRACHT!

PENNYWISE DER CLOWN

Er sah rasch weg, weil er fühlte, daß sein Puls schon wieder raste. Er trat ins Freie und wurde von Sonnenschein begrüßt. Nur noch kleine Wölkchen waren am Himmel zu sehen, und eine warme Maisonne schien und ließ das Gras unglaublich grün und üppig erscheinen. Ben wurde leichter ums Herz. Ihm war, als hätte er in der Bücherei eine unerträgliche Last zurückgelassen ... und dann warf er einen Blick auf das Buch, das er unbeabsichtigt entliehen hatte, und seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Es war >Bulldozer< von Stephen W. Meader, eines jener Bücher, die er an dem Tag ausgeliehen hatte, als er in die Barrens hinabgestürzt war.

Mit zitternden Händen klappte er das Buch hinten auf. Die Bücherei war inzwischen zum Mikrofilmsystem bei der Ausleihe übergegangen, das hatte er gesehen. Aber innen auf dem hinteren Einband dieses Buches klebte immer noch eine Tasche, in der eine Karte steckte, Auf jeder Linie stand ein Name und der Stempel mit dem Rückgabetermin. Ben las folgendes:

NAMEDES ENTLEIHERS LETZTERRÜCKGABETERMIN

Charles N. Brown 14. Mai 1958

David Hartwell 1. Juni 1958

Joseph Brennan 17. Juni 1958

Und auf der letzten benutzten Linie der Karte stand mit Bleistift in seiner eigenen kindlichen Schrift:

Benjamin Hanscom 5. Juli 1958

Quer über diese Karte, quer übers Vorsatzblatt, quer über den Falz der Seiten war mit verschmierter roter Farbe, die aussah wie Blut, ein Wort gestempelt: AUSSORTIERT.

»O mein Gott!« murmelte Ben. Er wußte nicht, was er sonst sagen sollte; das schien die gesamte Situation am treffendsten auszudrücken. »O mein Gott, mein Gott!«

Er stand in der warmen Frühlingssonne und fragte sich plötzlich, was wohl die anderen erlebten - was ihnen zustieß, womit sie konfrontiert wurden.

2. Eddie Kaspbrak fängt einen Ball auf

Eddie Kaspbrak stieg an der Ecke Kansas Street und Kossuth Lane aus dem Bus. Die Kossuth Lane war eine Sackgasse, die eine Viertelmeile hügelab-wärts führte und dann abrupt endete, am Rande eines Steilabhangs, der ins Dickicht der Barrens überging. Eddie hatte nicht die leiseste Ahnung, warum er gerade jetzt ausgestiegen war; weder hatte er sich als Kind hier besonders oft herumgetrieben noch jemanden gekannt, der in der Kossuth Lane oder in diesem Abschnitt der Kansas Street wohnte. Aber es schien die richtige Stelle zu sein. Beverly hatte den Bus schon in der unteren Main Street verlassen, in der Nähe ihrer alten Wohnung, und Mike fuhr noch weiter. Er hatte nichts gesagt, als Eddie ausgestiegen war, aber er hatte ihm zugenickt, und Eddie hatte zurückgenickt.

Während er jetzt dem kleinen Mercedes-Bus nachblickte, fragte er sich, was er eigentlich hier wollte, an einer obskuren Kreuzung in einer obskuren Stadt, fast 500 Meilen von Myra entfernt, die sich bestimmt wahnsinnige Sorgen um ihn machte. Ihm wurde etwas schwindelig, er griff in seine Jak-kentasche, und dann fiel ihm ein, daß er sein >Dramamine< im Town House gelassen hatte, zusammen mit seiner übrigen Hausapotheke. Aber Aspirin hatte er bei sich. Er schluckte zwei Tabletten, und dann ging er die Kansas Street entlang. Er überlegte, ob er der Bücherei einen Besuch abstatten oder vielleicht die Costello Avenue entlangbummeln sollte. Es klärte sich jetzt allmählich auf, und er dachte, daß er sogar zum West Broadway spazieren und dort die alten viktorianischen Häuser bewundern könnte - die beiden einzigen wirklich vornehmen Häuserblocks in Derry. Das hatte er als Kind manchmal getan - er war den West Broadway entlanggebummelt, hatte dabei aber immer so getan, als wäre er irgendwohin anders unterwegs. In der Nahe der Ecke Witcham Street und West Broadway war Sally Muellers Haus, ein großes rotes Gebäude mit Türmchen, das von Hecken umgeben war. Die Muellers hatten einen Gärtner, der Eddie immer mißtrauisch betrachtete, bis er weiterging.

Dann war da Greta Bowies Haus, vier Häuser weiter auf derselben Straßenseite. Es war mit grünen Schindeln gedeckt und hatte ebenfalls Türmchen - aber während die Türmchen am Haus der Muellers oben abgeflacht waren, hatten die am Haus der Bowies komische kegelförmige Aufsätze, die Eddie an Dummkopf-Mützen erinnerten.

Im Sommer standen immer Gartenmöbel auf dem Rasen neben dem Haus - ein Tisch, über dem ein gelber Sonnenschirm aufgespannt war, Korbstühle, eine Hängematte zwischen zwei Bäumen. Weiter hinten gab es auch ein Krocketspielfeld. Eddie wußte das, obwohl er nie zum Krocketspielen zu Greta Bowie eingeladen worden war; Richie war einmal dort gewesen und hatte ihm davon erzählt, und wenn Eddie vorbeischlenderte, hörte er manchmal das Klicken der Bälle, Gelächter oder auch Geschimpfe, wenn ein Ball danebenging. Einmal hatte er Greta selbst gesehen. Eine Limonade in einer Hand, den Krocketschläger in der anderen, war sie auf der Suche nach ihrem abgeschlagenen Ball - er war gegen einen Baum geprallt und ziemlich weit weggeflogen, und deshalb bekam Eddie Greta zufällig zu Gesicht. Sie sah unbeschreiblich schön aus, fand Eddie (sogar ihre von der

Sonne verbrannten Schultern kamen ihm wunderschön vor); er war damals neun Jahre alt und hatte gerade die vierte Klasse abgeschlossen. An jenem Tag hatte er sich ein bißchen in sie verliebt - sie war schlank, und ihr glänzendes blondes Haar fiel offen auf die Schultern. Sie schaute in der Gegend herum, und einen Moment lang glaubte Eddie, sie hätte ihn gesehen, aber das erwies sich als Irrtum, denn als er seine Hand zu einem schüchternen Gruß hob, winkte sie nicht zurück, sondern schlug ihren Ball in Richtung des Spielfeldes und rannte hinterher. Er war weitergegangen, ohne sich darüber zu ärgern, daß sie seinen Gruß nicht erwidert hatte (er glaubte wirklich, sie hätte ihn nicht gesehen), oder daß er nie zu einem der Krocketspiele an Samstagnachmittagen eingeladen wurde: warum sollte ein wunderschönes Mädchen wie Greta Bowie einen Jungen wie ihn auch einladen? Er war schmächtig, asthmatisch und hatte ein Gesicht wie eine ertränkte Wasserratte.

Ja, dachte er, während er ziellos die Kansas Street hinabschlenderte, ich

hätte zum West Broadway gehen und mir jene Häuser wieder einmal anschauen sol

len... das der Muellers, das der Bowies, das von Dr. Halewagon, das der Trak-kers. . .

Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er bemerkte, daß er direkt vor dem LKW-Fuhrunternehmen der Gebrüder Tracker stand.

»Das gibt's also immer noch«, sagte Eddie laut und lachte.

Das Haus am West Broadway, das Phil und Tony Tracker gehörte (beide waren Junggesellen), war vielleicht das schönste der großen Häuser in dieser Straße, ein makellos weißes viktorianisches Gebäude, das von grünen Rasenflächen und prachtvollen Blumenbeeten umgeben war. Die Auffahrt wurde jeden Herbst frisch geteert, das mit Schiefer gedeckte Dach befand sich in einem tadellosen Zustand, und manchmal blieben Leute stehen und fotografierten die mit Mittelpfosten versehenen Fenster, die sehr alt und schön waren.

»Zwei Männer, die ihr Haus so in Ordnung halten, müssen andersherum gepolt sein«, hatte Eddies Mutter einmal verstimmt gesagt, und Eddie hatte sich nicht getraut zu fragen, was das bedeutete. Jetzt verstand er es natürlich.

Aber das LKW-Fuhrunternehmen war das genaue Gegenteil des Hauses am West Broadway. Es war ein niedriges Ziegelgebäude; die Ziegel waren alt und bröckelten stellenweise ab, und in Bodennähe ging ihre schmutzigorange Farbe in ein rußiges Schwarz über. Sämtliche Fenster waren schmutzig, mit Ausnahme einer kleinen runden Stelle an einer der unteren Scheiben des Lademeisterbüros; diese eine Stelle wurde von Kindern immer flek-kenlos sauber geputzt, denn der Lademeister hatte über seinem Schreibtisch einen >Playboy<-Kalender hängen, und kein Junge kam zum Baseballspielen auf dem hinteren Parkplatz, ohne zuvor mit seinem Spielhandschuh über das Glas zu reiben und sich das nackte Pin-up-Girl des Monats anzuschauen.

Das Ziegelgebäude war auf drei Seiten von großen Kiesflächen umgeben. Hier hatten immer viele Fernlaster gestanden, Jimmies und Peterbilts und Rios, alle mit der Aufschrift Gebrüder tracker, derry newton prov-dence hartford new york. Manche waren vollständig zusammengesetzt, manchmal standen aber auch Einzelteile herum: Fahrerkabinen oder Karosserien auf Hinterrädern, vorne auf Stützstreben aufgepflockt.

Den Parkplatz hinter dem Gebäude versuchten die Trackers soweit wie möglich freizuhalten, denn beide waren große Baseballfans und liebten es, wenn Kinder dort spielten. Phil Tracker beförderte selbst Frachtgut, deshalb bekamen die Jungen ihn selten zu Gesicht, aber Tony Tracker führte die Bücher, und Eddie (der selbst nie mitspielte - seine Mutter hätte ihn gelyncht, wenn sie erfahren hätte, daß er Baseball spielte, herumrannte und Staub in seine zarte Lunge bekam, gebrochene Beine und Gehirnerschütterungen riskierte) gewöhnte sich richtig an seinen Anblick, und seine Stimme gehörte für ihn irgendwie schon zum Spiel dazu. Tony Tracker, groß und dick und doch irgendwie gespenstisch, wenn sein weißes Hemd in der Sommerdämmerung schimmerte und ringsum Leuchtkäfer durch die Luft schwirrten; Tony Tracker, der die Spieler anfeuerte und ihnen gute Ratschläge zubrüllte: »Du mußt unter den Ball gelangen, bevor du ihn fangen kannst, Roter!... Du hast den Ball aus den Augen gelassen, Halbe-Portion! Du kannst ihn nicht treffen, wenn du nicht hinschaust!... Rennen, Pferdefuß, rennen!« Er hatte nie jemanden mit Namen angeredet, fiel Eddie ein, immer nur mit >Roter<, >Blonder<, >Vier-Auge<, >Halbe-Portion< usw. Grinsend trat Eddie ein bißchen näher... und dann verschwand das Grinsen von seinem Gesicht. Das lange Ziegelgebäude, wo Aufträge ausgeführt, Lastwagen repariert und kurzfristig auch Waren gelagert worden waren, war jetzt dunkel und verlassen. Unkraut wucherte zwischen dem Kies, und nirgends war ein LKW zu sehen... nur eine einzelne verrostete Karosserie.

Als er noch näher kam, sah er, daß im Fenster ein Plakat Zu verkaufen Hing, mit Namen und Telefonnummer eines Grundstücksmaklers.

Die Trackers sind nicht mehr im Geschäft, dachte er und war selbst überrascht, wie traurig ihn das stimmte... so als wäre jemand gestorben. Jetzt war er froh, daß er nicht zum West Broadway gegangen war. Wenn es schon die Gebrüder Tracker nicht mehr gab - diese Firma hatte für ihn Ewigkeitscharakter gehabt -, was mochte sich dann alles in einer Straße verändert haben, die er als Kind so gern entlanggeschlendert war? Er stellte mit Unbehagen fest, daß er es nicht wissen wollte. Er wollte nicht Greta Bowie mit vereinzelten grauen Haaren oder dicken Hüften und Beinen (vom vielen Sitzen, Essen und Trinken) sehen; es war besser - sicherer -, einfach von dort fernzubleiben.

Genau das hätten wir alle auch tun sollen, dachte er. Einfach fernbleiben. Wir haben hier, wo wir aufgewachsen sind, nichts mehr verloren. An den Ort zurückzukehren, wo man aufgewachsen ist, hat große Ähnlichkeit mit verrückten YogaKunststücken, wie die Füße in den eigenen Mund stecken und sich irgendwie selbst verschlucken, so daß nichts von einem übrigbleibt; so etwas ist unmöglich, und jeder halbwegs vernünftige Mensch sollte darüber verdammt froh sein... aber was mag wohl Tony und Phil Tracker zugestoßen sein?

Tony hatte vielleicht einen Herzschlag erlitten; er hatte mindestens 50, vielleicht sogar 50 Pfund Übergewicht gehabt. Man mußte gut aufpassen, was das Herz aushalten konnte. Die Dichter mochten gebrochene Herzen romantisieren, Barry Manilow wunderschön davon singen (Myra hatte

sämtliche Schallplatten von Barry Manilow), aber Eddie bevorzugte denn doch alljährlich ein gründliches EKG. Ja, vermutlich hatte Tonys Herz versagt. Und Phil? Vielleicht ein Unfall. Pech auf der Autobahn. Eddie, der seinen Lebensunterhalt selbst am Steuer verdiente (vielmehr früher verdient hatte; inzwischen chauffierte er nur noch die Berühmtheiten und verbrachte die übrige Zeit am Schreibtisch), wußte über Pech auf der Straße gut Bescheid. Vielleicht war der gute alte Phil Tracker mit seinem Wagen auf vereister Fahrbahn ins Schleudern geraten, irgendwo in New Hampshire oder in den Wäldern im Norden von Maine, oder die Bremsen hatten auf irgendeinem steilen Hügel südlich von Derry versagt, und er war ins Kenne-bec Valley abgestürzt.

»Scheiße, die Zeit vergeht!« sagte Eddie Kaspbrak seufzend und war sich nicht einmal bewußt, daß er laut gesprochen hatte.

Resigniert und unglücklich - ein Gemütszustand, der ihm neuerdings vertrauter war, als er früher je für möglich gehalten hätte - ging Eddie um das Gebäude herum, um einen Blick auf den Parkplatz zu werfen, wo die Jungen in seiner Kindheit Baseball gespielt hatten, und wo er ihnen manchmal dabei zugeschaut hatte.

Eddie sah auf den ersten Blick, daß hier nicht mehr Baseball gespielt wurde - aus irgendwelchen Gründen war diese Tradition in den dazwischenliegenden Jahren eingeschlafen.

Während seiner Kindheit in Derry war das rautenförmige Spielfeld nicht durch Kalkstreifen markiert gewesen, sondern durch mit Füßen gezogene und ausgetrampelte Linien. Sie hatten keine richtigen Schlag- und Standmale, jene Jungen, die hier Baseball spielten (Jungen, die fast alle älter gewesen waren als die Mitglieder des Klubs der Verlierer, obwohl Eddie sich daran erinnerte, daß Stan Uris manchmal mitgespielt hatte; als Schläger war er nur mittelmäßig, aber er konnte im Außenfeld sehr schnell rennen und hatte ein hervorragendes Reaktionsvermögen), doch es gab vier große steife, schmutzige Segeltuchplanen, die immer unter der Laderampe hinter dem langen Ziegelgebäude lagen, feierlich hervorgeholt wurden, wenn sich genügend Kinder eingefunden hatten, und ebenso feierlich zurückgetragen wurden, wenn es abends zu dunkel wurde, um weiterspielen zu können.

Jetzt konnte Eddie keine Spur von den ausgetrampelten Markierungslinien mehr erkennen, und überall zwischen dem Kies wucherte Unkraut. Zerbrochene Soda- und Bierflaschen funkelten in der Sonne; in alten Zeiten waren solche Glasscherben von den Kindern stets entfernt worden. Unverändert war einzig und allein der hohe Kettenzaun hinter dem Parkplatz, zwölf Fuß hoch und rostig, der den Himmel in Hunderte kleiner Rauten unterteilte.

Hier waren die Schlägerfelder, dachte Eddie, während er mit den Händen in den Taschen auf jener Stelle stand, wo vor einem Vierteljahrhundert das Schlagmal gewesen war. Über den Zaun und in die Barrens, Er lachte laut auf und schaute sich dann nervös um, so als hätte ein Gespenst und nicht er selbst gelacht.

In Wirklichkeit hatte er nur zweimal gesehen, daß ein Ball über den hohen Zaun hinter dem Parkplatz geflogen war, und in beiden Fällen war

Henry Bowers' Freund Belch Huggins der Schläger gewesen. Belch war ein außergewöhnlich kräftiger Junge gewesen; mit zwölf Jahren schon sechs Fuß groß und etwa 170 Pfund schwer. Den Spitznamen Belch hatte er bekommen, weil er Rülpser von phänomenaler Länge und Lautstärke zustande brachte [to belch = rülpsen; Anm. d. Übers.] - wenn er gut in Form war, hörte er sich wie eine Kreuzung zwischen Ochsenfrosch und Grille an. Manchmal klopfe er sich beim Rülpsen auch rasch mit der Hand gegen den offenen Mund, was sich dann anhörte wie der Kampfruf eines wilden Indianers.

Belch war ein Mordsbrocken gewesen, aber nicht eigentlich dick, dachte Eddie jetzt; wenn er nicht in jenem Sommer zusammen mit Victor Criss gestorben wäre, hätte er vermutlich mit Leichtigkeit eine Größe von sechs Fuß sechs oder noch mehr erreicht und mit der Zeit vielleicht gelernt, mit seinem übergroßen Körper in einer Welt voll kleinerer Menschen zurechtzukommen. Aber mit zwölf war er langsam und schwerfällig gewesen, nicht geistig zurückgeblieben, obwohl er oft diesen Eindruck erweckte, weil seine Bewegungen so plump und unkoordiniert waren. Man hatte das Gefühl, als bestünde zwischen Belchs Körper und seinem Gehirn überhaupt keine Verbindung, als führte sein Körper ein eigenes Dasein. Eddie fiel jener Abend ein, als ein Schmetterball direkt zu Belchs Position im Außenfeld ;eschlagen wurde - Belch brauchte sich nicht einmal von der Stelle zu rühren. Er stand einfach da, schaute hoch und hob plump seinen Fanghandschuh, aber anstatt im Handschuh war der Ball auf seinem Kopf gelandet und hatte ein hohles Boing! erzeugt, so als wäre er aus großer Höhe auf ein Autodach gefallen. Er prallte von Belchs Kopf ab, flog etwa zwei Fuß in die Höhe... und fiel dann genau in Belchs Handschuh. Ein unglückseliger Junge namens Owen Phillips hatte über dieses hohle Boing! gelacht, und Belch war zu ihm rübergegangen und hatte ihm so kräftig in den Hintern getreten, daß der Junge heulend nach Hause gerannt war. Niemand mehr wagte daraufhin zu lachen... das heißt, Richie Tozier hätte es sich bestimmt nicht verbeißen können, wenn er dagewesen wäre, dachte Eddie, und dann hätte Belch ihn vermutlich krankenhausreif geschlagen.

Ähnlich schwerfällig war Belch als Läufer gewesen, aber wenn er als Schläger einen Ball traf, dann mit ungeheurer Wucht, und die beiden Bälle, die Eddie ihn über den Zaun hatte schlagen sehen, waren einfach phänomenal gewesen. Der erste Ball war nie gefunden worden, obwohl 14 Jungen den Steilabhang abgesucht hatten, der in die Barrens führte. Die Wahrscheinlichkeit war allerdings auch gering gewesen, denn der Abhang war mit dichtem Gebüsch und Gestrüpp bedeckt.

Den zweiten Ball hatte man jedoch wiedergefunden. Er gehörte einem Sechstkläßler (alle Kinder nannten ihn Slim, und Eddie fiel nicht ein, wie er wirklich geheißen hatte), und mit ihm wurde im Frühling und Frühsommer 1958 gespielt. Deshalb hatte er auch nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem makellos weißen runden Gebilde aus dem Verpackungskarton; er hatte Dellen und Grasflecken und war an vielen Stellen vom scharfen Kies zerschnitten. Die roten Nähte begannen sich an einer Stelle aufzulösen, und Eddie, der über die Grenzlinie geflogene Bälle zurückwarf, wenn sein Asthma es ihm erlaubte (er genoß jedes beiläufige Danke, Kleiner!), wußte, daß jemand demnächst eine Rolle Leukoplast mitbringen und den Ball damit verkleben würde, damit man ihn noch ein-zwei Wochen länger verwenden konnte.

Aber dazu kam es dann nicht mehr. Ein Siebentkläßler warf Belch den Ball zu, und Belch schlug ihn mit seiner Schlagkeule mit solcher Wucht zurück, daß der Überzug sich löste und zu Boden flatterte. Der Ball flog immer höher in einen prächtigen Abendhimmel, und alle Kinder verfolgten den Flug mit stummem Staunen; Eddie erinnerte sich daran, daß jemand andächtig »Heilige Scheiße!« gerufen hatte, als der Ball hoch über den Zaun hinwegflog, wobei die Schnur, mit der er fest umwickelt war, sich langsam abrollte. Sofort kletterten sechs Jungen affenartig am Zaun hoch, und Tony Tracker lachte schallend und schrie: »Der war sogar aus dem Yankee-Stadion rausgeflogen! Hört ihr? Der war sogar aus dem gottverdammten Yankee-Stadion rausgeflogen!«

Peter Gordon hatte den Ball gefunden, nicht weit von jenem Bach entfernt, den der Klub der Verlierer knapp drei Wochen später eindämmte (allerdings wurde der Damm ein ganzes Stück bachaufwärts errichtet).

Die Jungen hatten den Ball - oder vielmehr das, was von ihm übrig war - zu Tony Tracker gebracht, der ihn wortlos in die Hand genommen und aufmerksam betrachtet hatte, umgeben von ebenfalls völlig sprachlosen Jungen. Belch Huggins stand etwas verloren zwischen den anderen herum, als wüßte er nicht so recht, wo er sei. Was Tony Tracker ihm dann feierlich überreichte, war kleiner als ein Tennisball.

Ganz in seine Erinnerungen versunken, schlenderte Eddie zum Kettenzaun, der jetzt noch rostiger als früher und mit häßlichen Schlingpflanzen bewachsen war. Aber immerhin - es gab ihn noch. Dahinter konnte Eddie den steil abfallenden giftgrünen Abhang sehen.

Die Barrens wirkten dschungelartiger denn je, und Eddie fragte sich zum erstenmal in seinem Leben, wie man überhaupt auf den Gedanken gekommen war, dieses Stück Land mit seinem wild wuchernden Pflanzenreichtum ausgerechnet >Barrens< zu nennen... warum nicht Wildnis? Oder Dschungel? Barrens [barren = unfruchtbar; barrens = unfruchtbares Land, Ödland; Anm. d. Übers.]. Das Wort hatte einen düsteren Klang, aber es beschwor nicht Bilder von dichtem Gestrüpp und dicken, um das Sonnenlicht kämpfenden Bäumen herauf, sondern von endlosen Sanddünen oder grauen Schieferebenen und Wüste. Ödes, unfruchtbares Land. Unfruchtbar... Mike hatte vorhin gesagt, sie seien alle unfruchtbar, und er hatte vermutlich recht. Keiner von ihnen hatte ein Kind. Sogar in dieser Zeit der Geburtenplanung verstieß das gegen jede Wahrscheinlichkeit.

Eddie schaute durch die rostigen Drahtrauten des Zaunes, hörte den fernen Verkehrslärm von der Kansas Street und das gleichfalls ferne Rauschen von Wasser unten in den Barrens. Auch die Bambusgewächse gab es dort immer noch; zwischen all dem kräftigen Grün sahen sie unnatürlich und ungesund weiß aus, wie Schwämme. Dahinter,, in dem Sumpfgebiet beiderseits des Kenduskeags, sollte es angeblich Treibsand geben. Er wußte etwas darüber, konnte sich aber nicht erinnern, was es war... oder vielleicht wollte er sich einfach nicht erinnern?

Dort unten habe ich die glücklichste Zeit meiner Kindheit verlebt, dachte er, aber dieser Gedanke war von einem Schauder begleitet.

Er wollte sich gerade abwenden, als etwas anderes seine Blicke auf sich zog: ein Zylinder mit schwerem Metalldeckel. Morlock-Brunnen hatte Ben sie genannt und dabei gelacht - aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Wenn man dicht heranging, waren diese Zylinder etwa taillenhoch (für ein Kind), und man konnte die halbkreisförmige Aufschrift derry Kanalisation lesen. Und aus der Tiefe hörte man ein summendes Geräusch von irgendwelchen Maschinen.

Morlock-Brunnen.

Dorthin sind wir gegangen. Im August. Zum Schluß. Wir sind in Bens Morlock-Brunnen gestiegen, in die Abwasserkanäle, aber weiter unten waren es dann keine Abwasserkanäle mehr, es waren... waren... was?

Patrick Hockstetter war dort unten. Bevor Es ihn erwischte, sah Beverly, wie er etwas Abstoßendes machte. Sie mußte zwar darüber lachen, aber sie wußte, daß es etwas Häßliches war, was Patrick trieb. Irgendwie war auch Henry Bowers damals mit von der Partie, oder? Ja, ich glaube schon. Und...

Er wandte sich abrupt ab und wollte sich auf den Rückweg machen. Er wollte nicht mehr in die Barrens hinabschauen - die damit verbundenen Erinnerungen gefielen ihm überhaupt nicht. Er wollte zu Hause sein, bei Myra. Er wollte nicht hier in Derry sein. Er...

»Fang auf, Junge!«

Er fuhr herum, und da kam auch schon ein Ball angeflogen, über den Zaun hinweg; er schlug auf dem Boden auf, prallte ab und sprang hoch... und Eddie streckte völlig reflexartig die Hand aus und fing ihn geschickt auf.

Ihm wurde eiskalt, als er sah, was er da in der Hand hielt: einst war es ein Baseball gewesen - vor etwa 27 Jahren. Jetzt war es nur noch eine mit Schnur umwickelte Kugel, denn der Überzug war von einer Schlagkeule heruntergerissen worden. Auch die Schnur hatte sich teilweise abgewik-kelt. Sie zog sich über den Zaun wie eine Spinnwebe und verschwand unten in den Barrens.

O Gott, dachte Eddie. O mein Gott, Es ist hier, Es ist hier bei mir...

»Komm und spiel mit mir«, rief die Stimme jenseits des Zaunes, und Eddie erkannte entsetzt diejenige von Belch Huggins, der im Sommer 1958 grausam ermordet worden war. Es war Belchs Stimme... und nun kam Belch den Steilabhang hochgestolpert.

Er trug ein gestreiftes Baseball-Trikot der New York Yankees, das grüne Flecken hatte und mit Herbstlaub vom Vorjahr behaftet war. Es war Belch, aber es war auch der Aussätzige, eine gräßliche Kreatur, die nach langen Jahren im nassen Grab auferstanden war. Das Fleisch des breiten Gesichts hing in verwesten Fetzen herab. Eine Augenhöhle war leer; das andere Auge hing schaurig heraus. In seinen Haaren krochen Würmer herum. Er trug einen moosbewachsenen Handschuh an einer Hand. Die verwesten Finger der rechten Hand schob er durch die Rauten des Kettenzauns, und als er sie krümmte, gab es ein fürchterliches knarrendes Geräusch, das Eddie fast den Verstand raubte.

»Der war aus dem Yankee-Stadion rausgeflogen!« sagte Belch grinsend. Eine weiße Kröte fiel aus seinem Mund und purzelte zu Boden. »Hörst du? Der war sogar aus dem gottverdammten Yankee-Stadion rausgeflogen! Ach, und übrigens, Eddie, wie war's mit Fliegen? Ich bin glücklich, daß du zurückgekommen bist! Ich wußte, daß du zurückkommen würdest.«

Belchs Gesicht veränderte sich. Die gallertartige Knollennase löste sich auf und enthüllte zwei rohe rote Kanäle, die Eddie in seine Träume verfolgt hatten. Belchs Haar wurde spinnwebfarben und dünn, die faulige Stirnhaut riß auf und entblößte weichen Knochen, überzogen mit einer schleimigen Masse. Belch war verschwunden; an seine Stelle war die Kreatur getreten, die einst unter der Veranda des Hauses Nummer 29 in der Neibolt Street gewesen war.

»Bobby tut's für nur zehn Cent«, krächzte der Aussätzige und begann, am Zaun hochzuklettern. Kleine Fleischfetzen blieben in den Drahtrauten hängen. Der Zaun quietschte unter seinem Gewicht, und wenn er die Schlingpflanzen berührte, wurden sie sofort schwarz. »Jederzeit gern bereit, länger kostet's 15 Cent.«

Eddie versuchte zu schreien, brachte aber nur ein leises Quieken hervor. Er betrachtete den Ball in seiner Hand, und plötzlich schoß zwischen den Schnüren Blut hervor und tropfte auf den Kies und auf seine Schuhe.

Er schleuderte ihn weg, machte zwei große taumelnde Schritte nach rückwärts und wischte sich die Hand am Hemd ab. Der Aussätzige hatte den oberen Rand des Zauns erreicht. Sein Kopf hob sich silhouettenartig vom Himmel ab, alptraumhaft wie ein zum Leben erwachter ausgehöhlter Hal-loween-Kürbis. Seine Zunge schoß hervor, vier Fuß lang, vielleicht auch sechs. Sie rollte sich vom grinsenden Mund des Aussätzigen am Zaun hinab wie eine Schlange.

Im nächsten Moment war die Kreatur verschwunden.

Sie löste sich nicht allmählich auf wie im Film; sie verschwand schlagartig, mit einem Pop!, als ob eine Champagnerflasche entkorkt worden wäre. Es war die Luft, die dieses Geräusch verursachte, als sie den Raum des Aussätzigen einnahm.

Eddie drehte sich um und rannte los, aber er hatte noch keine sechs Schritte getan, als vier steife Formen aus der Dunkelheit unter der Laderampe des verlassenen Ziegelgebäudes hervorflogen. Er dachte zuerst, es wären Fledermäuse, und er schrie und hielt sich die Arme schützend vor den Kopf... aber dann sah er, daß es Segeltuchplanen waren, jene Planen, die als Male gedient hatten, als die großen Jungen hier Baseball spielten.

Sie wirbelten durch die Luft, und er mußte sich ducken, um einer davon auszuweichen. Dann nahmen sie alle gleichzeitig ihre Plätze ein: Schlagmal, Standmal I, Standmal II, Standmal III.

Keuchend, nach Luft schnappend, rannte Eddie am Schlagmal vorbei, mit verzerrtem Mund und schneeweißem Gesicht.

»WWACK!« Das Geräusch einer Keule, die einen Phantomball schlägt. Und dann...

Eddie blieb wie angewurzelt stehen, und ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Der Boden wölbte sich in einer geraden Linie vom Schlagmal zum Standmal I, so als raste ein riesiger Maulwurf direkt unter der Erdoberfläche dahin. Kies rollte hinab. Die Wölbung erreichte das Standmal I, und die Plane flog ein Stück hoch. Dann begann sich der Boden zwischen Standmal I und II zu wölben, und gleich darauf flog die Plane an Standmal II hoch; weiter raste das Etwas unter der Erdoberfläche, passierte Standmal III - wieder flog eine Plane hoch - und sauste auf das Schlagmal zu.

Auch diese Plane wurde in die Luft geschleudert, aber noch bevor sie wieder zu Boden fiel, sprang das Etwas aus der Erde hervor wie eine gruselige Partyüberraschung - und dieses Etwas erwies sich als Tony Tracker, von dessen Schädel noch einige schwärzliche Fleischfetzen herabhingen, und dessen weißes Hemd sich in verfaulte gelbe Fäden aufgelöst hatte. Er ragte bis zur Taille aus der Erde heraus und schwankte hin und her wie ein grotesker Wurm.

»Bemüh dich nicht, Junge. Wir kriegen dich ohnehin. Dich und deine Freunde. Wir kriegen euch auf jeden Fall«, rief Tony Tracker mit kreischender Stimme.

Schreiend stolperte Eddie davon. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er versuchte sich loszureißen. Die Hand grub sich einen Moment lang in seine Schulter, dann gab sie ihn frei. Er drehte sich um. Es war Greta Bowie. Sie war tot. Eine Hälfte ihres Gesichts war verschwunden. In dem zerfressenen roten Fleisch der anderen Hälfte krochen Maden herum. Sie hielt einen grünen Ballon in einer Hand.

»Autounfall«, sagte die erkennbare Gesichtshälfte und grinste. Das Grinsen verursachte ein unsagbar scheußliches Dehngeräusch, und Eddie konnte sehen, wie rohe Sehnen sich bewegten. »Ich war achtzehn, Eddie. Betrunken. Deine Freunde sind hier, Eddie.«

Kreischend wich Eddie vor ihr zurück. Sie folgte ihm. Ihre Beine waren blutverkrustet. Und dann sah er hinter ihr etwas noch viel Schrecklicheres: Patrick Hockstetter kam über das Außenfeld stolpernd und taumelnd auf ihn zu. Auch er trug das Trikot der New York Yankees, aber in seiner Brust war ein großes schwarzes Loch.

»Du bist in mich hineingetreten«, rief Patrick und begann zu rennen. »Du bist in mich hineingetreten, aber ich hab's dir nicht übelgenommen, Eddie, komm zurück, komm und spiel...«

Eddie rannte. Greta griff wieder nach ihm und zerriß ihm das Hemd; irgendeine schreckliche Flüssigkeit rann ihm den Rücken hinab. Tony Tracker stemmte sich aus seinem mannsgroßen Maulwurfsloch. Patrick Hockstetter stolperte und schlurfte hinter ihm her. Eddie rannte; er wußte nicht, woher er die Puste zum Rennen nahm, aber er rannte. Und während er rannte, tanzten Wörter vor seinen Augen, jene Sätze, die auf dem grünen Ballon standen, den Greta Bowie in der Hand gehalten hatte:

ASTHMAMEDIZIN VERURSACHT LUNGENKREBS!

GRÜSSE VOM CENTER STREET DRUGSTORE

Eddie rannte. Er rannte und rannte und rannte, und irgendwo in der Nähe des McCarron Parks brach er ohnmächtig zusammen. Einige Kinder sahen ihn, hielten sich aber in sicherer Entfernung von ihm, weil er aussah wie ein Betrunkener oder wie jemand, der irgendeine unheimliche Krankheit hat; sie dachten, daß er vielleicht sogar der gesuchte Mör-

der sein könnte und überlegten, ob sie ihn bei der Polizei anzeigen sollten, ließen es dann aber doch bleiben.

3. Bev Huggins macht einen Besuch

Beverly Huggins ging geistesabwesend die Main Street hinab. Sie hatte sich gerade im Derry Town House umgezogen und trug jetzt Bluejeans und eine hellgelbe Bluse. Sie machte sich keine Gedanken darüber, wohin sie gehen sollte. Statt dessen dachte sie an jenes Haiku:

Dein Haar gleicht Winterfeuer,

Funken im Januar.

Dort glüht mein Herz.

Sie hatte die Postkarte in der untersten Schublade zwischen ihrer Unterwäsche versteckt. Vielleicht hatte ihre Mutter sie gesehen, aber das war nicht schlimm. Wichtig war damals nur, daß das die einzige Schublade war, in die ihr Vater nie hineinschaute. Wenn er das Gedicht gesehen hätte, hätte er sie vermutlich mit jenem klaren, fast freundlichen und sie total lähmenden Blick angeschaut und in seinem fast freundlichen Ton gefragt: »Hast du etwas getan, was du nicht tun dürftest, Bev? Mit den Jungen?« Und ob sie nun ja oder nein sagte, war ganz egal - er hätte auf jeden Fall zugeschlagen, so rasch und heftig, daß es im ersten Moment nicht einmal weh tat - der Schmerz setzte erst später ein, wenn die Taubheit verging. Und dann wieder seine fast freundliche Stimme: »Ich mache mir große Sorgen um dich, Beverly. Ich mache mir schreckliche Sorgen. Du mußt erwachsen werden, Beverly. Habe ich recht?«

Aber wenn ihre Mutter jene nicht unterschriebene Karte - jenes Gedicht -wirklich gesehen hatte, so hatte sie darüber geschwiegen.

Während Bev jetzt an den Schaufenstern vorbeiging, registrierte ein Teil von ihr automatisch die Kleider auf den Puppen und tat sie auf den ersten Blick als armselige, einfallslose Fetzen ab, als langweilige Massenprodukte. Die Preise waren sehr hoch, aber die Kleider trotzdem langweilig, mit Ausnahme einiger interessanter handgearbeiteter Stücke im Fenster eines Geschäfts mit dem Namen >Chosen Works<, das es in ihrer Kindheit noch nicht gegeben hatte. Vor allem aber dachte sie an jenes Gedicht, das sie über all die Jahre hinweg aufbewahrt hatte, wenn sie auch nicht zu sagen gewußt hätte, wo. Und im Zusammenhang mit dem Haiku überfielen sie die verschiedensten Gedanken und Gefühle, die so kompliziert waren, daß sie sie nicht ganz zu entwirren vermochte. Sie dachte an ihren Vater, der vielleicht noch hier in Derry wohnte. Er hatte hier gelebt, als sie zuletzt etwas von ihm gehört hatte, aber das lag... wie lange lag es zurück? Zehn Jahre? Jedenfalls war es lange vor ihrer Heirat gewesen. Sie hatte damals eine Postkarte von ihm erhalten, nicht eine einfache Postkarte wie jene mit dem Haiku, sondern eine Ansichtskarte mit der riesigen, scheußlichen Kunststoffstatue von Paul Bunyan, die vor dem City Center stand. Diese Statue war irgendwann in den 5oer Jahren aufgestellt worden und hatte sie als Kind sehr beeindruckt, aber die Karte ihres Vaters hatte trotzdem keine nostalgischen Erinnerungen in ihr wachgerufen.

>Ich hoffe, es geht Dir gut, und Du bist anständig<, hatte er geschrieben. >Ich hoffe, daß Du mir etwas schicken wirst, wenn Du kannst, denn ich habe nicht viel. Ich liebe Dich. Dad.<

Er hatte sie geliebt, und sie vermutete, daß sie sich hauptsächlich deshalb in jenem langen Sommer 1958 so wahnsinnig in Bill Denbrough verliebt hatte - weil Bill als einziger von den Jungen eine Autorität ausstrahlte, die sie mit ihrem Vater assoziierte... aber gleichzeitig war es eine andere Art von Autorität... eine Autorität, die nicht einengte, nicht unterdrückte wie die ihres Vaters, der sie erzog, als wäre sie ein Haustier, der sie abwechselnd verhätschelte und streng bestrafte, der sie...

(du darfst nicht so von deinem Vater denken, das ist verwerflich)

Ich denke ja überhaupt nicht schlecht von ihm, versuchte sie sich rasch und ein wenig nervös einzureden. Red doch keinen Unsinn, ich trage ihm überhaupt nichts nach; er liebte mich und erzog mich; natürlich hielt er ein bißchen zuviel von... na ja, von körperlicher Züchtigung,.. aber ich brauchte von Zeit zu Zeit wirklich eine feste Hand. Ich muß schon sagen, ich war oft ungezogen. Ich wollte nicht einsehen, daß ich... daß ich erwachsen werden mußte.

Das ist doch alles totaler Blödsinn, und das weißt du selbst, widersprach eine neue Stimme in ihr - sie klang ein bißchen nach Kay, ein bißchen nach Bill Denbrough und - erschreckenderweise - sehr nach ihr selbst. Aber dieses andere Ich beunruhigte und schockierte sie - es wirkte so frech, so unverschämt, ja direkt ein bißchen unanständig. Es hörte sich so gar nicht nach nettem, bravem Mädchen an. Man mußte sich große Sorgen um ein Mädchen machen, das einen solchen Ton an den Tag legte; man mußte sich schreckliche Sorgen um ein solches Mädchen machen.

Du redest totalen Scheiß. Er war auf einem Power-Trip, und er hat so 'ne Art Gehirnwäsche bei dir vorgenommen, bis du selbst geglaubt hast, Strafe verdient zu haben, Du kannst noch von Glück sagen, daß er dich nicht umgebracht oder zum Krüppel geschlagen hat. Du kannst von Glück sagen...

(hör auf, hör auf, ich möchte diesen Blödsinn nicht hören. halt sofort den mund!)

In Ordnung, meine Liebe. Ganz wie du willst.

Sie war an der Kreuzung Kansas-, Center- und Main Street angelangt, stand kurze Zeit einfach da und starrte auf die rote Ampel, ohne sie wirklich wahrzunehmen, erschüttert in die Vergangenheit blickend wie in einen tückischen Brunnen, in den sie fast gestürzt wäre.

Aus welchen Gründen auch immer - jedenfalls war sie gegen Ende ihres ersten Treffens als vollständige Gruppe im Juli 1958 wahnsinnig verliebt in Bill gewesen. Es einfach einen Schulmädchenschwarm zu nennen, wäre das gleiche, als würde man einen Rolls-Royce als Fahrzeug mit vier Rädern bezeichnen. Sie kicherte nicht, und sie wurde auch nicht rot, wenn sie ihn sah; sie schrieb seinen Namen weder auf Bäume noch auf den Steg, der vom Bassey Park zur High School führte. Sie lebte einfach die ganze Zeit mit seinem Bild im Herzen - es war eine Art süßer Schmerz. Sie wäre für ihn gestorben.

Und deshalb war es nur allzu verständlich, wenn sie sich damals einreden wollte, daß Bill ihr das Liebesgedicht geschickt hatte... obwohl es ihr nie gelungen war, sich selbst hundertprozentig zu überzeugen. Und später hatte sie dann erfahren, daß es Ben Hanscom gewesen war, der jenes Haiku geschrieben hatte. Ja, Ben hatte es geschrieben, er hatte es ihr erzählt (obwohl sie sich absolut nicht erinnern konnte, wann, unter welchen Umständen er es zugegeben hatte), aber als er es ihr erzählte, war ihr bewußt geworden, daß sie das fast von Anfang an in ihrem Innersten geahnt hatte. Er hatte seine Liebe zu ihr fast ebensogut verborgen wie sie ihre Gefühle für Bill, aber für einen scharfen Beobachter war es trotzdem ganz offenkundig -es war an tausend Kleinigkeiten zu erkennen: wie ängstlich er immer bemüht war, ihr nicht zu nahe zu kommen; wie er den Atem anhielt, wenn sie seinen Arm oder seine Hand berührte; wie er sich anzog, wenn er wußte, daß er sie sehen würde. Lieber süßer dicker Ben.

Und das Ende der Geschichte?... Es war gar nicht mal so schlecht gewesen ... aber was nun eigentlich genau passiert war, daran konnte sie sich immer noch nicht erinnern. Sie glaubte, daß Ben zugegeben hatte, das kleine Liebesgedicht, das fast ein Haiku war, verfaßt und ihr geschickt zu haben. Sie glaubte Bill gesagt zu haben, daß sie ihn liebte und immer und ewig lieben würde. Und irgendwie hatten diese beiden Geständnisse ihnen allen das Leben gerettet... war es wirklich so gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern. Diese Erinnerungen (oder vielmehr Erinnerungen an Erinnerungen, das traf wohl eher zu) glichen Inseln, die in Wirklichkeit gar keine Inseln waren, sondern einzelne Wirbel eines großen Korallenrückgrats, die zufällig aus dem Wasser herausragten; sobald sie jedoch versuchte, tief hinabzutauchen und auch den Rest, die unter Wasser verborgenen Teile, zu sehen, schob sich ein verrücktes Bild dazwischen: die Stare, die jedes Frühjahr - Ende März - nach Neuengland zurückkehrten, in dichten Scharen auf den Telefonleitungen, Bäumen und Dächern saßen und mit ihren heiseren Unterhaltungen die Tauwetterluft erfüllten. Dieses Bild stellte sich unverständlicherweise immer und immer wieder störend ein.

Sie bemerkte, daß sie völlig in Gedanken die Straße überquert hatte. Statt auf Kleiderpuppen starrte sie jetzt auf die Auslage eines Taschenbuchladens, so als wären alle Geheimnisse der Welt in den grellen Einbänden verborgen: Rosemary Rogers, John Saul, John Jakes, Don Pendleton, Merriam-Webster, Roget, King James. Aber dort war keine Antwort zu finden; nur ihr Gesicht, umgeben von ihrer Haarmähne, spiegelte sich gespenstisch darin, im trüben Licht aller Farbe beraubt.

Sie ließ das Geschäftsviertel hinter sich und strebte unbewußt der Lower Main Street zu. Beim Gehen dachte sie jetzt über das Treffen nach - den schrecklichen Vorfall am Ende des Mittagessens verdrängte sie vorerst allerdings und beschäftigte sich lieber mit den Menschen, den Gefährten ihrer Kindheit, und mit den Gefühlen, die sie jetzt für sie hegte.

Bill hatte seine Haare verloren - das war für sie der größte Schock gewesen. Sie liebte ihn nicht mehr - >immer und ewig<, hatte sie als Kind geschworen! -, aber sie spürte Zuneigung zu ihm, zu allen Freunden von damals. Am meisten vielleicht zu Ben, der nicht mehr fett war und sich anscheinend selbst geheilt hatte. Der seine Träume verwirklicht hatte und von ihnen nicht erdrückt worden war. Aber...

Aber das traf in gewisser Weise auf sie alle zu, oder etwa nicht? Es war unheimlich und direkt erschreckend, noch so viel von den Kindern, die 1958 auf diesen Straßen herumgelaufen waren, in ihren Gesichtern, ihren Gesten und ihrem Verhalten wiederzufinden: Richie, der sich auf seinem Stuhl lümmelte, frech grinste und in seinen stimmen redete; Eddie mit seinem Aspirator; Ben, der plötzlich jenes >Piep-piep< ausrief; Bill mit seinem leichten Stottern; und sie selbst...

Was?

Ach, nichts, Beverly.

Es war so, als wären sie alle irgendwie konserviert worden, gefeit gegen die vielen dazwischenliegenden Jahre; sie hatten Erfolg gehabt, ohne viel darüber nachzudenken, sie waren vorwärtsgekommen, sie hatten ihre Kindheit vergessen,

(waren unfruchtbar)

sie hatten geheiratet und Pläne geschmiedet, die irgendwie schattenhaft waren, so als hätten sie alle in einer tieferen Schicht ihres Geistes - in einer Schicht, wo nicht das Denken regierte, sondern etwas Umfassenderes und Wichtigeres, etwas Realeres (vielleicht an einem Ort symbolträchtiger Träume) - stets gewußt, daß das Leben, das sie als Erwachsene führten, im Grunde schattenhaft und substanzlos war, lediglich eine Art Wartezeit ohne jene entscheidenden Kämpfe, die zur Realität gehören.

Sie stellte plötzlich erschrocken fest, daß sie vor der Kleen-Kloze-Münz-wäscherei stand, in die sie, Stan, Ben und Eddie, an jenem Tag Ende Juni die blutbefleckten Putzlappen gebracht hatten - Blut, das nur sie sehen konnten. Die Fenster waren eingeseift, und an einer abblätternden Außenwand klebte ein handgeschriebener Zettel: vom Eigentümer zu verkaufen . Beverly spähte durch die Seifenlauge und sah einen leeren Raum mit helleren Rechtecken auf den schmutziggelben Wänden, wo die Waschmaschinen gestanden hatten.

Ich gehe ja nach Hause, dachte sie erschrocken, setzte aber dennoch ihren Weg fort.

In der Nachbarschaft hatte sich nicht viel verändert. Ein paar Bäume waren gefällt worden, und die Häuser sahen noch ein bißchen schäbiger aus. Es gab mehr zerbrochene Fensterscheiben - manche waren durch Pappe ersetzt, andere nicht.

Und dann stand sie vor dem Mietshaus Nummer 127 der Lower Main Street. Es war noch da, unverwechselbar, obwohl es irgendwann neu gestrichen worden sein mußte - die abblätternde Farbe, in ihrer Kindheit weiß, war jetzt schokoladenbraun. Da war das Küchenfenster; und da war auch das Fenster ihres Zimmers.

(Jimmy, komm von der Straße runter! Komm sofort von der Straße runter, oder willst du vielleicht von einem Auto angefahren und getötet werden?)

Sie fröstelte plötzlich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Es ist gut möglich, daß Daddy noch hier wohnt; o ja, das ist sehr gut möglich. Er würde nie umziehen, wenn es sich irgend vermeiden ließe. Du brauchst nur näher heranzugehen, Beverly. Wirf einen Blick auf die Briefkästen. Drei Briefkästen für drei Wohnungen, genau wie in alten Zeiten. Und wenn auf einem MARSH steht, kannst du klingeln, und gleich darauf wirst du im Flur hinter den hellgelben verwaschenen Chintzvorhängen das Schlurfen von Pantoffeln hören, und die Tür wird sich öffnen, und er wird vor dir stehen, der Mann, dessen Samen dich rothaarig und linkshändig werden ließ und dem du dein Zeichentalent verdankst... erinnerst du dich noch daran, wie gut er zeichnen konnte? Wenn er wollte, konnte er alles mögliche zeichnen. Du hast stundenlang dagesessen, als du klein warst, und er saß neben dir und zeichnete Katzen und Hunde und Pferde und Kühe mit Blasen vor dem Mund, in denen >Muh< stand; du hast gelacht, und dann hat er gesagt: Jetzt du, Beverly, und wenn du den Bleistift gehalten hast, hat er dir die Hand geführt... geh jetzt weiter, Beverly. Drück auf die Klingel. Er wird kommen, und er wird alt sein, er wird tiefe Falten im Gesicht haben, und seine Zähne-jene, die noch übrig sind -werden gelb sein, und er wird dich anschauen und sagen: Na so was, das ist ja Bev-vie, Bevvie ist heimgekommen, um ihren alten Vater zu besuchen, komm herein, Bewie, ich freue mich so, dich zu sehen, ich freue mich, denn ich mache mir Sorgen um dich, Bewie, ich mache mir SCHRECKLICHE Sorgen - und er wird grinsen...

Sie ging langsam den Weg entlang, und das Unkraut, das zwischen den geborstenen Betonplatten wuchs, streifte ihre Knöchel. Sie warf einen Blick auf die Briefkästen. Zweiter Stock: starkwether Erster Stock: burke. Erdgeschoß - ihr stockte der Atem - marsh.

Aber ich werde nicht klingeln. Ich will ihn nicht sehen, und ich werde nicht klingeln.

Das war endlich ein fester Entschluß! Der Entschluß, der ihr das Tor zu einem erfüllten und sinnvollen Leben voll solcher fester Entschlüsse eröff-nete! Sie ging den Weg zurück! Zurück in die Innenstadt! Zum Hotel! Packte! Bestellte ein Taxi! Flog nach Hause! Sagte Tom, er solle sich zum Teufel scheren! Lebte erfolgreich! Starb zufrieden!

Sie drückte auf die Klingel.

Sie hörte das vertraute Läuten aus dem Eßzimmer: Kling-klong. Stille. Keine Reaktion. Sie trat auf der Veranda von einem Fuß auf den anderen, weil sie plötzlich aufs Klo mußte, obwohl sie bereits gewesen war, als sie sich in ihrem Hotelzimmer umgezogen hatte.

Niemand zu Hause, dachte sie erleichtert. Jetzt kann ich gehen.

Statt dessen klingelte sie wieder: Kling-klong. Keine Reaktion. Sie dachte an Bens schönes kleines Gedicht und versuchte sich zu erinnern, wann und wie er zugegeben hatte, es geschrieben zu haben, und warum das bei ihr eine Assoziation zu ihrer ersten Menstruation hervorrief. Hatte sie mit zehn Jahren ihre erste Periode gehabt? Bestimmt nicht, obwohl ihre Brüste sich zu entwickeln begonnen hatten, als sie erst neuneinhalb gewesen war. Warum...? Und dann schob sich wieder das Bild Tausender schwatzender Stare auf Telefonleitungen und Dächern vor weißem Frühlingshimmel dazwischen.

Ich gehe jetzt. Ich habe zweimal geklingelt, das reicht.

Aber sie klingelte wieder.

Kling-klong.

Jetzt hörte sie Schritte, und sie hörten sich genauso an, wie sie es sich vorgestellt hatte: langsam und schlurfend. Einen Moment lang war sie sehr nahe daran wegzurennen. Konnte sie es den Betonweg hinab bis um die Ecke schaffen? Dann würde ihr Vater glauben, daß es nur Kinder gewesen waren, die Klingelputzen spielten.

Sie blieb stehen und beobachtete, wie die schattenhafte Gestalt hinter den hellgelben Vorhängen näher kam, eine große Gestalt mit gebeugten

Schultern. Sie beobachtete mit hilfloser Faszination, wie der Türknopf sich drehte. Die Tür öffnete sich.

Sie stieß heftig den Atem aus und mußte sich sehr beherrschen, um nicht in erleichtertes Lachen auszubrechen. Das war nicht ihr Vater. Auf der Schwelle stand eine große alte Frau, die Ende der Siebzig sein mochte. Sie hatte langes, glänzendes Haar, das größtenteils weiß, aber noch mit goldfarbenen Strähnen durchzogen war. Hinter der randlosen Brille strahlten Augen, die so blau waren wie das Wasser in Hochgebirgsseen oder in den Fjorden, aus denen ihre Vorfahren vielleicht stammten. Sie hatte ein purpurrotes Kleid aus Moire an, das etwas abgetragen, aber doch noch sehr eindrucksvoll aussah. Ihr runzeliges Gesicht war freundlich.

»Ja?« fragte sie.

»Es tut mir leid«, sagte Beverly. Das Bedürfnis zu lachen war so schnell vergangen wie es sie überfallen hatte. Sie registrierte fasziniert, daß die alte Frau eine Kamee aus echtem Elfenbein, eingefaßt mit einem hauchdünnen Goldband, am Hals trug. »Ich muß aus Versehen auf die falsche Klingel gedrückt haben.« Oder absichtlich auf die falsche Klingel gedrückt haben, flüsterte eine innere Stimme. »Ich wollte bei Marsh klingeln.«

»Marsh?« Die Frau runzelte leicht die Stirn.

»Ja, wissen Sie...«

»Hier wohnt kein Marsh«, sagte die alte Frau.

»Aber...«

»Es sei denn... Sie meinen doch nicht Alvin Marsh, oder?«

»Doch!« sagte Beverly. »Das ist mein Vater!«

Die alte Frau tastete unwillkürlich nach ihrer Kamee. Sie schaute Beverly aufmerksam an, und Bev kam sich plötzlich lächerlich jung vor, so als sollte sie eigentlich noch eine Schachtel mit Pfadfinderinnen-Kuchen oder Bleistiften in der Hand haben - »Unterstützt die Derry High School, kauft Bleistifte!« Dann lächelte die alte Frau... aber es war ein trauriges Lächeln.

»Nun, Sie müssen schon lange jeden Kontakt mit ihm verloren haben, Fräulein. Es tut mir leid, daß ich - für Sie ein wildfremder Mensch - es Ihnen sagen muß, aber Ihr Vater ist schon vor fünf Jahren gestorben.«

»Aber... auf der Klingel...« Sie schaute noch einmal genau hin, und dann lachte sie auf. Es war ein leises, verwirrtes Lachen, das sich fast anhörte wie ein Schluchzen. In ihrer Aufregung, in ihrer unterbewußten felsenfesten Überzeugung, daß der alte Mann noch hier sein würde, hatte sie kersh als marsh gelesen.

»Sind Sie Mrs. Kersh?« fragte sie, immer noch verwirrt. Sie war betroffen über die Mitteilung, daß ihr Vater tot war, aber sie ärgerte sich auch über ihren Irrtum - die Dame mußte sie ja für eine Analphabetin halten. Die beiden Emotionen vermischten sich und erzeugten diese Verwirrung.

»Ja, die bin ich«, bestätigte die alte Frau.

»Sie... haben meinen Vater gekannt?«

»Nur sehr flüchtig«, antwortete Mrs. Kersh. »Er hat vor mir in dieser Erdgeschoßwohnung gelebt. Wir sahen einander ein paar Tage lang, als er aus-und ich einzog. Er ist in die Roward Lane umgezogen. Kennen Sie die Straße?«

»Ja«, sagte Beverly. Die Roward Lane zweigte vier Blocks weiter

von der Lower Main Street ab, und die Mietshäuser waren dort kleiner und noch schäbiger.

»Manchmal habe ich ihn im Supermarkt getroffen«, berichtete Mrs. Kersh, »und in der Münzwäscherei, die es jetzt nicht mehr gibt. Wir haben hin und wieder ein paar Worte gewechselt. Wir... Mädchen, Sie sehen ja ganz bleich aus. Es tut mir leid. Kommen Sie herein und trinken Sie eine Tasse Tee.«

»Nein, das geht doch nicht«, sagte Beverly, aber in Wirklichkeit fühlte sie sich schwach und hatte das Gefühl, einen Tee und einen Stuhl gut gebrauchen zu können.

»Aber natürlich geht es«, sagte Mrs. Kersh herzlich. »Das ist doch das mindeste, was ich für Sie tun kann, wenn ich Ihnen schon eine so unerfreuliche Mitteilung machen mußte.«

Und bevor Beverly noch weiter protestieren konnte, wurde sie schon durch den dunklen Flur in ihre ehemalige Wohnung geführt, die ihr jetzt viel kleiner, aber dennoch nicht deprimierend vorkam - vermutlich, weil fast alles anders war. Statt des großen Küchentisches mit den drei Stühlen stand jetzt ein kleines rundes Tischchen da, mit Seidenblumen in einer Töpfervase. Und anstelle des alten Ungetüms von Kühlschrank, an dem ihr Vater immer herumgebastelt hatte, damit er dann wieder eine Weile funktionierte, gab es eine kupferfarbene moderne Kühlkombination. Der Herd war klein, sah aber sehr leistungsfähig aus; darüber war ein Dunstabzug angebracht. Hellblaue Vorhänge hingen an den Fenstern, Topfblumen schmückten die Fensterbretter. Der häßliche Linoleumbelag ihrer Kindheit war verschwunden, und der Holzboden war auf Hochglanz poliert.

Mrs. Kersh warf ihr vom Herd her, wo sie Teewasser aufsetzte, einen Blick zu.

»Sind Sie hier aufgewachsen?«

»Ja«, sagte Beverly. »Aber es ist jetzt alles ganz verändert hier... so hübsch und gemütlich... wundervoll!«

»Wie nett von Ihnen, das zu sagen!« rief Mrs. Kersh und lächelte strahlend, was sie viel jünger erscheinen ließ. »Wissen Sie, ich habe ein bißchen Geld. Nicht viel, aber zusammen mit dem Geld von meiner Sozialversicherung kann ich ganz gut leben. Ich bin in Schweden geboren und aufgewachsen. 1918 bin ich in dieses Land gekommen, mit vierzehn, ohne Geld - und auf diese Weise lernt man den Wert des Geldes am besten schätzen, finden Sie nicht auch?«

»O ja.«

»Ich habe im Krankenhaus gearbeitet«, erzählte Mrs. Kersh. »Jahrzehntelang, seit 1925. Schließlich arbeitete ich mich zur Wirtschafterin hoch. Hatte alle Schlüssel. Mein Mann hat unser Geld ganz gut angelegt. Und jetzt habe ich hier meinen kleinen Hafen gefunden. Schauen Sie sich doch um, Fräulein, bis das Wasser kocht!«

»O nein, das geht doch...«

»Bitte... ich würde mich freuen.«

Also schaute Beverly sich um. Das Schlafzimmer ihrer Eltern war nun Mrs. Kershs Schlafzimmer, aber der Unterschied war gewaltig. Das Zimmer sah jetzt größer und heller aus. Eine Kommode aus Zedernholz mit den eingelegten Initialen R. G. verströmte einen leisen angenehmen Duft. Eine riesige Tagesdecke war über das Bett gebreitet. Die aufgestickten Motive zeigten Frauen, die Wasser pumpten, viehtreibende Jungen und Männer, die Heuschober bauten. Eine herrliche Decke.

Beverlys Zimmer war jetzt als Nähzimmer eingerichtet. Eine große alte schwarze Singer-Nähmaschine mit schmiedeeisernem Gestell stand unter zwei sehr hellen Lampen. An einer Wand hing ein Bild von Jesus, an der anderen eines von John F. Kennedy. Unter diesem stand ein sehr schönes geschnitztes Schränkchen mit Glasvitrine; ursprünglich wohl zum Aufbewahren von Porzellan gedacht, diente es als Bücherschrank.

Zuletzt ging Beverly ins Bad.

Es war jetzt in einem warmen Rosaton gekachelt und gestrichen. Die ganze Einrichtung war neu, doch trotzdem näherte sich Beverly dem Waschbecken mit dem Gefühl, daß der alte Alptraum gleich wieder beginnen würde. Sie würde in jenes schwarze lidlose Auge hinabspähen, das Flüstern würde einsetzen, dann würde das Blut hervorschießen...

Sie sah im Spiegel flüchtig ihr bleiches Gesicht, ihre dunklen Augen, als sie sich über das Becken beugte - und dann starrte sie in jenes Auge und wartete auf die Stimmen, das Lachen, das Stöhnen und das Blut.

Wie lange sie dort so stand, über das Waschbecken gebeugt, wußte sie selbst nicht; es war Mrs. Kershs Stimme, die sie aus der Halbhypnose riß: »Tee, Fräulein.«

Sie zuckte zusammen und verließ das Bad. Sie fühlte sich erleichtert -wenn irgendwo dort unten im Abfluß vor 25 Jahren schwarze Magie am Werk gewesen war, so gab es sie jetzt nicht mehr - oder sie schlief.

»Sie hätten sich wirklich nicht soviel Mühe machen sollen!«

Mrs. Kersh schaute sie freundlich lächelnd an. »O Fräulein, wenn Sie wüßten, wie selten ich Besuch habe, würden Sie das nicht sagen. Ich tische ja sogar dem Zählerableser mehr auf.«

Zarte Tassen und Untertassen aus dünnem eierschalenfarbenem, mit Blau abgesetztem Porzellan standen auf dem runden Küchentisch. Auf einer Platte lagen kleine Kuchen und Kekse. Daneben verströmte eine dampfende Teekanne aromatischen Duft. Leicht amüsiert dachte Bev, daß das einzige, was noch fehlte, jene kleinen Sandwiches mit der abgeschnittenen Rinde waren, die sie immer >Tantensandwiches< genannt hatte und von denen es drei Sorten gab: mit Frischkäse und Oliven, mit Brunnenkresse und mit Eiersalat.

»Setzen Sie sich«, sagte Mrs. Kersh. »Setzen Sie sich, Fräulein, dann werde ich den Tee einschenken.«

»Ich bin kein Fräulein«, sagte Beverly und hob die linke Hand, damit Mrs. Kersh ihren Ring sehen konnte.

Die alte Frau lächelte und machte eine abwehrende Geste. »Ich sage zu allen hübschen jungen Mädchen Fräulein«, erklärte sie. »Das ist so 'ne Angewohnheit von mir. Nehmen Sie's mir nicht übel.«

»Nein«, sagte Beverly. »Warum sollte ich?« Aber trotzdem verspürte sie plötzlich ein leichtes Unbehagen: das Lächeln der alten Frau hatte etwas an sich gehabt - aber was? Etwas Unangenehmes? Falsches? Wissendes? Aber das war doch lächerlich, völlig absurd.

»Es gefällt mir sehr, was Sie aus dieser Wohnung gemacht haben«, sagte sie.

»Wirklich?« sagte Mrs. Kersh und schenkte Tee ein. Er sah dunkel und trüb aus. Bev war sich nicht sicher, ob sie ihn trinken wollte... und auf einmal war sie auch gar nicht sicher, ob sie überhaupt hier sein wollte.

Auf der Klingel stand Marsh, flüsterte plötzlich eine innere Stimme, und leichte Furcht überfiel sie.

Mrs. Kersh reichte ihr eine Teetasse.

»Danke«, sagte Beverly. Er duftete wunderbar. Sie nippte vorsichtig daran. Er schmeckte gut. Hör auf, überall Gespenster zu sehen, sagte sie sich. »Besonders Ihre Zedernkommode ist ein herrliches Stück.«

»Eine Antiquität«, erwiderte Mrs. Kersh und lachte. »Sie ist sehr alt.« Wieder lachte sie, und Beverly bemerkte einen Schönheitsfehler an ihr, der hier oben im Norden der USA weit verbreitet war: sie hatte sehr schlechte Zähne - sie sahen zwar kräftig aus, waren aber ganz gelb. Die beiden Vorderzähne standen über Kreuz, und die Eckzähne waren sehr lang und erinnerten direkt an Stoßzähne.

Sie waren weiß... als sie an die Tür kam, lächelte sie, und du dachtest noch, wie auffallend weiß sie seien.

Plötzlich fürchtete sie sich nicht mehr nur ein bißchen. Plötzlich wollte sie nichts wie weg.

»O ja, sie ist wirklich sehr alt«, wiederholte Mrs. Kersh und trank ihren Tee laut schlürfend mit einem Schluck aus. Sie lächelte Beverly zu - sie grinste ihr zu -, und Beverly stellte entsetzt fest, daß auch ihre Augen sich verändert hatten. Die Hornhaut war jetzt altersgelb, mit Rot durchzogen. Selbst ihr Haar war dünner geworden und sah plötzlich ungepflegt aus; die silberweißen, mit Gold durchsetzten Flechten waren schmutziggrau.

»Sehr alt«, murmelte Mrs. Kersh noch einmal über ihrer leeren Tasse und sah Beverly aus ihren gelben Augen verschlagen an. Das abstoßende Grinsen enthüllte wieder ihre schrecklichen Zähne. »Ich hab' sie von Zuhause mitgebracht. Sind Ihnen die Initialen aufgefallen?«

»Ja.« Beverly hatte das Gefühl, als käme ihre eigene Stimme von weither, und sie versuchte sich an einen Gedanken zu klammern: Wenn sie nicht weiß, daß du die Veränderung bemerkt hast, bist du vielleicht noch in Sicherheit, wenn sie nicht weiß, nicht sieht...

»Mein Vater«, sagte die Alte - sie sprach es wie >Vadder< aus -, und Beverly bemerkte, daß nun auch ihr Kleid sich verändert hatte. Es war glänzend schwarz. Und die Kamee war ein Schädel mit schaurig gähnendem Kiefer. »Sein Name war Robert Gray, besser bekannt als Bob Gray, noch besser bekannt als Pennywise der Tanzende Clown. Obwohl auch das nicht sein richtiger Name war. Aber mein Vadder liebte Spaße.«

Sie lachte wieder. Einige ihrer Zähne waren so schwarz geworden wie ihr Kleid. Die Falten in ihrem Gesicht waren jetzt sehr tief. Ihr rosiger Teint hatte sich in krankhaftes Gelb verwandelt. Die Finger waren Klauen. Sie grinste Beverly an. »Essen Sie doch etwas, meine Liebe.« Ihre Stimme war um eine halbe Oktave höher geworden, schlug in dieser Tonlage aber dauernd um und klang jetzt wie eine knarrende Grufttür.

»Nein, danke«, hörte Beverly sich sagen. Die Worte schienen nicht ihrem

Gehirn zu entspringen, sondern ihrem Mund, und mußten von dort erst den Weg bis zu ihren Ohren zurücklegen, bevor sie wahrnahm, was sie gesagt hatte.

»Nein?« fragte die hexe und grinste wieder. Ihre Klauen kratzten über die Platte, und sie begann mit beiden Händen dünne Kekse und schmale Kuchenstücke mit Zuckerguß in ihren Mund zu stopfen. Ihre schrecklichen Zähne mahlten knirschend; ihre langen schmutzigen Nägel gruben sich in die Kuchen; Krümel fielen auf ihr vorstehendes knochiges Kinn. Ihr Atem war süß und abstoßend. Es roch nach Totem, nach Verwestem. Ihr Kichern war ein tonloses Gackern. Ihr Haar wurde immer dünner; schuppige Kopfhaut schimmerte stellenweise hindurch.

»O ja, er liebte Spaße, mein Vadder«, sagte sie. »Lieben Sie Spaße und Witze, Fräulein? Hier ist einer: Mein Vadder hat mich geboren, nicht meine Mutter. Er hat mich aus seinem Arschloch geschissen.«

»Ich muß jetzt gehen«, hörte Beverly sich mit hoher ängstlicher Kinderstimme sagen - der Stimme eines kleinen Mädchens, das auf seiner ersten Party boshaft gekränkt worden ist. Ihre Knie waren weich. Sie war sich vage bewußt, daß in ihrer Tasse kein Tee war, sondern Scheiße, flüssige Scheiße, eine kleine Überraschung aus den Abwasserkanälen unter der Stadt. Und sie hatte davon getrunken, nicht viel, aber einen Schluck; o Gott, o Gott, o Jesus, bitte, bitte...

Die Frau schrumpfte vor ihren Augen zusammen, wurde immer magerer; ihr Gesicht glich einem verschrumpelten Apfel, und sie kicherte mit hoher kreischender Stimme und wiegte sich auf ihrem Stuhl hin und her.

»Oh, mein Vadder und ich sind eins«, sagte sie. »Ich und er, er und ich, und - meine Liebe - wenn Sie klug sind, so sollten Sie wegrennen, schleunigst dorthin zurückkehren, woher Sie gekommen sind, Sie sollten sich wirklich sehr beeilen, denn wenn Sie hierbleiben, wird Ihnen Schlimmeres widerfahren als nur der Tod. Niemand, der in Derry stirbt, stirbt wirklich, müssen Sie wissen. Früher wußten Sie das; glauben Sie es jetzt.«

Im Zeitlupentempo kam Beverly auf die Beine und wich vom Tisch und vor der Hexe zurück, voll Todesangst und ungläubigem Entsetzen - Ungläubigkeit, weil sie jetzt bemerkte, daß der hübsche kleine runde Tisch nicht aus dunklem Eichenholz, sondern aus Lebkuchen gefertigt war. Und während sie noch fassungslos darauf starrte, brach die Hexe, immer noch kichernd, mit ihren gelben schielenden Augen in eine Zimmerecke stierend, ein Stück vom Tisch ab und stopfe es sich in die schwarze Mundhöhle.

Beverly sah, daß die Tassen aus weißer Rinde waren, kunstvoll verziert mit blauem Zuckerguß. Die Bilder von Jesus und Kennedy an den Wänden im Nähzimmer waren aus fast durchsichtigem Zuckerwerk, und während sie hinschaute, streckte Jesus ihr die Zunge heraus, und Kennedy machte eine obszöne Handbewegung.

»Wir alle warten auf dich!« schrie die Hexe, und ihre Fingernägel kratzten über die Oberfläche des Lebkuchentisches und hinterließen tiefe Rillen. »O ja! O ja!«

Die Deckenlampen waren große Kugeln aus hartem Kandis. Die Wandverkleidung bestand aus Rahmbonbons. Beverly schaute hinab und sah,

daß ihre Schuhe auf dem Boden tiefe Spuren hinterließen - er war nicht aus Holz, sondern aus langen, schmalen Schokoladenstücken. Der Geruch nach Süßigkeiten war ekelhaft.

O mein Gott, es ist die Hexe aus Hansel und Gretel, vor der ich immer am meisten Angst hatte, weil sie die Kinder aufaß...

»Du und deine Freunde!« schrie die Hexe lachend. »In den Käfig mit euch! In den Käfig, bis der Ofen heiß ist!« Sie kreischte vor Lachen, und Beverly rannte auf die Tür zu, aber sie rannte wie im Traum, wie im Zeitlupentempo. Das Gelächter der Hexe schwirrte dröhnend um ihren Kopf herum wie eine Schar von Fledermäusen. Sie schrie und konnte sich nicht schreien hören. Der Flur stank nach Zucker und Nougat und Kaffee und künstlichen Erdbeeren. Der Türknopf - eine Kristallimitation, als sie hereingekommen war - war jetzt eine monströse Zuckerkugel.

Ich mache mir Sorgen um dich, Bewie... ich mache mir SCHRECKLICHE Sorgen!

Sie wirbelte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen und wehenden Haaren herum und sah, daß ihr Vater den Flur entlang auf sie zugestolpert kam; er trug das schwarze Kleid der Hexe und die Schädel-Kamee; teigig schlaffe Haut hing von seinem Schädel herab, seine Augen waren schwarz wie Obsidian, er ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Sein Mund war zu einem gräßlichen breiten Grinsen verzerrt.

Ich schlug dich, weil ich dich ficken wollte, Bewie, das war's, was ich in Wirklichkeit immer wollte, ficken wollte ich dich, ich wollte deine Muschi aufessen, ich wollte dich AUFESSEN, ich wollte dich in den Käfig stecken... und den Ofen heiß machen ... und deine Muschi betasten... deine dicke Muschi... und wenn sie dick genug zum Essen war, wollte ich sie aufessen... aufessen... AUFESSEN ...

Schreiend drehte sie den großen klebrigen Zuckerknopf und stürzte auf die Veranda hinaus, die mit Pralinen verziert war und deren Boden aus Lebkuchen bestand. In der Ferne sah sie verschwommen Autos fahren, und sie konnte auch eine Frau erkennen, die ein Lebensmittelwägelchen vom Supermarkt vor sich herschob.

Ich muß es bis dorthin schaffen, dachte sie. Dort draußen ist die Realität, wenn es mir nur gelingt, den Gehweg zu erreichen...

»Rennen wird dir auch nichts nützen, Bewie«, rief ihr Vater

(mein Vadder)

lachend. »Wir haben lange gewartet. Das wird ein Mordsspaß sein.«

Sie schaute wieder zurück, und jetzt trug ihr toter Vater nicht mehr das schwarze Kleid der Hexe, sondern das Clownskostüm mit den großen orangefarbenen Knöpfen. Es hatte eine Waschbärmütze auf dem Kopf, wie sie Ende der 5oer Jahre modern gewesen waren. In einer Hand hielt Es eine Traube Luftballons, in der anderen schwenkte es ein Kinderbein wie einen Trommelschlegel. Jeder Ballon trug die Aufschrift: Es kam aus dem Aussehen Weltall.

»Erzähl deinen Freunden, daß ich der letzte einer aussterbenden Rasse bin«, rief Es grinsend, während Es die Verandastufen hinabstolperte. »Der einzige Überlebende eines sterbenden Planeten. Ich bin gekommen, um alle Frauen zu rauben... alle Männer zu entführen... und um den Pepper-mint-Twist zu lernen!«

Es begann wie ein Verrückter, sich zu verrenken und zu zucken, die Bai-lons in einer Hand, das abgerissene blutende Kinderbein in der anderen. »Das Clownskostüm flatterte und wehte, aber Beverly spürte keinen Wind. Sie stolperte über ihre eigenen Beine und fiel der Länge nach hin, wobei sie die Wucht des Aufpralls mit ihren Händen gerade noch etwas dämpfen konnte. Die Frau mit dem Lebensmittel wägelchen blieb stehen und warf einen unschlüssigen Blick zurück, dann setzte sie ihren Weg etwas schneller fort.

Der Clown warf das Kinderbein weg. Es landete mit einem unbeschreiblichen Geräusch auf dem Rasen. Dann kam er auf sie zu. Sie lag immer noch auf dem Pflaster und war insgeheim überzeugt davon, daß sie jetzt jeden Moment aufwachen mußte - dies alles konnte nicht Wirklichkeit sein, es mußte einfach ein Traum sein...

Erst im letzten Moment, als der Clown schon seine gekrümmten, klauenartigen Finger nach ihr ausstreckte, begriff sie, daß es kein Traum war, Daß Es sie töten konnte, so wie Es die Kinder getötet hatte.

»Die Stare kennen deinen wahren Namen«, schrie sie Es plötzlich an. Es fuhr etwas zurück, und es kam Bev so vor, als hätte sich das Grinsen auf den echten Lippen innerhalb des breiten roten aufgemalten Grinsens für eine Sekunde zu einer Grimasse des Hasses und Schmerzes verzerrt... ja sogar der Angst. Aber vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet, und sie hatte jedenfalls absolut keine Ahnung, warum sie etwas so Verrücktes gerufen hatte - und doch gewann sie dadurch ein wenig Zeit.

Sie sprang auf und rannte, Bremsen quietschten, und eine heisere, sowohl wütende als auch erschrockene Stimme schrie: »Passen Sie doch auf, wo Sie hinrennen, Sie dumme Kuh!« Sie sah verschwommen den BäckereiLieferwagen, in den sie fast hineingerannt war wie ein Kind, das seinem Ball nachläuft; und dann stand sie auf dem Gehweg der anderen Straßenseite, keuchend, mit heftigen Herzstichen. Der Lieferwagen fuhr schon ein Stückchen weiter die Lower Main Street entlang.

Der Clown war verschwunden. Das Bein war verschwunden. Das Haus stand noch da, aber sie sah jetzt, daß es leer stand und allmählich verfiel; die Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Verandastufen zerbrochen.

War ich wirklich dort drin, oder habe ich das alles nur geträumt?

Aber ihre Jeans waren schmutzig, ihre gelbe Bluse staubbedeckt.

Und sie hatte Schokolade an den Fingern.

Sie wischte sie an ihren Jeans ab und entfernte sich rasch. Ihr Puls raste, ihr Kopf fühlte sich heiß, ihr Rücken hingegen eiskalt an.

Wir können Es nicht besiegen. Was immer Es auch sein mag, wir können Es nicht besiegen. Es will sogar, daß wir es versuchen - Es will die alte Rechnung begleichen. Und Es wird sich nicht mit einem Unentschieden zufriedengeben, nehme ich an. Wir sollten von hier verschwinden... möglichst rasch verschwinden...

Etwas strich an ihrer Wade vorbei, sanft wie eine Katzenpfote. Sie schrie leise auf und zuckte zusammen. Dann schaute sie hinunter und sprang zurück, eine Hand auf den Mund gepreßt.

Es war ein gelber Ballon, gelb wie ihre Bluse. In leuchtendem Blau stand darauf: Du hast völlig recht, beverly.

Und dann flog der Ballon in der leichten angenehmen Frühlingsbrise davon.

4. Richie Tozier nimmt seine Beine in die Hand

Na ja, so gut wie nichts, dachte Richie Tozier, während er die Outer Canal Street am Bassey Park entlangschlenderte. Seit der verrückten Schlußszene des Mittagessens im >Jade of the Orient< war er ziellos herumgelaufen und hatte versucht, den fürchterlichen Inhalt der Glückskuchen geistig irgendwie zu verarbeiten. Höchstwahrscheinlich war überhaupt nichts aus diesen Dingern rausgekommen, versuchte er sich einzureden. Vermutlich war es so eine Art Gruppenhalluzination gewesen, hervorgerufen durch all das unheimliche Zeug, über das sie geredet hatten. Der beste Beweis für diese Hypothese war die Tatsache, daß Rose nichts gesehen hatte. Natürlich, Be-verlys Eltern hatten damals das Blut im Badezimmer auch nicht gesehen, aber das war nicht dasselbe.

Nein? Und warum nicht?

»Weil wir jetzt erwachsen sind«, murmelte er, stellte aber fest, daß dieser Gedanke ihm weder logisch noch beruhigend vorkam; ebensogut hätte er irgendeine unsinnige Zeile aus einem Kinder-Abzählreim vor sich hin sagen können.

Er warf einen Blick nach links und sah das große Gebäude aus Glas, Ziegeln und Stahl, das Ende der 5oer Jahre so erhaben gewirkt hatte, jetzt aber ziemlich altmodisch und schäbig aussah.

Hier bin ich nun also wieder, dachte er, am verdammten City Center Building, dem Schauplatz jener anderen Halluzination. Oder jenes Traums. Oder was zum Teufel es auch immer gewesen sein mag.

Die anderen hatten in ihm immer den Klassenkaspar, den Spaßvogel gesehen, und er war ganz leicht wieder in diese Rolle geschlüpft (oh, aber wir sind alle wieder in unsere alten Rollen geschlüpft, ist dir das nicht aufgefallen? flüsterte sein Verstand). Und das war nicht einmal so ungewöhnlich. Er dachte, daß man so etwas vermutlich bei jedem High School-Klassentreffen nach zehn Jahren beobachten konnte - der Gescheittuer, der im College seine Berufung zum Priester entdeckt hatte, würde nach zwei Drinks automatisch wieder der alte Klugscheißer sein; der Große-Englisch-Spezialist, aus dem ein geschickter Autoverkäufer geworden war, würde plötzlich Vorträge über John Irving oder John Cheever halten. Und der Junge, der an Freitag- und Samstagabenden in einer Band gespielt und sich zum Geschichtsprofessor gemausert hatte, würde plötzlich mit einer Gitarre in der Hand bei der Kapelle sitzen und mit betrunkener, ausgelassener Fröhlichkeit >Gloria< oder >Wipe-Out< grölen.

Doch, so glaubte Richie, dieser Rückfall war eine Halluzination, nicht aber die jetzige Lebensweise. Vielleicht war das Kind der Vater des Mannes, aber Väter und Söhne hatten oft ganz verschiedene Interessen... und nur eine oberflächliche Ähnlichkeit. Und doch: du sagst >Erwachsene<, und das hört sich plötzlich wie totaler Unsinn an; wie sinnloses Wischi-Waschi. Warum ist das so, Richie? Warum?

»Weil Derry so unheimlich ist wie eh und je. Darum! Warum belassen wir's nicht einfach dabei.

Weil die Dinge nicht so einfach sind, deshalb.

Er selbst war ein Hanswurst gewesen, ein manchmal rüpelhafter, manchmal amüsanter Spaßvogel - es war für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, irgendwie zurechtzukommen, ohne sich von Burschen wie Henry Bowers total fertigmachen zu lassen oder einfach überzuschnappen. Im nachhinein begriff er, daß die Tatsache, daß sein Verstand zehn- oder zwanzigmal schneller arbeitete als der seiner meisten Mitschüler, einen Großteil seiner Probleme ausgelöst hatte. Seine Klassenkameraden hatten ihn für komisch, sonderbar, etwas unheimlich oder schlichtweg selbstmörderisch gehalten, weil sie seinen geistigen Höhenflügen einfach nicht folgen konnten. Später bekam man so was unter Kontrolle - entweder man bekam es unter Kontrolle, oder man fand dafür Ablaßventile wie beispielsweise Kinky Briefcase oder Buford Kissdrivel. Das hatte Richie in jenen Monaten entdeckt, nachdem er - aus einer Augenblickslaune heraus - in den Rundfunksender seines Colleges geschlendert war und dort schon nach seiner ersten Woche am Mikrofon alles gefunden hatte, was er sich jemals gewünscht hatte. Er war anfangs sehr gut gewesen; er war viel zu aufgeregt gewesen, um gut zu sein. Aber er hatte begriffen, daß er die Möglichkeit hatte, in diesem Beruf nicht nur gut, sondern hervorragend zu sein, und allein schon diese innere Gewißheit hatte ihn in Euphorie versetzt. Gleichzeitig hatte er auch begonnen, jenes wichtige Prinzip zu begreifen, das die Welt regiert - zumindest soweit es um Karriere und Erfolg geht: Man mußte den verrückten Kerl in seinem eigenen Innern finden, der einem das Leben schwermachte. Man mußte ihn in die Ecke treiben und packen. Aber man durfte ihn nicht umbringen, o nein. Für kleine Bastarde dieser Art wäre der Tod viel zu gut gewesen. Man mußte ihm ein Geschirr anlegen und dann anfangen zu pflügen. Der verrückte Kerl legte sich mächtig ins Zeug, sobald man ihn erst in die Spur gebracht hatte. Und er hielt einen bei Laune, amüsierte einen. Das war eigentlich auch schon das ganze Erfolgsrezept. Und das genügte vollständig.

Er war komisch gewesen, zugegeben, ein Lacher pro Minute, aber zuletzt hatte er die Alpträume überwunden, jene dunkle Rückseite seines vielen Lachens. Zumindest hatte er das geglaubt. Bis heute, als das Wort erwachsen plötzlich seinen Sinn für ihn verloren hatte. Und jetzt gab es noch etwas anderes, womit er sich auseinandersetzen mußte - mit dieser riesigen, idiotischen Statue von Paul Bunyan vor dem City Center.

Irgendwas muß es gegeben haben, hatte Bill gesagt.

Nichts. Na ja... so gut wie nichts. Da war die Statue von Paul Bunyan, Big Bill. Der Gegenstand jener Halluzination. Oder jenes Traums. Oder was immer es auch gewesen sein mag.

Zum zweitenmal an diesem Tag verspürte er plötzlich einen scharfen Schmerz in den Augen, und er riß mit leisem Stöhnen die Hände hoch... und gleich darauf war der Schmerz schon wieder vorbei. Richie fühlte sich nur noch etwas zittrig, und ihm war schwindelig zumute. Die Statue verschwamm vor seinen Augen, wurde schärfer, verschwamm und wurde schließlich wieder ganz scharf. Der legendäre Paul hatte die stattliche Größe von 20 Fuß, und der Sockel hob ihn noch 6 Fuß empor. Er stand da und lächelte auf die Fußgänger und Autofahrer auf der Outer Canal Street hinab, von seinem Platz vor dem City Center, das in den Jahren 1954/55 für ein später nie zustande gekommenes Jugend-Basketballteam errichtet worden war. Der Stadtrat von Derry hatte ein Jahr später Gelder für die Statue bewilligt. Sie war damals heiß umstritten, sowohl in den Versammlungen des Stadtrats als auch in den Leserbriefen an die >Derry News<. Manche waren der Meinung, es würde eine großartige Statue sein. Viele glaubten, sie könnte zu einer Touristenattraktion werden. Andere aber hielten die Idee einer Plastikstatue von Paul Bunyan für entsetzlich kitschig, unglaublich geschmacklos. Die Kunstlehrerin der High School hatte - daran erinnerte sich Richie noch genau - einen Leserbrief an die >News< geschrieben und gedroht, die Statue in die Luft zu sprengen, wenn diese Monstrosität tatsächlich in Derry aufgestellt werden würde. Grinsend dachte Richie jetzt, daß ihr Vertrag bestimmt nicht verlängert worden war.

Die Kontroverse - viel Lärm um nichts, was sehr typisch für solche Lokalangelegenheiten war - hatte etwa sechs Monate angedauert, und dann war die Statue, die in einer Plastikfabrik in Ohio einfach gegossen wurde, aufgestellt worden, zunächst allerdings noch in eine riesige Segeltuchplane gehüllt. Die Enthüllung hatte am 13. Mai 1957 stattgefunden, dem 150. Jahrestag der Stadterhebung Derrys, und wie es vorauszusehen gewesen war, brach ein Teil der Anwesenden in wüste Schmäh-rufe, der andere in wahren Begeisterungstaumel aus.

Bei der Enthüllung hatte sich gezeigt, daß Paul Latzhosen und ein rotweißkariertes Hemd trug (beides war vorherzusehen gewesen). Sein Bart war herrlich schwarz und herrlich dicht und herrlich holzfällerartig. Über einer Schulter trug er eine wahrhaft riesige Axt, und er grinste unermüdlich vor dem Hintergrund des Himmels, der an jenem Tag so blau gewesen war wie die Haut von Pauls berühmtem Gefährten (der bei der Enthüllung nicht zutage kam; der Kostenvoranschlag für einen blauen Ochsen war umwerfend hoch gewesen).

Die bei der Enthüllungszeremonie anwesenden Kinder (es waren Hunderte, und der neunjährige Richie Tozier - in Begleitung seines Vaters -war einer davon) waren völlig hingerissen von dem Plastikriesen, der in den Himmel emporragte. Eltern hoben ihre Kleinkinder auf den hohen quadratischen Sockel, auf dem Paul stand, und beobachteten amüsiert -zugleich aber auch etwas besorgt -, wie die Kleinen lachend über Paul Bunyans riesige Plastikstiefel krabbelten und kletterten.

Es war im März des folgenden Jahres gewesen, als Richie Tozier sich erschöpft und verängstigt auf eine der Bänke vor der Statue fallen ließ, nachdem er während einer Verfolgungsjagd, die von seiner Schule durch einen Großteil der Innenstadt geführt hatte, Bowers, Criss und Huggins nur ganz knapp entkommen war. Es war ihm schließlich gelungen, sie in der Spielwarenabteilung von Freese's Department Store zu überlisten.

Diese Filiale von >Freese< war natürlich im Vergleich zu dem riesigen Kaufhaus in Bangors Innenstadt ziemlich bescheiden, aber Henry Bowers war ganz dicht hinter ihm gewesen, und Richie - dessen Mundwerk ihn natürlich wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte - war schon total erschöpft. Deshalb erschien ihm das Kaufhaus als letzter Zufluchtsort, und mit einem plötzlichen Seitensprung rettete er sich durch die Drehtür ins Innere. Henry, der den Mechanismus solch komplizierter

Vorrichtungen wie Drehtüren offensichtlich nicht kapierte, klemmte sich fast die Finger ein, als er ihn doch noch zu packen versuchte.

Während Richie mit wehendem Hemd einen Gang entlangsauste, hörte er die Drehtür ein paarmal laut knallen und begriff, daß die Großen Drei immer noch hinter ihm her waren. Er lachte, aber das war nur ein nervöser Tick; sein Herz war so angsterfüllt wie das eines Kaninchens in einer Drahtschlinge. Diesmal wollten sie ihn richtig verprügeln (damals hatte Richie noch keine Ahnung davon, daß die drei - insbesondere aber Henry - im Juni außer vor Mord vor kaum etwas zurückschrecken würden, und er wäre vor Angst erbleicht, wenn ihm jemand erzählt hätte, daß es im Juli zu der apokalyptischen Steinschlacht kommen würde, bei welcher der Klub der Verlierer einen gewissen Mike Hanion in seiner Mitte willkommen heißen würde). Und dabei war es um eine so dumme, wirklich alberne Sache gegangen.

Die Fünfkläßler, unter ihnen auch Richie, waren in die Turnhalle gegangen; ihre Parallelklasse, darunter auch Henry Bowers, war gerade herausgekommen. Die Wasserrohre an der Decke tropften wieder einmal, aber Mr. Fazio war noch nicht dazu gekommen, sein Schild Vorsicht! nasser fussboden! aufzustellen. Henry war ausgerutscht und mit aller Wucht auf seinem Hintern gelandet.

Und bevor er ihn daran hindern konnte, hatte Richies Verräter-Mund gerufen: »O weia, wenn der Arsch nur nicht aus dem Leim gegangen ist!«

Sowohl Henrys als auch Richies Klassenkameraden hatten natürlich schallend gelacht, aber Henry hatte nicht einmal gelächelt, als er sich hochrappelte; nur eine dumpfe Zornesröte war ihm vom Nacken in den Kopf gestiegen. »Ich seh' dich später, Vier-Auge!« hatte er gesagt. Das Gelächter war verstummt, und die Jungen hatten Richie wie einen Todeskandidaten angesehen. Henry hatte sich entfernt, mit einem großen nassen Fleck auf der Hose, und bei diesem Anblick hatte Richies selbstmörderisch witziger Mund sich schon wieder geöffnet... aber diesmal hatte Richie sich fast die Zungenspitze abgebissen, als er ihn mit aller Kraft wieder schloß.

Na ja, vielleicht vergißt er's, hatte er unbehaglich beim Umziehen gedacht. Verdammt, soviel Gehirnzellen hat er ja schließlich nicht.

»Du bist ein toter Mann, Tozier!« hatte Vince Taliendo gesagt, während er seine Turnhose hochzog. Er hatte das mit einem gewissen traurigen Respekt gesagt, der nicht gerade zur Besserung von Richies Laune beitrug. »Aber mach dir nichts draus, ich bring' Blumen zur Beerdigung mit.«

»Schneid dir die Ohren ab, dann kannst du sogar Blumenkohl mitbringen«, hatte Richie schlagfertig erwidert, und alle hatten gelacht, sogar Taliendo. Sie hatten alle gut lachen, sie saßen jetzt gemütlich zu Hause, hörten >Bandstand< oder schauten sich im Fernsehen >The Mickey Mouse Club< an, während Richie schweißüberströmt durch die Abteilung für Damenwäsche hetzte. Eine Frau drehte sich flüchtig nach ihm um, bevor sie sich wieder den Playtex-Korsetts zuwandte - und Bowers und seine beiden Gefolgsmänner kamen die Treppe hinabgestürzt.

Henry hatte es natürlich nicht vergessen. Richie hatte die Schule vorsichtshalber durch den Hinterausgang verlassen, aber Henry hatte dort -ebenfalls vorsichtshalber - Belch Huggins als Aufpasser postiert. Richie hatte ihn zuerst gesehen - sonst hätte es überhaupt keine Verfolgungsjagd gegeben. Belch hatte gerade in die andere Richtung geschaut, eine Camel in einer Hand, während er sich mit der anderen verträumt am Hintern kratzte. Mit laut pochendem Herzen hatte Richie sich über den Spielplatz geschlichen und war schon fast auf der Charter Street gewesen, als Belch sich zufällig doch noch umgedreht und ihn gesehen hatte. Das war der Beginn dieser Verfolgungsjagd gewesen.

Die Spielzeugabteilung war fürchterlich leer. Nicht einmal ein Verkäufer war zu sehen - ein willkommener Erwachsener, der hätte eingreifen können. Er hörte sie näher kommen, die drei Elefanten der Apokalypse. Und er konnte einfach nicht mehr rennen. Bei jedem Atemzug durchzuckte ein scharfer Schmerz seine ganze linke Seite.

Sein Blick fiel auf den Notausgang, und er faßte neuen Mut. Auf einem Schild über der Türstange stand nämlich: nur notausgang! alarm wird ausgelöst!

Richie rannte einen Gang entlang, vorbei an Donald-Duck-Schachtel-männchen, amerikanischen Armeepanzern, die in Japan, und Plastikaffen, die in Taiwan hergestellt worden waren. Dann drückte er mit aller Kraft gegen die Türstange. Die Tür öffnete sich, und kühle Märzluft flutete herein. Heulend ging die Alarmsirene los. Mit einem Satz sprang Richie zurück und ließ sich im nächsten Gang auf Hände und Knie fallen.

Henry, Belch und Victor stürzten gerade noch rechtzeitig in die Spielzeugabteilung, um zu sehen, wie die Notausgangstür zufiel und die Sirene verstummte. Sie rasten darauf zu, Henry als erster, das Gesicht vor Anstrengung und Wut verzerrt.

Jetzt kam auch ein Verkäufer angerannt. Er trug einen blauen Nylonkittel über einem buntkarierten Sportsakko und hatte eine Brille mit pinkfarbe-nem Gestell auf der Nase. Richie dachte, daß er eine unheimliche Ähnlichkeit mit Wally Cox in der Rolle des Mr. Peepers hatte, und er mußte sich den Arm vor seinen Verräter-Mund halten, um nicht in wildes, hysterisches Gelächter auszubrechen.

»He, Jungs!« schrie Mr. Peepers. »Ihr könnt dort nicht raus! Das ist ein Notausgang! Ihr... he... ihr Jungs...!«

Victor warf ihm einen etwas nervösen Blick zu, aber Henry und Belch drehten sich nicht einmal um, und Victor folgte ihnen. Erneut ging die Alarmsirene los, als die drei auf die Gasse hinter dem Kaufhaus hinausrannten. Sie war noch nicht wieder verstummt, als Richie schon aufgesprungen war und in die andere Richtung trabte, zurück zur Abteilung für Damenwäsche.

»Ihr Jungs bekommt hier alle Hausverbot!« schrie der Verkäufer hinter ihm her.

Richie rief ihm über die Schulter hinweg mit seiner >Stimme der Zeternden Oma< zu: »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie genau wie Mr. Peepers aussehen, junger Mann?«

Und da saß er nun, fast eine Meile vom Kaufhaus entfernt, und hoffte, in Sicherheit zu sein. Zumindest bis zum nächsten Tag. Er war sehr müde. Er saß auf der Bank, die etwas links von der Statue stand, und versuchte, sich ein wenig zu erholen. Gleich würde er aufstehen und nach Hause gehen,

aber im Moment war es sehr angenehm, hier einfach in der Nachmittagssonne zu sitzen, die versprach, daß der Frühling nun bald wirklich anbrechen würde.

Jenseits des Rasens konnte er an der Überdachung des Eingangs zum City Center in großen blauen transparenten Leuchtbuchstaben folgende Ankündigung lesen:

HALLO TEENS!

KOMMT ALLE AM 28. MÄRZ!

ZURARNiE >Woo-Woo< GINSBERGROCKAND ROLL SHOW!

JERRYLEELEWIS

THEFLAMINGOS

FRANKIE LYMON & THE TEENAGERS GENE VINCENT & THE BLUE CAPS THEMELLOWTONES EDDIE & THE CRUISERS

Das war eine Show, zu der er wirklich sehr gern gehen würde, dachte er schläfrig, aber er wußte, daß seine Mutter das nie erlauben würde. Sie gab zwar zu, in den 4oer Jahren für Frank Sinatra geschwärmt zu haben, aber ebenso wie Bill Denbroughs Mutter wollte sie von Rock 'n' Roll nichts wissen. Chuck Berry war ihr ein Greuel, und sie erklärte, daß sich ihr bei Richard Penneman - unter seinen Fans besser bekannt als Little Richard -der

Magen umdrehe.

Richies Vater war in bezug auf dieses Thema neutral, aber Richie wußte tief im Herzen, daß seine Mutter nicht mit sich reden lassen würde, was Rock 'n' Roll anging. Ihm selbst gefiel das bißchen Rock 'n' Roll, das er bisher gehört hatte, großartig (seine beiden Hauptquellen waren >American Bandstand< auf Kanal 7 und der WPTR aus New York, der hier aber nur sehr schlecht zu empfangen war); er spürte in dieser Musik eine große Kraft, eine Macht, die eines Tages vielleicht allen schmächtigen Kindern und Verlierern dieser Welt gehören würde, eine verrückte, ausgelassene Kraft, die einen sowohl erschlagen als auch in Ekstase versetzen konnte. Seine besonderen Ideale waren Fats Domino, weil gegen den sogar Ben Hanscom mager aussah, und Buddy Holy, weil der eine Brille trug.

Na ja, eines Tages würde er seinen Rock 'n' Roll haben, wenn er wollte, aber nicht dieses oder nächstes Jahr. Mit solchen Gedanken beschäftigt, wandte Richie seine Blicke wieder der Statue von Paul Bunyan zu... und dann... na ja, er mußte eingeschlafen sein. Denn was dann geschehen war, konnte man einfach unmöglich glauben. Solche Dinge passierten nur in Träumen.

Und als Richie Tozier nun, 27 Jahre später - nachdem er soviel Rock and Roll bekommen hatte, wie er nur wollte, diese Musik aber immer noch heiß liebte - auf derselben Bank saß und zum City Center hinüberblickte, sah er, daß die blauen Leuchtbuchstaben mit gräßlicher Zufälligkeit verkündeten:

14. JUNI

THE J. GEIl S BAND & THE BLEND KARTENVERKAUF HIER ODER AN JEDEMVORVERKAUFSSCHALIER

Er schaute wieder zu Paul Bunyan empor, dem Schutzpatron dieser

Stadt, die - den alten Geschichten zufolge - entstanden war, weil die Baumstämme sich hier stauten und herausgeholt wurden, wenn sie flußabwärts trieben. Es hatte eine Zeit gegeben, da im Frühling sowohl der Penobscot als auch der Kenduskeag von einem Ufer bis zum anderen so mit nassen schwarzen Baumstämmen verstopft waren, daß man sie - wenn man geschickt war - trockenen Fußes überqueren konnte. So hatte man jedenfalls in Richies Kindheit erzählt.

Na, alter Paul, dachte er, während er die große Plastikstatue betrachtete. Was hast du so alles getrieben, seit ich hier weggezogen bin? Hast du neue Flußbetten geschaffen, indem du deine Axt am Boden hinter dir hergeschleift hast, wenn du müde heimgingst? Hast du neue Seen geschaffen, weil du eine Badewanne haben wolltest, die groß genug war, damit du bis zum Hals in Wasser sitzen konntest? Hast du noch mehr Kindern Angst eingejagt? Du hast mir an jenem Tag nämlich Angst eingejagt, das kann ich dir sagen.

Da hatte er in der warmen Märzsonne gesessen und daran gedacht heimzugehen und >Bandstand< einzuschalten, und plötzlich hatte ein kalter Windstoß ihm die Haare aus der Stirn geweht, und er hatte aufgeschaut, und Paul Bunyans riesiges Plastikgesicht war direkt vor ihm gewesen und hatte sein ganzes Blickfeld ausgefüllt, größer als eine Filmleinwand. Der Luftstoß war dadurch entstanden, daß Paul sich heruntergebeugt hatte. Seine Axt ruhte nicht mehr auf seiner Schulter; er stützte sich auf ihren Stiel und blickte Richie direkt ins Gesicht. Er lächelte immer noch, aber es war kein freundliches Lächeln mehr, sondern ein unangenehmes hämisches Grinsen.

»Ich werde dich auffressen«, sagte der Riese mit tiefer, dröhnender Stimme, die sich anhörte, als ob Felsbrocken bei einem Erdbeben gegeneinanderschlügen. »Wenn du mir nicht sofort meine Harfe und meine Henne und meine Goldsäcke zurückgibst, werde ich dich... auffressen!«

Der Atem bei diesen Worten glich einem Orkan und ließ Richies Hemd wild flattern. Dieser Atem war warm, stank aber süßlich nach Verwesung. Richie drückte sich an die Banklehne, mit schreckensweit aufgerissenen Augen und gesträubten Haaren.

Dann begann der Riese zu lachen, packte die Axt mit beiden Händen und hob sie langsam hoch, und Richie konnte hören, wie sie die Luft durchschnitt - sie verursachte ein tiefes, unheimlich pfeifendes Geräusch: SWOPPPPPP! - und Richie begriff plötzlich, daß der Riese ihn mit seiner Axt spalten wollte.

Er war wie gelähmt, und eine träge Apathie überkam ihn. Was spielte es schon für eine Rolle? Es war nur ein Traum. Gleich würde er aufwachen.

»Das stimmt«, brummte der Riese. »Du wirst aufwachen - in der Höllel« Und im letzten Moment, als die Axt sich schon wieder senkte, mit einem schärferen Ton durch die Luft pfiff, begriff Richie entsetzt, daß es kein Traum war, und wenn doch, so war es ein Traum, der tödlich enden konnte.

Mit einem lautlosen Schrei ließ er sich von der Bank auf den Kies fallen und bemerkte nicht einmal, daß er sich den Arm aufschürfte. Das Geräusch der niedersausenden Axt war ohrenbetäubend, und das Grinsen des Riesen hatte sich in eine irre Grimasse aus Haß und Mordlust verwandelt. Er -es - bleckte die Zähne, so daß das gräßlich rote Plastikzahnfleisch entblößt wurde.

Mit einem mörderischen swiiiipppppp! durchschnitt die scharfe Axt die Luft und traf genau die Bank, auf der Richie soeben noch gesessen hatte. Der Knall glich einem Kanonenschuß. Die grüne Bank war säuberlich in zwei Teile gespalten, aber die Wucht des Schlags war so groß, daß beide Teile in kleine Holzsplitter zerfielen, die in die Luft stoben und dann auf den Kies fielen wie kleine grüne Grashalme.

Schreiend schob Richie sich mit den Absätzen weiter, während er sich einen Arm vors Gesicht hielt, um es vor den herniederregnenden Holzsplittern zu schützen. Als er ihn dann wieder sinken ließ, bot sich ihm ein Anblick, der hätte komisch sein können, wenn er nicht so fürchterlich gewesen wäre: Paul Bunyan stieg von seinem Sockel herab. Sein Kopf war zur Seite geneigt, und seine Augen - jedes so groß wie ein Kanalschachtdeckel -stierten den auf dem Boden liegenden Jungen an.

Die Erde bebte, als er seinen Stiefel aufsetzte. Kies stob hoch. Der Stiefel sank ein Stück in den Boden ein.

Richie rollte auf den Bauch und stemmte sich hoch. Seine Beine versuchten schon zu rennen, er verlor das Gleichgewicht und fiel wieder der Länge nach hin. Zwischen den ihm ins Gesicht fallenden Haaren hindurch konnte er den Verkehr auf der Canal Street sehen; die Autos fuhren dahin, so als wäre nichts geschehen; kein Mensch schien zu bemerken, daß die Statue plötzlich zum Leben erwacht war und mit einer fast hausgroßen Axt einen kleinen Jungen verfolgte.

Plötzlich war die Sonne weg, und er lag im Schatten - und dieser Schatten hatte die Form eines Mannes.

Irgendwie kam er wieder auf die Beine und rannte, was das Zeug hielt. Er rannte auf den Gehweg zu und hörte hinter sich wieder jenes schreckliche Geräusch, ein Geräusch wie von einem dahinrasenden Gespensterzug: swidipppppp!

Mit einem neuerlichen erderschütternden Dröhnen grub sich Paul Buny-ans Axt dicht hinter Richie tief in den Boden. Einen Moment später war er aus dem Schatten heraus und stand wieder in der Sonne. Keuchend riskierte er über die Schulter hinweg einen Blick zurück.

Die Statue stand auf ihrem Sockel, die Axt auf der Schulter, und grinste zum Himmel empor. Die Bank, die in grüne Splitter gespalten worden war, stand heil und unversehrt da. Der Kies war nur an einer Stelle aufgewühlt -dort, wo er von der Bank gefallen war. Es waren auch keine tiefen Fußspuren von der Größe eines Dinosauriers, aber von der Form eines Männerstiefels zu sehen.

Richie lachte etwas zittrig und unsicher. Er stand noch eine Weile da und wartete, ob die Statue sich wieder bewegen würde - vielleicht winken oder die Axt von einer Schulter auf die andere heben oder herabsteigen und ihn wieder verfolgen würde - aber natürlich tat sie nichts dergleichen. Sein Verstand arbeitete schon damals bemerkenswert und logisch (sozusagen vorjuristisch), und er kam zu dem Schluß, daß er eingeschlafen sein mußte, geträumt hatte und dabei von der Bank gefallen war. Immer noch im Banne seines Traums war er dann fast 30 Schritt weit gerannt, bevor er gemerkt hatte, daß er wach war. Ja, so ergab die ganze Sache einen Sinn. Nach seinem knappen Entkommen vor den drei Raufbolden hatte der Traum sogar seine eigene bizarre Logik.

Trotzdem reichte es Richie. Der Traum war sehr real gewesen. Er machte sich auf den Heimweg, und obwohl es eine Abkürzung gab, die an der Statue vorbeiführte, hatte er verständlicherweise beschlossen, lieber den weiteren Weg zu nehmen. Aber schon am Abend hatte er den Vorfall fast vergessen gehabt.

Und nun saß er wieder auf jener Bank, ein teuer gekleideter Mann in moosgrünem Sportsakko aus einem Geschäft am Rodeo Drive, Bass Wee-juns an den Füßen, und blickte zu Paul Bunyan empor. Die alte Erklärung leuchtete ihm immer noch ein: Es war ein Traum gewesen. Wenn es sein mußte, konnte er zwar vermutlich auch an Monster glauben - schließlich hatte er genügend von solchen Kerlen wie Idi Amin Dada und Reverend Jim Jones gehört und gelesen, und wenn er an sie glauben konnte (und das mußte er ja wohl oder übel, obwohl es ihn sehr bedrückte), so konnte er wohl auch, zumindest eine .Zeitlang, an Mike Hanions Es glauben. Er konnte an ein Monster glauben, das die verschiedensten Gesichter annahm (warum auch nicht - im Dutzend billiger!), aber eine 20 Fuß hohe Plastikstatue, die zuerst versuchte, einen mit ihrer Axt zu erschlagen, und die dann einfach von ihrem Sockel herabstieg, um einen ein bißchen zu jagen? Das war denn doch ein bißchen viel verlangt. Es...

Plötzlich überfiel ihn wieder ohne jede Vorwarnung jener messerscharfe Schmerz in den Augen, und er schrie gequält auf. Diesmal hielt der Schmerz länger an und war noch stärker als die beiden ersten Male. Instinktiv griff Richie sich mit den Zeigefingern an die Unterlider, um seine Kontaktlinsen herauszunehmen. Vielleicht ist es irgendeine Infektion, dachte er. Mein Gott, wie das brennt!

Mit den alten harten Linsen hatte er zweimal Infektionen gehabt, und beim erstenmal, im College, hatte er eine Woche lang mit irgendeinem gelben Zeug von Medizin um die Augen herumlaufen müssen. Er hatte wie ein Waschbär mit Gelbsucht ausgesehen, aber er hatte trotzdem nicht aufgegeben. Obwohl er sich nur noch sehr verschwommen an seine Kindheit erinnern konnte, schallten ihm Spottrufe wie He, Vier-Auge! und He, Flaschengesicht! in den Ohren, und er war fest entschlossen, bei den Kontaktlinsen zu bleiben. Die weichen Linsen hatten sich dann als Ideallösung erwiesen, und er hatte damit nie irgendwelche Probleme gehabt... bis jetzt.

Er zog die Lider etwas nach unten und wollte die Linsen gerade durch einmaliges kurzes Blinzeln herausfallen lassen (die nächste Viertelstunde würde er dann zwar damit verbringen müssen, halbblind im Kies nach ihnen zu tasten, aber, mein Gott, das tat ja so weh, als hätte er Spikes in den Augen)... da war der Schmerz auf einmal wie weggeblasen. Seine Augen tränten noch einen Moment, dann war alles wieder völlig normal.

Langsam ließ er die Hand sinken. Er hatte starkes Herzklopfen. Und plötzlich fiel ihm der einzige Horrorfilm ein, der ihn als Kind wirklich ge-ängstigt hatte, vielleicht Weil er wegen seiner Brille und seiner schlechten Augen soviel Spott einstecken mußte, weil er soviel Zeit damit verbrachte, sein Gesicht im Badspiegel anzustarren - die Nase fast ans Glas gepreßt und den Atem anhaltend, damit es nicht beschlug - und sich zu fragen, warum Gott es für nötig gehalten hatte, ihn mit so beschissenen Augen zu strafen. Jener Film war >The Crawling Eye< - >Das kriechende Auge< - mit Forrest Tuk-ker gewesen. Die anderen Kinder hatten sich halb totgelacht, aber er hatte sich bleich und kalt und entsetzt an seinen Sitz gepreßt, als das schreckliche gallertartige Ding aus dem künstlichen Nebel eines englischen Filmstudios hervorkam und seine Tentakel bewegte. Das war wirklich schlimm gewesen, die Verkörperung von hunderterlei vagen Ängsten. Das war wirklich sehr schlimm gewesen.

Obwohl es warm war, seit die Wolkendecke sich aufgelöst hatte, fröstelte Richie plötzlich und beschloß, ins Hotel zurückzugehen und ein Nickerchen zu halten. Er war fast die ganze Nacht hindurch geflogen und Auto gefahren, und die Schmerzen in seinen Augen rührten vermutlich von Übermüdung her. Für einen Tag hatte er wirklich genug Schocks erlebt, und er war auch weiß Gott genug herumgelaufen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, wie er in Gedanken vom Hundertsten ins Tausendste kam, wie ihm Dinge einfielen, an die er seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte: die Statue, der alte Streit um Rock 'n' Roll, der bei ihm zu Hause von Zeit zu Zeit ausgebrochen war, seine Brille, jener Horrorfilm. Es wurde wirklich Zeit, ein paar Runden zu schlafen; anschließend würde er bestimmt wieder bei klarem Verstand sein.

Er erhob sich, und dann fiel sein Blick auf das Werbeplakat vor dem City Center, und er ließ sich wieder auf die Bank fallen und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.

WILLKOMMEN zu HAUSE, RICHIE TOZIER!

Zu EHREN DER HEIMKEHR DES >MANNES DER TAUSEND STIMMEN< PRÄSENTIERT CITY CENTERDIE >ROCK-SHOW DERTOTEN<

BUDDY HOLLY RLCHIE VALENS THE BLG BOPPER

FRANKIE LYMON GENE VINCENT BOBBY FÜLLER

HAUSKAPELLE

JIMI HENDRIX ERSTE GITARRE JOHN LENNON RHYTHMUSGITARRE EDDIE TOWSON BASSGITARRE KEITH MOON SCHLAGZEUG WILLKOMMEN zu HAUSE, RICHIE! AUCH DU BIST TOT! Er hatte das Gefühl, plötzlich keine Luft mehr zu bekommen... und dann hörte er wieder jenes Geräusch, jenes mörderische swiiippppp! Er ließ sich von der Bank auf den Kies fallen und dachte dabei: Das versteht man also unter einem >Deja-vu-Erlebnis<, jetzt weißt du es, du wirst nie wieder fragen müssen,.

Er prallte mit der Schulter auf und rollte sich ab. Dann warf er einen Blick auf die Statue von Paul Bunyan - nur war es nicht mehr Paul Bunyan. Statt dessen stand dort oben der Clown, 20 Fuß Farbenpracht in Plastik; sein geschminktes Gesicht ragte bösartig aus einer komischen Halskrause empor. Auf der Vorderseite seines silbrigen Kostüms hatte es orangefarbene Pomponknöpfe, aus Plastik gegossen, jeder so groß wie ein Volleyball. Anstatt einer Axt hatte diese Erscheinung mit dem breiten roten Grinsen und den orangefarbenen Haarbüscheln a la Bozo eine Traube

Plastikballons in der Hand, und auf jedem Ballon stand: für mich immer noch rock and roll und darunter: richie toziers rock-show der toten.

Richie kroch auf Händen und Füßen rückwärts. Eine Ärmelnaht an seinem Sportsakko platzte auf. Er kam mühsam auf die Beine, blickte hoch und sah, daß der Clown mit rollenden Augen auf ihn herabschaute.

»Ich hab' dir Angst eingejagt, was, Richie?« brummte er.

Und Richie hörte sich antworten: »Billige Überrumpelungstaktik, Bozo. Weiter nichts.«

Der Clown nickte grinsend. Die roten Lippen teilten sich und enthüllten hauerartige Zähne, die rasierklingenscharf aussahen. »Ich könnte dich jetzt schnappen, wenn ich wollte«, sagte es. »Aber ich möchte mir den Riesenspaß nicht verderben.«

»Auch mir wird es Spaß machen«, hörte Richie sich wieder sagen. »Und den größten Spaß werde ich haben, wenn wir dich schnappen und es dir endgültig an den Kragen geht, Baby.«

Das Grinsen des Clowns wurde immer breiter. Er hob eine weiß behandschuhte Hand, und wie an jenem Tag vor 27 Jahren spürte Richie, wie der dabei entstehende Luftzug ihm die Haare aus der Stirn blies. Der Clown streckte seinen Zeigefinger aus - er war so groß wie ein Balken.

Groß wie ein Balken, dachte Richie zusammenhanglos, und dann überfiel ihn wieder jener Schmerz - rostige Spikes, die brutal in seine Augen getrieben wurden -, und er schrie auf.

»Bevor du den Splitter aus dem Auge deines Nächsten ziehen willst, solltest du des Balkens in deinem eigenen gewahr werden«, rezitierte der Clown-Riese mit dröhnender Stimme, und Richie konnte seinen Atem riechen, einen süßen Verwesungsgestank.

Dann verebbte der Schmerz wieder.

Er blickte hoch und wich hastig einige Schritte zurück. Der Clown beugte sich herab, die behandschuhten Hände auf seine Knie in den lustigen Hosen gestützt.

»Sollen wir noch ein bißchen spielen, Richie?« fragte es mit seiner dröhnenden Stimme. »Wie war's, wenn ich auf deinen Unterleib deute und dir Prostatakrebs beschere? Ich kann auch auf deinen Kopf deuten und dich mit einem guten alten Gehirntumor beglücken. Oder ich kann auf deinen Mund deuten, und deine blöde Plapperzunge wird herausfallen. Ich kann das tun, Richie. Willst du's sehen?«

seine Augen wurden immer größer, und in jenen schwarzen Pupillen, die so groß wie Korbbälle waren, sah Richie die wahnsinnige Dunkelheit, die jenseits des Universums herrschen mußte; er sah ein perverses Glück, das ihn um den Verstand zu bringen drohte. In diesem Moment verstand er, daß es das alles vermochte, das alles und noch mehr: Es konnte seine Füße in Hufe verwandeln, ihm einen Schwanz wachsen lassen, aus seinen Zähnen Albinokäfer machen, die ihm im Mund herumkriechen würden, ES konnte ihn in einen Frosch oder eine Mücke oder sonstwas verwandeln.

Und trotzdem hörte er sich wieder sprechen, aber diesmal weder mit seiner eigenen Stimme noch mit einer der von ihm erfundenen, sondern mit einer Stimme, die er nie zuvor gehört hatte. Später erzählte er den anderen

zögernd, es sei so eine Art Jazz-Nigger-Stimme gewesen, laut und stolz, kreischend und sich selbst parodierend. »Laß ja die Finger von mir, mein Bester!« brüllte er und lachte, so unglaublich das auch schien. »Mir kannst du nicht an die Karre pissen! Ich bin nämlich selbst unübertrefflich, ja geradezu einsame Spitze! Und deshalb kannst du mich mal am Arsch lecken, du widerwärtige Dooffresse!«

Richie glaubte zu sehen, daß der Clown etwas zurückschreckte, aber er hielt sich nicht lange damit auf, sich zu vergewissern. Er rannte mit wehendem Sakko, so schnell er nur konnte, und es war ihm völlig gleichgültig, daß ein Vater, der mit seinem zwei- oder dreijährigen Sohn stehengeblieben war, um Paul Bunyan zu bewundern, ihn anstarrte, als hätte er plötzlich den Verstand verloren. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, Leute, dachte Richie, kommt es mir sogar so vor, als hätte ich wirklich den Verstand verloren.

Und dann donnerte die Stimme des Clowns hinter ihm her. Der Vater des kleinen Jungen hörte nichts, aber das Gesicht des Bundes verzerrte sich plötzlich vor Angst, und es begann zu weinen. Der Vater nahm den Kleinen auf den Arm und drückte ihn bestürzt an sich. Trotz seiner eigenen Angst beobachtete Richie diese kleine Nebenepisode sehr genau. Die Stimme des Clowns schien zwischen Ärger und Fröhlichkeit zu schwanken, vielleicht war sie aber auch nur ärgerlich:

»Wir haben hier unten des AUGE ... des KRIECHENDE AUGE haben wir hier unten. Du kannst jederzeit runterkommen und es dir anschauen. Wann immer du willst. Hörst du mich, Richie? Bring dein Yo-Yo mit und ein paar Hula-Hupp-Rei-fen. Und sag Beverly, sie soll einen weiten schwingenden Rock mit vier oder fünf Petticoats tragen. Und den Ring ihres Mannes soll sie um den Hals tragen! Und Eddie soll seine zweifarbigen Sportschuhe anziehen! Wir werden Be-Bop spielen, Richie! Wir werden aaalleHITS spielen!«

Auf dem Gehweg angelangt, wagte Richie einen Blick zurück, und was er sah, war alles andere als beruhigend. Paul Bunyan war immer noch verschwunden, aber jetzt war auch der Clown verschwunden. An ihrer Stelle stand jetzt eine 20 Fuß hohe Plastikstatue von Buddy Holly. Er trug eine runde Ansteckplakette auf dem schmalen Aufschlag seines Sportsakkos. richte toziers rock-show der toten stand darauf.

Ein Bügel von Buddys Brille war mit Klebestreifen geflickt.

Der kleine Junge weinte immer noch hysterisch, und sein Vater ging mit ihm rasch in Richtung Stadtmitte. Um Richie machte er dabei einen weiten Bogen.

Richie setzte sich wieder in Bewegung und versuchte, nicht über das nachzudenken,

(wir werden aaalle hits spielen! )

was soeben geschehen war. Er wollte jetzt nur an eines denken: an den riesigen Scotch, den er in der Hotelbar trinken würde, bevor er sich dann ins Bett haute. Ein riesiger Scotch gegen irgendwelche Alpträume.

Bei diesem Gedanken fühlte er sich etwas besser. Er drehte sich noch einmal um, und angesichts der Tatsache, daß Paul Bunyan wieder grinsend auf seinem Sockel stand, die Plastikaxt über der Schulter, fühlte er sich noch besser. Richie nahm die Beine in die Hand, um möglichst rasch eine große Entfernung zwischen sich und der Statue zu schaffen. Er begann sogar ge-

rade schon wieder über die Möglichkeit von Halluzinationen und ähnlichem Zeug nachzudenken, als der Schmerz in den Augen ihn mit solcher Kraft überfiel, daß er heiser aufschrie. Ein hübsches junges Mädchen, das ein Stückchen vor ihm dahinschlenderte und verträumt Schaufenster anschaute, drehte sich um, zögerte kurz und ging dann auf ihn zu.

»Ist alles in Ordnung, Mister?« fragte es, und Richie war sehr dankbar für die Anteilnahme.

»Es sind meine Kontaktlinsen«, sagte er gepreßt. »Meine verfluchten Kontaktlin... o mein Gott, das brennt ja wahnsinnig!«

Diesmal stieß er sich die Zeigefinger fast in die Augen, so rasch riß er seine Hände hoch. Er zog die Unterlider herunter und dachte: Ich werde sie nicht rausbringen, ich weiß, daß ich sie nicht rausbringen werde, und es wird immer weiter so brennen und brennen und brennen...

Aber nach einmaligem Blinzeln fielen sie wie immer heraus. Die klar umrissene Welt mit ihren deutlichen Gesichtern und scharf voneinander abgesetzten Farben löste sich in verschwommenen Nebel auf Und obwohl er und das junge Mädchen, das sehr hilfsbereit und besorgt war, fast eine Viertelstunde den Gehweg absuchten, konnten sie nicht einmal eine der beiden Linsen finden.

Und in seinem Hinterkopf schien Richie den Clown lachen zu hören.

5. Bill Denbrough sieht ein Gespenst

Bill sah an jenem Nachmittag den Clown in keiner seiner Gestalten oder Erscheinungsformen. Aber er sah ein Gespenst; er wußte nur nicht, ob er ihm von Pennywise oder aber von einer unbekannten und unsichtbaren Agentur des Guten gesandt worden war. Doch es war mit Sicherheit ein Gespenst ... zumindest glaubte Bill das damals, und auch die späteren Ereignisse änderten nichts an seiner Meinung.

Als erstes ging er die Witcham Street hoch und blieb einige Zeit an jenem Gully stehen, wo Georgie an einem regnerischen Oktobertag des Jahres 1957 den Tod gefunden hatte. Er kniete nieder und spähte in den Gully, der in den Rinnstein eingelassen war. Sein Herz klopfte laut, aber er blickte trotzdem hinab.

»Komm heraus!« sagte er leise, und er hatte die nicht einmal ganz verrückte Idee, daß seine Stimme durch dunkle, tropfende Kanäle schwebte, nicht verklang, sondern immer weiter getragen wurde, sich durch ihre eigenen Echos immer wieder erneuerte, die von schleimigen Wänden widerhallten; er hatte das Gefühl, daß sie über stillen und trüben Wassern dahinschwebte

(wir alle schweben hier unten, Billy)

und vielleicht aus hundert verschiedenen Abwasserrohren in den Barrens zur selben Zeit erscholl.

»Komm heraus, sonst kommen wir zu dir und holen dich!«

Er wartete geduldig auf eine Antwort, kniend, die Hände zwischen den Oberschenkeln. Aber es kam keine Antwort. Er wollte gerade aufstehen, als ein Schatten über ihn fiel. Bill blickte hoch, auf alles gefaßt... aber es war nur ein kleiner Junge, zehn oder vielleicht elf Jahre alt. Er trug verwaschene

Pfadfindershorts und hatte abgeschürfte Knie. In einer Hand hielt er einen durchsichtigen Becher Orangensaft, in der anderen ein Skateboard, das leuchtend grün und fast genauso verschrammt war wie seine Knie.

»Sprechen Sie immer in Gullys rein, Mister?« fragte der Junge.

»Nur in Derry«, erwiderte Bill.

Sie sahen einander einen Moment lang ernst an, dann brachen sie beide gleichzeitig in lautes Gelächter aus.

»Ich möchte dir eine dumme F-F-Frage stellen«, sagte Bill.

»Okay.«

»Hast du aus irgendeinem Gully schon mal w-was g-g-gehört?«

Der Junge starrte Bill wie einen Verrückten an, und Bill stand auf.

»O-Okay«, sagte er. »V-Vergiß es.«

Er war etwa zwölf Schritte gegangen - hügelaufwärts, weil er einen Blick auf sein ehemaliges Zuhause werfen wollte -, als der Junge rief: »Hallo, Mister!«

Bill drehte sich um. Er hatte sein Sportsakko über die Schulter gehängt, die Krawatte gelockert und den Kragen aufgeknöpft. Der Junge musterte ihn aufmerksam.

»Jaaa«, sagte er dann widerwillig, so als hätte es irgendeine stärkere Macht aus ihm herausgezogen.

»Ja?« fragte Bill.

»Jaaa.«

»Was hast du gehört?«

»Ich weiß nicht genau«, antwortete der Junge. »Es war eine Fremdsprache. Ich hab' die Stimme aus einer der Pumpstationen in den Barrens gehört. Aus diesen Dingern, die wie zylinderförmige Rohre aus dem Boden rausragen...«

»Ich weiß, was du meinst«, nickte Bill. »War es ein Kind, das du gehört hast?«

»Zuerst war es ein Kind, dann ein Mann.« Der Junge schwieg ein Weilchen, dann fuhr er fort: »Ich hatte zuerst ziemliche Angst. Ich bin nach Hause gerannt und hab's meinem Vater erzählt, und er hat gemeint, es könnte ein Echo in den Rohren gewesen sein, das aus irgendeinem Haus gekommen ist.«

»Und - glaubst du das?«

Der Junge lächelte bezaubernd. »Ich hab' in meinem Ob-du's-glaubst-oder-nicht-Buch gelesen, daß es mal einen Jungen gab, der mit seinen Zähnen Musik empfangen konnte. Radiomusik. Seine Plomben waren wie kleine Radios. Und wenn ich das geglaubt hab', kann ich vermutlich alles glauben.«

»J-Ja«, sagte Bill. »Aber hast du's geglaubt?«

Widerwillig schüttelte der Junge den Kopf.

»Hast du diese Stimmen jemals wieder gehört?« fragte Bill.

»Einmal, als ich gerade ein Bad nahm«, antwortete der Junge. »Es war eine Mädchenstimme. Sie sagte nichts. Sie weinte nur. Ich hatte Angst, den Stöpsel rauszuziehen, als ich fertig war, weil ich dachte, ich könnte das Mädchen... na ja, wissen Sie, ertränken.«

Bill nickte wieder.

»Aber nach einer Weile war es dann weg, und ich hab' nie mehr so was gehört.« Der Junge schaute Bill jetzt offen und fasziniert mit leuchtenden Augen an. »Sie wissen alles darüber, ja?« fragte er. »Sie haben diese Stimmen auch schon gehört?«

»Ja, ich habe sie gehört«, sagte Bill. »Vor langer, langer Zeit. Hast du irgendeins der K-Kinder gekannt, die hier ermordet worden sind, Junge?«

Die Augen des Jungen hörten auf zu leuchten und bekamen einen wachsamen, beunruhigten Ausdruck. »Mein Dad sagt, ich soll nicht mit Fremden reden«, antwortete er. »Er sagt, jeder könnte jener Mörder sein. Sie könnten es auch sein, Mister.« Er wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, in den Schatten einer Ulme, in die Bill vor 27 Jahren einmal mit seinem Fahrrad hineingerast war. Er war in hohem Bogen vom Rad geflogen und hatte die Lenkstange etwas verbogen.

»Ich nicht, mein Junge«, erklärte er. »Ich war in den letzten vier Monaten in England, und davor in Kalifornien. Ich bin erst gestern nach Derry gekommen.«

»Das kann jeder sagen.«

Bill schwenkte sein Sakko von der Schulter, und der Junge zuckte zusammen und verschüttete seinen Orangensaft, der ihm am braungebrannten Arm herunterlief. Bill sah ihm an, daß er am liebsten weggerannt wäre.

Er holte seinen Paß heraus und warf ihn dem Jungen zu. Das Dokument fiel auf die Straße.

»Mein P-P-Paß«, erklärte Bill. »Hast du schon einmal einen gesehen?«

»Nein«, antwortete der Junge und betrachtete interessiert die blaue Schutzhülle mit dem goldenen Adler.

»Schau dir mal den letzten Sch-Sch-Stempel an.«

Der Junge hob den Paß auf, ohne Bill aus den Augen zu lassen, so als wären sie irgendwo in einer dunklen Sackgasse und nicht auf der Witcham Street, auf der lebhafter Verkehr herrschte, und wo etwas höher auf der anderen Straßenseite zwei kleine Mädchen ein Hüpfspiel machten.

Der Junge prüfte den Stempel, schob den Paß in die Hülle zurück und warf ihn Bill zu. »Ich sollte trotzdem nicht mit Ihnen reden«, sagte er.

»Du hast völlig recht«, stimmte Bill zu.

Nach kurzem Schweigen sagte der Junge: »Ich hab' oft mit Johnny Feury gespielt. Er war ein guter Freund. Ich hab' geweint«, berichtete der Junge nüchtern und schlürfte den Rest seines Orangensafts. Dann schleckte er sich den Arm ab.

»Bleib weg von den Gullys und Abflußrohren«, sagte Bill ruhig. »Halte dich von einsamen Orten fern. Und vom alten Bahnhofsgelände. Aber in erster Linie - bleib weg von den Gullys und Abflußrohren.«

Die Augen des Jungen leuchteten wieder, und er schwieg lange Zeit. Schließlich sagte er: »Mister? Wollen Sie was Komisches hören?«

»Na klar.«

»Kennen Sie den Film, wo der Hai all die Leute auffrißt?«

»Klar«, sagte Bill.

»Na ja, ich hab' 'nen Freund, wissen Sie. Er heißt Tommy Fogarty, und er ist nicht der Hellste. Er hat sie nicht alle im Dachstübchen, verstehen Sie?«

»Ja.«

»Er glaubt im Kanal diesen Hai gesehen zu haben. Er ist vor ein paar Wochen allein im Bassey-Park gewesen, und er sagt, er hätte die Flosse gesehen. Acht oder neun Fuß groß soll sie gewesen sein. Nur die Flosse, wissen Sie. Und er sagt: >Das war's, was Johnny und die anderen Kinder umgebracht hat. Es war der Weiße Hai, ich weiß es, weil ich ihn gesehen habe.< Und ich sag' ihm: >Der Kanal ist so verdreckt, daß da drin überhaupt nichts leben könnte, noch nicht mal 'ne Elritze. Und du behauptest, 'nen Hai gesehen zu haben. Du hast nicht alle im Dachstübchen, Tommy<, sag' ich. Und Tommy sagt, der Hai wäre aus dem Wasser emporgeschossen wie am Ende des Films und hätte versucht, ihn zu beißen, und er hätte gerade noch rechtzeitig vom Rand zurückspringen können. Sehr komisch, finden Sie nicht auch, Mister?« Aber der Junge lächelte nicht.

»Sehr komisch«, stimmte Bill zu.

»Nicht alle im Dachstübchen, stimmt's?«

Bill zögerte. »Halt dich auch vom Kanal fern, Junge. Verstehst du?«

»Sie glauben es?«

Bill zögerte wieder, dann nickte er.

Der Junge stieß pfeifend den Atem aus. Er senkte den Kopf, so als schämte er sich. »Ja, ich glaub's auch«, sagte er. »Ich nehm' an, ich hab' sie nicht alle im Dachstübchen.«

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Bill und trat zu dem Jungen, der ihn ernst anschaute, aber diesmal nicht vor ihm zurückwich. »Du ruinierst mit diesem Skateboard deine Knie, mein Sohn.«

Der Junge warf einen Blick auf seine Schrammen und grinste. »Manchmal muß ich abspringen«, erklärte er.

»Kann ich's mal probieren?« fragte Bill plötzlich.

Der Junge starrte ihn mit offenem Mund an, dann lachte er. »Das wäre lustig«, rief er. »Ich hab' noch nie 'nen Erwachsenen auf 'nem Skateboard gesehen.«

»Ich geb' dir 'nen Vierteldollar dafür«, sagte Bill.

»Mein Dad sagt...«

»Ja, ich weiß schon, du sollst von Fremden kein Geld und keine Süßigkeiten annehmen. Ein guter Rat. Ich geb' dir trotzdem einen Vierteldollar. Was m-meinst du? Nur bis zur Ecke Jackson Street.«

»Vergessen Sie den Vierteldollar«, sagte der Junge und lachte wieder- es war ein fröhliches, unkompliziertes Lachen, so erfrischend wie dieser Spätfrühlingsnachmittag. »Ich hab' zwei Dollar. Aber das möcht' ich sehen. Nur dürfen Sie mir keine Vorwürfe machen, wenn Sie sich sämtliche Knochen brechen.« Er gab Bill sein Skateboard.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Bill. »Ich bin versichert.«

Er fuhr mit dem Finger über eines der Räder des Skateboards, und es gefiel ihm, wie leicht und schnell es sich bewegen ließ - es hörte sich so an, als hätte es etwa ein Dutzend Kugellager. Es war ein angenehmes Geräusch. Es weckte ein uraltes Gefühl in Bills Brust. Ein heißes Verlangen.

Er stellte das Skateboard auf den Gehweg und setzte einen Fuß darauf. Er rollte es versuchsweise hin und her. Der Junge beobachtete ihn. Im Geiste sah Bill sich auf dem grünen Skateboard die Witcham Street hinuntersausen, mit wehendem Jackett und mit gebeugten Knien, wie er das bei Skifahrern an ihrem ersten Tag auf der Piste beobachtet hatte. Diese Art von gebeugten Knien besagte immer, daß sie sich schon auf den Sturz einstellten. Bill hätte wetten können, daß der Junge nicht so Skateboard fuhr. Er hätte wetten können, daß der Junge so fuhr,

(als wollte er den Teufel schlagen)

als gäbe es für ihn kein Morgen.

Jenes angenehme Gefühl erstarb in seiner Brust. Er sah nur allzu deutlich vor sich, wie das Brett ihm unter den Füßen wegrutschte, wie es herrenlos ohne ihn die Straße hinabsauste, dieses unwahrscheinlich grüne Ding -eine Farbe, die nur einem Kind gefallen konnte. Er sah sich selbst auf dem Hintern, vielleicht auch auf dem Rücken landen. Langsame Überblendung ins Krankenhaus von Derry. Bill Denbrough im Gipskorsett, ein Bein im Streckverband. Ein Arzt kommt herein, wirft einen Blick auf sein Krankenblatt, schaut ihn an und sagt: »Sie haben zwei Riesenfehler gemacht, Mr. Denbrough. Erstens sind Sie Skateboard gefahren, ohne es zu können. Und zweitens haben Sie vergessen, daß Sie inzwischen 37 Jahre alt sind.«

Er beugte sich hinab, hob das Skateboard auf und gab es dem Jungen zurück. »Ich glaube, ich laß es doch lieber sein«, sagte er.

»Angsthase!« sagte der Junge, aber nicht unliebenswürdig.

Bill ging in die Hocke und hoppelte ein paar Schritte. Der Junge lachte.

»Hören Sie, ich muß jetzt nach Hause«, sagte er dann.

»Sei vorsichtig!«

»Auf 'nem Skateboard kann man doch nicht vorsichtig sein«, erwiderte der Junge und schaute Bill an, als hätte er wirklich nicht alle im Dachstübchen.

»Das stimmt«, meinte Bill. »Aber bleib weg von Abflußrohren und Gullys. Und spiel lieber zusammen mit deinen Freunden.«

Der Junge nickte. »Ich wohn' ganz in der Nähe.«

Das war bei meinem Bruder auch der Fall, dachte Bill.

»Der Spuk wird sowieso bald vorüber sein«, sagte er zu dem Jungen.

»Wirklich?«

»Ich glaube schon.«

»Okay. Wiedersehn... Angsthase!«

Der Junge stellte einen Fuß auf das Skateboard und stieß sich mit dem anderen ab. Sobald er richtig rollte, stellte er auch den anderen Fuß drauf und sauste mit einer Geschwindigkeit, die Bill direkt selbstmörderisch vorkam, die Straße hinab. Aber er fuhr so, wie Bill es sich vorgestellt hatte: mit einer selbstverständlichen Anmut, die verriet, daß er keine Furcht kannte. Bill verspürte Liebe zu diesem Jungen, und ihn überkam eine wahnsinnige Angst um das Kind. Der Junge sauste dahin, so als gäbe es kein Älterwerden und keinen Tod. Und irgendwie wirkte er in seinen Khakishorts und seinen abgetretenen Segeltuchschuhen, mit seinen nackten, schmutzigen Knöcheln und den wehenden Haaren tatsächlich unverletzbar und unsterblich.

Paß auf, Kleiner, die Kurve schaffst du nie! dachte Bill besorgt, aber der Junge schwenkte seine Hüfte nach links wie ein Tänzer und brauste mühelos um die Ecke und auf die Jackson Street, einfach davon ausgehend, daß ihm kein Auto in die Quere kommen würde... und da Bill keine quietschenden

Bremsen und kein Krachen hörte, mußte er tatsächlich Glück gehabt haben. Junge, dachte Bill traurig, so wird es nicht immer sein.

Er ging weiter zu seinem Elternhaus, blieb dort aber nicht stehen, sondern schlenderte nur ganz langsam daran vorbei. Vielleicht hätte er länger verweilt, aber auf dem Rasen waren Leute - eine Mutter mit einem Baby auf dem Arm saß in einem Gartenstuhl und beobachtete zwei Kinder, etwa zehn und acht Jahre alt, die ungeschickt im regennassen Gras Federball spielten.

Das Haus war immer noch dunkelgrün, und über der Tür war immer noch ein fächerförmiges Fenster, aber die Blumenbeete seiner Mutter gab es nicht mehr, und auch das Klettergerüst, das sein Vater im Hinterhof aus alten Rohren gebaut hatte, war nicht mehr da. Bill fiel ein, wie Georgie eines Tages von diesem Klettergerüst gestürzt und sich einen Zahn ausgeschlagen hatte. Wie er damals geschrien und geweint hatte!

Er überlegte, ob er zu der Frau mit dem schlafenden Baby im Arm gehen und sagen sollte: Hallo, mein Name ist Bill Denbrough, und ich habe früher hier gewohnt. Und die Frau würde dann bestimmt sagen: Wie nett! Aber was weiter? Konnte er sie fragen, ob das Gesicht, das er kunstvoll in einen Dachbodenbalken eingeritzt hatte, noch da war? Manchmal waren Georgie und er hinaufgeschlichen und hatten mit den Wurfpfeilen ihres Vaters auf dieses Gesicht gezielt. Oder konnte er sie fragen, ob ihre Kinder manchmal, in heißen Sommernächten, gern auf der überdachten hinteren Veranda schliefen und sich vor dem Einschlafen flüsternd unterhielten, während sie das Wetterleuchten am Horizont beobachteten? Vielleicht könnte er sie wirklich so was fragen, aber er wußte, daß er furchtbar stottern würde, wenn er versuchte, charmant zu sein... und außerdem war er nicht einmal sicher, ob er die Antworten überhaupt wissen wollte. Nach Georgies Tod war dies ein kaltes Haus geworden, und zu welchem Zweck er auch immer nach Derry zurückgekommen war - hier würde er nichts finden. Und auch den Clown in irgendeiner Erscheinungsform würde er hier bestimmt nicht finden.

Deshalb ging er weiter und bog rechts ab, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Kurz danach befand er sich auf der Kansas Street, die ihn in die Innenstadt zurückführen würde. Er blieb eine Zeitlang am Zaun neben dem Gehweg stehen und schaute in die Barrens hinab. Der Zaun war noch derselbe-morsches Holz mit abblätterndem weißen Anstrich -, und auch die Barrens sahen genauso aus wie früher... höchstens noch etwas wilder. Die einzigen Unterschiede, die er feststellen konnte, waren das Fehlen der schmutzigen Rauchwolke, die früher immer über der Müllhalde hing (sie war durch eine moderne Müllverbrennungsanlage ersetzt worden), sowie eine lange Brücke, die auf hohen Betonpfeilern quer über die Wildnis hinwegführte - die Autobahn. Alles übrige schaute noch so aus, als hätte er es zuletzt vor einem Jahr gesehen: dichtes Gestrüpp und wucherndes Unkraut auf dem Steilabhang, dahinter dann zur Linken das flache Sumpfgebiet, zur Rechten dichter Wald. Er konnte auch die silbrig-weißen, 12 bis 14 Fuß hohen bambusartigen Gewächse sehen. Ihm fiel ein, daß Richte einmal versucht hatte, dieses Zeug zu rauchen - er hatte behauptet, es wäre so ähnlich wie Marihuana, und man könnte davon high werden. Aber dann war ihm nur schlecht geworden. Bill hörte das leise Plätschern der vielen kleinen Bäche und sah den Widerschein der Sonne auf dem Kenduskeag. Und auch der Geruch war noch derselbe, obwohl die Müllhalde verschwunden war: ein Geruch nach Abfällen und Fäkalien, schwach, aber doch unverkennbar. Ein Geruch nach Fäulnis; ein Hauch von etwas Abgründigem.

Dort hat es damals geendet, und dort wird es auch diesmal enden, dachte Bill schaudernd. Dort in den Barrens... oder unter der Stadt.

Er blieb noch eine Weile stehen, überzeugt davon, irgendeine Manifestation des Bösen sehen zu müssen, das zu bekämpfen ihn nach Derry zurückgeführt hatte. Aber nichts geschah. Er hörte das Plätschern von Wasser, und es war ein fröhliches, frühlinghaftes Geräusch, das ihn an den Damm erinnerte, den sie dort unten gebaut hatten. Er konnte die Bäume und Büsche sehen, die in der leichten Brise raunten und wisperten. Sonst nichts. Kein Zeichen irgendeiner Art.

Er ging weiter in Richtung Innenstadt, verträumt und in Erinnerungen versunken, und dann begegnete ihm wieder ein Kind, diesmal ein etwa zehnjähriges Mädchen in Kordhosen und einer verblichenen roten Bluse. Es stieß einen Ball vor sich her und hielt eine Baby-Puppe bei den blonden Haaren.

»Hallo«, rief Bill.

Das Mädchen schaute hoch. »Was?«

»Welches ist der beste Laden in Derry?«

Es dachte darüber nach. »Für mich oder ganz allgemein?«

»Für dich«, sagte Bill, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, warum er fragte.

»Secondhand Rose, Secondhand Clothes«, sagte das Mädchen ohne zu zögern.

»Wie bitte?« fragte Bill.

»Häh?«

»Heißt das Geschäft so?«

»Na klar«, antwortete das Mädchen. »Secondhand Rose, Secondhand Clothes. Meine Mom sagt, es sei ein Ramschladen, aber mir gefällt er. Sie haben dort alle möglichen alten Sachen wie Schallplatten, von denen man noch nie etwas gehört hat. Oder Ansichtskarten. Ich muß jetzt heim. Wiedersehn.«

Es lief weiter, kickte seinen Ball vor sich her und hielt seine Puppe immer noch bei den Haaren.

»Wo ist der Laden?« rief er dem Mädchen nach.

Über die Schulter hinweg antwortete es: »Immer geradeaus. Am unteren Ende des Up-Mile Hill.«

Wieder überkam Bill jenes Frösteln, jenes unheimliche Gefühl, daß die Vergangenheit ihn einholte. Während er weiterging, mußte er an Mikes Worte denken: ... wenn es bestimmte Voraussetzungen... für den Glauben an magische Kräfte gibt, der es ermöglicht, die erforderlichen magischen Kräfte auszuüben, so werden sich diese Voraussetzungen unweigerlich einstellen.

Er hatte überhaupt nicht vorgehabt, das kleine Mädchen etwas zu fragen; die Frage war einfach so aus seinem Mund herausgesprungen wie ein Korken aus der Flasche. Und nun ging er den Up-Mile Hill hinab, in Richtung

Innenstadt. Die Lagerhäuser und Großschlächtereien seiner Kindheit- düstere Ziegelgebäude mit schmutzigen Fenstern, aus denen es immer bestialisch gestunken hatte - waren bis auf wenige Ausnahmen verschwunden und durch Geschäfte und eine Bank ersetzt worden. Und am Fuße des Hügels sah er dann wirklich ein Ladenschild, auf dem in altmodischer Schrift stand - genau wie das Mädchen gesagt hatte - secondhand rose, secondhand clothes. Das ehemals rote Ziegelhaus, ein Nebengebäude der Gebrüder Tracker, war gelb gestrichen worden - und irgendwann einmal (vor zehn bis zwölf Jahren, vermutete Bill) hatte die gelbe Farbe bestimmt schmuck und fröhlich ausgesehen, aber jetzt war sie schmuddelig - Audra hatte diese Farbe einmal pißgelb genannt... und er hatte darüber schallend gelacht.

Langsam ging Bill auf den Laden zu, und wieder überkam ihn dieses Gefühl des bereits Bekannten. Später erzählte er den anderen, er hätte gewußt, was er sehen würde, noch bevor er es wirklich sah.

Das Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes war sehr schmutzig. Dies war kein Antiquitätengeschäft mit Stilmöbeln und kunstvoll indirekt angestrahlten kostbaren Gläsern. Dies war ein richtiger Ramschladen, wie es in Neuengland viele gibt. Alle möglichen Sachen lagen kunterbunt durcheinander. Die Kleider waren teilweise von den Bügeln gerutscht, Gitarren waren am Hals aufgehängt wie hingerichtete Verbrecher. Da stand ein Karton vonn 45er Schallplatten -10 Cent das Stück, 12 Stück für

1 Dollar. Andrews Sisters, Jimmy Rogers und andere. Da lagen Babyausstattungen herum, und daneben fürchterlich aussehende Schuhe: gebraucht, aber nicht schlecht! jedes paar l Dollar! Zwei alte Fernseher sahen blind aus; ein dritter war eingeschaltet und lieferte verschwommene Bilder von >The Brady Bunch<. Eine Kiste voll alter Taschenbücher mit zerrissenen Einbänden (2 stück-25 Cent, 10 stück- l Dollar) stand auf einem großen Radioapparat mit schmutzigem weißen Kunststoffgehäuse und riesiger Senderskala. Künstliche Blumensträuße waren in schmutzige Vasen gesteckt, die auf einem angeschlagenen, staubigen Eßtisch herumstanden.

All diese Dinge bildeten für Bill jedoch nur den chaotischen Hintergrund für jenen Gegenstand, auf den sein Blick sofort gefallen war und den er mit großen, ungläubigen Augen anstarrte. Er hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Seine Stirn war heiß, seine Hände eiskalt, und einen Moment lang glaubte er, daß alle Türen in seinem Innern sich jetzt weit öffnen würden und daß er sich dann an alles erinnern würde.

Im rechten Schaufenster stand Silver, sein altes Fahrrad Silver.

Es hatte immer noch keinen Ständer und war nachlässig an einen ramponierten Kirschholzschrank voll alter staubiger Bücher gelehnt worden. Das Gestell war rostig; die Hupe befand sich noch an der Lenkstange, ihr schwarzer Gummibalg war jetzt aber viel rissiger als früher, und ihre Metallteile, die Bill immer sorgfältig poliert hatte, waren matt und auch rostig. Der Gepäckträger war verbogen und hing nur noch an einem Bolzen. Jemand hatte den Sattel irgendwann einmal mit einem Stoff, der wie Tigerfell aussah, überzogen. Er war jetzt so abgewetzt und dünn, daß man die Streifen kaum noch erkennen konnte.

Es war Silver.

Bill wollte lachen und bemerkte, daß ihm Tränen über die Wangen liefen. Langsam holte er ein Taschentuch aus der Tasche seines Sportsakkos und wischte sie weg. Dann betrat er den Laden.

Es roch muffig im Secondhand Rose, Secondhand Clothes. Dies war nicht der angenehme Duft kostbaren alten Samtes und Plüschs, nicht der Geruch von Leinöl, mit dem Antiquitäten sorgsam gepflegt wurden. Hier roch es nach modrigen Bucheinbänden, schmutzigen Vorhängen, Staub und Mäusedreck.

Aus dem Fernseher im Schaufenster erscholl das Gejaule der Brady Bunch. Damit konkurrierte Rockmusik aus einem Radio, das auf einem hohen Regal im Hintergrund des Ladens stand, zwischen einigen Porträts aus dem 18. Jahrhundert. Darunter saß der Besitzer, ein etwa vierzigjähriger Mann in Jeans und Netzhemd. Sein Haar war glatt zurückgekämmt, und er war furchtbar mager. Seine Füße lagen auf dem Schreibtisch, auf dem sich Kochbücher türmten und eine alte verschnörkelte Registrierkasse den meisten Platz einnahm. Er las einen Taschenbuchroman mit dem Titel >Con-struction Site Studs<, der bestimmt nie für den National Book Award vorgeschlagen worden war. Auf dem Boden vor dem Schreibtisch lag ein spiralförmig gestreifter Barbierstab, einstmals das Symbol dieses Handwerks. Seine abgenützte Kordel wand sich über den Boden wie eine müde Schlange, und auf dem dazugehörenden Schild stand: eines der letzten EXEMPLARE! 250 DOLLAR.

Als die Glocke über der Tür klingelte, legte der Mann am Schreibtisch ein Streichholzheftchen als Lesezeichen in sein Buch und blickte hoch. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ja«, sagte Bill und öffnete den Mund, um nach dem Fahrrad im Schaufenster zu fragen. Aber noch bevor er etwas sagen konnte, drängte sich ihm plötzlich ein einziger Satz auf und ließ keinen Raum mehr für irgendeinen anderen Gedanken. Er erinnerte sich nicht, diesen Satz jemals zuvor gehört zu haben, und doch kam er ihm unheimlich bekannt vor:

Im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister.

Was in aller Welt...?

(im finstern Föhrenwald)

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« fragte der Ladenbesitzer. Seine Stimme war äußerst höflich, aber er schaute Bill etwas mißtrauisch an.

»Ja, ich i-i-interessiere m-m-m-mich...«

(da wohnt ein wahrer Meister)

»f-f-für d-d-d-d-...«

»Für den Barbierstab?« fragte der Mann, und in seinen Augen las Bill etwas, an das er sich trotz seines momentan verwirrten Geisteszustands sofort erinnerte und das er von Kindheit an gehaßt hatte: die Ungeduld eines Menschen, der einem Stotterer zuhören muß und ihm rasch ins Wort fällt und seinen Satz beendet, um den armen Behinderten zum Schweigen zu bringen. Ich stottere nicht! schrie Bill lautlos. Ich hab's überwunden! Verdammt, ich bin kein Stotterer! Ich...

(der ficht ganz furchtlos kalt)

Er hörte die Wörter so deutlich, als spreche jemand anderer in seinem

Kopf, als hätte irgendeine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen, wie es in biblischen Zeiten bei den von Dämonen Besessenen oder im Mittelalter bei jenen der Fall gewesen war, die glaubten, daß Gott durch ihren Mund redete. Und doch erkannte er diese Stimme und identifizierte sie als seine eigene. Er spürte, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat.

»Ich könnte Ihnen dafür

(sogar noch gegen Geister)

einen guten Preis machen«, sagte der Ladenbesitzer. »Ich krieg' ihn für 250 nicht los. Wie war's mit 175? Dieser Stab ist die einzige echte Antiquität, die ich habe.«

»Es ist n-n-nicht der Sch-Sch-Sch-STAB.« Als er das Wort endlich hervorbrachte, klang es fast wie ein Schrei, und der Mann zuckte zusammen. »An dem Stab b-b-bin ich n-nicht interessiert.«

»Sind Sie okay, Mister?« fragte der Ramschhändler, und seine linke Hand glitt plötzlich vom Schreibtisch. Bill begriff sogleich, daß weiter unten bestimmt eine offene Schublade war, und daß der Mann jetzt irgendeine Schußwaffe griffbereit zur Hand hatte.

(Im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister)

Dieser blödsinnige Satz machte ihn noch ganz verrückt! Wo war er nur hergekommen?

(im finstern Föhrenwald)

Immer wieder von vorne... Mit enormer Willenskraft ging Bill plötzlich dagegen an. Er zwang sich, den unsinnigen Satz ins Französische zu übersetzen. Es war die gleiche Methode, die er als Teenager angewandt hatte, um sein Stottern zu überwinden. Und sie hatte auch jetzt Erfolg. Einen Moment später konnte er sich zwar noch an den Satz erinnern, aber er dröhnte nicht mehr in seinem Schädel. Ein Schauder überlief ihn... und aus unerfindlichen Gründen fiel ihm plötzlich seine Mutter ein, und gleich darauf hatte er ein bizarres Bild deutlich vor Augen: Guy Madison als Wild Bill Hickok im Fernsehen, gefolgt von Andy Devine als Jingles, der mit seiner heiseren Stimme brüllte: »Wart auf mich, Wild Bill!«

Mein Gott, ich werde verrückt! dachte Bill schaudernd.

Dann wurde ihm bewußt, daß der Händler etwas gesagt hatte.

»Wie b-b-bitte?«

»Ich sagte, bevor Sie einen Anfall bekommen, gehen Sie lieber raus auf die Straße«, wiederholte der Besitzer von Secondhand Rose, Secondhand Clothes kalt. »Ich kann hier drin so etwas nicht gebrauchen.«

Bill holte tief Luft.

»Fangen wir noch einmal ganz von vorne an«, sagte er. »Stellen Sie sich vor, ich wäre gerade erst reingekommen.«

»Okay«, meinte der Mann. »Sie sind also gerade erst reingekommen. Und was jetzt?«

»Das F-F-Fahrrad im F-Fenster«, sagte Bill. »Wieviel wollen Sie dafür?«

»Sagen wir mal - 20 Dollar«, erwiderte der Besitzer. Er hatte sich offensichtlich etwas beruhigt, aber seine linke Hand war noch nicht wieder zum Vorschein gekommen. »Es muß wohl vor langer Zeit ein >Schwinn<

gewesen sein, aber jetzt ist's nur noch ein alter Bastard.« Er maß Bill mit Blicken. »Es ist ein großes Rad. Sie könnten sogar selbst damit fahren.«

Bill dachte an das grüne Skateboard des Jungen und sagte: »Die Zeiten, in denen ich geradelt bin, sind, glaube ich, vorbei.«

Der Mann zuckte die Achseln. Seine linke Hand kam wieder zum Vorschein. »Haben Sie einen Jungen?«

»J-Ja.«

»Wie alt ist er denn?«

»Zehn.«

»Bißchen großes Rad für 'nen Zehnjährigen«, meinte der Ramschhändler.

»Nehmen Sie einen Traveller-Scheck?«

»Wenn er den Kaufpreis um nicht mehr als 10 Dollar übersteigt.«

»Ich kann Ihnen einen über 20 Dollar geben«, sagte Bill. Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Schreibtisch. »Dürfte ich mal telefonieren?«

»Ja, wenn es ein Ortsgespräch ist.«

»Das ist es.«

»Bitte sehr.«

Bill rief in der Stadtbücherei an. Mike war gerade erst zurückgekommen. »Wo bist du, Bill?« fragte er und fügte sogleich hinzu: »Ist bei dir alles in Ordnung?«

»Alles bestens«, erwiderte Bill. »Bist du einem von den anderen begegnet?«

»Nein«, sagte Mike. »Wir werden sie heute abend sehen.« Kurze Pause. »Ich hoffe es wenigstens. Was kann ich für dich tun, Big Bill?«

»Ich bin gerade dabei, ein Fahrrad zu kaufen«, sagte Bill ruhig. »Und ich wollte fragen, ob ich's zu dir bringen kann. Hast du eine Garage oder irgend so was, wo ich's unterstellen könnte?«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Mike? Bist du...«

»Ich bin noch dran«, sagte Mike. »Es ist Silver, nicht wahr? Jenes große Rad, das du als Kind hattest?«

Bill warf einen Blick auf den Ramschhändler. Er las wieder... oder vielleicht schaute er auch nur pro forma ins Buch und hörte in Wirklichkeit aufmerksam zu.

»Ja«, sagte er deshalb nur.

»Wo bist du jetzt?«

»In einem Laden namens Secondhand Rose, Secondhand Clothes.«

»In Ordnung«, sagte Mike. »Ich wohne in der Palmer Lane 61. Du mußt die Main Street rauf gehen und...«

»Ich find's schon«, sagte Bill.

»Gut. Wir treffen uns dann dort. Ich mache uns etwas zu essen, wenn du willst.«

»Ja, das wäre großartig«, meinte Bill. »Kannst du denn weg von der Arbeit?«

»Das ist kein Problem. Carol wird sich hier um alles kümmern.« Er zögerte wieder. »Sie hat mir erzählt, daß ein Mann hier war, etwa eine Stunde, bevor ich zurückgekommen bin. Als er wegging, hätte er wie eine

Leiche ausgesehen. Sie hat ihn mir beschrieben. Ich glaube, daß es Ben war.«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

»Das Fahrrad - es gehört dazu, oder?«

»Ja. Ich glaube schon.«

»Also, bis gleich«, sagte Mike. »Nummer 61.«

»Gut. Danke, Mike.«

»Gott schütze dich, Big Bill«, sagte Mike etwas verlegen.

Bill legte den Hörer auf, und der Ladenbesitzer schloß sofort sein Buch.

»Haben Sie Probleme mit dem Unterstellen?«

»Nein, nein«, antwortete Bill, holte seine Traveller-Schecks heraus und unterschrieb einen über 20 Dollar. Der Ramschhändler verglich die beiden Unterschriften so sorgfältig miteinander, daß Bill es unter normalen Umständen direkt beleidigend gefunden hätte, wenn er nicht Wichtigeres im Kopf gehabt hätte.

Schließlich stellte der Mann eine Rechnung aus und legte den Scheck in seine alte Registrierkasse. Dann stand er auf und schlängelte sich geschickt durch ganze Berge von Ramsch zum Schaufenster.

Er hob das Rad etwas an und drehte es vorsichtig herum. Bill packte es an der Lenkstange, um ihm behilflich zu sein, und dabei überlief ihn wieder ein Schauder. Silver... Wieder! Es war Silver und

(im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister).

Er zwang sich, den Satz sofort wieder zu unterdrücken.

»Im Hinterreifen ist ein bißchen zu wenig Luft drin«, sagte der Ladenbesitzer entschuldigend. Es war eine Untertreibung - der Reifen war platt wie ein Pfannkuchen. Der Vorderreifen schien in Ordnung zu sein, nur war er sehr abgefahren.

»Kein Problem«, sagte Bill. »Danke.«

»Stets zu Diensten. Und wenn Sie sich's mit dem Barbierstab noch überlegen sollten, kommen Sie wieder.«

Er hielt Bill die Tür auf, und Bill schob das Rad hinaus und wandte sich nach links, in Richtung Main Street. Passanten warfen amüsierte und neugierige Blicke auf den großen, kahlköpfigen Mann, der ein riesiges Fahrrad mit plattem Hinterreifen und altmodischer Hupe über einem rostigen Drahtkorb schob, aber Bill bemerkte das kaum. Er staunte darüber, wie bequem die Gummigriffe immer noch für seine Hände waren, und er erinnerte sich daran, daß er als Kind immer vorgehabt hatte, in die Löcher auf jedem Griff verschiedenfarbige dünne Plastikstreifen zu knoten, die im Wind flattern sollten. Aber irgendwie war er dann doch nicht dazu gekommen.

An der Ecke Center- und Main Street, vor dem Taschenbuchladen, in dessen Schaufenster Beverly an diesem Nachmittag gedankenverloren gestarrt hatte, legte Bill eine Verschnaufpause ein. Er lehnte das Rad an die Hauswand und zog sein Jackett aus. Ein Rad mit plattem Reifen zu schieben war harte Arbeit, und der Nachmittag war sehr warm geworden. Bill legte sein Jackett in den Drahtkorb, dann ging er weiter.

Die Kette ist rostig, dachte er. Wem es auch gehört haben mag - der Betreffende hat sich nicht sehr gut darum gekümmert.

Mit gerunzelter Stirn blieb er stehen und versuchte sich zu erinnern, was damals aus Silver geworden war. Hatte er das Rad verkauft? Weggegeben? Hatte er es vielleicht verloren? Es fiel ihm nicht ein. Statt dessen drängte sich jener idiotische Satz

(im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz) ihm wieder auf, so sonderbar und völlig fehl am Platz wie ein Schaukelstuhl auf einem Schlachtfeld, wie ein Plattenspieler im Kamin.

Bill schüttelte den Kopf, und der Satz riß ab und löste sich auf wie Rauch. Bill schob Silver zu Mikes Haus.

6. Mike Hanion kann eine Erklärung geben

Mike hatte ein Abendessen zubereitet - Hamburger mit gebratenen Pilzen und Zwiebeln, dazu einen Spinatsalat. Sie tranken eine Flasche ausgezeichneten Wein, einen Mondavi. Als Nachtisch gab es >Jell-O<-Kuchen aus der Dose mit Schlagsahne. Bill lachte herzhaft und legte sich zwei der quadratischen Kuchen auf den Teller: »Ich hab' seit meiner Kindheit keine mehr gegessen.«

»Sie schmecken immer noch so komisch wie früher«, sagte Mike, und nun lachten beide.

Mike bewohnte ein hübsches kleines Haus im Cape-Cod-Stil, weiß mit grünem Fachwerk. Bill hatte das Fahrrad gerade die Palmer Lane hinaufgeschoben, als er von Mike kurz vor dessen Haus überholt worden war. Mike fuhr einen alten Ford mit rostigen Türen und gesprungenem Rückfenster, und Bill fühlte sich etwas schuldbewußt, als ihm die Tatsache einfiel, auf die Mike sie so ruhig hingewiesen hatte: Die sechs Mitglieder des Klubs der Verlierer, die Derry verlassen hatten, hatten aufgehört, Verlierer zu sein; nicht aber Mike, der in dieser Stadt geblieben war.

Die beiden Freunde schüttelten sich die Hände, dann schob Bill Silver in Mikes Garage, die einen sorgfältig eingeölten Lehmboden hatte und ebenso sauber und ordentlich war wie das ganze Haus. Werkzeuge hingen an Holznägeln, und die Deckenlampen hatten kegelförmige Metallschirme. Bill lehnte sein Rad an die Wand, und beide betrachteten es eine Zeitlang schweigend, die Hände in den Hosentaschen.

»Es ist tatsächlich Silver«, sagte Mike schließlich. »Ich dachte, du müßtest dich geirrt haben. Aber es ist wirklich Silver.«

Bill warf ihm einen scharfen Blick zu. »Warum dachtest du, daß ich mich irren müßte?«

»Du erinnerst dich noch nicht an jenen Teil?«

»Nein. Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Das dachte ich mir schon. Es ist im August passiert.«

»Was ist im August passiert?«

»Es wird dir schon noch einfallen«, erwiderte Mike kurz. Er schaute Bill an, dann wieder das Fahrrad. »Was willst du damit machen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Bill. »Hast du eine Fahrradpumpe?«

»Ja. Und ich hab' auch so 'n Zeug zum Reifenflicken. Aber man kann es nur verwenden, wenn der Reifen keinen Schlauch hat.« »Silver hatte nie welche.« Bill beugte sich hinab, betrachtete den platten Reifen und richtete sich wieder auf. »Ja. Kein Schlauch.«

»Willst du wieder damit fahren?«

»Nein, natürlich nicht!« erwiderte Bill scharf. »Ich kann's nur nicht sehen, daß er einen Platten hat.«

»Wie du meinst, Big Bill«, sagte Mike ruhig. »Du bist der Boß.«

Bill drehte sich rasch um, aber Mike war schon nach hinten gegangen und nahm eine Luftpumpe von der Wand. Dann holte er aus einem der Schränke das Reifenflickzeug und gab es Bill, der es neugierig betrachtete. Es sah noch genauso aus, wie er es aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte: eine kleine Metalldose mit körnigem Deckel, der zum Aufrauhen des Gummis um das Loch herum diente, bevor die Flickmasse aufgetragen wurde. Aber die Dose sah funkelnagelneu aus. Sogar das Preisschild war noch dran: 7,23 Dollar.

»Das hast du doch noch nicht lange«, sagte Bill. Es war keine Frage.

»Nein«, stimmte Mike zu. »Ich hab's letzte Woche gekauft. Im Einkaufszentrum, wenn du's genau wissen willst.«

»Hast du selbst ein Fahrrad?« fragte Bill, aber er kannte die Antwort schon im voraus.

»Nein«, sagte Mike und schaute ihm in die Augen.

»Du hast es einfach so gekauft.«

»Ich kam plötzlich auf die Idee«, berichtete Mike, ohne den Blick von Bill zu wenden. »Wachte eines Morgens auf und dachte, es könnte vielleicht mal nützlich sein. Der Gedanke ließ mich den ganzen Tag nicht los. Also hab' ich das Zeug gekauft... und jetzt kannst du's tatsächlich gebrauchen.«

»Jaaa... ich kann's gebrauchen«, wiederholte Bill. »Aber was hat das zu bedeuten?«

»Frag die anderen«, sagte Mike. »Heute abend.«

»Was glaubst du - werden sie alle kommen?«

»Ich weiß es nicht, Big Bill.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ich glaube, wir müssen damit rechnen, daß nicht alle kommen. Einige könnten vielleicht beschließen, daß es das beste ist, die Stadt so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Oder aber...« Er zuckte mit den Schultern.

»Und was machen wir in diesem Falle?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Mike wieder. Dann deutete er auf die Flickmasse. »Ich hab' sieben Dollar für das Zeug bezahlt. Wirst du's nun benutzen, oder willst du's nur anstarren?«

Bill holte sein Sportsakko aus dem Drahtkorb und hängte es sorgsam auf einen leeren Holznagel an der Wand. Dann kippte er das Rad, so daß es auf Sattel und Lenkstange stand, und drehte langsam das Hinterrad. Das rostige Quietschen der Achse mißfiel ihm. Ein bißchen Öl würde Wunder wirken, dachte er. Und auch der Kette würde etwas Öl nicht schaden. Es ist verdammt rostig. .. Und Spielkarten. Es braucht Spielkarten an den Speichen. Ich wette, daß Mike Karten hat. Die guten, mit dem Zelluloid-Überzug, der sie so steif und glatt machte, daß sie einem beim ersten Mischen immer aus den Händen glitten und überall auf dem Fußboden verstreut lagen. Spielkarten, na klar, und Wäscheklammern, um sie zu befestigen...

Er schüttelte den Kopf. Ihn fröstelte plötzlich.

Woran in aller Welt denkst du nur?

»Stimmt was nicht, Bill?« fragte Mike leise.

»Doch, doch, alles in Ordnung«, sagte Bill. Seine Finger ertasteten etwas Kleines, Rundes und Hartes. Er schob seine Nägel darunter und zog es heraus. Eine Reißzwecke. Er zeigte sie Mike. »Da haben wir den M-M-Missetä-ter«, sagte er lächelnd, und plötzlich war der Satz wieder da, unsinnig, aber mächtig: Im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister. Aber nach seiner Stimme hörte er diesmal die Stimme seiner Mutter: Versuch's noch einmal, Billy. Diesmal hast du's fast geschafft. Und dann Andy Devine als Jingles: He, Wild Bill, wart aufmich!

Er schauderte.

(im finstern Föhrenwald)

Er schüttelte den Kopf. Ich könnte das nicht einmal jetzt sagen, ohne zu stottern, dachte er, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, jetzt würde sich der Schleier heben, jetzt würde er gleich alles begreifen. Das trat aber nicht ein.

Er öffnete die Dose mit der Flickmasse und machte sich an die Arbeit. Mike lehnte an der Wand, ließ sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und gelockerter Krawatte von einfallenden Strahlen der Spätnachmittagssonne bescheinen und pfiff eine Melodie, die Bill schließlich als >Shall We Gather at the River< identifizierte.

Ihm fiel plötzlich ein, daß das eine der Hymnen war, die seine Mutter bei Georgies Beerdigung gespielt hatte - das war, soviel er wußte, das letztemal gewesen, daß sie spielte. Ihm wurde wieder eiskalt.

Das Flicken war problemlos verlaufen, und während er wartete, daß die Masse fest wurde, ölte Bill Silvers Kette, Zahn und Achsen - nur um die Zeit auszufüllen, versuchte er sich einzureden. Das Fahrrad sah dadurch nicht besser aus, aber als er die Räder bewegte, stellte er befriedigt fest, daß das Quietschen aufgehört hatte. Und einen Schönheitswettbewerb hätte Silver ohnehin nie - auch früher nicht - gewonnen. Sein einziger Vorzug bestand darin, daß er wie der Blitz sausen konnte.

Um diese Zeit, gegen halb fünf, hatte er Mikes Anwesenheit fast vergessen; er war völlig vertieft in die Arbeit am Fahrrad. Er pumpte den Hinterreifen auf und freute sich, als er feststellte, daß die geflickte Stelle dicht war.

Er war gerade damit fertig, als er hinter sich das schnelle Schnippschnapp von Spielkarten hörte. Er wirbelte so rasch herum, daß er um ein Haar Silver umgeworfen hätte, so als vermutete er eine Klapperschlange, die über den Garagenboden glitt.

Mike stand hinter ihm, ein Kartenspiel mit blauen Rückseiten in der Hand. »Willst du sie?« fragte er.

Bill stieß einen langen zittrigen Seufzer aus. »Vermutlich hast du auch Wäscheklammern parat?«

Mike holte vier aus der Tasche und hielt sie ihm auf der offenen Handfläche hin.

»Die hast du wohl auch ganz zufällig?«

»Ganz zufällig«, sagte Mike.

Bill nahm die Karten und versuchte sie zu mischen. Seine Hände zitterten, und die Karten fielen ihm aus den Händen. Sie landeten überall auf dem Fußboden... aber nur zwei mit der Vorderseite nach oben. Bill warf einen Blick auf die Karten, dann schaute er Mike an, der auf die verstreuten Karten starrte. Sein braunes Gesicht war ganz grau geworden.

Die beiden Karten waren Pik-Asse.

»Das ist doch unmöglich«, flüsterte Mike. »Ich hab' das Spiel gerade erst geöffnet. Schau!« Er deutete auf den Abfallkorb in der Nähe der Garagentür, und Bill sah die Zellophanverpackung. »Wie kann ein Kartenspiel zwei Pik-Asse enthalten?«

Bill bückte sich und hob sie auf. »Wie können von einem ganzen Kartenspiel nur zwei Karten mit der Vorderseite nach oben landen?« fragte er. »Das ist eine noch bessere Fra...«

Er drehte die Karten um und zeigte sie Mike. Das eine Pik-As hatte eine blaue, das andere eine rote Rückseite.

»Ganz wie in alten Zeiten«, sagte Bill, und seine Stimme schwankte beim letzten Wort. »Mein Gott, Mikey, in was hast du uns da nur hineingezogen?«

»Was wirst du mit den Karten machen?« fragte Mike tonlos.

»Sie anbringen«, sagte Bill und begann zu lachen. »Das wird doch wohl von mir erwartet. >Wenn es bestimmte Voraussetzungen für den Glauben an magische Kräfte gibt, der es ermöglicht, die erforderlichen magischen Kräfte auszuüben, so werden sich diese Voraussetzungen unweigerlich einstellen.< Das hast du doch selbst gesagt!«

Mike gab keine Antwort. Er beobachtete, wie Bill die Spielkarten an Sil-vers Hinterrad befestigte. Seine Hände zitterten immer noch, und er brauchte eine Weile dazu, aber schließlich schaffte er es doch. Er holte tief Luft, hielt den Atem an und gab dem Rückrad einen Stoß. Es begann sich zu drehen, und das maschinengewehrartige Knattern der Karten durchbrach die Stille der Garage.

»Komm«, sagte Mike leise. »Komm mit uns ins Haus, Big Bill. Ich mach' uns was zu essen.«

Das hatte er getan, sie hatten gegessen, und nun saßen sie rauchend da. Bill sah an der Wand eine Tafel für Notizen mit einem Kreidestift. Er nahm den Stift zur Hand und schrieb etwas auf die Tafel.

»Sagt dir das irgend etwas?« fragte er Mike.

Mike las langsam vor: »Im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister.« Er nickte. »Ja, ich weiß, was das ist.«

»Also, dann erklär's mir bitte. Aber sag nicht wieder, ich würde irgendwann von allein darauf kommen.«

»Okay«, sagte Mike, »ich werd's dir erklären. Es ist so 'ne Art Zungenbrecher, der als Sprechübung verwendet wird... unter anderem für Stotterer. Deine Mutter hat in jenem Sommer immer auf dich eingeredet, du solltest den Satz üben. Im Sommer 1958. Du bist herumgelaufen und hast ihn ständig vor dich hingemurmelt.«

»Hab' ich das?« sagte Bill, und dann beantwortete er selbst seine Frage: »Ja, das hab' ich.«

»Dir muß sehr viel daran gelegen haben, deiner Mutter eine Freude zu machen.«

Bill nickte nur. Er traute sich nicht zu reden, weil er befürchtete, in Tränen auszubrechen.

»Du hast es nie geschafft, diesen Satz fließend zu sprechen«, erzählte Mike. »Du bist immer irgendwo steckengeblieben.«

»Aber ich habe ihn zu Ende gebracht«, widersprach Bill plötzlich. »Zumindest einmal.«

»Wann?«

Bill schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch. »Ich erinnere mich nicht!« rief er zornig. Und dann wiederholte er noch einmal, diesmal leise und tonlos: »Ich kann mich einfach nicht daran erinnern.«

Zwölftes Kapitel Drei ungebetene Gäste 1

Zum drittenmal an diesem Tag - diesem langen, langen Tag - ging Kay McCall zum Telefon. Diesmal kam sie etwas weiter als bei ihren vorherigen Versuchen; diesmal wartete sie, bis der Hörer am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde und eine kräftige irische Polizistenstimme sagte: »Polizeiwache Sixth Street, Sergeant O'Banion. Ja bitte, worum handelt es

sich?«, bevor sie auflegte.

Mein Gott, du machst wirklich tolle Fortschritte. Beim achten oder neunten Anruf wirst du dann vielleicht endlich den Mumm haben, ihm deinen Namen zu nennen.

Sie ging in die Küche und mixte sich einen schwachen Scotch mit Soda, obwohl sie wußte, daß es zusammen mit Darvon nicht gerade das Vernünftigste war. Sie betrachtete sich im Spiegel über der Bar und sah eine Frau mit zugeschwollenem Auge, wahnsinnig geschwollener Nase - die zudem noch so rot war wie die eines Säufers -, zerkratzter Wange und mit einem Arm in der Schlinge.

»Hier ist sie... Miß America«, trällerte sie; ihre Stimme sollte hart und zynisch klingen, aber sie brach bei der letzten Silbe. Es war eine verängstigte Stimme, stellte sie fest. Sie hatte auch früher schon manchmal Angst gehabt, diesen Zustand aber immer ziemlich rasch überwunden. Diesmal würde sie vermutlich lange dazu brauchen.

Der Arzt, der sie in einer der kleinen Kabinen für ambulante Notfälle im nahe gelegenen Sisters of Mercy Hospital behandelt hatte, war jung und sah gut aus. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht überlegt, wie sie ihn am besten zu sich nach Hause und in ihr Bett bringen könnte. Aber im Moment war ihr nicht nach Sex zumute. Schmerzen und Angst hatten ihr jedes sexuelle Begehren genommen.

Der Arzt hieß Geffin, und es mißfiel ihr, daß er sie so aufmerksam betrachtete. Er füllte einen kleinen weißen Pappbecher am Waschbecken zur Hälfte mit Wasser, dann holte er eine Packung Carlton 100 aus seiner Schreibtischschublade und bot ihr eine Zigarette an.

Sie nahm eine, und er gab ihr Feuer. Ihre Hand zitterte so, daß es ihm nicht gleich gelang, das Streichholz ans Ende ihrer Zigarette zu halten. Dann zündete er seine eigene an und warf das Streichholz in den Pappbecher. Fsss.

»Ich könnte genausogut Krautblätter rauchen«, sagte er.

»Orale Fixierung«, stellte Kay fest.

Er nickte, dann trat wieder Schweigen ein. Er betrachtete sie weiterhin aufmerksam, und das war ihr unangenehm. Sie hatte das Gefühl, als erwarte er, daß sie weinen würde, und auch das war ihr unangenehm. Sie spürte, daß sie wirklich den Tränen nahe war, und das war ihr am unangenehmsten von allem.

»Freund?« fragte er schließlich.»

»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«

»Hmmm.« Er rauchte, ohne den Blick von ihr zu wenden.

»Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, daß es unhöflich ist, jemanden anzustarren?« Es hätte ironisch klingen sollen, aber in Wirklichkeit hörte es sich wie eine flehende Bitte an: Hören Sie auf, mich anzuschauen, ich weiß selbst, wie ich aussehe, ich hab's im Spiegel gesehen. Diesem Gedanken folgte ein anderer, den ihre Freundin Beverly vermutlich mehr als einmal gehabt hatte: die schlimmsten Folgen der Prügel waren innerer Art - man erlitt davon so etwas wie geistige Blutungen. O ja, sie wußte, wie sie aussah. Und was noch schlimmer war - sie fühlte sich auch entsprechend. Hundeelend fühlte sie sich. Und sie hatte Angst. Sie, die emanzipierte Kay McCall hatte Angst -und das empfand sie als beschämend.

»Ich sage Ihnen folgendes nur einmal«, sagte Dr. Geffin. Seine Stimme war tief und angenehm. »Wenn ich hier Dienst habe, sehe ich etwa zwei Dutzend mißhandelte Frauen pro Woche. Die Internisten behandeln etwa weitere zwei Dutzend. Hier auf dem Schreibtisch steht ein Telefon. Rufen Sie - auf meine Kosten - die Polizei an und erzählen Sie, was passiert ist, und wer das getan hat. Danach hole ich dann die Flasche Bourbon raus, die dort drüben im Aktenschrank steht - ausschließlich für medizinische Zwecke, versteht sich -, und wir trinken darauf einen. Ich persönlich bin nämlich der Meinung, daß es nur ein Lebewesen gibt, das niedriger ist als ein Mann, der eine Frau schlägt - eine Ratte mit Syphilis.«

Kay lächelte schwach. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen«, sagte sie, »aber ich will keine Anzeige erstatten. Zumindest nicht jetzt.«

»Hmmm«, sagte er. »Okay. Aber wenn Sie wieder zu Hause sind, sollten Sie sich genau im Spiegel betrachten, Mrs. McCall. Wer immer es auch gewesen sein mag - er hat gute Arbeit geleistet.«

Daraufhin brach sie wirklich in Tränen aus; sie konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten.

Sie hatte Beverly morgens zum Bus gebracht und war dann nach Hause gegangen. Gegen Mittag hatte Tom Huggins angerufen und gefragt, ob sie Bev gesehen hätte. Er hatte sich ganz ruhig und vernünftig angehört, kein bißchen aufgeregt. Kay hatte ihm erklärt, sie hätte Beverly seit fast zwei Wochen nicht gesehen. Tom hatte sich bedankt und aufgelegt.

Gegen drei Uhr - sie war in ihrem Arbeitszimmer gewesen - hatte es an der Tür geklingelt.

»Wer ist da?« fragte sie.

»Cragin's Flowers, Madam- ich soll Blumen für Sie abgeben«, antwortete jemand, und sie war dumm genug gewesen, nicht zu erkennen, daß Tom seine Stimme verstellt hatte, sie war dumm genug gewesen zu glauben, daß Tom Huggins so leicht aufgegeben hatte, und sie war dumm genug gewesen, die Kette abzunehmen, bevor sie die Tür öffnete.

Er war hereingestürmt, und sie kam nur bis »Mach, daß du hier raus...«, bevor seine Faust auf ihrem rechten Auge landete und ein rasender Schmerz ihren Kopf durchfuhr. Sie war rückwärts durch die Eingangshalle getaumelt und hatte vergeblich versucht, sich an irgend etwas festzuhalten; dabei war eine zarte Rosenvase zu Bruch gegangen, ein Garderobenständer war umgestürzt, und sie selbst war doch auf dem Boden gelandet. Ihr rechtes Auge schwoll rasch zu, aber mit dem anderen sah sie, daß Tom die Eingangstür zuschmetterte.

»Mach, daß du hier rauskommst!« schrie sie.

»Sobald du mir gesagt hast, wo sie ist«, sagte Tom und kam auf sie zu. Ihr fiel auf, daß Tom nicht allzugut aussah - besser gesagt, schrecklich aussah -, und trotz ihrer Angst war sie erfüllt von einem wilden Triumphgefühl. Was auch immer Tom Beverly angetan hatte, es hatte ganz den Anschein, als hätte sie es ihm so gut wie möglich heimgezahlt. Dicht über der linken Augenbraue hatte Tom eine häßliche purpurrote Beule; etwas höher eine Schnittwunde. Eine weitere Schwellung war an der rechten Schläfe, direkt am Haaransatz (Kay konnte es natürlich nicht wissen, aber dort hatte der Toilettentisch ihn getroffen). Beide Wangen wiesen zickzackförmige Schnittwunden auf. Seine Lippen waren dick geschwollen. Und er hinkte sehr stark, so als hätte er eine Knieverletzung.

Kay rappelte sich hoch und wich vor ihm zurück, ohne den Blick von ihm zu wenden; sie behielt ihn im Auge wie ein wildes Tier, das aus seinem Käfig entkommen ist. Ihr rechtes, fast zugeschwollenes Auge schmerzte unerträglich.

»Ich hab' dir gesagt, daß ich sie nicht gesehen habe, und das ist die Wahrheit«, erklärte sie. »Und jetzt verschwinde, bevor ich die Polizei anrufe.«

»Du hast sie gesehen!« schrie Tom, und seine geschwollenen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Seine Zähne sahen sonderbar gezackt aus, und sie begriff, daß ein paar Vorderzähne abgebrochen waren. »Ich rufe an und erzähle dir, daß ich nicht weiß, wo Bev ist. Du sagst, du hättest sie seit zwei Wochen nicht gesehen. Du fragst nichts, machst keine anzüglichen Bemerkungen, obwohl ich verdammt gut weiß, daß du mich haßt wie die Pest. Also - wo ist sie, du Verdammte Drecksau? Sag's mir!«

Sie drehte sich um und rannte auf den Salon zu, dessen Schiebetüren aus Mahagoni einen Riegel hatten. Aber obwohl er mit seinem verletzten Bein nicht schnell laufen konnte, gelang es ihm, seinen Körper zwischen die Türen zu zwängen, bevor sie sie ganz schließen konnte. Sie drehte sich um und wollte wieder wegrennen; er packte sie am Kleid und zerrte so heftig daran, daß das ganze Rückenteil bis zur Taille aufriß. Deine Frau hat dieses Kleid gemacht, du Scheißkerl! dachte Kay, und dann wurde sie herumgerissen.

»Wo ist sie?«

Kay schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht, so daß die Schnittwunde auf der linken Wange wieder zu bluten begann. Er packte sie bei den Haaren und schmetterte ihren Kopf gegen seine Faust. Sie hatte im ersten Moment das Gefühl, als wäre ihre Nase explodiert. Sie schrie, holte Luft, um wieder zu schreien, und begann statt dessen zu husten, weil sie Blut geschluckt hatte. Sie hatte jetzt entsetzliche Angst; sie hatte bisher nie gedacht, daß man solche Angst haben konnte. Dieser wahnsinnige Scheißkerl würde sie ohne weiteres umbringen.

Sie schrie, und dann boxte er sie in den Magen, und sie konnte nur noch keuchen. Sie keuchte und hustete gleichzeitig, und einen fürchterlichen Moment lang glaubte sie, an ihrem eigenen Blut zu ersticken.

»Wo ist sie?«

Kay schüttelte den Kopf. »Hab'... hab' sie nicht gesehn«, japste sie. »Polizei. .. du landest im Kittchen... Arschloch...«

Er riß sie am Arm hoch, und ein wahnsinniger Schmerz durchzuckte ihre Schulter. Dann verrenkte er ihr den Arm nach hinten, und sie biß sich auf die Unterlippe und schwor sich, nicht mehr zu schreien.

»Wo ist sie?«

Kay schüttelte den Kopf.

Er riß ihren Arm wieder nach oben, mit solcher Kraft, daß sie ihn dabei grunzen hörte und seinen heißen Atem an ihrem Ohr spürte. Dann landete seine geballte rechte Faust auf ihrem linken Schulterblatt, und nun schrie sie doch wieder, weil der Schmerz schier unerträglich war.

»Wo ist sie?«

».. .weiß...«

»Was?«

»Ich weiß es nicht.«

Er gab ihr einen Stoß und ließ sie los. Sie fiel schluchzend zu Boden; Blut und Schleim rann ihr aus der Nase. Dann hörte sie ein Krachen, und als sie den Kopf umdrehte, stand Tom über sie gebeugt da. Er hatte den oberen Rand einer Kristallvase abgeschlagen und hielt sie so, daß der gezackte Hals direkt vor ihrem Gesicht war. Sie starrte wie hypnotisiert darauf.

»Jetzt werde ich dir mal was sagen«, keuchte er. »Du erzählst mir schleunigst, wo sie hin ist, oder du kannst deine Visage auf dem ganzen Fußboden zusammensuchen, du großmäulige Nutte du! Du hast drei Sekunden Zeit, vielleicht auch weniger. Wenn ich wütend bin, glaub' ich nämlich immer, daß die Zeit viel schneller vergeht!«

Mein Gesicht, dachte sie, und bei dem Gedanken, daß dieses Monster ihr Gesicht mit dem gezackten Hals der Kristallvase zerschneiden würde, gab sie endlich nach.

»Sie ist heimgefahren«, schluchzte sie. »In ihre Heimatstadt. Der Ort heißt Derry, in Maine. Mehr weiß ich auch nicht. Bitte geh jetzt. Bitte, Tom, bitte!«

»Wie kommt sie dorthin?«

»Sie hat einen Bus nach Milwaukee genommen. Von dort wollte sie fliegen.«

»So ein verdammtes Drecksluder!« brüllte Tom, richtete sich auf und lief ziellos im Halbkreis durchs Zimmer. Sein Gesichtsausdruck war der eines Wahnsinnigen. »Dieses Drecksluder, diese billige Nutte, diese verdammte Fotze!« Plötzlich packte er die zarte, kunstvoll geschnitzte Holzskulptur eines Paars beim Liebesakt, die Kay seit ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr besaß, und schleuderte sie zu Boden, wo sie in vier Teile zerbrach. Er trat dicht an den Spiegel über dem großen Kamin heran und starrte sich einen Moment lang an wie ein Gespenst. Dann wandte er sich wieder nach ihr um. Er zog etwas aus der Tasche seines Sportsakkos hervor, und sie stellte überrascht fest, daß es ein Taschenbuch war. Der Einband war schwarz, abgesehen von den roten Buchstaben des Titels und dem Bild einiger junger Leute auf einer hohen Felsklippe über einem Fluß. >The Black Ra-pids<.

»Wer ist dieser Scheißkerl?«

»Was? Wen meinst du?«

»Denbrough. Denbrough.« Er schwenkte das Buch ungeduldig vor ihrem Gesicht hin und her, dann schlug er damit kräftig zu. Ihre Wange glühte vor Schmerz. »Wer ist dieser Kerl?«

Ihr ging ein Licht auf.

»Als Kinder waren sie Freunde. Sie sind beide in Derry aufgewachsen.«

Er schlug sie wieder mit dem Buch, diesmal auf die andere Wange.

»Bitte«, schluchzte sie. »Bitte, Tom.«

Er zog einen frühamerikanischen Stuhl mit dünnen Beinen zu sich her, setzte sich rittlings darauf und starrte sie über die Rückenlehne hinweg an. Der Stuhl knarrte bedenklich unter seinem Gewicht.

»Hör mir gut zu«, sagte er. »Hör deinem guten alten Onkel Tommy jetzt mal ganz gut zu. Hörst du zu, du Drecksau?«

Sie nickte. Sie hatte den Geschmack von Blut in der Kehle. Ihre Schulter brannte wie Feuer. Sie hoffte inbrünstig, daß sie nur ausgerenkt und nicht gebrochen war. Aber das war nicht das Schlimmste. Mein Gesicht... er wollte mir das Gesicht zerschneiden...

»Wenn du die Polizei anrufst und erzählst, ich sei hier bei dir gewesen, werde ich alles abstreiten. Du kannst nicht das geringste beweisen. Dein Dienstmädchen hat seinen freien Tag, wir sind ganz unter uns. Natürlich kann es sein, daß sie mich trotzdem verhaften, möglich ist schließlich alles, nicht wahr?«

Sie nickte wieder, so als wäre ihr Kopf an einer Schnur befestigt.

»Ja, möglich ist alles. Aber in diesem Falle würde ich gegen Kaution freikommen, und dann würde ich auf direktem Wege hierher eilen und dich kaltmachen wie Isebel. Deine Titten wird man auf dem Küchentisch finden, deine Augen in diesem verdammten Aquarium. Hast du mich verstanden? Hast du deinen guten alten Onkel Tommy verstanden?«

Kay brach wieder in Tränen aus. Jene Schnur an ihrem Kopf funktionierte noch: sie nickte immer wieder.

»Warum ist sie dorthin gefahren?«

»Ich weiß es nicht«, schrie Kay.

Er schwenkte die abgebrochene Vase vor ihrer Nase hin und her.

»Ich weiß es nicht«, wiederholte sie leiser. »Bitte. Sie hat's mir nicht erzählt. Bitte... bitte tu mir nichts mehr.«

Er warf die Vase zerstreut in einen Papierkorb und stand auf. In diesem Moment hatte sie Gott mit heißer Inbrunst dafür gedankt, daß Tom ihr geglaubt hatte (und im nachhinein fand sie es mit am schrecklichsten, am beschämendsten, daß sie das wirklich geglaubt hatte und ihm noch dankbar gewesen war). Später war sie überzeugt davon, daß er die Waffe nur weggeworfen hatte, weil es ihn eigentlich gar nicht besonders interessierte, warum Bev nach Derry gefahren war. Wichtig war für ihn nur eins: daß sie es gewagt hatte, Tom Huggins zu verlassen, daß sie die Tollkühnheit besessen hatte, Tom Huggins zu verletzen.

Er ging.

Kay lief hinterher und verschloß die Tür. Danach ging sie in die Küche und schloß auch diese Tür ab. Daraufhin humpelte sie die Treppe hinauf, so schnell ihr schmerzender Magen es ihr erlaubte, und machte die Glastür zur

oberen Veranda zu - es war immerhin nicht ganz auszuschließen, daß er an einem der Pfeiler hochklettern und auf diesem Wege wieder ins Haus kommen würde. Er war zwar verletzt - aber er war auch wahnsinnig.

Dann ging sie zum erstenmal zum Telefon und legte ihre Hand auf den Hörer.

In diesem Falle würde ich gegen Kaution freikonimen, und dann würde ich auf direktem Wege hierher eilen und dich kaltmachen wie Isebel... deine Titten auf dem Küchentisch, deine Augen in diesem verdammten Aquarium.

Sie hatte ihre Hand vom Hörer zurückgerissen, als wäre er plötzlich glühend heiß.

Sie ging ins Bad und betrachtete ihre rote geschwollene Nase, ihr blaues Auge. Sie weinte nicht; ihre Scham und ihr Entsetzen waren für Tränen zu groß. O Bev, Liebling, ich habe mein Bestes getan, dachte sie. Aber mein Gesicht ... er drohte, mir das Gesicht zu zerschneiden...

In ihrem Arzneimittelschränkchen war Darvon und Valium. Sie schwankte, was sie einnehmen sollte, und schluckte schließlich von bei-dem je eine Tablette. Danach suchte sie das Sisters of Mercy Hospital auf und ließ sich dort von Dr. Geffin verarzten, der im Augenblick der einzige Mann war, dem sie nicht die Pest an den Hals wünschte.

Und nun stand sie am Fenster und schaute hinaus. Die Sonne war schon tief am Horizont, und an der Ostküste würde es jetzt schon fast dunkel sein - fast sieben Uhr abends.

Du kannst später entscheiden, ob du die Bullen anrufen sollst. Das Wichtigste ist jetzt, Beverly zu erreichen. Sie zu warnen.

Sie rief in der öffentlichen Bücherei an und wurde mit der Abteilung für Nachschlagewerke verbunden. Während die Bibliothekarin nachschaute, blieb Kay am Apparat und spürte die Schmerzwellen in ihrer Schulter. Dann kam die Frau zurück und sagte, es täte ihr leid, sie hätten zwar das Telefonbuch von Bangor, aber keines von Derry und Umgebung. Kay bedankte sich und legte den Hörer auf.

Obwohl sie vor zwei Jahren das Rauchen aufgegeben hatte, bewahrte sie für Notfälle eine Packung Pall Mall in ihrer Schreibtischschublade auf. Nun, dies war bestimmt ein Notfall. Sie holte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Sie hatte etwa im Dezember 1982 zuletzt aus dieser Pak-kung geraucht, und die Zigarette schmeckte wie die bei Dr. Geffin schal. Sie zog trotzdem kräftig daran und kniff ihr gesundes Auge gegen den Rauch halb zu.

Mit der linken Hand - der Hundesohn hatte ihre rechte Schulter ausgerenkt - wählte sie ungeschickt die Nummer der Fernsprechauskunft in Maine und bat um Name und Nummer jedes Hotels und Motels in Derry.

»Madam, das würde etwa zehn Minuten in Anspruch nehmen«, sagte das Fräulein bei der Auskunft.

»Es wird sogar noch länger dauern, Schwester«, erwiderte Kay. »Ich muß mit der linken Hand schreiben. Meine rechte hat gerade Urlaub.«

»Es ist nicht üblich...«

»Hören Sie mal zu, Schwester«, erklärte Kay nicht unfreundlich. »Ich rufe aus Chicago an, und ich versuche eine Freundin zu erreichen, die gerade ihren Mann verlassen hat und in ihre Heimatstadt Derry gefahren ist.

Ihr Mann weiß, wo sie ist. Und er ist auch der Grund dafür, daß meine rechte Hand jetzt Urlaub hat, aber das ist eine andere Geschichte. Dieser Mann ist ein Psychopath. Sie muß wissen, daß er kommt.«

Nach langer Pause sagte das Fräulein von der Auskunft: »Ich glaube, was Sie brauchten, wäre die Nummer der Polizei in Derry.«

»Wenn ich meine Freundin nicht anders erreichen kann, werde ich die Polizei verständigen müssen«, sagte Kay. »Aber mir war's lieber, wenn sie das selbst tun würde. Und...« Sie dachte an Toms Schnittwunden, die Schwellungen auf seiner Stirn und Schläfe, an sein Humpeln und die geschwollenen Lippen. »Und wenn sie weiß, daß er kommt, reicht das vielleicht schon.«

Wieder trat ein längeres Schweigen ein.

»Sind Sie noch da?« fragte Kay.

»Arlington Motor Lodge«, sagte das Fräulein. »943-8146. Bassey Park Inn. 948-4083. The Bunyan Motor Court...«

»Bitte etwas langsamer«, bat Kay, während sie ungeschickt mitschrieb. Sie hielt Ausschau nach einem Aschenbecher, sah keinen und drückte die Zigarette auf dem Löschpapier aus. »Okay, jetzt kann's weitergehen.«

2

Beim neunten Anruf konnte Kay wenigstens einen Teilerfolg verbuchen. Beverly Huggins war im Derry ibwn House gemeldet. Nur ein Teilerfolg war es, weil Beverly nicht in ihrem Zimmer war. Als Kay anrief, saß sie gerade mit Bill, Richie, Ben, Eddie und Mike an einem Tisch in der Bücherei. Kay hinterließ ihren Namen und ihre Telefonnummer und eine Nachricht, daß Beverly sie anrufen sollte, sobald sie ins Hotel zurückkommen würde, ganz egal, wie spät es sein mochte. Es wäre sehr dringend.

Der Mann am Empfang wiederholte ihre Nachricht, und dann ging Kay nach oben und schluckte noch ein Valium. Sie legte sich hin und versuchte einzuschlafen. Aber es gelang ihr nicht. Es tut mir so leid, Bev, dachte sie, vom Valium etwas benommen. Als er das von meinem Gesicht sagte... das konnte ich einfach nicht ertragen. Ruf bald an, Bev. Bitte ruf bald an. Und sei auf der Hut vor dem verrückten Hundesohn, den du geheiratet hast.

3

Der verrückte Hundesohn, den Bev geheiratet hatte, hatte bessere Flugverbindungen als sie, weil er vom O'Hare abflog, einem der drei großen Flughäfen der USA. Während des Fluges las er immer wieder die kurzen Angaben über den Verfasser am Ende von >The Black Rapids<. Dort hieß es, daß William Denbrough aus Neuengland stamme, und daß dies sein vierter Roman sei (die drei vorausgegangenen seien ebenfalls als SignetTaschenbücher erschienen, stand hilfreich dabei). Er lebe mit seiner Frau, der Schauspielerin Audra Phillips, in Kalifornien. Er arbeite gerade an einem neuen Roman. Da die Taschenbuchausgabe von >The Black Rapids< von 1978 war, vermutete Tom, daß der Kerl seitdem zahlreiche weitere Romane geschrieben hatte.

Audra Phillips... die hatte er doch schon im Kino gesehen, oder nicht? Er merkte sich Schauspielerinnen nur selten - seine Lieblingsfilme waren Krimis und Thriller mit wilden Verfolgungsszenen oder aber Horrorgeschichten mit unheimlichen Monstern -, aber Audra Phillips war ihm aufgefallen, weil sie große Ähnlichkeit mit Beverly hatte: lange rote Haare, prachtvolle Titten.

Er setzte sich aufrechter hin, klopfte sich mit dem Taschenbuch ans Bein und versuchte, die dumpfen Schmerzen im Kopf und im Mund einfach zu ignorieren. Ja, er war sich ganz sicher. Audra Phillips war die Rothaarige mit den tollen Titten. Er hatte sie in einem Clint-Eastwood-Film gesehen und etwa ein Jahr später - zusammen mit Beverly - in einem Horrorfilm namens >Graveyard Moon<. Nach der Vorstellung hatte er Beverly gesagt, daß die Schauspielerin ihr sehr ähnlich sehe. »Das finde ich nicht«, hatte Bev erwidert. »Ich bin größer, und sie ist hübscher. Und ihr Haar hat einen dunkleren Rotton.« Das war alles gewesen, und er hatte bis jetzt nicht mehr daran gedacht.

Denbrough und seine Frau, die Schauspielerin Audra Phillips...

Tom hatte gewisse Kenntnisse in Psychologie; er hatte sie dazu verwendet, seine Frau in all den Jahren ihrer Ehe zu manipulieren. Und nun verspürte er ein nagendes, bohrendes Unbehagen bei dem Gedanken, daß Bev und dieser Denbrough als Kinder zusammen gespielt hatten, und daß Denbrough eine Frau geheiratet hatte, die Beverly - trotz ihrer Einwände - verblüffend ähnlich sah.

Was für Spiele hatten Denbrough und Beverly als Kinder gespielt? Monopoly? Kaufladen? Post?

Oder andere Spiele?

Tom saß aufrecht in seinem Sitz und spürte, wie seine Schläfen zu pochen begannen.

Während Kay McCall vergeblich versuchte, Beverly telefonisch zu erreichen, landete der United Airlines Jet mit Tom an Bord schon auf dem Bosto-ner Logan Airport. Und um halb neun, als Ben Hanscom sich plötzlich in allen Einzelheiten daran erinnerte, was mit dem Silberdollar passiert war, bestieg Tom Delta Flug 703 nach Bangor.

Vierzig Minuten später war er auf dem Flughafen in Bangor und ging von einer Mietwagenagentur zur anderen. Die Mädchen betrachteten nervös sein zerschlagenes und gefährliches Gesicht und erklärten ihm (noch nervöser), sie hätten keine Mietwagen.

Tom begab sich zum Zeitungskiosk und kaufte eine Lokalzeitung. Er setzte sich und studierte die Seite mit den Verkaufsannoncen, ohne auf die neugierigen Blicke von Passanten zu achten. Er fand drei vielversprechende Anzeigen. Der erste Mann, den er anrief, war nicht zu Hause. Beim zweiten hatte Tom Glück.

»In der Zeitung steht, Sie hätten einen 76er LTD-Wagen zu verkaufen«, sagte Tom. »Für 1400 Dollar.«

»Das stimmt.«

»Nun, ich mach' Ihnen einen Vorschlag«, fuhr Tom fort und tastete nach der Brieftasche in seinem Jackett, die mit Banknoten prall gefüllt war - 6000 Dollar. »Sie bringen ihn zum Flughafen, und wir schließen das Geschäft dort sofort ab. Sie geben mir das Auto und einen Verkaufsbrief, und ich bezahle in bar.«

Der Mann, der seinen Stationswagen verkaufen wollte, überlegte kurz und sagte dann: »Ich müßte aber meine Nummernschilder abnehmen.«

»Das ist mir klar.«

»Und wie erkenne ich Sie, Mr....?«

»Mr. Barr«, sagte Tom. Direkt vor ihm war ein großes Plakat mit der Aufschrift BAR HARBOR AIRLINES LEGT IHNEN NEUENGLAND zu FÜSSEN - UND DIE ganze welt! »Ich werde am Seiteneingang stehen. Und mein Gesicht ist ganz verschwollen. Meine Frau und ich sind gestern Rollschuh gelaufen, und dabei bin ich böse gestürzt. Aber es hätte schlimmer kommen können. Ich habe mir wenigstens nichts gebrochen.«

»Oh, das tut mir aber leid, Mr. Barr.«

»Ich werd's überleben. Bringen Sie den Wagen möglichst schnell her.«

Er legte auf, ging zum Seiteneingang und trat in den warmen, duftenden Maiabend hinaus. Jetzt war er direkt froh, daß alles so gekommen war.

Der Bursche, der sein Auto verkaufen wollte, war zehn Minuten später schon zur Stelle. Er war noch blutjung. Sie machten das Geschäft perfekt; der Junge schrieb einen Verkaufsbrief aus, den Tom gleichgültig in seine Manteltasche schob. Dann sah er zu, wie der Bursche die Nummernschilder abschraubte.

»Ich geb' Ihnen drei Dollar extra für den Schraubenzieher«, sagte Tom, als der Junge fertig war.

Dieser sah ihn nachdenklich an, als erwarte er eine Erklärung. Als keine erfolgte, zuckte er die Achseln, gab Tom den Schraubenzieher und nahm die drei Dollar. Tom sah ihn in ein Taxi steigen, dann setzte er sich ans Steuer des Fords.

Es war ein Scheißkarren; die Triebwelle ächzte, die Bremsen funktionierten nicht richtig, die Karosserie klapperte. Aber das störte Tom nicht. Er fuhr auf den Parkplatz, stellte seinen Wagen neben einem Subara ab, der so aussah, als stünde er schon ziemlich lange da, schraubte die Nummernschilder des Subarus ab und montierte sie an seinem Stationswagen. Er summte vergnügt bei der Arbeit.

Gegen zehn fuhr er auf der Route 2 ostwärts; auf dem Nebensitz lag eine Straßenkarte von Maine. Er hatte festgestellt, daß das Autoradio nicht funktionierte, aber das machte ihm nichts aus. Er hatte über vieles nachzudenken. Über all die wundervollen Dinge, die er mit Beverly anstellen würde, sobald er sie gefunden hatte.

Er war sich ganz sicher, daß Beverly irgendwo in der Nähe war. Und daß sie rauchte.

O mein liebes Mädchen, du hast dich mit dem falschen Mann eingelassen, als du mit Tom Huggins gefickt hast. O ja, das kann man wohl sagen. Die Frage ist jetzt nur: was sollen wir mit dir machen?

Der Ford fuhr durch die Nacht, und als Tom Newport erreichte, das schon so gut wie ausgestorben war, wußte er, was er mit Beverly machen würde. Er entdeckte auf der Hauptstraße einen Laden, der gerade schließen wollte. Er ging hinein und kaufte eine Stange Camel-Zigaretten. Der Besitzer wünschte ihm einen guten Abend. Tom wünschte ihm das gleiche.

Er legte die Zigarettenstange auf den Nebensitz, fuhr langsam weiter auf der Route 2 und hielt Ausschau nach der richtigen Abzweigung. Da war sie, Route 3, mit einem Wegweiser, auf dem derry 15 meilen stand.

Er bog ab und fuhr dann wieder schneller. Er warf einen Blick auf die Zigaretten und lächelte ein wenig. Im grünen Schein des Armaturenbretts sah sein Gesicht eigenartig dämonisch aus. Ich hob' Zigaretten für dich, Bevvie, dachte Tom, während der Wagen mit etwas mehr als 60 Meilen pro Stunde zwischen Tannenwäldern auf Derry zufuhr. O ja, meine Liebe. Eine ganze Stange. Nur für dich. Und wenn ich dich sehe, mein Schatz, werde ich dich zwingen, sie alle aufzuessen, mit Filter und allem. Und falls dieser Kerl, dieser Denbrough, ebenfalls ein bißchen Erziehung nötig hat, so läßt sich das leicht arrangieren. Kein Problem, Bevvie. Überhaupt kein Problem.

Zum erstenmal, seit das verdammte Drecksluder ihn angegriffen hatte und weggelaufen war, fühlte Tom sich wieder hundertprozentig wohl.

4

Audra Denbrough saß in der ersten Klasse einer DC-10 der British Airways, hoch über dem Atlantik, den sie nicht einmal sehen konnte. Sie hatte Heathrow um zehn vor sechs nachmittags verlassen. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß Flug 23 von London nach Los Angeles eine Zwischenlandung zum Auftanken machte... in Bangor.

Der Tag hatte etwas von einem verrückten Alptraum an sich gehabt. Freddie Firestone, der Regisseur von >Attic Room<, hatte natürlich Bill gebraucht. Es hatte Ärger mit der Stuntwoman gegeben, die anstelle von Audra die Dachbodentreppe hinunterstürzen sollte. Auch diese Ersatzleute hatten eine Gewerkschaft, und die Frau hatte anscheinend ihr Soll für diese Woche erfüllt oder irgend so was Ähnliches. Die Gewerkschaft forderte, daß Freddie entweder einen Wisch für höhere Bezahlung unterschreiben oder eine weitere Frau engagieren sollte - nur war gar keine andere verfügbar. Freddie erklärte dem Gewerkschaftsboß, daß dann eben ein Mann die Szene spielen sollte. Eine kastanienbraune Perücke war ohnehin vorhanden, weil die Stuntwoman kurzes blondes Haar hatte, und der Stuntman könnte ja an den richtigen Stellen ein bißchen ausgepolstert werden - der Sturz sollte sowieso in voller Bekleidung und nicht etwa in Unterwäsche gefilmt werden.

Aber der Gewerkschaftsboß erklärte, das ginge nicht. Es verstieße gegen die Gewerkschafts Vorschriften. Ein Mann dürfe keine Frauenrolle übernehmen. Das wäre sexuelle Diskriminierung.

An dieser Stelle war Freddie der Geduldsfaden gerissen. Er erklärte dem Typen, einem fetten, schwitzenden Mann, der bestialisch stank, er könne ihn mal... Der Gewerkschaftsboß erwiderte darauf, Freddie solle lieber vorsichtig sein mit dem, was er sagte, sonst würden ihm für seinen Film keine Stunts mehr zur Verfügung stehen; dann machte er mit Daumen und

Zeigefinger eine >Bakschisch<-Geste, die Freddie zur Weißglut trieb. Der Gewerkschaftsboß war zwar groß, aber weichlich; Freddie, der immer noch jede Gelegenheit zum Footballspielen ausnutzte und früher auch ein erstklassiger Kricketspieler gewesen war, warf das Arschloch hinaus und zog sich zum Nachdenken in sein Büro zurück. Zwanzig Minuten später kam er wieder zum Vorschein und brüllte nach Bill. Er wollte die ganze Szene so umgeschrieben haben, daß der Sturz gestrichen werden konnte. Audra hatte ihm daraufhin mitteilen müssen, daß Bill nicht mehr in England war. »Was?« sagte Freddie. Ihm klappte der Unterkiefer herunter, und er starrte Audra an, als hätte sie den Verstand verloren. »Was erzählst du da?« »Er ist in die Staaten zurückgerufen worden.«

Freddie machte eine Geste, als wollte er sie bei den Schultern packen, und Audra wich etwas erschrocken einen Schritt nach hinten. Freddie betrachtete seine Hände, schob sie in die Hosentaschen und starrte sie nur weiter an.

»Es tut mir leid, Freddie«, sagte sie leise. »Wirklich.«

»Würdest du bitte in mein Büro gehen, Audra?« Sie nickte, und er fügte hinzu: »Ich komme sofort nach.«

Sie ging hinein und schenkte sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne auf Freddies Wärmplatte ein. Ihre Hände zitterten leicht. Sie setzte sich und hörte, wie Freddie durch die Studiolautsprecher allen mitteilte, sie könnten nach Hause gehen; die Dreharbeiten seien für heute beendet. Audra zuckte zusammen. Da gingen mindestens 10000 Pfund so einfach den Bach runter.

Fünf Minuten später kam Freddie ins Büro, warf Audra einen prüfenden Blick zu und schenkte sich Kaffee ein. Er setzte sich und bot ihr eine Zigarette an.

Audra schüttelte den Kopf.

Freddie zündete sich eine an und betrachtete sie durch den Rauch. »Es ist etwas Ernstes, ja?«

»Ja«, antwortete Audra. Sie kämpfte mit den Tränen.

»Was ist passiert?«

Und weil sie Freddie wirklich gern hatte und ihm vertraute, erzählte Audra ihm alles wahrheitsgetreu. Freddie hörte sehr aufmerksam und ernst zu. Audras Bericht nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Auf dem Parkplatz wurden immer noch Wagentüren zugeschlagen und Motoren angelassen, als sie schon fertig war.

Freddie schwieg länger und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Schließlich wandte er sich wieder Audra zu. »Er muß einen Nervenzusammenbruch erlitten haben«, sagte er.

Audra schüttelte langsam den Kopf. »Nein. So war es nicht. Er war völlig vernünftig.« Sie schluckte, dann fügte sie hinzu: »Vielleicht hättest du dabei sein müssen.«

Freddie lächelte ein wenig. »Dir muß doch auch klar sein, daß erwachsene Männer sich im allgemeinen nicht an irgendwelche Versprechen gebunden fühlen, die sie als kleine Jungen gemacht haben. Und du hast doch Bills Bücher gelesen; du weißt, daß er unheimlich viel über Kinder schreibt, und das kann er ausgezeichnet. Die Idee, daß er alles vergessen hat, was in seiner Kindheit passiert ist, ist doch völlig absurd.«

»Diese Narben auf seiner Hand«, sagte Audra. »Sie waren nicht da. Bis gestern abend waren sie nie da.«

»Sie sind dir nur nie aufgefallen.«

Sie zuckte hilflos mit den Schultern und konnte nur sagen: »Sie wären mir aufgefallen.«

An seinem Blick erkannte sie, daß er ihr nicht glaubte. Wieder war sie den Tränen nahe.

»Also, was machen wir jetzt?« fragte Freddie, aber sie konnte nur den Kopf schütteln. Freddie zündete sich eine neue Zigarette an. »Die Sache mit dem Gewerkschaftsboß läßt sich ausbügeln«, sagte er nachdenklich. »Mir selbst würde er natürlich im Moment um nichts in der Welt einen anderen Stunt geben. Ich werde am besten Teddy Rowland zu ihm schicken. Teddy ist ein wahrer Überredungskünstler. Aber was dann? Wir haben noch vier Wochen Dreharbeiten vor uns, und dein Mann macht sich einfach aus dem Staub, fliegt nach Massachusetts...«

»Nach Maine...«

Er winkte ab. »Wohin auch immer. Und wirst du ohne ihn in Form sein?«

»Ich...«

Er beugte sich vor. »Ich hab' dich gern, Audra. Ich hab' dich aufrichtig gern. Und Bill mag ich ebenfalls - trotz dieser Scheiße, in die er mich reingeritten hat, mag ich ihn. Wir können's schaffen, glaube ich. Wenn das Drehbuch geändert werden muß, kann ich das tun. Früher habe ich so was oft gemacht. Und wenn das Resultat Bill nicht gefällt, so hat er das ausschließlich sich selbst zuzuschreiben. Ich kann zur Not also ohne Bill auskommen, aber nicht ohne dich. Ich kann nicht zulassen, daß du Hals über Kopf deinem Mann in die Staaten folgst, und ich muß mich darauf verlassen können, daß du hier dein Bestes gibst. Kannst du das?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte er. »Aber du darfst eines nicht vergessen, Audra: in diesem Geschäft sind sowohl Schriftsteller, die Drehbücher verfassen, als auch Schauspielerinnen alles andere als unersetzlich. Wir können eine Zeitlang jedes Aufsehen vermeiden, vielleicht sogar während der ganzen restlichen Dreharbeiten, wenn du wirklich deinen Mann stehst und dein Bestes gibst. Aber wenn auch du abhaust, gibt's einen Skandal. Ich bin kein rachsüchtiger Mensch; ich drohe dir nicht damit, daß ich dafür sorgen werde, daß du nie wieder in dieser Branche arbeitest, wenn du mich jetzt einfach im Stich läßt und abhaust. Aber du solltest wissen, daß dir das Etikett der Launenhaftigkeit und Unzuverlässigkeit für immer anhaften wird, wenn du's erst einmal hast. Ich rede mit dir wie ein väterlicher Freund, ich weiß. Nimmst du's mir übel?«

»Nein«, sagte sie apathisch. Es war ihr, offen gesagt, ziemlich egal, was und wie er es vorbrachte. Sie konnte nur an eines denken - an Bill. Freddie war ein sehr netter Mensch, aber er verstand sie nicht. Netter Mensch hin, netter Mensch her, alles woran er letztlich dachte, waren die Auswirkungen für seinen Film. Er hatte den Ausdruck in Bills Augen nicht gesehen... er hatte ihn nicht stottern gehört.

»Also gut.« Er stand auf. »Komm mit ins >Hare and Hounds<. Wir können beide einen Drink gebrauchen.«

Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich fahre nach Hause«, erwiderte sie. »Ich muß über all das nachdenken.«

»Ich lass' das Auto kommen«, sagte er.

»Nein. Ich nehme den Zug.«

Er schaute sie aufmerksam an, eine Hand auf dem Telefonhörer. »Ich glaube, du beabsichtigst, ihm nachzureisen. Und ich sage dir, das wäre ein folgenschwerer Fehler, Audra. Er hat sich da irgendeinen Floh ins Ohr setzen lassen, aber er ist ein zäher Kerl, und sobald er ihn abgeschüttelt hat, kommt er zurück. Wenn er gewollt hätte, daß du ihn begleitest, hätte er es doch gesagt.«

»Ich habe noch nichts entschieden«, sagte sie, aber sie wußte, daß das nicht stimmte; in Wirklichkeit hatte sie ihren Entschluß schon gefaßt, bevor sie morgens mit dem Auto abgeholt worden war.

»Tu nichts, was du später bereuen würdest, Liebling«, sagte Freddie und schaute sie dabei eindringlich an. »Laß diesen Film nicht ins Wasser fallen.«

Sie spürte die Kraft seiner Persönlichkeit, die er in die Waagschale warf, um sie zum Nachgeben zu bewegen, um ihr das Versprechen abzuringen hierzubleiben, ihre Rolle zu spielen und passiv darauf zu warten, daß Bill zurückkam... oder wieder in jenem Loch der Vergangenheit verschwand, aus dem er herausgekrochen war.

Sie ging zu Freddie und küßte ihn auf die Wange. »Ich ruf dich an, Freddie«, sagte sie.

Sie ging zum Bahnhof und stellte fest, daß der nächste Zug mit Halt in Fleet um 10.23 Uhr abfuhr. Es war erst zehn vor zehn. Von einer Telefonzelle rief sie British Airways an und erklärte, sie wolle möglichst schnell eine Stadt in Maine namens Derry erreichen. Die Angestellte zog ihren Computer zu Rate... und teilte Audra dann mit, daß Flug 23 eine Zwischenlandung in Bangor mache. Für Audra war das wie ein Zeichen des Himmels.

»Soll ich den Flug für Sie buchen, Madam?« fragte die Angestellte höflich.

Audra schloß die Augen und sah Freddies schroffes und doch freundliches, ehrliches Gesicht vor sich, hörte ihn sagen: Tu nichts, was du später bereuen würdest,

Und dann sah sie Bills geliebtes Gesicht vor sich und hörte ihn sagen: Versprich es mir, Audra. Wenn du mich liebst, versprich es mir. Sie hatte es ihm versprochen, aber nur, weil sie es nicht ertragen konnte, ihn so stottern zu hören. Und wenn es Versprechen gab, die unbedingt gehalten werden mußten - wie jenes, das Bill in seiner Kindheit gegeben hatte, worum es sich dabei auch immer handeln mochte -, so gab es auch Versprechen, die gebrochen werden mußten.

»Madam? Sind Sie noch am Apparat?«

»Buchen Sie bitte«, sagte Audra abrupt und wühlte in ihrer Handtasche nach ihrer American-Express-Karte. »Erster Klasse, wenn es möglich ist.«

Anschließend rief sie Freddie an, weil sie glaubte, ihm wenigstens das schuldig zu sein. Sie kam nicht weit - sie versuchte gerade, ihm stockend zu erklären, wie stark sie das Gefühl hatte, daß Bill sie brauchte - als sie

am anderen Ende der Leitung ein leises Klicken hörte. Freddie hatte einfach aufgelegt, ohne nach dem ersten >Hallo< auch nur ein Wort zu sagen.

Aber in gewisser Weise, dachte Audra, drückte dieses leise Klicken alles aus, was gesagt werden mußte.

5

Das Flugzeug landete um 19.09 Uhr ostamerikanischer Zeit in Bangor. Audra war der einzige Passagier, der hier ausstieg, und die anderen warfen ihr neugierige Blicke zu und fragten sich vermutlich, welchen Grund jemand haben konnte, in dieser gottverlassenen kleinen Stadt auszusteigen. Wenn sie es ihnen erzählen würde, dachte Audra, wenn sie ihnen folgendes erzählen würde:

Wissen Sie, ich suche meinen Mann. Er ist hierher zurückgekommen, weil einer seiner Kinderfreunde angerufen und ihn an ein Versprechen erinnert hat, an das er überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Der Anruf brachte ihm auch die Tatsache in Erinnerung, daß er seit über 20 Jahren nicht mehr an seinen toten Bruder gedacht und seine Kindheit fast völlig vergessen hatte. O ja, und dieser Anruf hat auch sein Stottern zurückgebracht... und einige seltsame weiße Narben auf seinen Handflächen.

Wenn sie das erzählen würde, dachte Audra, würde man sie in die Klapsmühle stecken.

Sie holte ihr einziges Gepäckstück ab - es sah auf dem Kofferkarussell sehr verloren aus - und begab sich zu den Mietwagenagenturen, wie Tom Huggins es etwa zwei Stunden später ebenfalls tun würde. Aber sie hatte mehr Glück als er: National Rent-a-Car hatte einen Datsun für sie.

Das Mädchen füllte ein Formular aus, und Audra unterzeichnete es.

»Ich dachte mir schon, daß Sie es sind«, sagte das Mädchen und bat schüchtern um ein Autogramm.

Audra gab es ihr - schrieb es auf die Rückseite eines Formulars - und dachte dabei: Freu dich dran, solange du es noch kannst, Mädchen. Wenn Freddie Firestone recht hat, wird es in fünf Jahren keine zwei Cent mehr wert sein.

Sie besorgte sich eine Straßenkarte, und das Mädchen, das vor Ehrfurcht kaum ein Wort hervorbrachte, zeigte ihr den günstigsten Weg nach Derry.

Zehn Minuten später war Audra unterwegs. Sie mußte sich an jeder Kreuzung in Erinnerung rufen, daß sie jetzt wieder in Amerika war und nicht links fahren durfte, weil sie sonst in einem buchstäblicheren Sinne, als es Freddie gemeint hatte, Selbstmord begehen würde.

Und während sie so dahinfuhr, kam ihr zu Bewußtsein, daß sie Angst hatte... mehr Angst als je zuvor in ihrem Leben.

Den ganzen Tag über sprachen Stimmen zu ihm, und eine Zeitlang dachte Henry Bowers, sie kämen vom Mond. Das war, nachdem der Regen aufgehört und die Wolken sich verzogen hatten. Als er am Spätnachmittag vom Unkrautjäten im Garten aufblickte, konnte er den Mond am blauen Tageshimmel sehen, bleich und klein. Einen Geistermond.

Darum glaubte er, der Mond spreche zu ihm. Nur ein Geistermond konnte mit Geisterstimmen reden - den Stimmen seiner alten Freunde, und den Stimmen jener kleineren Kinder, die vor so langer Zeit unten in den Barrens gespielt hatten. Und noch mit einer anderen Stimme... der er keinen Namen zu geben wagte.

Als erster sprach Victor Criss vom Mond zu ihm. Sie sind zurückgekommen, Henry. Sie alle. Sie sind nach Derry zurückgekehrt.

Dann sprach Belch Huggins vom Mond, vielleicht von der dunklen Seite des Mondes. Du bist der einzige, Henry. Der einzige, der von uns übriggeblieben ist. Du wirst sie für mich und Victor erledigen müssen. Wir lassen uns doch nicht von kleinen Kindern besiegen. Wir nicht. Ich habe einmal einen Ball geschossen, unten bei Trackers, und Tony Trucker hat gesagt, der Ball wäre sogar aus dem YankeeStadion rausgeflogen.

Er jätete weiter, während er zum Geistermond am Himmel emporblickte, und nach einer Weile kam Fogarty herüber und schlug ihm in den Nacken, und er fiel aufs Gesicht.

»Du jätest ja die Erbsen zusammen mit dem Unkraut aus, du Idiot!«

Henry stand wieder auf und wischte sich den Dreck vom Gesicht und aus den Haaren. Fogarty stand neben ihm, ein großer Mann in weißer Jacke und weißer Hose mit einem Riesenbauch. Es war den Wärtern (sie wurden hier als >Ratgeber< bezeichnet, in diesem Irrenhaus, das den Namen >Juniper Hill Mental Facility< trug) verboten, Gummiknüppel bei sich zu haben, deshalb hatten einige von ihnen - Fogarty, Adler und Koontz waren die schlimmsten - Rollen mit Vierteldollarmünzen in den Taschen. Mit diesen Geldrollen in der Faust schlugen sie einen fast immer auf dieselbe Stelle, genau hinten auf den Nacken. Es gab keine Vorschrift, die das Bei-sich-Tragen von Geldrollen verbot, denn sie wurden im Juniper Hill, einer Anstalt für Geisteskranke am Stadtrand von Augusta, nicht als tödliche Waffe betrachtet.

»Tut mir leid, Mr. Fogarty«, sagte Henry und grinste breit, wobei eine lückenhafte Reihe gelber Zähne zum Vorschein kam. Sie sahen aus wie die Pfähle eines Zaunes um ein Spukhaus. Henrys Zähne hatten auszufallen begonnen, als er etwa vierzehn gewesen war.

»Das sollte es auch«, sagte Fogarty. »Und es wird dir noch viel mehr leid tun, wenn ich dich noch einmal dabei erwische, Henry.«

»Jawohl, Mr. Fogarty.«

Fogarty entfernte sich, und seine großen schwarzen Schuhe hinterließen braune Spuren in der Erde des Gartens. Weil der Wärter ihm gerade den Rücken zuwandte, schaute Henry sich verstohlen um. Sobald die Wolken sich aufgelöst hatten, waren sie hinausgescheucht worden, um Unkraut zu jäten, die ganze Blaue Abteilung, das ist Abteilung 4, in die man gesteckt

wurde, wenn man früher einmal sehr gefährlich gewesen war, jetzt aber nur noch als bedingt gefährlich galt. Im Prinzip waren alle Insassen von Ju-niper Hill bedingt gefährlich; es war eine Anstalt für geisteskranke Kriminelle. Henry Bowers war hier, weil er der Ermordung seiner Freunde Victor Criss und Belch Huggins für schuldig befunden worden war. Seine Verurteilung für dieses Verbrechen war Ende 1958 erfolgt, und nachdem er sechs Jahre in einer Besserungsanstalt für Jugendliche in Westbrook verbracht hatte, war er hierher verlegt worden. In Westbrook hatte er viel Ärger gemacht. Die Anstalt war eigentlich nicht für geistesgestörte Kriminelle, sondern nur für psychisch gestörte Jugendliche gedacht. Henry hatte dort zwei Kinder verletzt und ein drittes fast umgebracht. Niemand hatte verstanden, warum. Aber das dritte Kind hatte versucht, Henrys Nachttischlampe auszuschalten. Die Lampe war eine Donald-Duck-Figur, und sie bot ihm Schutz nach Sonnenuntergang. Ohne Licht konnten Wesen hereinkommen. Die Schlösser an den Türen und die Drahtgitter hielten sie nicht auf. Sie drangen ein wie Nebel, der sich verdichten und Gestalt annehmen konnte. Wesen. Sie redeten und lachten... und manchmal packten sie auch zu. Haarige Wesen, geschmeidige Wesen, Wesen mit Augen. Die Art von Wesen, die in Wirklichkeit Victor und Belch getötet hatten, als sie im August 1958 zu dritt die kleineren Kinder in die Kanäle unter Derry gejagt hatten.

Henry ließ seine Blicke über die anderen Insassen von Abteilung 4 schweifen. Da war George DeVille, der an einem Winterabend des Jahres 1962 seine Frau und seine vier Kinder umgebracht hatte. Georges Kopf war gesenkt, sein weißes Haar wehte in der Brise, Rotze rann ihm aus der Nase, und sein riesiges Holzkruzifix schaukelte hin und her, während er eifrig jätete. Da war Jimmy Donlin; in den Zeitungen hatte nur gestanden, daß Jimmy im Sommer 1965 in Portland seine Mutter ermordet hatte. Was sie nicht geschrieben hatten, war, daß Jimmy ein neuartiges und ungewöhnliches Experiment der Leichenbeseitigung ausgeführt hatte: als die Bullen zu ihm gekommen waren, hatte Jimmy sie schon mehr als zur Hälfte aufgegessen; auch ihr Gehirn hatte er schon verspeist. »Das hat mich doppelt so schlau gemacht«, hatte Jimmy Henry eines Nachts anvertraut, nachdem die Lampen schon gelöscht waren. In der Reihe hinter Jimmy arbeitete fanatisch der kleine Franzose Benny Beaulieu. Benny war ein Brandstifter - ein Pyromane -, und er sang immer dieselbe Zeile eines Liedes, auch jetzt beim Jäten: »Try to sei the night on fire, try to set the night on fire, try to set the night on fire...« Es ging einem nach einer Weile ganz schön auf die Nerven. Hinter Benny arbeitete Franklin D'Cruz, der über 50 Frauen vergewaltigt hatte, bevor er mit heruntergelassener Hose im Fairmount Terrace Park in Bangor geschnappt worden war. Seine Opfer waren zwischen drei und 81 Jahren alt gewesen. Kein interessanter Typ, dieser D'Cruz. Neben ihm war Arien Weston, der die Hälfte der Zeit damit verbrachte, seine Hacke verträumt anzuschauen, statt sie zu benutzen. Fogarty, Adler und Koontz hatten alle versucht, Weston mit ihrem Geldrolle-in-der-Faust-Trick davon zu überzeugen, daß er sich schneller bewegen konnte, und eines Tages hatte Koontz vielleicht ein bißchen zu kräftig zugeschlagen, denn Weston hatte nicht nur aus der Nase, sondern auch aus den Ohren geblutet, und in jener Nacht hatte er Krampte bekommen, allerdings keine sehr schlimmen.

Arien Weston war ein hoffnungsloser Fall; er bekam von seiner Umwelt kaum noch etwas mit. Im Jahre 1969, nach seiner Rückkehr aus Vietnam und dem anschließenden Aufenthalt im Militärhospital in Togus, hatte Arien Weston sich mit Schießen vergnügt. Er erschoß Hunde, nicht Menschen, bis die Polizei ihn einmal wegen zu schnellen Fahrens stoppte und hinterher im Fond seines Lieferwagens die Kadaver von 26 Hunden fand. Weston hatte den Bullen erschossen, der ihn nach seinem Führerschein gefragt hatte. Neben Weston war...

»Wenn du nicht sofort weiterarbeitest, Henry, mach' ich dir Beine!« rief Fogarty, und Henry begann wieder Unkraut zu jäten. Er wollte keine Krämpfe, nicht einmal solche, die nicht allzu schlimm verliefen.

Bald fingen die Stimmen erneut an. Die Geisterstimmen vom Geistermond. Aber diesmal waren es die Stimmen der anderen, die Stimmen jener Kinder, die hauptsächlich daran schuld waren, daß er hier war.

Du konntest nicht mal einen Fettkloß wie mich erwischen, Bowers, flüsterte einer von ihnen. Jetzt bin ich reich, und du jätest Unkraut. Ha-ha, du Arschloch!

B-B-Bowers, hast du g-g-gute B-Bücher gelesen, seit d-du hier drin b-bist? Ich hab' 'ne g-g-ganze M-Menge geschrieben! Ich b-b-bin reich, und d-d-du b-bist im I-I-Irrenhaus! Ha-ha, du d-dummes Arschloch!

Haltet die Klappe, flüsterte Henry den Geisterstimmen zu und jätete schneller, wobei er die jungen Erbsenstauden wieder zusammen mit dem Unkraut herausriß. Schweiß rollte ihm über die Wangen wie Tränen. Haltet die Klappe, ihr alle. Wir hätten euch erledigen können. Ja, das hätten wir.

Uns hast du's zu verdanken, daß du eingesperrt wurdest, du Arschloch! lachte eine andere Stimme. O weia, wenn der Arsch nur nicht aus dem Leim gegangen ist!

Hört auf, haltet die Klappe, seid still!

Wolltest du mir zwischen die Schenkel greifen, Henry? lachte wieder eine andere Stimme. Wie schlimm für dich! Ich hab's mir von allen gefallen lassen, ich war nichts weiter als eine kleine Nutte, aber dich nicht, weil du so ein Arschloch warst, und jetzt bin auch ich reich, und wir sind alle wieder beisammen, und wir treiben's wieder, aber du könntest nicht mal, selbst wenn ich dich ließe, wegen dem Zeug, das sie dir ins Essen tun, haha, Henry, HAHA ...

Er jätete jetzt so wild drauflos, daß die Erbsen und das Unkraut nur so flogen; die Geisterstimmen vom Geistermond waren nun sehr laut; sie dröhnten in seinem Kopf, und Fogarty rannte brüllend auf ihn zu, aber Henry konnte ihn nicht hören. Wegen der Stimmen.

Nicht mal einen Nigger wie mich konntest du erwischen, du weiße Niete! Wir ha

ben euch in jener Steinschlacht zur Schnecke gemacht. Und wie! Haha, du Arsch

loch! Haha!

Dann stimmten sie alle ein, lachten ihn aus, fragten ihn, ob er Kuhscheiße an den Schuhen hätte, fragten ihn, wie ihm jene Elektroschocktherapie gefallen hatte, die er bekommen hatte, als er mit 18 hierher in die Rote Abteilung gekommen war, fragten ihn, ob es ihm hier im Irrenhaus gefiele, fragten und lachten, lachten und fragten, und Henry ließ seine Hacke fallen und schrie zum Geistermond am blauen Himmel empor, zuerst voll Wut, und dann veränderte sich der Mond - und wurde zum Gesicht des Clowns; es war ein pockennarbiges, halbverfaultes, käseweißes Gesicht, die Augen schwarze Löcher, das rote blutige Grinsen so obszön wissend, daß es einfach unerträglich war, und nun schrie Henry nicht vor Wut, sondern vor Entsetzen, vor tödlichem Entsetzen, und dann sprach die Stimme des Clowns vom Geistermond zu ihm, und sie sagte:

Du mußt zurückkehren, Henry, Du mußt zurückkehren und das Werk vollenden. Du mußt nach Derry zurückkehren und sie alle umbringen. Für MICH. Für...

Die anderen Insassen standen in ihren Reihen, umklammerten ihre Hak-ken und blickten zu Henry hinüber, nicht eigentlich interessiert, sondern fast nachdenklich, als verstünden sie, daß dies ein Teil jenes Mysteriums war, das sie alle hierhergeführt hatte, daß Henrys plötzlicher hysterischer Schreianfall gewissermaßen in technischer Hinsicht interessant war. Fo-garty hatte mindestens zwei Minuten lang hinter Henry gestanden und auf ihn eingebrüllt, bevor es ihm zu dumm wurde, und er Henry mit seiner geldrollenbeschwerten Faust einen wirklich kräftigen Hieb versetzte, und Henry wie ein Mehlsack zu Boden fiel. Aber die Stimme des Clowns verfolgte Henry sogar in jenen schrecklichen dunklen Strudel, rief immer und immer wieder; Bring sie alle um, Henry, bring sie alle um, bring sie alle um, bring sie alle um...

7

Gegen zwei Uhr nachts schliefen sowohl Tom Huggins als auch Audra Denbrough. Keiner von beiden war im Derry Town House abgestiegen, obwohl beide - ebenso wie Kay - durch Anrufe herausgefunden hatten, daß ihre Ehepartner dort wohnten. Weder Tom noch Audra hatten versucht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Audra war müde und brauchte Zeit zum Nachdenken, bevor sie Bill unter die Augen trat. Tom war ebenfalls müde und wollte sich noch ein paar Stunden erholen. Seit Beverly weggelaufen war, hatte er sich nur von Aspirin und Kaffee ernährt, und er wollte sicher sein, sich schnell bewegen zu können, falls sie ihn zu früh sehen... oder riechen würde. Sie hatte ihn einmal überrumpelt. Ein zweites Mal würde ihr das nicht gelingen.

Durch eine jener seltsamen Schicksalsfügungen oder Zufälle, die es manchmal gibt (in Derry allerdings häufiger als anderswo), hatte Tom sich ein Zimmer im Koala Inn auf der Outer Jackson Street genommen, und Audra hatte sich im Holiday Inn einquartiert - die beiden Motels standen nebeneinander, und ihre Parkplätze waren nur durch einen Beton-Gehweg voneinander getrennt. Und wie der Zufall so spielt, standen Audras gemieteter Datsun und Toms gekaufter Stationswagen einander direkt gegenüber, nur durch jenen Gehweg getrennt. Jetzt schliefen beide jedenfalls, Audra ruhig auf der Seite liegend, Tom auf dem Rücken, so laut schnarchend, daß seine geschwollenen Lippen zitterten.

Henry Bowers lag wach.

Der Mond war untergegangen, und Henry war dafür äußerst dankbar. Bei Nacht war der Mond weniger geisterhaft, realer, und wenn er jenes schreckliche Clownsgesicht am Himmel sehen würde, wie es über Hügel, Felder und Wälder glitt, würde er - so glaubte er wenigstens - vor Angst sterben.

Er lag auf der Seite und starrte wie ein Mondsüchtiger auf seine Nachttischlampe. Auch hier hatte es vor Jahren eine Donald-Duck-Lampe gegeben, aber sie war durchgebrannt und durch Micky und Minnie ersetzt worden, die Polka tanzten; diese wiederum waren durch das grünschimmernde Gesicht von Oscar dem Nörgler aus >Sesamstraße< ersetzt worden, und Ende letzten Jahres hatte Oscar dem Gesicht von Fozzie Bear aus der >Muppet-Show< weichen müssen. Henry konnte die Zeit seines Eingesperrtseins am besten an den durchgebrannten Nachttischlampen messen.

Genau um 2.04 Uhr in der Nacht ging seine Lampe aus. Er stöhnte leise auf, nahm sich ansonsten aber zusammen. Koontz hatte in dieser Nacht die Aufsicht über die Blaue Abteilung, John Koontz - und er war der Schlimmste von allen, sogar noch schlimmer als Fogarty, der ihn am Nachmittag so hart geschlagen hatte, daß er jetzt seinen Kopf kaum bewegen konnte.

Um ihn herum schliefen alle Insassen der Abteilung. Benny Beaulieu war in eine elastische Zwangsjacke gesteckt worden. Er hatte nach dem Unkrautjäten die Erlaubnis erhalten, sich im Fernsehen >Emergency< anzuschauen, und gegen sechs Uhr begann er zu toben und ohne Unterlaß sein >Try to set the night on fire!< zu brüllen. Er bekam eine Beruhigungsspritze, deren Wirkung etwa vier Stunden angehalten hatte, und gegen elf hatte er wieder angefangen, >Try to set the night on fire!< zu kreischen und seinen alten Dingsbums zu quetschen, bis er blutete. Deshalb hatte er eine zweite Beruhigungsspritze bekommen und war in die Zwangsjacke gesteckt worden, und nun schlief er friedlich.

Von allen Seiten hörte Henry leises und lautes Schnarchen, Grunzen, gelegentlich auch Furzen. Er hörte auch Jimmy Donlins Atemzüge; sie waren unverkennbar, obwohl Jimmy fünf Betten von Henry entfernt schlief. Sein Atem ging schnell und etwas pfeifend, und aus irgendeinem Grund mußte Henry dabei immer an eine Nähmaschine denken. Hinter der Tür konnte er den leisen Ton von Koontz' Fernseher hören, und er wußte, daß Koontz die Nachtfilme auf Kanal 38 anschaute, Texas Driver dazu trank und vielleicht etwas aß. Koontz liebte am meisten Sandwiches mit Erdnußbutter und Zwiebeln. Als Henry das zum erstenmal gehört hatte, war ihm fast übel geworden, und er hatte gedacht: Und dann heißt es noch, alle Verrückten seien eingesperrt.

Diesmal kam die Stimme nicht vom Mond. Sie kam unter dem Bett hervor. Und Henry erkannte sie sofort. Es war die Stimme von Victor Criss, dessen Kopf vor 27 Jahren irgendwo unter Derry abgerissen worden war. Das Frankenstein-Monster hatte ihm den Kopf abgerissen, Henry hatte es

gesehen; und dann hatte er gesehen, wie die Blicke des Monsters umherschweiften, wie es ihn mit seinen wäßriggelben Augen anstarrte. Ja, das Frankenstein-Monster hatte Victor ermordet, aber hier war er wieder.

Und nun, da es geschehen war, da die Stimme erneut zu ihm sprach, stellte Henry fest, daß er keine Angst hatte, daß er ganz ruhig war. Sogar erleichtert.

»Henry«, sagte Victor.

»Vic!« rief Henry. »Was machst du da unten?«

Benny Beaulieu murmelte etwas im Schlaf. Jimmys nähmaschinenartige Atemzüge verstummten für kurze Zeit. Im Flur wurde der Ton von Koontz' kleinem Fernseher leiser gestellt, und Henry sah direkt vor sich, wie Koontz mit etwas zur Seite geneigtem Kopf lauschend dastand, eine Hand am Lautstärkenknopf des Fernsehers, die andere an der Geldrolle in der rechten Tasche seiner weißen Hose.

»Du brauchst nicht laut zu reden, Henry«, sagte Vic. »Ich kann dich auch hören, wenn du nur denkst. Und sie können mich überhaupt nicht hören.«

Was willst du, Vic? fragte Henry.

Er bekam lange Zeit keine Antwort und dachte schon, daß Vic vielleicht wieder verschwunden war. Im Flur hatte Koontz den Fernseher wieder etwas lauter gestellt. Dann war ein schabendes Geräusch unter dem Bett zu hören, und die Federn quietschten, als ein dunkler Schatten sich herausschob. Vic schaute zu ihm hoch und grinste. Henry grinste zurück, obwohl ihm etwas unbehaglich zumute war. Vic sah jetzt selbst ein bißchen wie das Frankenstein-Monster aus. Eine dicke rote Narbe zog sich rings um seinen Hals - vermutlich war sie beim Wiederannähen des Kopfes zurückgeblieben. Seine Augen hatten eine unheimliche graugrüne Farbe, und die Hornhaut schien auf einer wäßrigen, klebrigen Substanz zu schwimmen.

Vic sah immer noch wie dreizehn aus.

»Ich will dasselbe wie du«, sagte Vic. »Rache!«

Rache, wiederholte Henry Bowers verträumt.

»Aber zuerst mußt du hier rauskommen, um es tun zu können«, sagte Vic. »Du mußt nach Derry zurückkehren. Ich brauche dich, Henry. Wir alle brauchen dich.«

Dich können sie nicht verletzen, sagte Henry und begriff, daß er nicht nur Vic damit meinte.

»Sie können mich nicht verletzen, wenn sie nur halb glauben«, sagte Vic. »Aber es gibt einige beunruhigende Anzeichen, Henry. Wir haben auch nicht gedacht, daß sie uns besiegen könnten, als wir alle noch am Leben waren. Doch der Fettkloß ist dir in den Barrens entwischt. Der Fettkloß und das Großmaul und die Nutte sind uns damals nach den Horrorfilmen entwischt. Und dann die Steinschlacht, als sie den Nigger retteten...«

Sprich nicht darüber! befahl Henry, und einen Augenblick lang lag all jene diktatorische Härte in seiner Stimme, die ihn früher zum Anführer gemacht hatte. Dann duckte er sich ängstlich, weil er glaubte, daß Vic ihm etwas tun würde - bestimmt konnte Vic jetzt alles tun, was er wollte, denn er war ja ein Geist -, aber Vic grinste nur.

»Ich kann sie erledigen, wenn sie nur halb glauben«, sagte er, »aber du bist am Leben, Henry. Du kannst sie dir schnappen, ob sie nun glauben, halb glauben oder überhaupt nicht glauben. Du kannst sie nacheinander erledigen oder alle auf einmal. Du kannst es ihnen... heimzahlen.«

Heimzahlen, wiederholte Henry verträumt.

Dann sah er Vic wieder zweifelnd an. Aber ich kann hier nicht rauskommen, Vic. Die Fenster sind vergittert, und Koontz hat heute Nachtdienst. Koontz ist der Schlimmste. Vielleicht morgen nacht...

»Mach dir wegen Koontz keine Sorgen«, sagte Vic und stand auf. Henry sah, daß er noch immer die Jeans trug, die er an jenem Tag angehabt hatte, und daß sie immer noch mit getrocknetem Kanaldreck bespritzt war, der bei dieser Beleuchtung grünlichschwarz aussah. »Um Koontz kümmere ich mich«, sagte Vic und streckte seine Hand aus.

Henry zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann ergriff er Vics Hand, und sie gingen auf die Tür der Blauen Abteilung und auf den eingeschalteten Fernseher zu. Sie hatten die Tür schon fast erreicht, als Jimmy Donlin, der das Gehirn seiner Mutter verspeist hatte, aufwachte. Ihm traten fast die Augen aus den Höhlen, als er sah, wer neben Henry ging. Es war seine Mutter! Der obere Teil ihres Kopfes fehlte, sie rollte mit ihren fürchterlich roten Augen in seine Richtung, und als sie grinste, konnte Jimmy die Lippenstiftspuren auf ihren gelben Pferdezähnen sehen wie früher immer. Jimmy begann zu kreischen: »Nein, Ma! Nein, Mal Nein, Ma!«

Draußen wurde der Fernseher sofort ausgeschaltet, und noch bevor die anderen sich regen konnten, riß Koontz die Tür auf und murmelte vor sich hin: »Okay, Arschloch, jetzt kannst du dich auf was gefaßt machen! Ich hab' die Schnauze voll.«

»Nein, Ma! Nein, Ma! Bitte, Ma! Nein, Ma...«

Koontz stürzte in den Schlafsaal. Zuerst sah er Bowers, der groß und dickbäuchig dastand; in seinem Nachthemd und mit dem schlaff herabhängenden Fleisch, das im Lichtschein aus dem Flur teigig aussah, bot er einen lächerlichen Anblick. Dann schweifte Koontz' Blick etwas weiter nach links, und er schrie sich die Seele aus dem Leib. Neben Bowers stand ein Wesen im Clownskostüm. Es war etwa acht Fuß groß. Das Kostüm war silbrig. Vorne hatte es orangefarbene Pompons. An den Füßen trug es übergroße komische Schuhe. Aber sein Kopf war nicht der eines Menschen; es war der Kopf eines Dobermannpinschers - und das war das einzige Tier auf Gottes weiter Erde, vor dem John Koontz sich fürchtete. seine Augen waren rot. Die seidigschwarze Schnauze öffnete sich und entblößte riesige weiße Zähne.

Eine Rolle Münzen fiel aus Koontz' Hand und kullerte über den Boden in die Ecke. Am nächsten Tag fand sie Benny Beaulieu, der alles verschlafen hatte, und versteckte sie in seinem Schrank. Mit diesen Vierteldollarmünzen konnte er sich einen Monat lang gute Zigaretten kaufen.

Koontz holte tief Luft und wollte gerade den nächsten Schrei ausstoßen, als der Clown auf ihn zusprang.

»Zeit für den Zirkus!« schrie der Clown mit knurrender Stimme, und seine weiß behandschuhten Hände fielen auf Koontz' Schultern.

Die Hände in den Handschuhen fühlten sich allerdings an wie riesige Pfoten.

»Keine Verletzungen«, erklärte der Arzt dem Polizeibeamten am Nachmittag nun schon zum drittenmal. Allmählich klang seine Stimme verärgert. »Er hat einfach einen Herzschlag erlitten.«

»Aber sein Gesichtsausdruck...«

»Du lieber Himmel, reden Sie doch keinen Unsinn!« sagte der Arzt. »Es war ein Herzschlag. So was überfällt einen aus heiterem Himmel. Die Leute bekommen's mit der Angst zu tun. Deshalb sehen viele Tote nach einem Herzschlag so aus, als hätten sie den Teufel höchstpersönlich gesehen. Und müssen Sie nicht einen entlaufenen Geisteskranken einfangen?«

»Der kommt nicht weit«, sagte der Polizist. »Barfuß und in einem weißen Nachthemd kann er nicht weit kommen.«

»Aber Sie haben ihn noch nicht geschnappt, und er ist schon zwölf Stunden weg.«

Der Polizeibeamte stand auf und ging zur Tür. »Wie wahr!« Er öffnete sie, trat hinaus und wandte sich dann noch einmal um. »Einer der Burschen da drin sagte, Bowers sei nicht allein gewesen. Er sagte, seine eigene tote Mutter habe Bowers begleitet.«

Der Arzt lächelte etwas schief. »Kinder und Verrückte sehen alles mögliche«, sagte er.

Der Polizeibeamte entfernte sich, und der Arzt schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Dem Beamten gegenüber hatte er sehr kaltschnäuzig getan, weil man ja schließlich sein Gesicht nicht verlieren durfte. Doch obwohl er das nicht einmal seiner Frau eingestehen würde, war es in Wirklichkeit so, daß er noch niemals in seinem ganzen Leben auf irgendeinem menschlichen Gesicht, ob lebendig oder tot, einen solchen Ausdruck des Entsetzens gesehen hatte wie auf dem des Wärters Koontz. Als man ihn gefunden hatte, lag er auf dem Rücken und starrte mit weit aufgerissenen gebrochenen Augen zur Decke der Blauen Abteilung empor, den Mund zu einem Todesschrei geöffnet.

Derry: Drittes Zwischenspiel

>A bird came down the walk -He did not know - I saw -He bit an angle-worm in naives -And ate the fellow - raw -

Emily Dickinson >A Bird Came Down The Walk<

17. März 1985

Der Brand im >Black Spot< ereignete sich im Spätherbst 1930, und niemand hier in Derry spricht gern darüber, ebenso wie niemand gern über das häufige Verschwinden von Kindern in Derry oder die hohe Mordrate oder die Explosion in der Kitchner-Eisenhütte im Jahre 1903 spricht, für die es auch heute, nach immerhin fast 82 Jahren, keine Erklärung gibt.

Soweit ich feststellen konnte, beendete das Feuer im >Black Spot< den Zyklus von Morden und Vermißtenmeldungen der Jahre 1929/30 ebenso wie die Explosion der Eisenhütte den entsprechenden Zyklus der Jahre 1902/03 abschloß. Was hier auch etwa alle 27 Jahre geschehen mag, was für eine schreckliche Kraft hier auch immer am Werk sein mag, es sieht jedenfalls ganz so aus, als sei am Ende eines jeden Zyklus ein riesiges Menschenopfer notwendig, um ES für ungefähr ein Vierteljahrhundert in Schlaf zu versetzen.

Es sieht aber auch so aus, als sei nicht nur zum Abschluß eines jeden Zyklus solch ein Opfer notwendig, sondern als sei ein ähnliches Geschehnis auch Voraussetzung dafür, die Dinge in Gang zu setzen... und den Zyklus auszulösen.

Wenn das Feuer im >Black Spot< das Omega jenes Zyklus war, der dem, in den wir uns einmischten, voranging - was war dann das Alpha? Ich wünschte, ich könnte diese Frage nicht beantworten. Aber unglückseligerweise kann ich es.

Es begann im Oktober des Jahres 1929 - dreizehn Monate vor dem Brand im >Black Spot< - mit der Exekution der Brady-Bande an der Kreuzung Canal-, Main- und Kansas Street -, unweit jener Stelle, die auf dem Foto zu sehen war, das an einem Junitag 1958 vor Bills und Richies Augen zum Leben erwachte.

Viele Einwohner Derry s behaupten - wie auch beim Thema Brand im >Black Spot< -, sich an die Ereignisse jenes Tages nicht erinnern zu können. Oder sie behaupten, an jenem Tag gar nicht in der Stadt gewesen zu sein, Freunde außerhalb Derry s besucht zu haben. Oder sie haben ein Nachmittagsschläfchen gehalten und erst am Abend in den Nachrichten im Radio gehört, was vorgefallen war. Oder aber sie lügen einem einfach frech ins Gesicht: »Das war ausschließlich Sache des FBI und nicht unsere«, sagen sie. »Sullivan war damals Sheriff. Das war kurz bevor er infolge eines Herzinfarkts starb. Ein verdammt guter Mann. Aber er wußte auch von nichts. Alles hat das FBI gemacht. Das FBI hat damals in den 3oer Jahren ganz schön mit dem Banditentum aufgeräumt.«

Aber in >Bloodletters and Badmen< steht, die ganze Brady-Bande sei bei einem >heftigen Feuergefecht unter Leitung des mutigen Sheriffs von Derry< ums Leben gekommen.

In den Polizeiakten ist zu lesen, daß Sullivan damals nicht einmal in der Stadt war (»Na klar erinnere ich mich noch daran«, erzählte mir Aloysius Nell auf der Sonnenterrasse der Paulson-Privatklinik in Bangor. »Es war mein erstes Jahr bei der Polizei, deshalb weiß ich's noch so genau. Sullivan war an jenem Tag auf Vogeljagd in West-Maine. Als er zurückkam, waren die Leichen alle schon abtransportiert. Jim Sullivan war ganz schön sauer.«); aber auf einem Foto in >Bloodletters and Badmen< ist ein grinsender Mann zu sehen, der im Leichenschauhaus neben dem von Kugeln durchsiebten AI Brady steht - und dieser grinsende Mann ist Sullivan.

Die einzige unumstößliche Tatsache schien zu sein, daß es an jenem Tag an jener Kreuzung wirklich eine Schießerei gegeben hatte. Und erst von Mr. Keene erfuhr ich schließlich die Wahrheit - zumindest glaube ich, daß er mir die authentische Version der Ereignisse lieferte. Norbert Keene war der

Besitzer des Center Street Drugstores von 1925 bis 1975, als er sich zur Ruhe setzte. Der Fünfundachtzigjährige erzählte mir alles bereitwillig; aber ebenso wie Betty Ripsoms Vater bestand er darauf, daß ich zuvor meinen Kassettenrecorder ausschaltete.

»Warum sollte ich es dir nicht erzählen?« sagte er. »Niemand würde diese Geschichte veröffentlichen, und selbst wenn, so würde sie kein Mensch glauben.« Er hielt mir ein altmodisches Apothekerglas hin. »Magst du eine Lakritzstange? Wenn ich mich recht erinnere, mochtest du die roten immer am liebsten, Mikey.«

Ich nahm mir eine. »War Sheriff Sullivan an jenem Tag in der Stadt?«

Mr. Keene lachte und nahm sich selbst ebenfalls eine Lakritzstange. »Aha, darüber hast du dir wohl den Kopf zerbrochen?«

»Ja«, sagte ich und kaute ein Stück der roten Lakritzstange. Ich hatte keine mehr probiert, seit ich ein Kind war und meine Pennies über die Theke einem wesentlich jüngeren und beweglicheren Mr. Keene hinschob. Die Lakritze schmeckte sehr gut.

»Du bist viel zu jung, um dich an die enorme Leistung von Bobby Thomp-son für die Giants beim Baseball-Endspiel zu erinnern«, sagte Mr. Keene. »Das war 1951, und du warst damals erst vier Jahre alt. Na ja! Ein paar Jahre später stand in der Zeitung ein Artikel über dieses Spiel, und etwa eine Million New Yorker behauptete, an jenem Tag im Stadion gewesen zu sein.«

Ich wartete geduldig. Mr. Keene kaute auf seiner Lakritzstange herum, und dunkler Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel. Er wischte ihn mit seinem Taschentuch ab, faltete es wieder sorgfältig und schob es in die Tasche.

»Genau das Gegenteil ist der Fall, wenn es um die Brady-Bande geht«, fuhr Keene fort. Er lächelte, aber es war kein frohes Lächeln - es war zynisch und bitter. »Etwa 20000 Menschen wohnten damals in der Innenstadt von Derry«, sagte er. »Die Main Street und die Canal Street waren schon gepflastert - die Main Street erst seit vier Jahren -, aber die Kansas Street noch nicht. Im Sommer staubte sie furchtbar, und im März und November war sie ein einziges Schlammloch. Jedes Jahr am 4. Juli spuckte der Bürgermeister große Töne, daß demnächst die Kansas Street gepflastert würde, aber erst 1942 kam es dann tatsächlich dazu. Es... aber wovon habe ich eben gesprochen?«

»Sie sagten, in der Innenstadt hätten damals etwa 20000 Leute gewohnt«, sagte ich.

»Ach ja. Nun, von diesen 20000 dürfte inzwischen die Hälfte gestorben sein, vielleicht sogar mehr - 55 Jahre sind eine lange Zeit, und außerdem sterben in Derry komischerweise sehr viele Leute in jungen Jahren. Vielleicht ist die Luft schuld daran. Aber von denen, die noch am Leben sind, würde kaum mehr als ein Dutzend zugeben, in der Stadt gewesen zu sein, als die Brady-Bande zur Hölle fuhr. Metzger Rowden drüben vom Fleischmarkt würde es wahrscheinlich zugeben - er hat immer noch ein Foto von einem der Wagen der Gangster an jener Wand hängen, wo er Fleisch schneidet. Wenn du das Foto sehen würdest, kämst du kaum darauf, daß es sich um ein Auto handelt. Charlotte Littlefield würde dir wohl auch einiges erzählen, wenn du sie richtig behandelst. Sie unterrichtet drüben an der

High School. Sie kann damals nicht viel älter als zehn oder zwölf gewesen sein, aber sie erinnert sich an sehr vieles. Carl Snow... Aubrey Stacey - aber der hat gerade einen Herzinfarkt erlitten -... Eben Stampnell... und der komische alte Mummelgreis, der diese komischen Bilder malt und die ganze Nacht in Wally's säuft - Pickman heißt er, glaube ich. Sie würden sich alle noch an die Sache erinnern. Sie waren alle dabei...«

Er verstummte und betrachtete die Lakritzstange in seiner Hand. Ich überlegte, ob ich ihn durch Fragen zum Weiterreden bringen sollte, unterließ es jedoch lieber.

»Die meisten anderen aber würden lügen«, fuhr er schließlich ganz von allein fort, »ebenso wie jene Leute, die behaupten, im Giants-Stadion gewesen zu sein, als Thompson sich selbst übertraf. In jenem Fall logen sie, weil sie wünschten, sie wären dabei anwesend gewesen. Was aber den Tag angeht, als die Brady-Bande zum zweitenmal nach Derry kam, so würden die Leute dich anlügen, weil sie vergessen wollen, daß sie dabei gewesen sind. Verstehst du mich, mein Junge?«

Ich nickte und fühlte, wie jene kalte Stelle in meinem Herzen wieder etwas größer wurde. Sie wächst jetzt jeden Tag, so daß ich manchmal schon glaube, daß ich bis zum Sommer nur noch ein einziger Eisklotz sein werde. In diesem Zusammenhang fällt mir oft ein Rock-and-Roll-Lied ein, das Ende der 6oer oder Anfang der 70er Jahre populär war, und in dem es hieß: >I've seen so many things I ain't never seen before / Turn out the lights, mamma, I don't want to see no more. < (>Ich habe so viele Dinge gesehen, die ich nie zuvor sah / Lösche die Lichter, Mama, ich will jetzt nichts mehr se-hen<)

»Bist du wirklich sicher, daß du diese Geschichte hören willst?« fragte Mr. Keene. »Du siehst ein bißchen blaß aus.«

»Ich will sie nicht hören«, sagte ich, »aber trotzdem sollte ich sie mir anhören, glaube ich.«

»Der Sheriff war an jenem Tag in der Stadt. Er hatte vorgehabt, auf die Vogeljagd zu gehen, aber er änderte seine Meinung verdammt rasch, als Lal Dakin ihm erzählte, daß er für den Nachmittag AI Brady in Derry erwartete.«

»Woher wußte Dakin das?« fragte ich.

»Nun, das ist ebenfalls eine sehr lehrreiche Geschichte«, sagte Mr. Keene mit jenem zynischen Lächeln. »Iß deine Lakritzstange, mein Sohn. Das ist gut für die Verdauung.«

Ich aß noch ein Stückchen.

»Brady war auf der Hitparadenliste des FBI nie der Volksfeind Nr. 1; aber seit 1928 stand er auf allen Fahndungslisten. AI Brady und sein Bruder George überfielen sechs oder sieben Banken im Mittelwesten, und schließlich entführten sie dann einen Bankier und verlangten Lösegeld - ich komme im Moment nicht auf seinen Namen, obwohl er damals Schlagzeilen machte. Na ja, das Lösegeld wurde gezahlt - 30000 Dollar, eine hohe Summe für jene Zeit -, aber sie brachten den Bankier trotzdem um, weil sie ihn eines Tages dabei ertappt hatten, wie er sie über seine Augenbinde hinweg beobachtete, während sie in ihrem Versteck Karten spielten.

Nun, der Mittelwesten wurde um diese Zeit für die dort agierenden Banden ein ziemlich heißes Pflaster. Die Brady-Bande begab sich nach Maine und bezog Quartier in einem großen alten Bauernhaus dicht an der Stadtgrenze von Newport... nicht weit von der Stelle, wo heute die Rhulin-Farm ist.

Na ja, das war im Sommer 1929, im Juli oder August, vielleicht auch Anfang September, so genau weiß ich's nicht mehr. Als die Bande in jenes Haus in Newport zog, waren sie zu acht - AI Brady, sein Bruder George, Joe Donlin mit seinem Bruder Cal, ein Ire namens Arnold Malloy, der den Spitznamen >Creeping Jesus< Malloy hatte, weil er kurzsichtig war, seine Brille aber nur aufsetzte, wenn es unbedingt notwendig war, da sie sein gutes Aussehen beeinträchtigte; außerdem noch Patrick Caudy, ein junger Bursche aus Chicago, der schön wie Adonis war, aber überaus mordlustig gewesen sein soll. Sie hatten auch zwei Frauen bei sich, Kitty Donahue, die mit George Brady richtig verheiratet war, und Marie Hauser, die zu Caudy gehörte, manchmal aber auch herumgereicht wurde.

Sie gingen von einer verhängnisvoll falschen Annahme aus, als sie hierher kamen, Mickey - und das kostete sie schließlich das Leben. Sie hatten die Idee, so weit von Indiana und Ohio entfernt, wo sie ihre Verbrechen begangen hatten, in absoluter Sicherheit zu sein. Vermutlich glaubten sie, daß wir hier oben in Maine keine Zeitungen hätten - keine Zeitungen und keine Steckbriefe in den Postämtern. Aber sie irrten sich gewaltig.

Die erste Zeit nach ihrem Einzug verhielten sie sich sehr ruhig, und dann muß es ihnen langweilig geworden sein, und sie beschlossen, daß es bestimmt Spaß machen würde, auf die Jagd zu gehen. Schußwaffen hatten sie jede Menge, aber sie waren ziemlich knapp an Munition. Deshalb kamen sie alle am 7. Oktober in zwei Autos nach Derry. Patrick Caudy machte mit den beiden Frauen einen Einkaufsbummel, und die anderen fünf Männer begaben sich in Dakins Geschäft für Sport- und Jagdartikel. Kitty Donahue kaufte sich im Freese's ein Kleid, in dem sie zwei Tage später starb.

Die Männer wurden von Lal Dakin höchstpersönlich bedient. Er ist 1959 gestorben. Viel zu fett ist er gewesen, schon seit eh und je. Das menschliche Herz hält ein solches Gewicht auf Dauer nicht aus. Doch seine Augen waren in Ordnung, und er sagte, er hätte AI Brady auf Anhieb erkannt. Er glaubte auch einige der anderen zu erkennen, war sich bei Malloy aber erst sicher, als dieser seine Brille aufsetzte, um sich Messer in einer Glasvitrine anzusehen.

AI Brady erklärte: >Wir möchten Munition kaufen. <

>Da sind Sie bei mir genau richtige sagte Lal Dakin.

Brady gab ihm einen Zettel, und Dakin studierte die lange Liste. Soviel ich weiß, ist der Zettel verlorengegangen, aber Lal sagte, daß einem davon das Blut in den Adern gerinnen konnte. Sie wollten 500 Schuß Munition Kaliber .38, 800 Schuß Kaliber .45, 60 Schuß Kaliber .50, das heute nicht mal mehr hergestellt wird, ferner Schrotflintenpatronen und je 1000 Schuß Munition für kurze und lange Gewehre. Außerdem - paß gut auf! - 16000 Schuß Munition für Maschinenpistolen Kaliber .45.«

»Allmächtiger Himmel!« murmelte ich.

Mr. Keene lächelte wieder zynisch und hielt mir das Apothekerglas hin.

Zuerst schüttelte ich den Kopf, aber dann nahm ich mir doch noch eine Lakritzstange.

»>Das ist ja 'ne ganz schöne Einkaufsliste< meinte Lal.

>Komm, Al<, sagte Creeping Jesus Malloy. »Ich habe dir doch gleich gesagt, daß wir das Zeug in diesem gottverlassenen Nest nicht kriegen werden. Fahren wir lieber nach Bangor. Dort werden sie's zwar auch nicht haben, aber ich habe Lust auf einen kleinen Ausflug. <

»Nicht so eilig, meine Herren<, sagte Lal ganz kaltblütig. »Das hier ist ein verdammt gutes Geschäft, und ich will nicht, daß der Jude drüben in Bangor es macht. Ich kann Ihnen die Munition Kaliber .22 gleich mitgeben, ebenso die Schrotflintenpatronen und jeweils 100 Schuß Kaliber .38 und .45. Den Rest könnte ich Ihnen bis... < - Lal kratzte sich am Kinn und schloß kurz die Augen, so als würde er scharf nachdenken - »bis übermorgen besorgen. Wie wäre das?<

Brady grinste breit, drehte sich nach seinem Bruder George und Malloy um und fragte sie: »Was sagt ihr dazu, Jungs?<

George und Malloy und Joe Donlin waren einverstanden. Cal sagte, er würde trotzdem lieber nach Bangor fahren, aber er wurde überstimmt. »Wenn Sie aber nicht hundertprozentig sicher sind, das Zeug beschaffen zu können, sagen Sie's lieber gleich<, sagte AI Brady zu Lal. »Ich bin zwar ein friedliebender Mensch, aber wenn ich wütend werde, ist mit mir nicht gut Kirschen essen. Verstehen Sie?<

>Vollkommen<, sagte Lal, »ich werde für Sie soviel Munition besorgen, wie Sie sich nur wünschen können, Mr... .?<

>Rader<, sagte Brady. »Richard D. Rader .< Er streckte seine Hand aus, und Lal schüttelte sie grinsend. »Sehr erfreut, Mr. Rader. <

»Um wieviel Uhr sollen wir vorbeikommen und das Zeug abholen?< fragte Brady.

»Wie war's mit zwei Uhr?< sagte Lal, und sie waren damit einverstanden. Sie gingen, und Lal blickte ihnen nach, und draußen auf dem Gehweg trafen sie die beiden Frauen und Caudy. Lal erkannte auch Caudy sofort.

Nun, und was glaubst du, was Lal dann getan hat?« fragte Mr. Keene mich. »Glaubst du, er hat die Polizei verständigt?«

»Vermutlich nicht«, antwortete ich, »nach dem zu schließen, was dann passierte. Aber ich hätte jedenfalls geschaut, daß ich zum Telefon gekommen wäre.«

»Nun, vielleicht hättest du's getan, vielleicht aber auch nicht«, sagte Mr. Keene mit jenem stets gleichen zynischen Lächeln, und mich überlief ein Schauder, denn ich wußte, was er meinte... und er wußte, daß ich es wußte. Wenn etwas Schweres erst einmal ins Rollen kommt, läßt es sich nicht mehr aufhalten; es rollt immer weiter, bis es auf eine ebene Strecke gerät, die so lang ist, daß die Antriebskraft schließlich gleich Null wird. Man kann sich diesem Etwas in den Weg stellen und sich davon überrollen lassen ... aber auch das wird es nicht aufhalten.

»Vielleicht hättest du's getan, vielleicht aber auch nicht«, wiederholte Mr. Keene. Der Satz schien ihm zu gefallen. »Aber ich werde dir sagen, was Lal Dakin getan hat. Sobald an jenem Tag und am nächsten irgendein Mann in sein Geschäft kam, den er kannte, erzählte er ihm, die Brady-Bande hätte bei ihm Munition gekauft. Er hätte drei von ihnen aufgrund der Steckbriefe erkannt und bei einem vierten genügend Familienähnlichkeit entdeckt, um bei Gott dem Allmächtigen schwören zu können, daß es Als Bruder George sei. Er berichtete allen seinen Kunden, daß Brady und seine Männer wiederkommen würden, um den Rest ihrer Bestellung abzuholen, daß er Brady versprochen hätte, ihm soviel Munition zu besorgen, wie er sich nur wünschen könne, und daß er beabsichtige, dieses Versprechen auch zu halten.«

»Wie vielen...«, setzte ich zum Reden an, aber ich war wie gelähmt, wie hypnotisiert von seinen funkelnden Augen. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment hier im Zimmer ersticken zu müssen... aber ich konnte auch nicht einfach aufstehen und weggehen; es war ebenso unmöglich wie der Versuch, sich durch Anhalten der Luft umzubringen.

»Wie vielen Männern Lal das erzählte?« fragte Mr. Keene.

Ich wollte bejahen, aber meine Kehle war plötzlich zu trocken, so daß ich nur nicken konnte.

»So genau weiß ich das natürlich nicht«, sagte Mr. Keene. »Schließlich habe ich ja nicht neben ihm gestanden und hab' sie gezählt. Ich hatte ja meine eigene Arbeit. Aber ich nehme an, daß er es allen erzählte, denen er vertrauen konnte.«

»Denen er vertrauen konnte«, murmelte ich. Meine Stimme klang etwas heiser.

»O ja«, sagte Mr. Keene, und obwohl er im Plauderton erzählte, ließ er mich doch keinen Augenblick aus den Augen. »Männern, denen er vertrauen konnte. Einheimischen. Männern aus Derry.

Ich kam so gegen zehn Uhr morgens am Tag nach dem ersten Besuch der Brady-Bande in Lals Geschäft, und ich nehme an, daß meine Geschichte ziemlich typisch ist. Lal erzählte mir von der Sache, und dann fragte er mich, womit er mir dienen könne. Ich war ursprünglich nur hergekommen, um zu fragen, ob mein letzter Film schon entwickelt wäre - in jener Zeit hatte Dakin auch die Vertretung für alle Kodakfilme und Kameras -, aber als ich meine Fotos dann bekommen hatte, sagte ich, daß ich auch noch zwanzig oder dreißig Patronen für meine Winchester gebrauchen könnte.

>Hast du vor, auf die Jagd zu gehen, Norbert?< fragte Lal, während er mir die Patronen gab.

>Na ja, vielleicht kann ich einiges an Ungeziefer erledigen< sagte ich, und wir lachten schallend darüber. Ich bezahlte und ging.

An jenem Vormittag erzählte ich die Geschichte drei Leuten - Bob Tan-ner, der damals mein Gehilfe war und später in Castine seinen eigenen Drugstore aufgemacht hat, Jake Devereaux, der zu jener Zeit im >Aladdin< Platzanweiser war, und Kenny Borton, dem Onkel des Mannes, der in deiner Kindheit Polizeichef war, Mike. Mittags erzählte ich's Allan Vincent vom Postamt. Und am Nachmittag wollte ich Nell davon berichten... erinnerst du dich noch an Nell, Mike?«

»O ja«, sagte ich und dachte an die Barrens und an Richie Toziers Stimme-eines-irischen-Bullen.

»Er wußte aber schon bestens Bescheid, von Sheriff Sullivans Eilboten Jimmy Gordon«, sagte Mr. Keene und lachte und schlug sich auf die mageren Schenkel, so als wäre das der beste Witz, den er je gehört hatte. »Und als ich später am Nachmittag in Nan's Luncheonette ging, um ein Stück Apfelkuchen zu essen und 'ne Tasse Kaffee zu trinken, da wollte Linc Vincent, Allans Bruder, der dort bediente, mir die Geschichte erzählen.« Er beugte sich vor und klopfte mir aufs Knie. »Was ich sagen will, mein Junge, ist, daß die Geschichte sehr schnell die Runde gemacht hatte. Kleinstädte sind nun mal so. Wenn man etwas den richtigen Leuten erzählt, verbreitet sich die Nachricht in Windeseile... möchtest du noch eine Lakritzstange?«

Ich holte mir mit tauben Fingern eine weitere aus dem Apothekerglas.

»Die Dinger machen dick«, sagte Mr. Keene und kicherte. Er sah in diesem Moment alt aus... unglaublich alt... seine Brille rutschte ihm den schmalen Nasenrücken hinab, und seine Haut spannte sich so straff und so dünn über die Backenknochen, daß sie keine Falten bilden konnte.

»Na ja, am nächsten Tag brachte ich meine Winchester in den Drugstore mit, und Bob Tanner hatte seine Knallbüchse dabei. Ich erinnere mich noch genau, daß so gegen elf Gregory Cole reinkam, um doppelkohlensaures Natron zu kaufen, und der Bursche hatte doch tatsächlich 'nen Colt im Gürtel stecken.

>Paß nur auf, daß du dir damit nicht die Eier wegschießt, Greg<, sagte ich.

>Ich bin wegen dieser Sache extra aus den Wäldern von Milford hergekommen, und ich hab' 'nen mordsmäßigen Kater<, sagte Greg, >und vor Sonnenuntergang werd' ich ganz bestimmt noch jemandem die Eier wegschießen. <

So gegen halb zwei hängte ich mein Schild komme bald zurück, bitte um etwas geduld an die Tür, nahm mein Gewehr und ging durch die Hintertür hinaus auf die Richard's Alley. Ich fragte Bob Tanner, ob er mitkommen wolle, und er sagte, er wolle erst noch Mrs. Emersons Medizin abfüllen, dann würde er nachkommen. >Lassen Sie mir noch einen lebendig übrig, Mr. Keene<, sagte er, aber ich erwiderte, ich könne nichts versprechen.

Man konnte auf den ersten Blick sehen, daß die ganze Canal Street Bescheid wußte. Es herrschte kaum Verkehr, und Fußgänger waren auch nicht unterwegs. Ab und zu fuhr ein Lieferwagen vorbei, das war auch schon alles. Ich sah Jake Devereaux die Straße überqueren, in jeder Hand ein Gewehr. Er traf Andy Criss, sie redeten kurz miteinander, und Andy schnorrte von Jake eine Zigarette. Dann gingen sie rüber zu einer der Bänke, die um das Kriegerdenkmal herumstanden - du weißt schon, dort wo der Kanal unter die Erde verschwindet.

Petie Vanness und AI Nell und Jimmy Gordon saßen auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude, wo in jener Zeit, als wir noch keinen Polizeichef hatten, auch das Büro des Sheriffs war. Sie aßen Sandwiches und Obst aus ihren Lunchpaketen und tauschten eifrig miteinander, wie Kinder und Männer das nun mal gern tun, und alle drei waren bewaffnet. Sogar Jimmy Gordon, der eher 'ne ausgestopfte Vogelscheuche als ein Mann war, hatte eine Garand aus dem Ersten Weltkrieg bei sich, die'größer als das ganze Bürschchen aussah.

Ein Junge ging auf den Up-Mile Hill zu - ich glaube, es war Zack Denbrough, der Vater deines Freundes Bill, der jetzt Schriftsteller ist -, und Kenny Borton rief ihm aus dem Fenster des Christian-Science-Leseraums zu: >Mach, daß du hier wegkommst, Junge, hier wird's bald 'ne Schießerei geben!< Und Zack rannte nach einem einzigen Wink von Kenny so, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Auf den ersten Blick sah die Straße verlassen aus, weil nicht viele Autos und kaum Fußgänger unterwegs waren, aber wenn man eine Weile dastand, stellte man fest, daß dieser Eindruck sehr täuschte. Überall waren Männer mit Schußwaffen - sie standen in Torwegen, saßen auf Treppen oder schauten aus den Fenstern. Greg Cole stand ein Stück links von mir die Straße runter; er hatte seine 45 er in der Hand, und neben sich hatte er etwa zwei Dutzend Patronen aufgebaut wie Zinnsoldaten. Bruce Jagermeyer und Olaf Theramenius, der Schwede, standen im Schatten unter dem Vordach des >Bijou<.«

Mr. Keene sah mich an, aber er blickte durch mich hindurch. Jetzt funkelten seine Augen nicht mehr; sie waren verschleiert, wie die Augen eines Mannes es nur werden, wenn er sich an die besten Zeiten seines Lebens erinnert ... an seinen ersten erfolgreichen Lauf beim Baseball, oder an die erste große Forelle an seiner Angel, oder an den ersten Beischlaf mit einer entgegenkommenden Frau.

»Ich erinnere mich, daß ich den Wind hörte, mein Sohn«, sagte er verträumt. »Ich erinnere mich, daß ich den Wind hörte und sah, wie er ein Blatt der >Derry News< die Straße hinauf rieb. Sah ganz so aus wie 'ne große Fledermaus, nur weiß. Ich erinnere mich auch daran, wie die Uhr am Gerichtsgebäude zwei schlug, und wie das hallte. Bob Tanner tauchte plötzlich hinter mir auf, und ich war so aufgeregt, daß ich ihm fast 'nen Kopfschuß verpaßt hätte. Er nickte mir nur zu und ging dann rüber zu Vannock's Dry Goods.

Man hätte meinen können, daß die Leute sich wieder zerstreuten, als es zehn nach zwei wurde und nichts passierte, dann Viertel nach und zwanzig nach zwei. Aber das war nicht der Fall. Alle blieben, wo sie waren. Denn...«

»Denn alle wußten, daß die Bande kommen würde, stimmt's?« sagte ich. »Es stand für euch völlig außer Frage.«

Er strahlte mich an wie ein Lehrer, der entzückt über die Antwort eines Schülers ist. »Stimmt genau«, sagte er. »Wir wußten es. Wir brauchten nicht darüber zu reden, keiner brauchte zu sagen: >Na ja, ich warte bis zwanzig nach, und wenn sie bis dahin nicht aufgetaucht sind, geh' ich wieder an meine Arbeit. < Alles blieb ruhig, und so gegen fünf vor halb drei tauchten die beiden Autos - eines war rot, das andere dunkelblau - auf dem Up-Mile Hill auf und fuhren auf die Kreuzung zu. Ein Chevrolet und ein La-Salle. Die Brüder Donlin, Patrick Caudy und Marie Hauser saßen im Chevrolet, die Bradys, Malloy und Kitty Donahue im LaSalle.

Mitten auf der Kreuzung trat AI Brady dann so plötzlich auf die Bremse, daß Caudy ihm fast hinten drauf gefahren wäre. Die Straße war zu ruhig, und das fiel Brady auf. Er war vielleicht nichts weiter als ein wildes Tier, aber ein Tier hat eine feine Witterung, wenn es jahrelang wie ein Wiesel im Weizenfeld gejagt worden ist.

Er öffnete die Tür des LaSalles, stellte sich aufs Trittbrett und blickte kurz in die Runde. Dann machte er Caudy eine Geste, die >Zurück!< bedeutete.

Caudy rief: >Was ist, Boß?< Ich hörte es ganz deutlich - es war das einzige, was ich sie sagen hörte, nur diese drei Worte von Caudy: >Was ist, Boß?< Und ich erinnere mich an einen Sonnenstrahl, der von einem Spiegel reflektiert wurde - die Hauser puderte sich die Nase.

In diesem Moment kamen Lal Dakin und sein Gehilfe Biff Marlow aus Da-kins Geschäft herausgerannt. >Hände hoch, Brady, ihr seid umzingelt !< brüllte Lal, und noch bevor Brady den Kopf wenden konnte, ballerte Lal schon los. Seine ersten beiden Kugeln verfehlten ihr Ziel, aber die dritte traf Brady in die Schulter. Er trug ein weißes Hemd mit Ärmelhaltern, und ich sah, wie die Kugel ihn am Oberarm traf und ein Loch ins Hemd riß. Sofort schoß Blut hervor, und die Wucht des Schusses hätte ihn auf die Straße geschleudert, wenn er sich nicht an der Tür des LaSalles festgehalten hätte und dann ins Auto zurückgesprungen wäre. Er wollte anfahren, und in diesem Moment fingen alle an zu schießen.

In vier oder fünf Minuten war alles vorüber, aber damals kam's uns verdammt viel länger vor. Petie und AI und Jimmy Gordon saßen einfach auf der Treppe des Gerichtsgebäudes, gingen nicht einmal in Deckung und feuerten auf den Chevrolet. Einer der Hinterreifen platzte, dann auch der zweite. Ich sah Bob Tanner unter dem Sonnendach von Vannock's auf einem Bein knien; er drückte wie verrückt auf den Abzug seiner alten Flinte. Jagermeyer und Theramenius schössen vom Kino aus auf die rechte Seite des LaSalles, und Greg Cole stand im Rinnstein, hielt seine 45er mit beiden Händen fest und feuerte, so schnell er nur konnte. Ich sah die Patronenhülsen in der Sonne funkeln.

Der Lärm war unglaublich. So fünfzig oder sechzig Mann müssen gleichzeitig geschossen haben, und später schickte Lal Dakin dann Biff Marlowe und seine Söhne raus, und sie holten 36 Kugeln aus der Vordermauer des Geschäfts. Und das war drei Tage später, nachdem so ziemlich jeder in der Stadt, der ein Souvenir haben wollte, vorbeigekommen war und sich mit dem Taschenmesser eine Kugel aus der Ziegelmauer gebohrt hatte. Lal machte damals ein verdammt gutes Geschäft, denn danach kamen sie alle in den Laden und kauften Filme oder sonst was. Sehr viele kauften auch Schußwaffen, so als glaubten sie, die Sache würde sich wiederholen, und gegen Ende der Woche hatte Lal so gut wie jede vorrätige Pistole verkauft und wer weiß wie viele Gewehre und Schrotflinten.

Auf dem Höhepunkt hörte es sich so an, als fände die Marne-Schlacht plötzlich in Derry statt. In der näheren Umgebung von Dakins Laden gingen zahlreiche Fensterscheiben durch Gewehrfeuer zu Bruch.

Brady wollte den LaSalle wenden, und er war nicht eben langsam, aber als er gerade erst einen Halbkreis beschrieben hatte, fuhr er auf vier Platten. Beide Scheinwerfer waren zerschmettert, und die Windschutzscheibe war total zerstört. Ich sah Brady am Steuer sitzen, mit blutüberströmtem Gesicht. Malloy und George Brady feuerten aus den hinteren Fenstern. Ich sah, wie eine Kugel Malloy oben am Hals traf. Er schoß noch zweimal, dann brach er im Fenster zusammen, und seine Arme baumelten herab.

Caudy versuchte den Chevrolet zu wenden, fuhr dabei aber hinten in Bradys LaSalle hinein. Und damit war ihr Untergang eigentlich endgültig besiegelt, mein Junge. Die vordere Stoßstange des Chevrolets verhedderte sich mit der hinteren Stoßstange des LaSalles, und somit war ihnen die letzte Fluchtmöglichkeit genommen.

Joe Donlin sprang aus dem Wagen, in jeder Hand eine Pistole, stellte sich mitten auf die Kreuzung und begann auf Jake Devereaux und Andy Criss zu schießen. Die beiden ließen sich von ihrer Bank zu Boden fallen und landeten im Gras, und Criss schrie immer wieder: >Mich hat's erwischt! Mich hat's erwischt!<, obwohl ihm überhaupt nichts passiert war, ebensowenig wie Jake.

Die Kugeln flogen nur so um Donlin herum, aber er konnte seine beiden Pistolen leerfeuern, bevor er getroffen wurde. Er trug einen Strohhut, und er wurde ihm vom Kopf geschossen, so daß man genau sehen konnte, daß er einen Mittelscheitel hatte. Er hatte gerade eine seiner Pistolen unter den Arm geklemmt und versuchte, die andere wieder zu laden, als jemand ihn am Bein erwischte und er hinfiel. Kenny Borton behauptete später, es wäre seine Kugel gewesen, aber genau ließ sich das nicht feststellen. Sie hätte auch von jedem anderen stammen können.

Donlin versuchte wegzukriechen, und sein Bruder Cal wollte ihm zu Hilfe kommen. Ich sah, wie eines von Cal Donlins Ohren weggeschossen wurde und auf dem Trittbrett des Chevrolets landete. Es wurde später nicht gefunden; so makaber es sich auch anhört - jemand muß es wohl als Souvenir mitgenommen haben.

Er gelangte bis zu seinem Bruder, packte ihn unter den Armen und begann ihn zum Chevrolet zu schleppen. Marie Hauser sprang heraus, um ihm dabei zu helfen. Sie hielt immer noch die Puderdose in der Hand. Sie schrie, glaube ich, aber man konnte sie kaum hören. Kugeln schwirrten nur so um sie herum. Die Puderdose wurde ihr aus der Hand geschossen.

Inzwischen zielten unsere Jungs schon viel besser, denn Cal Donlin wurde getroffen, aus so vielen verschiedenen Richtungen, daß es zehn oder zwölf Sekunden dauerte, bis er zu Boden fiel. In dieser Zeit tanzte er auf der Kreuzung herum wie ein eingefleischter Sünder, der soeben bei einer Erweckungspredigt bekehrt wurde. Er hatte die Arme ausgestreckt, sein Mantel flog um ihn herum, und er tanzte.

Joe wollte aufstehen, aber die Kugeln warfen ihn sofort wieder zu Boden. Die Hauser versuchte ihn zu packen und wegzuschleppen, doch dann wurde sie selbst in die Hüfte getroffen. Sie taumelte zurück zum Chevrolet, und es gelang ihr hineinzukriechen.

AI Brady brachte den Motor des LaSalles wieder auf volle Touren, und er schaffte es tatsächlich, ihn von der Stelle zu bewegen. Er schleppte den Chevrolet etwa zehn Fuß weit mit, und dann brach dessen vordere Stoßstange ab.

Die Jungs begannen Blei in den LaSalle zu pumpen. Alle Fenster waren zerschmettert. Ein Kotflügel lag abgerissen auf der Straße. Malloy hing tot aus dem Fenster, aber die beiden Brüder Brady waren noch am Leben. George Brady feuerte vom Rücksitz aus. Seine Frau war neben ihm, aber sie war tot - sie hatte zwei Kugeln im Rücken, eine in der Seite und eine im Kopf.

Al Brady schaffte es bis dahin, wo heute die Taschenbuchhandlung ist. Dann fuhr das Auto gegen den Bordstein und blieb stehen. AI Brady sprang

heraus und rannte die Canal Street hinauf. Aber er kam höchstens acht Schritt weit, bevor er wie ein Sieb durchlöchert wurde. Er versuchte noch einmal aufzustehen, dann rollte er auf den Rücken und starrte mit weit aufgerissenen toten Augen in die Sonne.

Inzwischen war die ganze Innenstadt in dichte blaue Rauchwolken gehüllt, und der Pulvergestank war so durchdringend, daß man bei jedem Atemzug husten mußte.

Patrick Caudy stieg aus dem Chevrolet, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte er sich ergeben, aber dann zog er plötzlich eine 38er aus seiner Achselhöhle. Er drückte vielleicht dreimal ab, aber er schoß einfach blindlings drauflos, und dann wurde ihm das Hemd einfach vom Leibe geschossen, und einen Moment lang konnte man sehen, wie sein Unterhemd sich rot mit Blut färbte. Er prallte gegen die Seite des Chevrolets und glitt langsam daran herab, eine Blutspur hinter sich lassend, bis er auf dem Trittbrett saß. Er schoß noch einmal, und soviel ich weiß, war das die einzige Kugel, die jemanden traf; sie prallte von etwas ab - ich nehme an, von einem Laternenpfahl - und streifte Gregory Coles Handrücken. Er behielt davon eine Narbe zurück, und wenn er betrunken war, zeigte er sie den Leuten und prahlte damit, bis jemand - ich glaube, es war Nell - ihn einmal beiseite nahm und ihm erklärte, es wäre besser, den Mund über das Ende der Bra-dy-Bande zu halten.

Dann zerschmetterte eine Kugel Caudys Kinn und Unterkiefer, und er fiel aufs Gesicht. Ich habe ihn etwa fünf Minuten später aus nächster Nähe gesehen, und wenn er wirklich mal, wie es hieß, ein hübscher Kerl gewesen war, so hätte das nun kein Mensch mehr geglaubt.

Die Hauser kam mit erhobenen Händen aus dem Wagen, und ich glaube eigentlich nicht, daß jemand sie umbringen wollte, aber sie geriet direkt ins Kreuzfeuer. Sie zuckte krampfhaft ein paarmal mit den Schultern, und dann fiel sie auf Caudy.

Gleichzeitig versuchte George Brady zu flüchten. Er kam etwas weiter als sein Bruder. Doch als er an der Bank beim Kriegerdenkmal vorbeirannte, wurde er von mindestens sechs Kugeln getroffen. Er fiel gegen die Steinbrüstung und versuchte sich daran hochzuziehen. Ich nehme an, daß er beabsichtigte drüberzuklettern und ins Wasser zu springen, aber dazu lebte er nicht lange genug. Jemand schoß seinen Hinterkopf mit einer Schrotflinte zu Brei, und er fiel tot zu Boden, die Hose voll Pisse... Lakritze, mein Sohn?«

Fast ohne zu wissen, was ich tat, nahm ich mir wieder eine Lakritzstange.

»Ein, zwei Minuten wurde noch weiter voll in die Autos geschossen, dann ließ der Kugelregen langsam nach«, berichtete Mr. Keene. »Wenn das Blut erst mal so richtig in Wallung ist, beruhigt sich ein Mann nicht so rasch wieder. In diesem Augenblick schaute ich mich um, und da sah ich Sheriff Sullivan hinter Nell und den anderen auf der Gerichtstreppe stehen und mit einer Remington in den Chevrolet ballern. Laß dir also von keinem weismachen, daß er damals nicht in der Stadt war. Hier sitzt Norbert Keene vor dir und schwört, daß Sullivan mit von der Partie war.

Als das Schießen schließlich aufhörte, hatten die beiden Wagen überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit Autos. Es waren nur noch zwei Haufen

Altmetall, von jeder Menge Glasscherben umgeben. Männer begannen vorsichtig darauf zuzugehen, ihre Gewehre immer noch in der Hand. Niemand sagte etwas. Es war sehr still geworden. Nur der Wind war zu hören, und das Ticken der beiden abkühlenden Motoren, und das Knirschen von Schritten auf zerbrochenem Glas. Und dann ging das Fotografieren los - die meisten Filme stammten aus Dakins Laden. Aber du mußt folgendes wissen, mein Junge: Wenn es erst einmal ans Fotografieren geht, ist die eigentliche Geschichte schon vorbei. Sie waren tot, alle acht. Die meisten Schüsse hatte Cal Donlin abgekommen; der Leichenbeschauer holte 23 Kugeln aus ihm raus. Eine steckte sogar zwischen seinen Zähnen, so als hätte er sie aus der Luft aufgefangen und draufgebissen, wie manche Jahrmarktskünstler das machen.«

Mr. Keene schaukelte mit seinem Stuhl hin und her und betrachtete mich aufmerksam.

»Das alles war in den >Derry News< nicht zu lesen«, war alles, was ich zunächst herausbrachte. Die Schlagzeile hatte damals gelautet: Staatspolizei

UND FBI ERSCHIESSEN BEI HEFTIGEM KAMPF DIE BRADY-BANDE. Und als Untertitel stand da: Ortspolizei leistete tatkräftige Unterstützung.

»Natürlich nicht«, sagte Mr. Keene und lachte amüsiert. »Ich habe schließlich mit eigenen Augen gesehen, wie Mack Laughlin, der Herausgeber der Zeitung, Joe Donlin selbst zwei Kugeln verpaßte.«

»Mein Gott!« murmelte ich.

»Hast du genug... Lakritze gegessen... mein Junge?«

»Ja, das reicht wirklich«, sagte ich und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Mr. Keene, wie konnte ein Ereignis dieser... dieser Größenordnung ... vertuscht werden?«

»Es wurde nicht vertuscht«, erwiderte er und sah aufrichtig überrascht aus. »Es war ganz einfach so, daß niemand viel Worte darüber verlor. Das ist ein großer Unterschied, weißt du. Und außerdem, Junge, wer kümmerte sich schon viel darum? Schließlich waren an jenem Tag ja nicht Hoover, Mrs. Hoover und ein halbes Dutzend seiner engsten Berater umgelegt worden. Es war nicht viel anders, als hätten wir tollwütige Hunde erschossen, die einen mit einem einzigen Biß töten, wenn sie nur die geringste Chance dazu bekommen.«

»Aber die Frauen?« wandte ich ein.

»Zwei Huren«, sagte er gleichgültig. »Und außerdem passierte es in Derry, nicht in New York oder Chicago. Der Schauplatz des Geschehens ist ebenso wichtig wie das Geschehen selbst, mein Junge. Deshalb sind die Schlagzeilen viel größer, wenn bei einem Erdbeben in Los Angeles zwölf Menschen ums Leben kommen, als wenn es bei einer derartigen Naturkatastrophe in irgendeinem unzivilisierten Land voller Eingeborener im mittleren Osten 3000 Tote gibt.«

Außerdem passierte es in Derry.

Ich habe dieses Argument auch früher schon gehört, und vermutlich werde ich es, wenn ich mit meinen Ermittlungen fortfahre, wieder und immer wieder hören. Sie führen es so an, als müßten sie es einem geistig Behinderten verständlich machen. Sie bringen es so, als würden sie sagen aufgrund der Schwerkraft, wenn man sie fragen würde, warum sie beim Gehen

am Boden haften. Sie sagen es so, als handle es sich um ein Naturgesetz, das jeder normale Mensch verstehen muß. Und das Schlimmste ist, daß ich es tatsächlich verstehe.

Ich mußte Norbert Keene noch eine letzte Frage stellen.

»Haben Sie an jenem Tag, nachdem die Schießerei begonnen hatte, jemanden gesehen, den Sie nicht kannten?«

Und Mr. Keenes Antwort erfolgte so prompt, daß ich direkt spürte, wie meine Bluttemperatur sank. »Du mußt jenen Clown meinen«, sagte er. »Wie hast du denn davon erfahren, mein Sohn?«

»Oh, ich hab' so was läuten gehört«, sagte ich mit tauben Lippen.

»Ich habe ihn nur flüchtig gesehen«, berichtete Mr. Keene. »Als es so richtig heiß herging, war ich ganz in meine eigene Beschäftigung vertieft... noch eine Lakritzstange, Junge?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich habe nur einmal einen Blick in die Runde geworfen, und da stand er unter dem Vordach des >Bijou<«, sagte Mr. Keene. »Er trug kein Clownskostüm oder irgendwas in dieser Art. Nein, er hatte ein Baumwollhemd und so 'ne Latzhose an, wie die Farmer sie tragen. Aber sein Gesicht war mit der weißen Schminke bedeckt, wie sie im Zirkus benutzt wird, und ein breites Clownsgrinsen war draufgemalt. Und außerdem hatte er diese Büschel falscher Haare, weißt du - orangefarben. Er sah wirklich komisch aus.

Ich habe später Lal Dakin gefragt, aber der hatte den Kerl nicht gesehen, dafür aber Biff. Nur muß Biff etwas durcheinander gewesen sein, denn er behauptete, den Clown in einem der Wohnungsfenster über der Buchhandlung gesehen zu haben; und als ich einmal Jimmy Gordon danach fragte - er kam in Pearl Harbor ums Leben, ging mit seinem Schiff unter, ich glaub', es war die >California< -, sagte der mir, er hätte den Clown direkt hinter dem Kriegerdenkmal bemerkt.«

Mr. Keene schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist schon komisch, was Menschen in so einer Situation wahrzunehmen glauben, und noch merkwürdiger ist es, woran sie sich hinterher zu erinnern glauben. Du kannst dir sechzehn verschiedene Geschichten anhören, und keine zwei davon werden übereinstimmen. Nimm nur mal beispielsweise das Gewehr, das jener Kerl mit dem Clownsgesicht bei sich hatte...«

»Gewehr?« fiel ich ihm ins Wort. »Er schoß also auch?«

»Aber ja«, sagte Mr. Keene. »Auch er schoß. Bei dem einen Blick, den ich auf ihn warf, kam es mir so vor, als hätte er eine Winchester, und erst später konnte ich mir erklären, wie ich darauf gekommen bin.«

»Wie denn?«

»Selbstverständlich, weil ich eine Winchester hatte«, sagte Mr. Keene und sah mich an, als wäre ich total vertrottelt. »Biff Marlowe glaubte, der Clown hätte eine Remington gehabt, weil er eine hatte. Und als ich Jimmy fragte, erklärte der mir, jener Kerl hätte mit einer alten Garand geschossen, die genauso ausgesehen hätte wie seine eigene. Komisch, nicht wahr?«

»Sehr komisch«, brachte ich mühsam hervor. »Mr. Keene... hat sich denn niemand gewundert, was in aller Welt ein Clown zu dieser Zeit an diesem Ort zu suchen hatte?«

»Natürlich haben wir uns gewundert«, sagte Mr. Keene. »Weißt du, so sehr wichtig war uns die Sache zwar nicht, aber gewundert haben wir uns schon. Die meisten von uns erklärten es sich so, daß es sich um jemanden handelte, der gehört hatte, was passieren würde und dabei sein wollte, der aber gleichzeitig Wert darauf legte, nicht erkannt zu werden. Vielleicht irgendein Mitglied des Stadtrats. Horst Mueller oder Tom Dickson oder vielleicht sogar Trace Naugler, der damals Bürgermeister war. Aber es könnte ebensogut auch ein Arzt oder Anwalt oder sonst ein angesehener Bürger gewesen sein. Ich hätte in dieser Aufmachung nicht mal meinen eigenen Vater erkannt.«

Er lachte ein wenig, und ich fragte ihn, was so komisch sei.

»Es besteht auch die Möglichkeit, daß es ein richtiger Clown war«, sagte er. »In den 2oer und 3oer Jahren fand der Jahrmarkt in Esty viel früher statt als heutzutage, und in jener Woche, als wir die Brady-Bande zur Strecke brachten, war er gerade in vollem Gange. Dort gab's auch Clowns. Vielleicht ist einer von ihnen hergefahren, weil er gehört hatte, daß wir unseren eigenen kleinen Jahrmarktsspaß haben würden.«

Ich sah ihn starr an. Er lächelte mir zu.

»Ich bin fast am Ende meiner Geschichte angelangt«, sagte er, »aber eine Sache werde ich dir noch erzählen, weil du so aufmerksam zugehört hast und so interessiert an allem zu sein scheinst. Es war etwas, das Biff Marlowe etwa 16 Jahre später sagte, als wir im Pilot's Grill in Bangor ein paar Bierchen tranken. Er sagte es ganz plötzlich, aus heiterem Himmel heraus. Er sagte, jener Clown hätte sich so weit aus dem Fenster gelehnt, daß Biff nicht verstehen konnte, warum er nicht herausfiel. Nicht nur sein Kopf, seine Schultern und Arme wären draußen gewesen, nein, Biff sagte, der Kerl hätte bis zu den Knien draußen in der Luft gehangen und auf die Autos der Bande geschossen, mit jenem breiten roten Grinsen im Gesicht.«

»So als schwebte er«, murmelte ich.

»Ja, genauso«, stimmte Mr. Keene zu. »Und Biff sagte, da wäre auch noch was anderes gewesen, das ihn wochenlang sehr beunruhigt hätte, so wie etwas, das einem auf der Zunge liegt, man es aber nicht herausbringt. Er sagte, schließlich wäre es ihm dann doch noch eingefallen, als er eines Nachts aufs Klo mußte. Er hätte dagestanden, hätte seine Blase entleert und an nichts Besonderes gedacht, und mit einem Schlag wäre ihm eingefallen, was ihm solches Unbehagen bereitete: Die Schießerei habe um fünf vor halb drei begonnen, und es sei ein sonniger Tag gewesen. Er erinnere sich noch genau an die Schatten auf der Ziegelmauer der Buchhandlung... aber jener Clown habe überhaupt keinen Schatten geworfen.«

Загрузка...