EPILOG Bill Denbrough schlägt den Teufel - II

»I knew the bride when she used to do the Pony,

I knew the bride when she used to do the Stroll.

I knew the bride when she used to wanna party,

I knew the bride when she used to rock and roll.«

Nick Löwe


»You can't be careful on a Skateboard, man.«

Some kid Mittags an einem warmen Junitag.


Bill stand nackt in Mike Hanions Schlafzimmer und betrachtete seinen großen, schlanken Körper im Spiegel an der Tür. Sein kahler Schädel schimmerte im hellen Licht, das durch das Fenster einfiel und seinen Schatten an die Wand warf. Seine Brust war unbehaart, seine Schenkel mager, doch muskulös. Aber, so dachte er, es ist ohne jeden Zweifel der Körper eines Erwachsenen. Da ist das Bäuchlein, das von zuviel guten Steaks kommt, von zuviel Flaschen Kirin-Bier, von zuviel Gartenpartys, bei denen man sich an Fleischfondue mit französischen Saucen anstatt an Avocados hält. Auch dein Hintern ist nicht mehr ganz so straff wie früher, Bill, mein Junge. Du kannst immer noch halbwegs ordentlich Tennis spielen, aber so hinter dem Ball herjagen wie mit siebzehn kannst du doch nicht mehr. Dein Schwanz und deine Eier sind auch nicht mehr so taufrisch und knackig wie früher. Auf deinem Gesicht sind Falten, die mit siebzehn noch nicht da waren... verdammt, sie waren noch nicht einmal da, als dein erstes Foto als Autor aufgenommen wurde, das, auf dem du verzweifelt versucht hast, so auszusehen, als wüßtest du etwas... als wüßtest du alles.

Du bist für das, was du vorhast, viel zu alt, Billy-Boy. Du wirst euch beide um

bringen.

Wenn wir das geglaubt hätten, hätten wir nie ... das vollbringen können, was wir

vollbracht haben, was immer es auch gewesen sein mag.

Denn er erinnerte sich nicht mehr daran, was sie getan hatten, wodurch Audra zu einem katatonischen Wrack geworden war. Er wußte nur, was er jetzt zu tun hatte, und er wußte, daß er auch das vergessen würde, wenn er es nicht bald tat. Audra saß unten in Mikes Fernsehsessel und starrte mit geistloser schauriger Konzentration auf den Bildschirm, wo gerade >Dialing for Dollars< lief. Sie sprach nicht und bewegte sich nur, wenn man sie führte.

Dies hier ist etwas anderes. Du bist einfach zu alt dafür, Mann. Glaub es mir.

Nein.

Dann stirb eben hier in Derry, du dummes Arschloch.

Er begann sich langsam anzuziehen. Jockey-Slip, Sportsocken, die einzigen Jeans, die er mitgebracht hatte, das T-Shirt, das er am Vortag im >Shirt

Shack< in Bangor gekauft hatte. Es war leuchtend orange und trug die Aufschrift: Wo zum teufel liegt derry, maine? Er setzte sich auf Mikes Bett -das er in den Nächten der vergangenen Woche mit seiner warmen, aber leichenartigen Frau geteilt hatte - und zog seine Turnschuhe an, die er ebenfalls am Vortage in Bangor gekauft hatte.

Er stand auf und betrachtete sich wieder im Spiegel. Er sah einen Mann, der sich dem mittleren Alter näherte, aber gekleidet war wie ein Junge.

Du siehst lächerlich aus.

Welches Kind tut das nicht?

Du bist aber kein Kind mehr. Gib diese Sache auf! Nein.

Er wandte sich vom Spiegel ab und verließ das Zimmer.

2

In den Träumen späterer Jahre verläßt er Derry immer allein, bei Sonnenuntergang. Die Stadt ist wie ausgestorben. Es ist niemand mehr hier. Das Theologische Seminar und die großen viktorianischen Häuser am West Broadway heben sich schwarz von einem düsteren roten Himmel ab - alle Sommersonnenuntergänge, die er je gesehen hat, scheinen in einen einzigen verschmolzen zu sein.

Er hört, wie seine Schritte auf dem Beton hallen, und das einzige andere Geräusch ist das von Wasser, das in Abflußrohren hohl rauscht...

3

Er schob Silver auf die Auffahrt hinaus, lehnte das Fahrrad an einen Baum und prüfte die Reifen. Das Vorderrad war in Ordnung, aber das Hinterrad fühlte sich etwas weich an. Er holte die brandneue Luftpumpe, die Mike gekauft hatte, und pumpte es prall auf. Dann bewegte er das Fahrzeug probeweise hin und her, und die Spielkarten an den Speichen gaben das Maschinengewehr-Geknatter von sich, an das er sich aus seiner Kindheit so gut erinnerte.

Du hast total den Verstand verloren.

Schon möglich. Wir werden sehen.

Er ging wieder in Mikes Garage, holte das Öl und ölte Kette und Kettenrad. Dann richtete er sich auf und betrachtete Silver aufmerksam. Er drückte auf die alte Gummihupe - sie funktionierte. Er nickte zufrieden und ging ins Haus.

4

... und er sieht all jene Plätze unversehrt wieder, so wie sie damals waren: den massiven Ziegelbau seiner Schule, die Kuß-Brücke mit ihren losen, knarrenden Brettern und den unzähligen darauf eingeritzten Initialen von High-School-Liebespärchen, die mit ihrer Leidenschaft die Welt sprengen wollten und später - als Erwachsene -Versicherungsagenten und Autoverkäufer und Kellnerinnen und Kosmetikerinnen

geworden sind; er sieht die Statue von Paul Bunyan vor jenem blutigen Sonnenuntergangshimmel, und er sieht den baufälligen alten weißen Zaun, der die Kansas Street von den Barrens trennte. Er sieht sie so, wie sie damals waren, wie sie in einem Teil seines Geistes immer sein werden... und sein Herz bricht fast vor Liebe und Schrecken.

Wir verlassen Derry, wir verlassen es, und wenn dies eine Geschichte wäre, so wären wir jetzt auf den letzten Seiten angelangt; gleich könnten wir das Buch aufs Regal stellen und es vergessen. Die Sonne geht unter, und außer meinen Schritten und dem Wasser in den Rohren ist nichts zu hören. Dies ist die Zeit des Abschieds.

5

Nach >Dialing for Dollars< lief jetzt eine Spiel-Show namens >Wheel of Fortunen Audra saß immer noch passiv vor dem Fernseher und starrte auf den Bildschirm. Ihre Miene veränderte sich nicht im geringsten, als Bill das Gerät ausschaltete.

»Audra«, sagte er und nahm ihre Hand. »Komm mit.«

Sie bewegte sich nicht. Ihre Hand lag wie warmer Wachs in der seinigen. Bill nahm ihre andere Hand von der Sessellehne und zog sie hoch. Er hatte sie morgens so angezogen, wie er jetzt auch selbst gekleidet war - Levis und ein blaues T-Shirt. Sie hätte mit ihren glatten, über die Schultern hängenden Haaren wunderschön ausgesehen, wenn da nicht dieser leere, starre Blick ihrer weit aufgerissenen Augen gewesen wäre.

»K-Komm«, sagte er wieder und führte sie durch Mikes Küche ins Freie. Sie kam willig mit, hätte allerdings die Verandastufen überhaupt nicht gesehen und wäre in den Dreck gefallen, wenn Bill nicht den Arm um ihre Taille gelegt und sie Stufe für Stufe hinabgeführt hätte.

Er brachte sie zu Silver. Audra stand neben dem Fahrrad und starrte ausdruckslos auf die Seitenwand von Mikes Garage.

»Komm, steig auf, Audra.«

Sie bewegte sich nicht. Geduldig war Bill ihr behilflich, eines ihrer langen Beine über den Gepäckträger zu schwingen. Dann stand sie mit gespreizten Beinen darüber, ohne sich zu setzen. Bill drückte seine Hand leicht auf ihre Schulter, und nun ließ sie sich auf den Gepäckträger sinken.

Er schwang sich in den Sattel und wollte gerade nach Audras Händen greifen und sie um seine Taille legen, als sie ganz von allein um seine Mitte krochen, wie kleine benommene Mäuse.

Er betrachtete diese Hände, und sein Herz begann schneller zu schlagen, und er hatte das Gefühl, als säße es nicht nur in seiner Brust, sondern auch in seiner Kehle. Es war die erste selbständige Handlung, die Audra in dieser ganzen Woche ausgeführt hatte, soviel er wußte... die erste selbständige Handlung, seit Es geschehen war... was auch immer Es gewesen sein mochte.

»Audra? Liebling?«

Keine Antwort. Er verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, ihr Gesicht zu sehen, schaffte es aber nicht. Nur ihre Hände umfaßten seine Taille, und auf den Nägeln waren noch Reste des abblätternden roten Nagellacks

zu erkennen, den eine schöne, kluge, lebhafte und begabte junge Frau in einer englischen Kleinstadt aufgetragen hatte.

»Wir machen eine kleine Spazierfahrt«, sagte Bill, ließ Silver auf die Palmer Lane zu rollen und lauschte dem Knirschen des Kieses unter den Reifen. »Ich möchte, daß du dich gut festhältst, Audra. Ich werde vielleicht... vielleicht ziemlich sch-sch-schnell fahren.«

Wenn ich nicht im letzten Augenblick kneife.

Er dachte an den Jungen, den er während seines Aufenthalts in Derry getroffen hatte, anfangs, als Es - was immer das auch gewesen sein mochte -noch hier vorging. Bill hatte dem Jungen geraten, vorsichtig zu sein. Auf einem Skateboard kann man nicht vorsichtig sein, hatte der Junge entgegnet.

Wahrere Worte wurden nie gesprochen, Junge.

»Audra? Bist du bereit?«

Keine Antwort. Hatten ihre Hände ein ganz klein wenig fester zugegriffen? Vermutlich war das jedoch nur sein Wunschdenken.

Er erreichte das Ende der Auffahrt und blickte nach rechts. Die Palmer Lane führte direkt zur Upper Main Street, und wenn er nach links abbog, würde er zum Hügel kommen, der in die Innenstadt hinabführte. Den Hügel hinab. Immer schneller. Ein Schauder überlief ihn bei dieser Vorstellung, und ein beunruhigender Gedanke

(alte Knochen brechen leicht, Billy-Boy)

schoß ihm flüchtig durch den Kopf. Aber...

Aber außer der Unruhe und Sorge war da doch noch etwas anderes, oder? O ja. Da war auch das Verlangen... jenes Gefühl, das er gehabt hatte, als er den Jungen mit seinem Skateboard gesehen hatte. Der Wunsch, das Verlangen, sich schnell vorwärtszubewegen, den Wind an sich vorbeisausen zu spüren, ohne zu wissen, ob man auf ihn zusauste oder vor ihm floh, einfach dahinzusausen.

Besorgnis und Verlangen. Zwischen diesen beiden lagen Welten - einerseits der Erwachsene, der über alle Risiken nachdenkt, andererseits das Kind, das sich einfach aufs Rad setzt und losfährt, um nur ein Beispiel zu nennen. Und doch war der Unterschied auch wieder nicht so groß, waren die beiden im Prinzip doch Bettgefährten. Jenes Gefühl, wenn der Wagen der Berg- und Talbahn sich dem Gipfel des ersten steilen Hügels nähert, wo die Fahrt erst so richtig beginnt.

Besorgnis und Verlangen. Was man sich wünscht, und was zu versuchen man sich dann doch fürchtet. Wo man herkommt und wo man hin möchte.

Bill schloß einen Augenblick lang die Augen, spürte das Gewicht seiner Frau hinter sich auf dem Gepäckträger, spürte den Hügel, der irgendwo vor ihm lag, spürte sein Herz in der Brust.

Sei tapfer, sei treu, sei standhaft...

»Ja«, sagte er und begann Silver wieder vorwärts zu treiben. »Bist du bereit, Audra?«

Keine Antwort. Aber das machte nichts. Er war bereit.

»Halt dich gut fest.«

Er begann in die Pedale zu treten. Zuerst fiel es ihm sehr schwer. Silver schwankte bedenklich hin und her, und Audras Gewicht machte es noch schwerer, das Gleichgewicht zu halten. Bill stand auf den Pedalen und umklammerte die Lenkstange, den Kopf himmelwärts gerichtet, mit hervortretenden Halsmuskeln, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen.

Gleich haut's das Rad um, und wir brechen uns beide das Genick...

(nein, nein, das passiert schon nicht, fahr zu, Bill, fahr zu, fahr zu, du Feigling)

Er trat in die Pedale, und jede Zigarette, die er in den vergangenen zwanzig Jahren geraucht hatte, machte sich an seinem erhöhten Blutdruck und seinem laut pochenden Herzen bemerkbar. Scheiß drauf! dachte er, und die verrückte Hochstimmung, die diesen Gedanken begleitete, brachte ihn zum Grinsen.

Die Spielkarten, die bisher nur einzelne Schüsse abgegeben hatten, knatterten nun schneller. Bill spürte die erste Brise an seinem kahlen Schädel und grinste noch breiter. Ich habe diese Brise erzeugt, dachte er. Ich habe sie erzeugt, indem ich in diese verdammten Pedale trat.

Das Halteschild am Ende der Palmer Lane kam in Sicht. Bill begann automatisch abzubremsen... und dann (sein Grinsen wurde immer noch breiter und entblößte jetzt seine Zähne) trat er statt dessen nur noch schneller in die Pedale.

Ohne das Halteschild zu beachten, bog Bill Denbrough nach links in die Upper Main Street ab. Wieder hatte er Audras Gewicht nicht bedacht, und um ein Haar wäre das Fahrrad umgekippt. Es schwankte wie verrückt hin und her, doch dann kam es wieder ins Gleichgewicht. Die Brise wurde stärker, trocknete den Schweiß auf seiner Stirn, streifte an seinen Ohren vorbei mit einem leisen, berauschenden Klang, ähnlich jenem Rauschen des Meeres, das man in einer Muschel hören kann. Sonst ließ sich nichts mit diesem Geräusch vergleichen, und nicht einmal der Vergleich mit der Muschel war sehr treffend. Bill vermutete, daß der Junge mit dem Skateboard dieses herrliche Geräusch sehr gut kannte. Aber das wird nicht immer so sein, Junge, dachte er. Die Dinge ändern sich. Das ist ein gemeiner Trick, also bereite dich lieber schon jetzt daraufvor.

Er fuhr jetzt schneller und konnte dadurch besser das Gleichgewicht halten. Paul Bunyan links von ihm, seine Axt auf der Schulter, grinsend. Und plötzlich hörte Bill sich rufen: »Hi-yo, Silver. Los!«

Audras Griff um seine Taille wurde etwas fester; er spürte, daß sie sich an seinem Rücken etwas bewegte.

Aber jetzt hatte er nicht mehr das Bedürfnis, sich umzudrehen und zu versuchen, sie zu sehen... es war nicht notwendig. Er trat noch schneller in die Pedale und lachte laut auf, ein großer, magerer, kahlköpfiger Mann, der sich tief über die Lenkstange seines Fahrrads beugte, um den Luftwiderstand möglichst niedrig zu halten. Leute drehten sich nach ihm um, als er so an der Statue von Paul Bunyan und am Bassey-Park vorbeisauste.

Jetzt führte die Upper Main Street ziemlich steil bergab, auf die abgesperrte Stadtmitte zu, und eine innere Stimme flüsterte ihm zu, wenn er jetzt nicht bald abbremste, würde es zu spät sein, er würde einfach in die eingesunkenen Überreste der großen Kreuzung hineinsausen und sich und Audra umbringen.

Bill beschloß, diese Stimme zu ignorieren; jetzt sollte nur das Verlangen regieren - es sollte immer regieren!

Er trat wieder in die Pedale, zwang Silver, noch schneller zu fahren. Er flog jetzt den Main Street Hill hinab, und er konnte schon die weißorangefarbene Absperrung sehen, er konnte die Dächer und oberen Stockwerke von Häusern aus den eingebrochenen Straßen herausragen sehen, so als wären sie der Fantasie eines hoffnungslos Verrückten entsprungen.

»Hi-yo, Silver, Loooos!« brüllte Bill Denbrough jubelnd, und er brauste den Hügel hinab und war sich zum letzten Male deutlich bewußt, daß Derry seine Stadt war, daß gewisse Bande unverbrüchlich waren, daß es Güte und Mut und Angst und Schrecken gibt; hauptsächlich war er sich aber deutlich bewußt, daß er unter einem realen Himmel lebendig war, und daß Verlangen alles, alles, alles war.

Er sauste auf Silver den Hügel hinab. Er sauste hügelabwärts, um den Teufel zu schlagen.

6

Du verläßt also Derry, und du hast das Bedürfnis, dich noch einmal umzudrehen, denkt er. Nur noch einmal zurückzublicken, während die Sonne untergeht, ein letztes Mal diese strenge Skyline Neuenglands zu sehen - die Kirchtürme, den Wasserturm, Paul mit seiner Axt über der Schulter. Aber vielleicht ist es doch keine so gute Idee zurückzublicken - das kann man in allen Geschichten nachlesen. Lots Frau wurde dafür in eine Salzsäule verwandelt. Lieber doch nicht zurückschauen. Lieber einfach glauben, daß es glücklicherweise auch jede Menge Happy-Ends gibt - und stimmt das etwa nicht? Wer könnte behaupten, daß es so etwas nicht gibt? Nicht alle Boote, die in die Dunkelheit hinaussegeln, sehen die Sonne niemals wieder, finden niemals mehr die Hand eines anderen Kindes; wenn das Leben uns überhaupt etwas lehrt, so lehrt es uns, daß es soviel Happy-Ends gibt, daß ein Mensch, der nicht an die Existenz Gottes glaubt, auf seinen Geisteszustand untersucht werden müßte, weil erhebliche Zweifel an seinem Verstand bestehen.

Die Sonne beginnt unterzugehen, und du verläßt die Stadt, du verläßt sie schnell, denkt er in seinem Traum. Das tust du. Und wenn du noch einen letzten Gedanken erübrigst, so gilt er vielleicht Gespenstern... den Gespenstern von Kindern, die bei Sonnenuntergang im Wasser standen, einen Kreis bildeten, sich bei den Händen hielten und junge Gesichter hatten, jung, aber kraftvoll... jedenfalls kraftvoll genug, um jene Menschen zu gebären, die sie einmal sein werden, kraftvoll genug, um zu begreifen, daß die Menschen, die einmal aus ihnen werden, umgekehrt unbedingt die Menschen gebären müssen, die sie einst waren, bevor sie bei dem Versuch, die Sterblichkeit zu begreifen, irgendwelche Fortschritte erreichen können. Der Kreis muß sich schließen, weiter nichts.

Du brauchst nicht zurückzublicken, um diese Kinder zu sehen; ein Teil von dir, ein Teil deines Geistes wird sie immer sehen, wird immer mit ihnen leben, wird sie immer lieben. Sie sind nicht zwangsläufig der beste Teil deiner selbst, aber sie waren einst die Vorratskammer für alles, was aus dir werden konnte.

Kinder, ich liebe euch. Ich liebe euch so sehr.

So fahr denn rasch weg, fahr weg, während das letzte Licht erstirbt, fahr weg von Derry, von der Erinnerung... aber niemals vom Verlangen. Das bleibt, jene helle, leuchtende Kamee von all dem, was wir waren, woran wir als Kinder glaubten, was in unseren Augen strahlte.

fahr weg von Derry, Bill, und versuch zu lächeln. Schalt das Radio ein und hör ein bißchen Musik, hör ein bißchen Rock and Roll, und geh auf das Leben zu, mit all dem Mut, den du auf bringen kannst, mit all dem Glauben, dessen du fähig bist. Sei treu, sei tapfer, sei standhaft. Alles andere ist Finsternis.

7

»He!«

»Hallo, Mister, Sie...«

».. .passen Sie doch auf!«

»Dieser verdammte Narr wird sich...«

Abgerissene Wortfetzen, die er im Vorbeisausen aufschnappte. Da war die weißorangefarbene Absperrung. Er sah die gähnende Dunkelheit, wo einmal die Straße gewesen war, er hörte dort unten in jener Dunkelheit das mürrische Murmeln von Wasser und lachte über dieses Geräusch.

Er schwenkte Silver scharf nach links und streifte mit einem Hosenbein an der Absperrung entlang. Silvers Räder waren knapp drei Zoll von der Kante entfernt, wo der Teerbelag endete. Vor ihm hatte das Wasser die ganze Straße und die Hälfte des Gehwegs vor Cashs Juweliergeschäft unterspült. Der Rest des Gehweges war abgesperrt.

»Bill?« Es war Audras Stimme, belegt und benommen. Sie klang so, als wäre sie soeben aus tiefem Schlaf erwacht. »Bill, wo sind wir? Was machen wir?«

»Hi-yo, Silver!« brüllte Bill und schoß direkt auf die Absperrung zu, die im rechten Winkel zum leeren Schaufenster des Juweliergeschäfts stand. »Looooos!«

Silver stieß mit einer Geschwindigkeit von mehr als 40 Meilen pro Stunde gegen die Absperrung, und sie flog in die Luft, das Mittelbrett in eine Richtung, die A-förmigen Stützbalken in zwei andere Richtungen. Audra schrie auf und klammerte sich so fest an Bill, daß er kaum noch Luft bekam. Überall auf den Straßen blieben Leute stehen und starrten ihm nach.

Silver schoß auf den Gehweg. Bill spürte, wie seine linke Hüfte und sein linkes Knie am Juweliergeschäft entlangstreiften. Dann sank Silvers Hinterrad plötzlich etwas ein, und er begriff, daß der Gehweg nachgegeben hatte... und dann trug die Geschwindigkeit des Fahrrads sie zurück auf festen Boden. Bill schwenkte es zur Seite, um einer umgestürzten Mülltonne auszuweichen, und schoß wieder auf die Straße hinaus. Bremsen quietschten, und er sah einen großen Lastwagen näher kommen. Trotzdem konnte er nicht aufhören zu lachen.

Er lachte Tränen, drückte auf Silvers Hupe und lauschte jubelnd jedem ihrer heiseren Töne.

»Bill, du wirst uns noch umbringen!« rief Audra, und obwohl sie offensichtlich Angst hatte, schien sie doch zugleich zu lachen.

Bill ging in die Kurve, und diesmal verlagerte sie ihr Gewicht zur Seite

und erleichterte es ihm dadurch, Silver im Gleichgewicht zu halten, und für die Dauer dieser kurzen magischen Zeitspanne schienen sie drei Lebewesen zu sein.

»Glaubst du?« rief er.

»Ich weiß es! Aber fahr weiter so!«

Doch Silvers Geschwindigkeit verringerte sich bereits auf dem Up-Mile Hill, und das Maschinengewehrgeknatter der Spielkarten ließ nach, bis nur noch einzelne Schüsse zu hören waren. Bill hielt an und drehte sich nach ihr um. Sie war bleich, verwirrt und beunruhigt... aber wach, aufnahmefähig, lebendig. »Audra«, sagte er. Er half ihr abzusteigen, lehnte Silver an eine Ziegelmauer, und umarmte und küßte sie. Sie erwiderte seine Umarmung.

»Bill, was ist passiert? Ich erinnere mich daran, in Bangor aus dem Flugzeug gestiegen zu sein, und danach erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Und mit mir?«

»Ja. Jetzt - ja!«

Sie schob ihn etwas von sich weg und betrachtete ihn aufmerksam. »Bill, stotterst du noch?«

»Nein«, sagte Bill und küßte sie. »Das Stottern ist weg.«

»Endgültig?«

»Ja«, sagte er, »ich glaube, diesmal ist es endgültig weg.«

»Ich liebe dich«, sagte sie.

Er nickte lächelnd, und als er lächelte, sah er trotz seines kahlen Schädels sehr jung aus. »Ich liebe dich«, sagte er. »Und das ist das einzige, was zählt.«

8

Er erwacht aus diesem Traum und kann sich nicht mehr genau daran erinnern; er weiß nur, daß er geträumt hat, wieder ein Kind zu sein. Er berührt den glatten, warmen Rücken seiner Frau, die schläft und ihre eigenen Träume träumt; er denkt, dass es schön ist, ein Kind zu sein, daß es aber auch schön ist, erwachsen zu sein und über das Mysterium der Kindheit nachdenken zu können... über kindlichen Glauben und kindliches Verlangen. Eines Tages werde ich über all das schreiben, denkt er und weiß, daß es nur ein Gedanke im Morgengrauen ist, einer jener Gedanken, wie man sie nach Träumen oft hat. Aber es ist schön, in der reinen Morgenstille ein Weilchen so zu denken, ja, zu denken, daß die Kindheit eine Bestätigung der Sterblichkeit ist, und daß die Sterblichkeit die Tapferkeit erklärt... und auch die Liebe. Und zu denken, daß das, was vorwärtsgeblickt hat, auch zurückblicken muß, und daß jedes Leben sein eigenes Symbol der Unsterblichkeit schafft: das Rad.

So denkt Bill Denbrough zumindest manchmal im Morgengrauen nach jenen Träumen, wenn er sich fast an seine Kindheit erinnert - und an die Freunde, mit denen er diese Kindheit teilte.

Dieses Buch wurde am 9. September 1981 in Bangor, Maine, begonnen und am 28. Dezember 1985 in Bangor beendet.

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