Vierter Teil JULI 1958

»You lethargic, waiting upon me, waiting for the fire and I attendant upon you, shaken by your beauty, Shaken by your beauty.

Shaken.«

William Carlos Williams Paterson

»Well I was born in my birthday suit The doctor slapped my behind He said >You gonna be special You sweet little toot toot<.«

Sidney Sirnien

My Toot Toot

Dreizehntes Kapitel Die apokalyptische Steinschlacht 1

Bill ist als erster da, und er setzt sich in einen der Ohrensessel im Lesezimmer u nd beobachtet, wie Mike die letzten Bibliotheksbesucher dieses Abends abfertigt - eine alte Dame mit einem Stapel Schauerromane, einen Mann mit einem riesigen Wälzer über den Bürgerkrieg und einen großen, mageren Teenager, der einen Roman ausleihen will, auf dessen Schutzhülle in der oberen Ecke ein Aufkleber besagt, daß die Leihfrist auf sieben Tage beschränkt ist. Bill registriert ohne jede Überraschung, daß es sein eigenes letztes Werk ist. Scheinbar seltsame Zufälle sind für ihn inzwischen eine Realität, an die er glaubt, nachdem das, was er bisher als Realität angesehen hat, letzten Endes nur ein Traum gewesen zu sein scheint.

Ein hübsches Mädchen in einem Schottenrock, der mit einer großen goldenen Sicherheitsnadel zusammengehalten wird (Du lieber Himmel, die habe ich ja seit Jahren nicht mehr gesehen, werden die jetzt wieder modern?), steckt Münzen in das Xe-rox-Gerät und fotokopiert einen Sonderdruck, wobei es immer wieder unruhig zur großen Pendeluhr hinter der Ausleihtheke hinüberschaut. Die Geräusche sind gedämpft und angenehm, wie das in Büchereien immer der Fall ist: leise Schritte auf dem rotschwarzen Linoleumboden; das gleichmäßige Ticken der Uhr; das katzenartige Schnurren des Kopiergeräts.

Der junge Mann nimmt sein Buch und geht zu dem Mädchen, das gerade fertig geworden ist und jetzt die Blätter ordentlich zusammenlegt.

»Du kannst mir den Sonderdruck einfach auf die Theke legen, Mary«, sagt Mike. »Ich räume ihn dann schon weg.«

Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln.

»Danke, Mr. Hanion.«

»Gute Nacht. Gute Nacht, Val. Ihr beide solltet jetzt am besten direkt nach Hause gehen.«

»Der schwarze Mann wird euch schnappen, wenn ihr... nicht... aufpaßt!« trällert Val, der magere Teenager, und schlingt dem Mädchen besitzergreifend seinen Arm um die Taille.

»Nun,, ich glaube zwar nicht, daß er es auf ein so häßliches Paar wie euch beide abgesehen hat«, sagte Mike, »aber trotzdem solltet ihr lieber vorsichtig sein.«

»Das werden wir auch, Mr. Hanion«, beteuert das Mädchen und tippt dem Jungen leicht auf die Schulter. »Komm, du häßlicher Kerl«, sagt es kichernd und verwandelt sich dadurch plötzlich für einen Moment aus einer hübschen, begehrenswerten High-School-Schülerin in die ausgelassene, etwas linkische Zehnjährige, die Beverly Marsh einst gewesen ist... und als die beiden an ihm verbeigehen, hat Bill plötzlich Angst, und er verspürt das Bedürfnis, dem Jungen eindringlich zu raten, nur auf hell beleuchteten Straßen nach Hause zu gehen und sich nicht umzudrehen, wenn er irgendwelche Stimmen hört.

Aber er bleibt ruhig sitzen und beobachtet, wie der Junge seiner Freundin die Tür aufhält. Sie treten in den Vorraum hinaus, rücken etwas näher zusammen, und Bill hätte um die Tantiemen des Buches, das Val unter den Arm geklemmt hat, wetten können, daß sie sich küssen, bevor er ihr die äußere Tür aufhält. Du wärst ja auch ein Narr, wenn du sie nicht geküßt hättest, Val, denkt Bill. Und jetzt bring sie sicher nach Hause.

»Ich komme gleich, Bill«, ruft Mike ihm zu. »Ich muß hier nur noch ein bisschen Ordnung schaffen.«

Bill nickt und schlägt die Beine übereinander. Die Papiertüte auf seinem Schoßknistert ein wenig. In der Tüte ist eine Flasche Bourbon, und Bill glaubt, noch nie in seinem Leben so heftiges Verlangen nach einem Drink verspürt zu haben. Mike wird Wasser, vielleicht sogar Eiswürfel hier haben.

Er denkt an Silver, an sein altes Fahrrad, das jetzt an der Wand von Mikes Garage in der Palmer Lane lehnt. Und dann schweifen seine Gedanken verständlicherweise zu jenem Tag, als sie sich alle in den Barrens getroffen hatten - alle bis auf Mike, der erst später an jenem Tag zu ihnen gestoßen war

- und jeder noch einmal seine Geschichte erzählt hatte. Aussätzige unter Veranden; Mumien, die auf dem Eis wandelten; Blut aus Abflüssen; Tote Jungen im Wasserturm; Fotos, die zum Leben erwachten, und Werwölfe, die kleine Jungen auf menschenleeren Straßen verfolgten.

Sie waren an jenem Vortag des 4. Juli tiefer als sonst in die Barrens vorgedrungen.

Es war heiß gewesen, aber im Dickicht am Ostufer des Kenduskeags war es angenehm kühl gewesen. Er erinnert sich daran, daß in der Nähe einer jener Betonzylinder mit Deckel gewesen war, und daß sie daraus ein Summen gehört hatten, ähnlich dem Summen des Xerox-Gerätes, an dem das hübsche Mädchen vorhin fotokopiert hatte.

Und er erinnert sich noch sehr genau daran, wie die anderen ihn erwartungsvoll angeschaut hatten, nachdem alle Geschichten erzählt waren.

Er erinnert sich daran, wie er verzweifelt gedacht hatte, daß sie von ihm hören wollten, was sie jetzt tun, wie sie vorgehen sollten, und daß er es selbst nicht gewusst hatte.

Während Bill jetzt Mikes Schatten betrachtet, der sich groß und dunkel von der holzgetäfelten Wand der Abteilung für Nachschlagewerke abhebt, kommt ihm eine plötzliche Erleuchtung: er hatte damals nicht gewußt, was sie tun sollten, weil sie noch nicht vollständig gewesen waren, weil an jenem frühen Nachmittag des 3. Juli einer noch gefehlt hatte.

Später am Nachmittag war der Klub der Verlierer dann komplett beisammen gewesen, in der verlassenen Kiesgrube hinter der Müllhalde, wo man nach beiden Seiten hin leicht aus den Barrens hinausklettern konnte - auf die Kansas Street oder auf die Merit Street. Dort wo heute die Autobahnbrücke war. Die Kiesgrube hatte keinen Namen; sie war alt, und ihre Abhänge waren mit Büschen und Unkraut überwuchert. Aber es hatte dort immer noch jede Menge Munition gegeben - mehr als genug für eine apokalyptische Steinschlacht.

Aber vorher, am Ufer des Kenduskeags, hatte er nicht so recht gewußt, was er sagen sollte - was sie von ihm hören wollten, was er selbst sagen wollte. Er erinnert sich daran, daß er von einem zum anderen geschaut hatte - Ben, Bev, Eddie, Stan, Richie. Und er erinnert sich an Musik. Little Richard. »Whomp-bomp-a-lomp-bomp...«

Musik. Leise Musik. Und Lichtstrahlen in seinen Augen. Lichtstrahlen,

weil

476

Richie sein Transistorradio über den untersten Zweig des Baumes gehängt hatte, an den er sich lehnte. Obwohl sie im Schatten saßen, wurden die Sonnenstrahlen von der Wasseroberfläche des Kenduskeags reflektiert, prallten auf das Chromgehäuse des Radios und gelangten von dort direkt in Bills Augen.

»N-N-Nimm dieses D-Ding r-runter, R-R-R-Richie«, sagte Bill. »Es b-blendet m-m-mich.«

»Okay, Big Bill«, sagte Richie sofort und nahm das Radio von dem Zweig runter. Er stellte es ab, und Bill wünschte, er hätte das nicht getan, denn nun schien das Schweigen, das nur vom leise plätschernden Wasser und vom Surren der Abwasserpumpe unterbrochen wurde, sehr laut zu sein. Ihre Augen hingen an ihm, und er hätte ihnen am liebsten zugeschrien, sie sollten woanders hinschauen, schließlich sei er ja keine Mißgeburt.

Aber natürlich tat er das nicht, denn sie erwarteten von ihm ja nur, daß er ihnen sagte, was sie jetzt tun sollten. Sie hatten schreckliche Erlebnisse hinter sich, und sie brauchten jemanden, der ihnen sagte, wie es jetzt weitergehen sollte. Warum gerade ich? wollte er ihnen wieder zuschreien, aber auch das war ihm im tiefsten Inneren klar. Er war für die Führungsrolle auserwählt worden, ob es ihm nun paßte oder nicht. Weil er einen Bruder an dieses Es verloren hatte, was immer Es auch sein mochte, weil er der ideenreiche Junge war, hauptsächlich aber, weil er auf irgendeine ihm selbst unverständliche Weise für sie Big Bill geworden war.

Er schaute zu Beverly hinüber, wandte seinen Blick aber rasch wieder ab, als er das ruhige, feste Vertrauen in ihren Augen las. Wenn er Bev anschaute, hatte er immer so ein komisches Gefühl in der Magengrube.

»W-Wir k-k-k-önnen nicht zur P-P-Polizei gehen«, sagte er schließlich. Seine eigene Stimme kam ihm viel zu rauh, viel zu laut vor. »W-Wir k-k-können auch n-nicht zu unseren E-Eltern gehen. Es s-sei denn...« Er sah Richie hoffnungsvoll an. »W-Was ist m-m-mit d-deinem V-V-Vater und deiner M-Mutter, V-V-Vierauge? Sie sch-sch-scheinen doch in Ordnung zu ssein.«

»Mein lieber Mann«, sagte Richie in seiner Stimme-Cadburys-des-But-lers, »Sie haben offensichtlich nicht die geringste Ahnung von meinem Padre und meiner Madre. Sie...«

»Red gefälligst wie ein vernünftiger Mensch, Richie«, sagte Eddie von seinem Platz aus. Er saß ganz bequem in Bens großem Schatten. Sein Gesicht sah klein und schmal und besorgt aus - es war das Gesicht eines alten Mannes. Er hielt seinen Aspirator fest in der Hand.

»Meine Leute würden mich für verrückt halten«, sagte Richie. »Sie würden glauben, ich sei reif für die Klapsmühle.« Er trug an diesem 3. Juli eine alte Brille. Am Vortag war plötzlich ein Freund von Henry Bowers - Gard Jagermeyer - hinter Richie aufgetaucht, als dieser mit einem Pistazieneis aus der Eisdiele kam. »Klopf-klopf, du bist's!« hatte Jagermeyer gerufen, der gut vierzig Pfund mehr als Richie wog, und ihm mit beiden Händen einen kräftigen Stoß in den Rücken versetzt. Richie war in den Rinnstein geflogen und hatte dabei sein Eis und seine Brille verloren. Das linke Brillenglas war zerbrochen, und seine Mutter war darüber sehr wütend gewesen und hatte seinen Erklärungen nur sehr wenig Glauben geschenkt.

»Ich weiß nur, daß du dich ständig Gott weiß wo herumtreibst«, hatte sie gesagt. »Ehrlich, Richie, glaubst du eigentlich, daß es irgendwo einen Baum gibt, auf dem Brillen wachsen und von dem wir sie nur zu pflücken brauchen, wenn du wieder einmal eine zerbrochen hast?«

»Aber, Mom, dieser Junge hat mich gestoßen, er hat mich von hinten gestoßen, dieser große Junge...« Richie war den Tränen nahe gewesen. Die Verständnislosigkeit seiner Mutter tat ihm viel mehr weh als der Stoß selbst

- Gard Jagermeyer war so dumm, daß die Lehrer sich sogar die Mühe sparten, ihn zur Sommerschule zu schicken.

»Ich will nichts mehr davon hören«, hatte Maggie Tozier tonlos gesagt. »Aber wenn du nächstes Mal siehst, daß dein Vater total übermüdet ist, weil er tagelang bis spät in die Nacht hinein gearbeitet hat, solltest du mal ein bißchen nachdenken, Richie.«

»Aber, Mom...«

»Ich will nichts mehr hören, das habe ich dir doch gerade gesagt.« Ihre Stimme hatte kurz angebunden und endgültig geklungen - was aber viel schlimmer war, sie hatte sich so angehört, als sei auch sie den Tränen nahe. Sie hatte die Küche verlassen und den Fernseher im Wohnzimmer viel zu laut eingestellt. Richie hatte niedergeschmettert allein am Küchentisch gesessen.

Es war hauptsächlich diese Erinnerung, die Richie nun den Kopf schütteln ließ. »Meine Leute sind zwar einigermaßen in Ordnung, aber so was würden sie nie im Leben glauben.«

»Und w-w-was ist mit anderen K-K-K-Kindern?«

Und sie hatten sich alle umgesehen, erinnerte sich Bill viele Jahre später, so als suchten sie jemanden, der nicht da war.

»Wer denn?« fragte Stan zweifelnd. »Mir fällt außer euch niemand ein, dem ich vertraue.«

»M-M-Mir auch n-nicht...« meinte Bill betrübt, und Schweigen breitete sich aus, während Bill überlegte, was er als nächstes sagen sollte.

3

Wenn jemand ihn gefragt hätte, so hätte Ben Hanscom geantwortet, daß Henry Bowers ihn mehr haßte als die anderen Mitglieder des Klubs der Verlierer, und zwar wegen der Ereignisse jenes Tages, als er und Henry von der Kansas Street in die Barrens gefallen waren, wegen der Ereignisse jenes Tages, als er, Richie und Beverly den Raufbolden nach den Horrorfilmen im >Aladdin< entwischt waren (hatte er wirklich mit einer Mülltonne nach Henry Bowers geworfen und ihn zu Fall gebracht? War er wirklich so tollkühn gewesen?), hauptsächlich aber aufgrund der Tatsache, daß er Henry während der Prüfung nicht hatte abschreiben lassen, was zur Folge gehabt hatte, daß Henry die Sommerschule besuchen mußte, und daß sein Vater ihn dafür im Holzschuppen so verprügelt hatte, daß er kaum laufen konnte... jedenfalls hatte Ben das gehört.

Wenn man ihn gefragt hätte, so hätte Richte Tozier geantwortet, daß Henry ihn mehr als die anderen haßte, weil er Henry und dessen zwei Musketiere damals im Freese's überlistet hatte (am selben Tag hatte er ihn ja auch schon vor dem Turnsaal verspottet!), weil er Henry in der Sackgasse neben dem > Aladdin< ein Bein gestellt hatte, hauptsächlich aber, weil Henry ihn einfach haßte... sein Mundwerk, seine Brille, seine Büchertasche haßte.

Stan Uris hätte geantwortet, daß Henry ihn am meisten haßte, weil er Jude war (als Stan in der dritten Klasse gewesen war, hatte Henry Stans Gesicht einmal mit Schnee gewaschen, bis es blutete und er vor Angst und Schmerz schrie; Victor Criss, Belch Huggins und Peter Gordon, die dann alle im August 1958 ermordet wurden, hatten daneben gestanden und hatten schallend gelacht).

Bill Denbrough, der auch schon mit Henry zusammengestoßen war, glaubte, daß Henry ihn am meisten haßte, weil er mager war, weil er stotterte, und weil er sich gern hübsch anzog (»Sch-Schaut euch n-n-n-nur mal den v-v-verdammten H-H-HoMO an!« hatte Henry gebrüllt, als Bill zum Schulfest im April eine Krawatte getragen hatte; noch bevor der Tag vorüber war, hatte er Bill die Krawatte abgerissen und sie an einen Baum auf der Charter Street gehängt).

Henry haßte diese vier tatsächlich, aber am meisten haßte er einen Jungen, der an jenem 3. Juli noch nicht einmal zum Klub der Verlierer gehörte, einen schwarzen Jungen namens Michael Hanion, der eine Viertelmeile unterhalb der heruntergekommenen Bowers-Farm wohnte.

Henrys verrückter Vater, Oscar >Butch< Bowers, haßte die Hanions schon seit langer Zeit; er assoziierte seinen sozialen Abstieg mit der Familie Hanion im allgemeinen und mit Will Hanion, Mikes Vater, im besonderen. Seinen wenigen Freunden und seinem Sohn erzählte er immer wieder, Will Hanion hätte ihn »damals, als seine ganzen Hühner krepierten, ins Kittchen sperren lassen - und dann hat er ein paar seiner sauberen Freunde dazu gebracht, für ihn zu lügen - und ich mußte deshalb meinen Mercury verkaufen«.

»Wer hat denn für ihn gelogen, Daddy?« hatte Henry ihn gefragt, als er acht Jahre alt und leidenschaftlich empört über die Ungerechtigkeit gewesen war, die seinem Vater widerfahren war. Er malte sich aus, wie er, sobald er erwachsen war, diese Männer finden und umbringen würde. Er würde sie mit Honig einschmieren und sie über Ameisenhügeln pfählen, wie er es in einigen Western gesehen hatte, die samstags nachmittags im >Bijou< gezeigt wurden.

Und weil sein Sohn ihm unermüdlich zuhörte, lag Bowers senior ihm in den nächsten vier Jahren ständig in den Ohren mit einer ewigen Litanei, die zu gleichen Teilen aus Haß und Unglück bestand; er erklärte seinem Sohn, der Nigger hätte höchstwahrscheinlich seine verdammten Hühner selbst vergiftet, um von der Versicherung Geld zu kassieren, nachdem er zuvor gemerkt hätte, daß sie an irgendeiner Krankheit litten, und dann hätte er beschlossen, ihm - Bowers - die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, weil sein Verkaufsstand an der Straße dem des Niggers am nächsten war. Hanion hatte es getan, und dann hatte er ein paar weiße Nigger aus der

Stadt dazu gebracht, für ihn zu lügen und ihm - Bowers - mit dem Staatsgefängnis zu drohen, wenn er dem Nigger nicht seine Hühner bezahlte. Und danach war dann ein Unglück nach dem anderen über ihn hereingebrochen - bei seinem Traktor war ein Gestänge gebrochen; seine gute Egge war auf dem nördlichen Feld steckengeblieben und dadurch unbrauchbar geworden; der Nigger hatte damit angefangen, mit seinem unrechtmäßig erworbenen Geld Butchs Preise zu unterbieten, wodurch Butchs Kunden weggeblieben waren.

Es war eine ständige Litanei in Henrys Ohren: der Nigger, der Nigger, der Nigger. Alles war die Schuld des Niggers. Der Nigger hatte ein hübsches weißes Haus mit einem oberen Stockwerk und Ölheizung, während Butch und Henrietta Bowers und ihr Sohn Henry in einer Bruchbude lebten, die nicht viel besser als ein Schuppen aus Dachpappe war. Als Butch mit seiner Farm nicht genug Geld verdiente und eine Zeitlang in den Wäldern arbeiten mußte, war auch daran der Nigger schuld. Als ihr Brunnen 1956 austrocknete, war der Nigger ebenfalls schuld daran. Noch im selben Jahr begann der damals zehnjährige Henry, Mikes Hund, Mr. Chips, mit alten Knochen und Kartoffelchips zu füttern, und nach einer Weile wedelte der Hund mit dem Schwanz und kam angerannt, wenn Henry ihn rief. Als der Hund sich gut an ihn gewöhnt hatte, gab Henry ihm eines Tages ein Pfund Hamburgerfleisch, in das er Insektengift gemischt hatte.

Der Hund fraß die Hälfte des vergifteten Fleisches und hörte dann auf. »Komm, friß dein Futter brav auf, Niggerhund«, sagte Henry, und der wedelte mit dem Schwanz. Henry hatte ihn von Anfang an so genannt, und Mr. Chips glaubte, dies wäre sein zweiter Name. Er fraß das restliche Fleisch auf, obwohl es nicht gut schmeckte, um dem jungen einen Gefallen zu tun. Und als die Schmerzen begannen, band Henry Mr. Chips mit einem Stück Wäscheleine an einer Birke an, damit er nicht nach Hause laufen konnte. Dann setzte er sich auf einen flachen Stein in der Sonne, stützte sein Kinn auf die Hände und beobachtete, wie der Hund starb. Es dauerte ganz schön lange, aber Henry war der Meinung, daß es ein lohnender Zeitaufwand war. Zuletzt bekam Mr. Chips heftige Krämpfe, und grünlicher Schaum rann ihm aus dem Maul.

»Na, wie gefällt dir das, Niggerhund?« fragte Henry, und beim Klang seiner Stimme verdrehte der sterbende Hund seine Augen und versuchte, mit dem Schwanz zu wedeln. »Hat dir dein Mittagessen geschmeckt, du Scheißköter?«

Als der Hund tot war, entfernte Henry die Wäscheleine, nahm sie mit nach Hause und erzählte seinem Vater, was er getan hatte. Zu dieser Zeit war Oscar Bowers schon völlig verrückt, und ein Jahr später verließ ihn seine Frau, nachdem er sie fast totgeprügelt hatte. Auch Henry hatte Angst vor seinem Vater und haßte ihn manchmal furchtbar... aber gleichzeitig liebte er diesen Mann. Und an jenem Nachmittag stellte er fest, daß er endlich den Schlüssel zur Zuneigung seines Vaters gefunden hatte, denn nachdem er ihm von der Vergiftung des Hundes erzählt hatte, schlug sein Vater ihm auf den Rücken, nahm ihn mit ins Wohnzimmer und gab ihm ein Bier zu trinken. Es war Henrys allererstes Bier, und selbst Jahre später rief dieser Geschmack in ihm noch angenehme Assoziationen hervor: Triumph und Liebe.

»Das hast du großartig gemacht!« hatte Henrys verrückter Vater gesagt, und sie hatten sich mit den braunen Flaschen zugeprostet und getrunken. Soviel Henry wußte, hatten die Nigger nie herausgefunden, wer ihren Hund vergiftet hatte (ebenso wie Henry selbst gewisse andere bedeutsame Tatsachen nie erfahren hatte: beispielsweise das auf den Hühnerstall geschmierte Hakenkreuz oder jene Szene, als sein Vater heulend am Steuer seines Wagens saß und Will Hanion ihm die Mündung seines Gewehrs unters Kinn hielt), aber Henry vermutete, daß sie so ihren Verdacht hatten. Er hoffte zumindest, daß das der Fall war.

Die Mitglieder des Klubs der Verlierer kannten Mike vom Sehen - in einer Stadt, wo er das einzige Negerkind war, fiel er natürlich auf -, aber das war auch schon alles, denn Mike besuchte nicht die Grundschule von Derry. Seine Mutter, Jessica Hanion, war eine fromme Baptistin, und Mike ging deshalb in die Christliche Tagesschule an der Ecke Neibolt- und Witcham Street. Neben Erdkunde, Lesen und Rechnen gab es Unterricht in Bibelkunde und Stunden, in denen Themen wie >Die Bedeutung der Zehn Gebote in einer gottlosen Welt< behandelt wurden, sowie Diskussionsgruppen über alltägliche Moralprobleme (beispielsweise, was man tun sollte, wenn man einen Freund beim Ladendiebstahl beobachtete oder hörte, wie ein Lehrer den Namen Gottes mißbrauchte).

Mike ging gern in die Christliche Tagesschule. Manchmal hatte er zwar das vage Gefühl, daß ihm dadurch einiges entging, etwa ein größerer Freundeskreis mit gleichaltrigen Kindern, aber er war bereit, damit bis zur High School zu warten. Die Aussicht auf die High School machte ihn ein bißchen nervös, weil seine Haut braun war, aber soweit er sehen konnte, waren die Leute in der Stadt nett zu seinen Eltern (die Geschichte vom >Black Spot< hatte er damals ja noch nicht gehört), und Mike glaubte, daß man ihn einigermaßen gut behandeln würde, wenn er selbst die anderen gut behandelte.

Henry Bowers war natürlich eine Ausnahme.

Obwohl er es möglichst wenig zu zeigen versuchte, lebte Mike in ständiger Angst vor Henry. Mit zehn Jahren war Mike schlank, aber kräftig, größer als Stan Uris, wenn auch nicht ganz so groß wie Bill Denbrough. Er war schnell und geschickt, und das hatte ihn mehrmals vor Henrys Prügeln gerettet. Außerdem rettete ihn natürlich die Tatsache, daß er in eine andere Schule ging, eine Schule, die knapp zwei Meilen von seinem Elternhaus entfernt war. Wegen der verschiedenen Schulen und des Altersunterschieds von zwei Jahren (was sich im Alter von zehn und zwölf etwa mit der Entfernung zwischen Sol und einem verhältnismäßig nahen Stern wie Alpha Centauri vergleichen läßt) kreuzten ihre Wege sich nur selten. Mike bemühte sich immer, Henry aus dem Weg zu gehen. Die Ironie lag also darin, daß Mike von allen Kindern am wenigsten unter Henry zu leiden gehabt hatte, obwohl Henry ihn am meisten haßte.

Oh, ganz unbehelligt war er natürlich auch nicht geblieben. Im Frühjahr nach der Vergiftung von Mikes Hund war Henry eines Tages plötzlich aufgetaucht, als Mike gerade unterwegs in die Stadt war, um in die Bücherei zu gehen. Es war Ende März und warm genug zum Radfahren, aber die Witcham Road war unterhalb der Bowers-Farm noch nicht geteert, was bedeutete, daß sie im März eine einzige Schlammgrube war - Radfahren war da nicht zu empfehlen.

»Hallo, Nigger«, sagte Henry, als er grinsend hinter den Büschen hervorsprang.

Mike wich etwas zurück und hielt blitzschnell Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit. Wenn es ihm gelang, einen Haken zu schlagen, so würde er Henry abhängen können, das wußte er. Henry war groß und stark, aber er war zugleich auch ziemlich langsam.

»Ich werd' mir mal 'n Teerpüppchen machen«, rief Henry, während er auf den kleineren Jungen zukam. »Du bist nicht schwarz genug, aber dem werd' ich jetzt mal abhelfen.«

Mike drehte Kopf und Oberkörper etwas nach links, und Henry schluckte den Köder und rannte in diese Richtung. Blitzschnell wandte sich Mike mit natürlicher Geschmeidigkeit nach rechts, und er wäre mit Leichtigkeit an Henry vorbeigekommen, wenn der Schlamm ihm nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Er rutschte aus und fiel auf die Knie. Bevor er wieder auf die Beine kommen konnte, fiel Henry über ihn her.

»Nigger, Nigger, Nigger!« brüllte Henry in einer Art religiöser Ekstase, während er Mike im Dreck herumwälzte. Schlamm geriet unter Mikes T-Shirt und Hose, und er spürte ihn auch in seinen Schuhen. Aber er fing erst an zu weinen, als Henry ihm Schlamm ins Gesicht zu schmieren begann und ihm beide Nasenlöcher damit zustopfte.

»Jetzt bist du schwarz!« schrie Henry begeistert, während er Schlamm in Mikes krause Haare rieb. »Jetzt bist du wirklich schwarz!« Er riß Mikes Popelinejacke und sein T-Shirt hoch und schleuderte einen Dreckklumpen auf seinen Bauchnabel. »Jetzt bist du so schwarz wie die Mitternacht in einem Bergwerkschacht!« brüllte Henry triumphierend und stopfte Schlamm in Mikes Ohren. Dann richtete er sich auf, hakte die lehmverschmierten Hände in seinen Gürtel und erklärte: »Ich habe deinen Köter getötet, Nigger!« Aber das hörte Mike nicht, zum einen, weil seine Ohren mit Dreck verstopft waren, zum anderen, weil er laut schluchzte.

Henry schleuderte mit dem Fuß einen letzten Lehmklumpen auf Mike, drehte sich um und schlenderte nach Hause, ohne sich noch einmal umzuschauen. Kurz darauf lief auch Mike, immer noch weinend, heim.

Seine Mutter war natürlich wütend; sie wollte, daß Will Hanion Polizeichef Borton anrief, damit dieser den Bowers einen Besuch abstattete. »Er ist auch schon früher hinter Mikey hergewesen«, hörte Mike sie sagen. Er saß in der Badewanne, und seine Eltern waren in der Küche. Es war das zweite Badewasser; das erste hatte sich sofort schwarz gefärbt. In ihrem Zorn verfiel seine Mutter in einen breiten texanischen Dialekt, den Mike nur mit Mühe verstehen konnte: »Ich will, daß du gesetzlich gegen sie vorgehst, Will Hanion! Gegen den alten Dreckskerl und gegen sein Früchtchen! Bring sie vor Gericht, hörst du!«

Will Hanion hörte, kam aber der Aufforderung seiner Frau nicht nach. Als sie sich schließlich beruhigt hatte (inzwischen war es schon Nacht, und

Mike schlief seit zwei Stunden), erklärte er ihr die Realitäten des Lebens. Polizeichef Borton war nicht Sheriff Simon. Wenn Borton Sheriff gewesen wäre, als die Sache mit den vergifteten Hühnern passierte, hätte Will nie seine 200 Dollar bekommen und hätte sich damit einfach abfinden müssen. Manche Männer unterstützten einen eben, andere hingegen nicht. Borton war ein Schlappschwanz, der die Hanions bestimmt nicht unterstützen würde.

»Mike hat schon früher Schwierigkeiten mit diesem Jungen gehabt, das stimmt«, sagte er zu Jessica. »Aber ziemlich selten - weil er Henry nämlich möglichst aus dem Weg geht. Und nach diesem Vorfall wird er noch mehr vor ihm auf der Hut sein.«

»Heißt das, daß du gar nichts unternehmen wirst?«

»Ich nehme an, daß Bowers seinem Sohn alles mögliche über mich erzählt hat«, sagte Will, »und aus diesem Grund haßt der Junge uns drei; hinzu kommt noch, daß sein Vater ihm vermutlich eingeredet hat, die einzig richtige Einstellung Niggern gegenüber sei Haß. Darauf läuft letztlich alles hinaus. Ich kann nichts an der Tatsache ändern, daß unser Sohn ein Neger ist. Er wird sein Leben lang Probleme wegen seiner Hautfarbe haben - ebenso wie du und ich. Sieh mal, sogar in dieser Christlichen Schule, die er besucht, weil du es unbedingt so haben wolltest, hat die Lehrerin ihnen erzählt, Schwarze seien nicht so gut wie Weiße, weil Noahs Sohn Ham seinen Vater angesehen hätte, als dieser betrunken und nackt war, während seine beiden Brüder ihre Blicke abgewandt hätten. Und aus diesem Grund seien Harns Söhne dazu verurteilt, immer Holzhauer und Wasserträger zu sein. Und Mikey sagt, sie habe ihn angesehen, während sie diese Geschichte vortrug.«

Jessica blickte ihren Mann wortlos an, und zwei Tränen rollten ihr über die Wangen. »Läßt sich denn gar nichts dagegen machen?«

Seine Antwort war freundlich, aber alles andere als tröstlich; damals glaubten Frauen ihren Männern noch, und Jessica sah keinen Grund, an Wills Worten zu zweifeln.

»Nein. Es gibt kein Entrinnen vor dem Wort Nigger, zumindest nicht in der Welt, wie sie heute ist, nicht in dieser Zeit, in der wir nun einmal leben. Nigger sind und bleiben Nigger, auch in Maine. Manchmal glaube ich, daß ich zum Teil nach Derry zurückgekehrt bin, weil es keinen besseren Ort gibt, um diese Wahrheit nie zu vergessen. Aber ich werde mit dem Jungen reden.«

Am nächsten Tag rief er Mike, der gerade im Stall die Kühe fütterte. Er setzte sich auf das Joch seiner Egge und bedeutete ihm, sich neben ihn zu setzen.

»Du solltest diesem Henry Bowers aus dem Weg gehen«, sagte er.

Mike nickte.

»Sein Vater ist verrückt.«

Mike nickte wieder. Er hatte das schon oft in der Schule gehört, und das Aussehen und Benehmen des Mannes, soweit Mike ihn zu Gesicht bekam, bestätigte diese allgemeine Meinung.

»Ich meine, nicht nur ein bißchen verrückt«, fuhr Will fort, während er sich eine Zigarette anzündete. Er sah seinen Sohn ernst an. »Der Mann ist fast reif fürs Irrenhaus. Er ist so geistesgestört aus dem Krieg zurückgekommen.«

»Ich glaube, Henry ist auch verrückt«, sagte Mike mit leiser, aber fester Stimme, was Will sehr freute... allerdings konnte er - trotz allem, was ihm im Leben schon widerfahren war, sogar trotz des Brandes im >Black Spot» - einfach nicht glauben, daß ein zehnjähriger Junge verrückt sein könnte.

»Na ja, er hat seinem Vater zu oft aufmerksam zugehört, aber das ist schließlich nur natürlich«, sagte Will. Doch in diesem Punkt war sein Sohn scharfsichtiger. Entweder aufgrund seines ständigen Zusammenseins mit seinem Vater oder aber aufgrund irgendeines inneren Defektes wurde Henry langsam, aber sicher verrückt.

»Ich will nicht, daß du dein Leben mit Davonrennen verbringst«, sagte Will Hanion. »Aber weil du ein Neger bist, wirst du vermutlich einiges durchmachen müssen. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, Daddy«, murmelte Mike und dachte an seinen Mitschüler Bob Gautier, der versucht hatte, Mike zu erklären, daß Nigger unmöglich ein Schimpfwort sein könne - schließlich verwende sein Vater es ständig. Es sei sogar ein positives Wort, hatte Bob erklärt. Wenn ein Boxer besonders viel einstecken müsse und trotzdem auf den Beinen bleibe, würde sein Daddy sagen: »der Kerl hat einen so harten Schädel wie ein Nigger«, und wenn sich jemand bei der Arbeit besonders anstrenge, würde sein Daddy sagen: »der Mann schuftet wie ein Nigger«. »Und mein Vater ist ebensogut Christ wie deiner«, hatte Bob geendet. Mike erinnerte sich daran, daß er beim Anblick von Bobs weißem, aufrichtig bedrücktem Gesicht unter der von billigem Pelz gesäumten Kapuze keinen Zorn empfunden hatte, sondern nur eine schreckliche Traurigkeit, daß er am liebsten geweint hätte. Bob hatte es wirklich gut gemeint, aber Mike hatte sich plötzlich sehr einsam gefühlt... ein breiter, unüberbrückbarer Abgrund hatte sich zwischen ihm und dem anderen Jungen auf getan.

»Ja, ich sehe, daß du mich verstehst«, sagte Will und strich seinem Sohn übers Haar. »Und das bedeutet, daß du dir sorgfältig von Fall zu Fall überlegen mußt, wo sich Widerstand lohnt. Du mußt dich fragen, ob es überhaupt etwas bringt, sich mit Henry Bowers anzulegen. Was meinst du?«

»Nein«, antwortete Mike. »Nein, ich glaube, es bringt wirklich nichts.«

Es dauerte zwei Jahre, bis er seine Meinung änderte: genau gesagt, am 3. Juli 1958.

4

Während etwa anderthalb Meilen entfernt Henry Bowers, Victor Criss, Belch Huggins, Peter Gordon und ein geistig etwas zurückgebliebener Junge namens Steve Sadler, der die High School besuchte (sein Spitzname war Moose, nach der Figur in den Archie-Comics), einen erschöpften Mike Hanion über das Bahnhofsgelände in Richtung Barrens verfolgten, saßen Bill und die anderen Mitglieder des Klubs der Verlierer immer

noch am Ufer des Kenduskeags und dachten über ihr alptraumhaftes Problem nach.

»I-Ich w-w-weiß, w-wo Es ist, g-g-glaube ich«, brach Bill schließlich das Schweigen.

»Es ist in den Abflußkanälen«, sagte Stan, und sie zuckten alle zusammen, als plötzlich ein rauhes, rasselndes Geräusch ertönte. Schuldbewußt lächelnd legte Eddie seinen Aspirator wieder auf den Schoß.

Bill nickte. »Ich h-h-habe m-meinen Vater vor ein paar T-T-Tagen über die A-Abflußk-k-kanäle ausgefragt.« Er erzählte ihnen, was Zack ihm erklärt hatte: daß Derry nicht nur über ein auf der Schwerkraft beruhendes Abflußsystem verfügte, das den größten Teil des städtischen Abwassers in den Kenduskeag und seine zahlreichen Zuflüsse schwemmte, sondern daneben auch noch über ein separates Kanalisationssystem mit elektrischen Pumpen.

»Diese ganze Gegend war ursprünglich sehr sumpfig«, erklärte Zack seinem Sohn, »und die Stadtväter brachten es fertig, das heutige Stadtzentrum im schlimmsten Teil des Sumpfgebietes anzulegen. Der unter der Center- und Main Street verlaufende und im Bassey Park endende Teil des Kanals ist eigentlich nichts anderes als ein Abflußrohr, durch das zufällig der Kenduskeag fließt. Diese Kanalrohre sind den größten Teil des Jahres über leer, aber sie sind wichtig, wenn im Frühling das Tauwetter einsetzt oder wenn es zu Überschwemmungen kommt...« Er hielt an dieser Stelle für kurze Zeit inne, weil ihm vermutlich eingefallen war, daß er seinen jüngeren Sohn während der Überschwemmung im Herbst des Vorjahres verloren hatte. ».. .und zwar wegen der Pumpen«, beendete er schließlich seinen Satz.

»P-P-Pumpen?« fragte Bill und drehte unwillkürlich den Kopf etwas zur Seite, weil er spuckte, wenn er bei den Verschlußlauten stotterte.

»Die Abwasserpumpen«, sagte sein Vater. »Sie sind in den Barrens. Betonzylinder, die etwa drei Fuß hoch aus der Erde herausragen...«

»B-B-Ben H-H-H-Hanscom nennt sie M-Morlock-Brunnen«, sagte Bill grinsend.

Zack grinste ebenfalls... aber es war nur ein Schatten seines früheren fröhlichen Grinsens. Sie waren in Zacks Werkstatt, wo er ohne großes Interesse Stuhlbeine drechselte. »Es sind Senkgruben-Pumpen«, sagte er. »Sie befinden sich in etwa 12 Fuß Tiefe, und sie pumpen das Abwasser auf ebenen Strecken weiter. Es sind alte Maschinen, und die Stadt brauchte dringend neue Pumpen, aber der Stadtrat behauptet, kein Geld dafür zu haben. Wenn ich für jedesmal, daß ich dort unten bis zu den Knien in der Scheiße rumgewatet bin, um einen der Motoren zu reparieren, einen Vierteldollar bekommen hätte... aber das alles interessiert dich bestimmt nicht, Bill. Warum gehst du nicht rein und siehst fern? Ich glaube, heute abend kommt >Sugarfoot's<.«

»Ich m-m-möchte es aber hören«, sagte Bill, nicht nur, weil er inzwischen sicher war, daß irgendwo unter Derry etwas Schreckliches hauste, sondern auch, weil sein Vater mit ihm redete und es herrlich war, den Klang seiner Stimme zu hören.

»Weshalb interessierst du dich für Abwasserpumpen?« fragte Zack.

»Sch-Sch-Schulauf gäbe.«

»Jetzt sind doch Ferien.«

»F-Für n-n-nächstes Jahr.«

»Nun, viel gibt's da nicht zu erzählen«, sagte Zack. »Sieh mal, hier ist der Kenduskeag...« - er zog eine gerade Linie durch die Sägespäne auf dem Werktisch - »und hier sind die Barrens. Weil nun die Innenstadt tiefer liegt als die Wohngegenden wie Kansas Street, Old Cape oder West Broadway, muß von dort mehr weggepumpt werden. Aus den meisten Wohnhäusern fließt das Abwasser dagegen so ziemlich von allein in die Barrens. Verstehst du?«

»Ja«, sagte Bill und rückte ein bißchen näher an seinen Vater heran, um die Linien zu betrachten... rückte an ihn heran, bis seine Schulter den Arm seines Vaters berührte.

»Dad, wie groß sind die Kanalisationsrohre?«

»Meinst du den Durchmesser?«

Bill nickte.

»Die Hauptrohre haben einen Durchmesser von etwa sechs Fuß. Die Nebenrohre aus den Wohngegenden - etwa drei oder vier. Einige sind sogar noch größer. Und glaub mir eines, Billy, und sag es ruhig auch deinen Freunden weiter: Bleibt diesen Kanalisationsrohren auf jeden Fall fern, kommt ja nicht auf die Idee, sie erkunden zu wollen!«

»Warum?«

»Weil seit 1885 unter etwa einem Dutzend verschiedener Stadtverwaltungen daran gebaut wurde und ein Teil der Planzeichnungen irgendwann zwischen 1937 und 1951 verschwunden sind. Und das heißt, daß niemand genau weiß, wie diese verdammten Rohre genau verlaufen. Wenn alles funktioniert, spielt das natürlich keine Rolle. Wenn aber etwas kaputt ist, werden drei oder vier arme Leutchen vom städtischen Wasserwerk losgeschickt, um herauszufinden, welche Pumpe versagt hat oder wo etwas verstopft ist. Und wenn sie runtersteigen, nehmen sie sich vorsichtshalber viel Proviant mit, das kannst du mir glauben. Es ist dunkel dort unten, und es stinkt, und es gibt Ratten. Das sind alles gute Gründe, um wegzubleiben, der Hauptgrund ist aber, daß man sich dort unten leicht verirren oder sogar verlorengehen kann. So was ist alles schon passiert.«

Unter Derry verlorengegangen. Hoffnungslos verirrt in der unterirdischen Kanalisation! Der Gedanke war so schrecklich, so furchterregend, daß Bill kurze Zeit schwieg. Dann fragte er: »A-A-Aber hat man d-denn n-n-nie Leute r-r-runtergeschickt, um K-K-K-Karten v-von...«

»Ich muß diese Stuhlbeine fertigmachen«, sagte Zack abrupt und drehte ihm den Rücken zu. »Geh rein und sieh lieber fern.«

»A-A-Aber, D-Dad...«

»Nun geh schon, Bill«, sagte Zack, und Bill spürte wieder die Kälte - jene Kälte, die jedes Abendessen zur Qual machte, weil sein Vater in Elektrozeit-schriften blätterte (er hoffte, im nächsten Jahr befördert zu werden) und seine Mutter einen ihrer ewigen britischen Kriminalromane las: Marsh, Sayers, Innes, Allingham. In dieser kalten Atmosphäre essen zu müssen, nahm jedem Gericht den Geschmack, es war so, als würde man tiefgefrorene Nahrungsmittel essen. Hinterher ging er manchmal in sein Zimmer, legte sich aufs Bett, hielt sich den schmerzenden Magen und dachte: Imfin-stern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister. Seit Georgies Tod dachte er mehr und mehr daran, obwohl seine Mutter ihm den Satz schon vor zwei Jahren beigebracht hatte. Inzwischen hatte er für ihn aber eine Art magischer Bedeutung bekommen: an jenem Tag, wenn er es schaffen würde, zu seiner Mutter zu gehen, ihr in die Augen zu schauen und diesen Satz ohne das geringste Stottern zu sagen, würde das Eis brechen. Ihre Augen würden aufleuchten, sie würde ihn fest umarmen und rufen: »Großartig, Billy! Was für ein guter Junge! Was für ein guter Junge!«

Er hatte das natürlich niemandem verraten; lieber hätte er sich die Zunge abgebissen als diesen sehnlichsten Traum preiszugeben. Wenn er diesen Satz fehlerfrei sprechen konnte, den seine Mutter ihm eines Samstagmorgens ganz nebenbei beigebracht hatte, als er und Georgie sich im Fernsehen >The Adventures of Wild Bill Hickock< mit Guy Madison und Andy Devine ansahen, dann würde das jenem Kuß gleichen, der Dornröschen aus ihren kalten Träumen erweckt und in die wärmere Welt der Liebe des Märchenprinzen versetzt hatte.

Im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister.

Natürlich erzählte er seinen Freunden auch an jenem 3. Juli nichts davon, aber er erzählte ihnen, was sein Vater ihm über die Abflußkanalisation in Derry berichtet hatte. Er war ein Junge mit sehr viel Fantasie (manchmal fiel es ihm leichter, etwas zu erfinden, als die Wahrheit zu sagen), und die Szene, die er schilderte, unterschied sich beträchtlich von der Wirklichkeit: In seiner Erzählung hatten sein alter Herr und er zusammen in die Röhre geschaut und dabei Kaffee getrunken.

»Läßt dein Vater dich Kaffee trinken?« fragte Eddie.

»Na k-k-klar«, sagte Bill.

»Wow!« meinte Eddie. »Meine Mutter würde mir nie erlauben, Kaffee zu trinken. Sie sagt, das Koffein sei gefährlich.« Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Selbst trinkt sie aber welchen.«

»Mein Dad läßt mich Kaffee trinken, wenn ich möchte«, sagte Beverly. »Aber er würde mich glatt umbringen, wenn er wüßte, daß ich rauche.«

»Weshalb seid ihr so sicher, daß Es in den Abflußkanälen haust?« fragte Richie und blickte von Bill zu Stan und dann wieder zurück zu Bill.

»A-A-Alles d-deutet darauf hin«, erklärte Bill. »Die Sch-Sch-Stimmen, die B-Beverly g-g-gehört hat, kamen aus dem Abfluß. Ebenso das B-B-B-Blut. Als der Clown uns v-v-verfolgte, waren jene orangefarbenen K-K-Knöpfe n-neben einem G-G-Gully. Und Georgie...«

»Es war kein Clown, Big Bill«, sagte Richie. »Ich hab's dir doch schon gesagt: Ich weiß, daß es sich verrückt anhört, aber es war ein Werwolf.« Er blickte in die Runde, als müßte er sich verteidigen. »Ich schwor's euch. Ich habe ihn gesehen.«

Bill sagte: »Für d-d-dich war es ein W-W-W-Werwolf.«

»Häh?«

»K-Kapierst du d-denn nicht? Es war ein W-Werwolf für dich, weil du im A-A-A-Aladdin diesen b-b-blöden Film g-gesehen hast.«

»Das kapier' ich nicht«, sagte Richie.

»Ich glaube, ich versteh's«, erklärte Ben ruhig.

»Ich h-h-habe in der B-Bücherei n-nachgeschaut«, berichtete Bill. »Ich g-g-glaube, Es arbeitet mit Zauberei.« Er erzählte ihnen von dem Artikel in der Enzyklopädie und von einem anderen Artikel, den er in einem Buch mit dem Titel >Night's Truth< gefunden hatte. Es sei ein >glamour<, erzählte er ihnen. Das sei der gälische Name für die Kreatur, die Derry heimsuche; andere Rassen und Kulturen verschiedener Epochen hätten Es anders genannt, aber in etwa das gleiche darunter verstanden. Die Prärieindianer würden Es als Manitu bezeichnen, der manchmal die Gestalt eines Berglöwen, manchmal die Gestalt eines Elchs oder eines Adlers annehmen könne. Diese Indianer glaubten auch, daß der Geist eines Manitu manchmal in sie eindringen könne, und daß es ihnen dann möglich sei, in den Wolken die Gestalten jener Tiere zu sehen, denen ihre Häuser geweiht seien. Die Hima-laya-Bewohner nannten Es >tallus< oder >taelus<; sie verstünden darunter ein böses Zauberwesen, das die menschlichen Gedanken lesen und dann jede Gestalt annehmen könne - jeweils die, vor der man am meisten Angst habe. In Mitteleuropa hätte man Es >eylak<, Bruder des >vurderlak<, oder Vampir genannt. In Frankreich sei Es als >le loupe-garou< bezeichnet worden, was dann grob übersetzt worden sei als >Werwolf<. Der >loupe-garou< könne indessen alles, alles nur Erdenkliche sein: ein Wolf, ein Habicht, ein Schaf, sogar eine Wanze.

»Stand in irgendeinem dieser Artikel auch drin, wie man einen >glamour< bekämpfen kann?« fragte Beverly.

Bill nickte, aber er sah nicht allzu hoffnungsvoll aus. »Die H-Himalaya-Bewohner h-hatten ein R-R-R-Ritual, um Es loszuwerden, a-aber es ist z-z-z-ziemlich sch-schauerlich.«

Alle blickten ihn an. Sie wollten es nicht hören, aber andererseits - sie mußten es wissen.

»Es h-h-hieß >R-Ritual von Chüd<«, sagte Bill und erklärte nun, worum es sich handelte. Einer, der von den Himalaya-Bewohnern als heilig verehrt wurde, verfolgte den >taelus< bis in dessen Höhle, und dort begann dann das Ritual von Chüd. Mann und >taelus< standen dicht voreinander. Der >taelus< streckte seine Zunge heraus; der Mann ebenfalls. Die beiden Zungen überlappten sich, und beide bissen zu, so kräftig sie nur konnten, wobei sie sich in die Augen sahen.

»O Gott, ich muß gleich kotzen!« rief Beverly und rollte sich auf den Bauch. Ben tätschelte ihr leicht den Rücken, bekam sofort einen hochroten Kopf und schaute sich um, ob jemand ihn beobachtet hatte. Aber das war nicht der Fall; die anderen hingen gebannt an Bills Lippen.

»Und was dann?« fragte Eddie.

»N-Na ja«, sagte Bill, »es h-h-hört sich v-verrückt an, a-aber im Buch h-h-heißt es, daß sie dann anf-f-fangen, einander Witze und R-R-Rätsel zu erzählen.«

»Was?« fragte Stan. »Witze und Rätsel?«

Bill nickte mit unglücklicher Miene. »Ja. Zuerst erzählte das M-M-M-Monster einen W-Witz, dann m-m-mußte der M-Mensch einen erzählen, und so g-g-ging es abw-w-w-wechselnd immer w-weiter...«

Beverly hatte sich wieder aufgesetzt, die Knie an die Brust gezogen und die Arme um die Schienbeine gelegt. »Ich kapiere nicht, wie man reden kann, während man jemandem in die Zunge beißt und er einem ebenfalls in die Zunge beißt.«

Richie streckte sofort seine Zunge heraus, hielt sie mit den Fingern fest und gab von sich: »Mein Vater arbeitet in einem Scheißhaus.« Darüber mußten alle lachen, obwohl es ein blöder Kleinkinderwitz war.

»V-V-Vielleicht war's so was Ähnliches w-w-wie T-T-T-Telepathie«, sagte Bill. »Jedenfalls, w-wenn der M-M-Mann zuerst Machen m-m-mußte, trotz des Sch-Sch-Sch-Sch...«

»Schmerzes?« fragte Stan.

Bill nickte. »... dann d-durfte der >taelus< ihn t-t-t-töten und f-fressen. W-Wenn aber der M-Mann den >taelus< zuerst zum L-L-Lachen bringen konnte, m-m-m-mußte das M-Monster für hundert Jahre v-v-verschwin-den.«

»Stand in dem Buch auch, woher so ein Monster stammt?« fragte Ben.

Bill schüttelte den Kopf.

»Glaubst du diesen Unsinn wirklich?« fragte Stan. Es hörte sich so an, als hätte er spotten wollen, aber nicht ganz den richtigen Ton erwischt.

Bill zuckte mit den Schultern, dann sagte er: »F-F-Fast glaube ich d-da-ran.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schüttelte aber schließlich den Kopf und schwieg.

»Es würde jedenfalls eine Menge erklären«, sagte Eddie langsam. »Den Clown, den Aussätzigen, den Werwolf...« Er blickte zu Stan hinüber. »Auch deine Toten Jungen, nehme ich an.«

»Das hört sich ganz nach einer Aufgabe für Richard Tozier an«, sagte Richie mit der Stimme-des-Sprechers-der->Tönenden Wochenschau. »Der Mann der tausend Witze und sechstausend Rätsel.«

»Wenn wir dich hinschicken würden, wäre es um uns alle geschehen«, sagte Ben, und sie lachten wieder.

»Und was sollen wir jetzt tun?« fragte Stan, und auch diesmal konnte Bill nur den Kopf schütteln... obwohl er spürte, daß er es fast wußte. Stan stand auf. »Gehen wir woanders hin«, sagte er. »Mir tut vom vielen Sitzen schon der Hintern weh.«

»Mir gefällt's hier«, widersprach Beverly. »Es ist ein hübsches, schattiges Plätzchen.« Sie sah Stan an. »Vermutlich möchtest du irgendwas ganz Kindisches machen, wie auf der Müllhalde mit Steinen Flaschen zertrümmern.«

»Mir macht Flaschen zertrümmern auch Spaß«, kam Richie Stan zu Hilfe.

»Ich hab' ein paar Feuerwerkskörper«, sagte Stan, und als er aus der Hüfttasche seiner sauberen Jeans eine Packung Black Cat-Schwärmer zog, vergaßen sie augenblicklich Werwölfe, Manitus und das Ritual von Chüd. Sogar Bill war beeindruckt.

»Du 1-1-lieber H-Himmel, wo hast du die denn h-h-her, Stan?«

»Von dem dicken Jungen, mit dem ich manchmal in die Synagoge gehe«, antwortete Stan. »Ich habe über unserer Garage eine Schachtel mit Heftchen gefunden - hauptsächlich Wildwest- und Sciencefiction-Geschichten -, und mein Dad sagte, ich könne sie haben. Ich hab' ein Dutzend davon mit Charlie gegen die Schwärmer getauscht.«

»Auf geht's, feuern wir sie ab!« rief Richie begeistert. »Feuern wir sie ab, Stanny, und ich werd' auch keinem Menschen verraten, daß du und dein Dad Christus umgebracht habt, das versprech' ich dir! Was sagst du dazu? Und ich werd' ihnen klarmachen, daß du 'he ganz kleine Nase hast, Stanny! Und ich werd' ihnen sagen, daß du nicht krumm bist! Ich werd'...«

An dieser Stelle begann Beverly so zu lachen, daß sie violett anlief und sich dann die Hände vors Gesicht hielt. Bill stimmte ein, dann Eddie und Ben und zuletzt sogar Stan. Ihr Gelächter schallte über den breiten, flachen Kenduskeag, und es war ein sommerliches Geräusch, so fröhlich wie die auf dem Wasser tanzenden Sonnenstrahlen, und keines der Kinder sah die tief in den Höhlen sitzenden orangefarbenen Augen, die sie durch ein Brombeergestrüpp hindurch anstarrten. Dieses Dornengestrüpp säumte etwa 30 Fuß breit das Ufer, und in seiner Mitte befand sich ein Betonzylinder. Aus diesem Rohr heraus starrten die Augen, von denen jedes einen Durchmesser von mehr als zwei Fuß hatte.

5

Es hing mit der Tatsache des 182. Geburtstags von Amerika am folgenden Tag zusammen, daß Mike Hanion vor Henry Bowers und dessen Bande auf der Flucht war.

Mikes Schule hatte ein Orchester, in dem er Posaune spielte, und am 4. Juli marschierte dieses Orchester in der alljährlichen Parade mit und spielte >The Battle Hymn of the Republik, >Onward, Christian Soldiers< und >America the Beautiful<. Darauf freute sich Mike schon seit über einem Monat. Er verließ gegen ein Uhr mittags zur Generalprobe das Haus. Die Probe fing zwar erst um halb drei an, aber er wollte vorher noch seine Posaune, die im Musikzimmer der Schule aufbewahrt wurde, auf Hochglanz polieren. Obwohl sein Posaunenspiel, um die Wahrheit zu sagen, nicht viel besser war als Richies Stimmimitationen, war er unheimlich stolz darauf, und wenn er deprimiert war, heiterte er sich oft damit auf, daß er Märsche von Sousa, Hymnen oder patriotische Lieder spielte. Er hatte eine Dose Messingpolitur in einer der Taschen seines Khakihemdes, und aus der Jeanstasche hingen zwei oder drei saubere Lappen heraus. Er ging zu Fuß, weil die Kette an seinem alten Fahrrad wieder einmal abgesprungen war, doch an diesem warmen, sonnigen Tag machte es direkt Spaß zu laufen, obwohl er schon seit langem auf ein neues Rad sparte. Er pfiff beim Gehen vergnügt >The Battle Hymn of the Republic< vor sich hin und dachte nicht im geringsten an Henry Bowers.

Wenn er sich umgeschaut hätte, wäre sein Frohsinn im Nu verflogen, denn ein Stück hinter ihm nahmen Henry, Victor, Belch, Peter Gordon und Moose Sadler die ganze Straßenbreite ein. Als sie aus der Auffahrt der Bowers auf die Witcham Road hinausgekommen waren, hatte Mike einen Vorsprung von fast 300 Yards gehabt, aber Henry hatte ihn sofort entdeckt. »Da ist der Nigger!« hatte er mit leuchtenden Augen gerufen.

»Der Nigger!« hatte Belch Huggins freudig eingestimmt, und auch seine Augen hatten vor Freude auf einen bevorstehenden Kampf sofort gestrahlt. »Der Nigger! Los, Henry, den schnappen wir uns!«

Er hatte sich in Trab setzen wollen, aber Henry hatte ihn am Arm gepackt und ihn zurückgehalten. Er hatte mehr Erfahrung als die anderen, Mike Hanion zu jagen, und er wußte, daß es leichter gesagt als getan war, den Nigger zu fangen. Der Kerl war sehr schnell.

»Er sieht uns nicht«, hatte er zu den anderen gesagt. »Am besten gehen wir nur in raschem Tempo und verkleinern dadurch den Abstand zu ihm.«

Das taten sie denn auch. Die fünf Jungen sahen aus, als trainierten sie für den olympischen Wettbewerb im Gehen. Moose' nicht gerade kleiner Bauch schwabbelte unter seinem T-Shirt auf und ab. Schweiß rann Belch von der Stirn, und sein Gesicht lief rot an. Aber der Abstand verringerte sich tatsächlich - 200 Yards, 150 Yards, 100 Yards -, und der Nigger hatte sich immer noch nicht umgedreht. Sie konnten ihn jetzt schon pfeifen hören.

Daß Henrys Kumpel an diesem Tag überhaupt auf der Farm der Bowers gewesen waren, gehörte zu den merkwürdigen Zufällen jenes Sommers, die in Wirklichkeit vielleicht gar keine Zufälle gewesen waren. Jahre später vertrat Mike Hanion die Ansicht, daß keiner von ihnen damals ganz sein eigener Herr gewesen war (ebenso wie im späten Frühling 1983), und er führte beim Wiedersehensessen eine Reihe seltsamer Parallelen an, aber zumindest eine war auch ihm unbekannt: Der Klub der Verlierer hatte sich an jenem 3. Juli in Richtung Müllhalde begeben, um dort Stans Schwärmer abzufeuern. Und Victor, Belch und die anderen waren auf der Bowers-Farm gewesen, weil Henry verschiedene Feuerwerkskörper hatte... sogar ein paar M-8o, deren Besitz einige Jahre später unter schwere Strafe gestellt wurde. Die großen Jungen hatten die Absicht, diese Feuerwerkskörper in der Kohlengrube hinter dem Güterbahnhof abzufeuern.

Normalerweise ging keiner der Jungen gern auf die Farm der Bowers, hauptsächlich wegen Henrys verrücktem Vater, aber auch, weil Henry sie immer einspannte, um ihm bei seinen lästigen Pflichten wie Unkrautjäten, Steineauflesen und ähnlichem mehr zu helfen. Diesmal aber hatte Henry sie mit den Feuerwerkskörpern regelrecht zum Helfen erpreßt, und sie hatten der Versuchung nicht widerstehen können.

»Was hast du mit dem Nigger vor, Henry?« fragte Victor Criss, als der Abstand zwischen ihnen und Mike immer kleiner wurde. Obwohl er es nicht zeigte, verspürte er doch tief im Innern ein dumpfes Unbehagen. Er befürchtete, daß Henry zu weit gehen könnte. Wie weit Henry gehen könnte, daran versuchte Victor lieber nicht zu denken... aber unwillkürlich drängte sich ihm dieser Gedanke immer wieder auf.

»Wir schnappen ihn uns und nehmen ihn mit zur Kohlengrube«, sagte Henry. »Ich dachte mir, wir könnten ihm ein paar Feuerwerkskörper in die Schuhe stecken und sehen, ob er dann tanzt.«

»Aber nicht die M-8o, Henry... in Ordnung?« Wenn Henry das im Sinn hatte, zog Victor es vor heimzugehen. Eine M-8o in jedem Schuh würde von den Füßen des Niggers nichts übriglassen, und mit so etwas wollte Victor dann doch nichts zu tun haben.

»Von denen hab' ich nur vier Stück«, sagte Henry, ohne den Blick von Mikes Rücken zu wenden. Sie hatten den Abstand jetzt auf 75 Yards verringert und unterhielten sich nur noch ganz leise. »Glaubst du, daß ich zwei davon auf 'nen verdammten Nigger verschwenden würde?«

»Nein, Henry. Natürlich nicht.«

»Wir stecken ihm nur Schwärmer in die Schuhe«, fuhr Henry fort, »und schmeißen seine Klamotten in die Barrens. Vielleicht gerät er in giftiges Efeu rein, wenn er versucht, sie sich zurückzuholen.«

»Wir müssen ihn auch in der Kohle rumwälzen«, sagte Belch, dessen trübe Augen jetzt richtig strahlten. »Okay, Henry? Was meinst du?«

»Klar«, sagte Henry so beiläufig, daß Victor sich wieder etwas unbehaglich fühlte. »Wir werden ihn in der Kohle rumwälzen, so wie ich ihn damals im Dreck gewälzt habe. Und...« Henry grinste und entblößte dabei Zähne, die schon im frühen Alter von zwölf Jahren zu verfaulen begannen. »Und ich muß ihm unbedingt was sagen. Ich glaube, letztes Mal hat er's nicht gehört.«

»Was denn, Henry?« fragte Peter Gordon interessiert und aufgeregt. Er stammte aus einer der >guten Familien< in Derry; er wohnte am West Broadway und würde in zwei Jahren aufs Internat in Groton kommen - zumindest glaubte er das an jenem 3. Juli noch. Er war klüger als Victor, aber er kannte Henry noch nicht lange genug, um sich Sorgen zu machen.

»Das wirst du schon noch hören«, sagte Henry. »Und jetzt haltet die Klappe! Wir sind ihm schon dicht auf den Fersen!«

Das stimmte tatsächlich, und immer noch ahnte Mike nichts von der drohenden Gefahr. Alle Jungen konnten jetzt schon das weiße Holzgebäude mit dem viereckigen Glockenturm sehen - die Christliche Tagesschule an der Ecke Neibolt- und Witcham Street. Sie waren 25 Yards hinter Mike, und Henry wollte gerade den Befehl zum Angriff erteilen, als Moose Sadler den ersten Feuerwerkskörper des Tages losließ. Er hatte am Vorabend drei Teller gebackene Bohnen gegessen, und der Furz war fast so laut wie ein Schuß aus der Schrotflinte.

Mike drehte sich um, und Henry sah, daß seine Augen sich vor Schreck weiteten.

»Schnappt ihn euch!« brüllte Henry.

Einen Moment lang war Mike starr vor Schreck... und dann sauste er los, rannte um sein Leben.

6

Die Verlierer bahnten sich in folgender Reihenfolge einen Weg durch das Bambusdickicht in den Barrens: Bill Denbrough ging voraus, hinter ihm Richie Tozier, dann Beverly Marsh, die in ihren Jeans, einer weißen ärmellosen Bluse und mit Sandalen an den nackten Füßen wie immer sehr hübsch aussah; es folgte Ben Hanscom, der sich bemühte, nicht zu laut zu keuchen (trotz der Hitze trug er wieder einen seiner unförmigen Sweater); hinter Ben kam Stan Uris, und Eddie Kaspbrak, dessen Aspirator aus seiner rechten Hosentasche herausragte, bildete die Nachhut.

Bill stellte sich wieder einmal - wie meistens, wenn er diesen Teil der Barrens durchquerte - vor, er befände sich auf Dschungel-Safari. Der Bambus

war hoch und weiß und machte ihren Trampelpfad fast unsichtbar. Die Erde war schwarz und weich; größtenteils war sie trocken, aber stellenweise mußte man ausweichen oder springen, wenn man nicht im Sumpf einsinken wollte. Das stehende Wasser hier und dort hatte seltsam schillernde Regenbogenfarben. Die Luft stank immer ein wenig nach Müllhalde und verwesender Vegetation.

Bill bog um eine Kurve und drehte sich abrupt nach Richie um. »V-Vor-sicht, Tozier, da vorne ist ein T-T-Tiger.«

Richie nickte und gab die Botschaft an Beverly weiter.

»Ein Tiger!« flüsterte sie Ben zu.

»Ein menschenfressender?« fragte Ben und hielt den Atem an, um nicht zu keuchen.

»Er ist ganz mit Blut beschmiert«, sagte Beverly.

»Ein menschenfressender Tiger«, raunte Ben Stan zu, der die Neuigkeit Eddie verkündete, dessen schmales Gesicht vor Aufregung rot war.

Sie verkrochen sich im Bambus; der Tiger lief auf dem Pfad majestätisch an ihnen vorbei, und sie sahen ihn alle fast richtig vor sich: groß, etwa 200 Pfund schwer, geschmeidig und muskulös unter dem seidigen, gestreiften Fell. Sie glaubten fast, wirklich seine grünen Augen zu sehen und die Blutflecke um das Maul herum, die noch von seiner letzten Mahlzeit - einem bei lebendigem Leibe verschlungenen Pygmäenkrieger - zeugten.

»Er ist weg«, flüsterte Bill, stieß den angehaltenen Atem aus und trat wieder auf den Pfad hinaus. Die anderen folgten dicht hintereinander.

Richie war als einziger bewaffnet: Er brachte eine Zündhütchenpistole zum Vorschein, deren Griff mit Klebeband umwickelt war. »Ich hätte ihn wunderbar erschießen können, wenn du mir ein bißchen aus dem Weg gegangen wärst, Big Bill«, sagte er vorwurfsvoll und schob seine Brille mit der Pistolenmündung die Nase hoch.

»In der g-ganzen G-G-Gegend w-wimmelt es nur so von W-W-Watusis«, entgegnete Bill mit leiser Stimme. »W-W-Wir können Sch-Sch-Schüsse nicht riskieren.«

»Oh!« flüsterte Richie beeindruckt und überzeugt.

Bill forderte sie durch eine Geste zum Weitergehen auf, und sie schlichen auf dem Pfad voran, der sich am Ende des Bambusdickichts verengte. Kurz darauf standen sie wieder am Ufer des Kenduskeags. An dieser Stelle ermöglichten Steine im Flußbett eine Überquerung trockenen Fußes. Ben hatte ihnen gezeigt, wie man einen solchen Übergang schaffen konnte. Man besorgte sich einen großen Stein und ließ ihn ins Wasser fallen, dann holte man einen zweiten und warf ihn ins Wasser, während man auf dem ersten stand, dann holte man einen dritten und warf ihn vom zweiten aus ins Wasser und so weiter, bis man ans andere Ufer gelangen konnte, ohne nasse Füße zu kriegen. Eigentlich war es so einfach, daß jedes Kleinkind darauf hätte kommen müssen, aber keiner von ihnen war auf die Idee gekommen, bevor Ben es ihnen vorgemacht hatte. In solchen Dingen war er sehr geschickt, und er besaß auch die Gabe, es anderen zu zeigen, ohne daß sie sich wie Vollidioten vorkamen.

Hintereinander begannen sie, den Fluß auf den trockenen Steinoberflächen zu überqueren.

»Bill!« rief Beverly eindringlich.

Er blieb sofort stehen und hielt mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht. Um ihn herum plätscherte das seichte Wasser. »Was ist los?«

»Hier wimmelt es nur so von Piranhas«, sagte sie. »Ich habe erst vor zwei Tagen gesehen, wie sie eine ganze Kuh aufge fressen haben. Eine Minute, nachdem sie reingefallen war, war von ihr nur noch das Skelett übrig. Paß auf, daß du nicht abrutschst!«

»Sehr richtig«, sagte Bill. »Seid vorsichtig, Männer.«

Sie balancierten über die Steine. Ein Güterzug fuhr auf der Eisenbahnbrücke vorbei, als Eddie den Fluß etwa zur Hälfte überquert hatte, und das plötzliche Pfeifen brachte ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht. Er blickte ins Wasser, das in der Sonne funkelte, und einen Moment lang sah er dort die umherschwimmenden Piranhas. Sie gehörten nicht einfach zu jenen Fantasiebildem aus dem Dschungel-Safari-Spiel, dessen war er sich ganz sicher. Die Fische sahen wie zu groß geratene Goldfische aus, hatten aber die häßlich breiten Mäuler von Katzenwelsen oder Seebarschen. Scharfe gezackte Zähne ragten zwischen wulstigen Lippen hervor... und sie waren orange wie Goldfische. So orange wie die flauschigen Pompons, die man manchmal auf den Kostümen von Zirkusclowns sah.

Sie schwammen im seichten Wasser herum und fletschten ihre Zähne.

Eddie schwankte und ruderte wild mit den Armen. Gleich falle ich rein, dachte er, ichfall' rein, und dannfressen sie mich bei lebendigem Leibe auf...

Und dann packte ihn Stan fest am Handgelenk, und er erlangte das Gleichgewicht zurück.

»Paß auf«, sagte Stan, »wenn du reinfällst, macht deine Mutter ein Riesentheater.«

Ausnahmsweise war die Vorstellung, daß seine Mutter zetern und jammern würde, Eddie momentan völlig egal. Die anderen waren inzwischen am anderen Ufer angekommen und zählten Autos auf dem Güterzug. Eddie starrte verzweifelt in Stans Augen und dann wieder in den Fluß. Er sah eine leere Kartoffelchips-Tüte, die auf dem Wasser tanzte, aber das war auch schon alles. Er richtete seinen Blick wieder auf Stan.

»Stan, ich hab' gesehen, daß...«

»Was?«

Eddie schüttelte den Kopf. »Ach, nichts«, murmelte er. »Ich bin nur ein bißchen

(aber sie waren da, o ja, sie waren da, und sie hätten mich bei lebendigem Leibe

aufgefressen)

nervös, glaube ich. Gehen wir weiter.«

Das Westufer des Kenduskeags - das Old-Cape-Ufer - war im Frühling bei Tauwetter oder nach heftigen Regenfällen ein einziger Sumpf, aber seit dem 15. Juni hatte es in Derry nicht mehr stark geregnet, und das Ufer war trocken und wie mit einer eigenartigen rissigen Glasur überzogen, aus der mehrere jener Betonzylinder hervorragten wie Maschinen, die irgendeinem unbekannten, aber finsteren Zweck dienten. Etwa 20 Yards weiter unten floß aus einem großen Rohr ein dünnes Rinnsal stinkenden braunen Wassers in den Fluß.

»Hier ist es unheimlich«, stellte Ben ruhig fest, und die anderen nickten zustimmend.

Bill führte sie die trockene Uferböschung empor, und sie verschwanden wieder in dichtem Gebüsch. Insekten surrten, und Sandflöhe hüpften umher. Ab und zu war der laute Flügelschlag eines Vogels zu hören. Ein Eichhörnchen kreuzte ihren Pfad, und etwa fünf Minuten später, als sie sich dem Hügel am Rande der Müllhalde näherten, sauste eine fette Ratte mit einem Stückchen Zellophan im Schnurrbart an Bill vorbei und verschwand auf ihrem eigenen Geheimpfad.

Sie kletterten den Hügel hinauf und blickten von dort auf die Müllhalde hinab.

»Scheiße!« rief Bill und schob die Hände in seine Hosentaschen, während die anderen sich um ihn scharten.

Heute wurden Abfälle im nördlichen Teil der Müllhalde verbrannt, aber auf der Seite, wo die Kinder standen, schob Hendy Fazio, der Müll wart, mit einer aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Schuttramme den Müll zum Verbrennen zu großen Haufen zusammen.

»Stimmt, da können wir jetzt nicht hin«, stellte Ben betrübt fest. Hendy Fazio war kein übler Bursche, aber wenn er Kinder auf der Müllhalde entdeckte, vertrieb er sie sofort - wegen der Ratten, wegen des Rattengiftes, das er in regelmäßigen Zeitabständen ausstreute, wegen der Gefahr, hinzufallen und sich Schnitt- oder Brandwunden zuzuziehen... hauptsächlich aber einfach deshalb, weil er der Meinung war, daß eine Müllhalde kein Kinderspielplatz ist.

»Nein«, stimmte auch Richie zu. »Die Müllhalde können wir für heute vergessen.«

Sie setzten sich hin und beobachteten Hendy eine Weile bei der Arbeit, in der vagen Hoffnung, daß er aufhören und weggehen würde. So 'ne Hundsgemeinheit, dachte Bill. Es gab keinen besseren Ort als die Müllhalde, um Schwärmer abzufeuern. Man konnte sie unter Konservendosen legen und zusehen, wie die Dosen in die Luft flogen, wenn der Schwärmer losging, oder man konnte ihn anzünden, in eine Flasche werfen und dann schnell wegrennen. Die Flaschen explodierten nicht immer, aber manchmal hatte man doch Glück.

»Ich wollte, wir hätten auch ein paar M-8o«, seufzte Richie, ohne zu ahnen, daß ihm schon sehr bald eine beschert werden würde.

»Meine Mutter sagt immer, man müsse mit dem zufrieden sein, was man hat«, verkündete Eddie so feierlich, daß alle lachen mußten.

Als ihr Gelächter verebbte, wandten sich alle Blicke wieder erwartungsvoll Bill zu.

Bill dachte nach, dann sagte er: »Ich w-w-weiß einen g-guten P-P-Platz. Am Ende der B-B-B-Barrens, neben dem B-Bahnhof, ist eine alte K-K-Kies-grube...«

»Ja!« rief Stan begeistert und sprang auf. »Die kenn' ich auch! Du bist einfach Spitze, Big Bill!«

»Dort werden sie ein wirklich tolles Echo erzeugen«, stimmte Beverly freudig zu.

»Also, dann nichts wie hin!« sagte Richie.

Die sechs Kinder - eines fehlte noch, um die magische Zahl sieben vollzumachen - schlenderten den Hügelkamm entlang, der sich um die Müllhalde zog. Hendy Fazio schaute einmal hoch und sah ihre Silhouetten, die sich vom blauen Himmel abhoben. Er überlegte, ob er ihnen zubrüllen sollte zu verschwinden, die Barrens seien für Kinder kein geeigneter Aufenthaltsort, ließ es dann aber doch bleiben und machte sich wieder an die Arbeit. Wenigstens trieben sie sich nicht auf seiner Müllhalde herum.

7

Mike Hanion rannte an seiner Schule vorbei, denn die Tür würde noch abgeschlossen sein, und es gab zwar einen Hausmeister, aber der Mann war alt und schwerhörig, und Henry Bowers würde ihn einholen und ihm den Kopf abreißen, während er noch gegen die Tür hämmerte.

Mike rannte die Neibolt Street entlang, in Richtung Bahnhof. Er versuchte, nicht außer Atem zu kommen, sich nicht völlig zu verausgaben... zumindest jetzt noch nicht. Moose Sadler, Belch Huggins und Henry stellten für Mike kein Problem dar - sie rannten wie schnaubende Büffel. Aber Victor Criss und Peter Gordon waren wesentlich schneller, und als Mike an dem Haus vorbeikam, wo Bill Denbrough und Richie Tozier den Clown gesehen hatten, der ebensogut auch ein Werwolf gewesen sein konnte, blickte er rasch über die Schulter hinweg nach hinten und sah besorgt, daß Peter ihm dicht auf den Fersen war. Peter grinste so glücklich, als wäre er bei einem Hindernisrennen dem Ziel schon sehr nahe. Vielleicht würde er nicht so grinsen, dachte Mike, wenn er wüßte, was passiert, wenn sie mich schnappen ... glaubt er, daß sie nur rufen »Gefangen, du bist dran!« und dann nach allen Richtungen davonrennen?

Als das Tor zum Bahnhofsgelände mit seinem Schild Privateigentum -KEIN ZUTRITT - ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN BESTRAFT in Sicht kam, mußt Mike sein Letztes hergeben. Noch tat es nicht weh - er atmete schnell, aber regelmäßig -, doch er wußte, daß die Schmerzen bald einsetzen würden, wenn er dieses Tempo noch lange durchhalten mußte.

Das Tor stand halb offen. Er riskierte wieder einen Blick zurück und sah, daß Peter etwas zurückgefallen war. Victor war etwa zehn Schritt hinter Peter, die anderen waren noch gut 40 oder 50 Yards dahinter. Obwohl er nur flüchtig zurückblickte, sah Mike deutlich die rasende Wut in Henrys Gesicht.

Er schlüpfte durch das Tor und warf es hinter sich zu. Erleichtert hörte er das Klicken, als es ins Schloß fiel. Einen Augenblick später rüttelte Peter Gordon am Kettenzaun, und gleich darauf war auch Victor Criss zur Stelle. Peters Lächeln war verschwunden; er sah jetzt verdrossen und erstaunt drein. Er suchte nach der Klinke, aber es gab keine - das Tor ließ sich nur von innen öffnen.

Unglaublicherweise rief er: »Los, Junge, mach das Tor auf! So was ist unfair!«

»Was ist denn deiner Meinung nach fair?« fragte Mike keuchend. »Fünf gegen einen?«

»So was ist unfair«, wiederholte Peter, als hätte er Mike überhaupt nicht gehört.

Mike warf einen Blick auf Victor und bemerkte den besorgten Ausdruck in seinen Augen. Er wollte gerade etwas sagen, als die anderen am Tor anlangten.

»Los, aufmachen, Nigger!« brüllte Henry und begann so wild am Zaun zu rütteln, daß Peter ihn bestürzt ansah. »Aufmachen, sag' ich! Los, mach sofort auf!«

»Ich bin doch nicht lebensmüde!« erwiderte Mike ruhig.

»Mach auf!« schrie Belch. »Mach auf, du verfluchter Dreckskerl!«

Mike wich mit rasend pochendem Herzen etwas vom Zaun zurück. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so verwirrt, so erschrocken gewesen zu sein. Sie rüttelten am Zaun und warfen ihm alle möglichen Schimpfnamen für Nigger an den Kopf, Schimpfnamen, von deren Existenz er nicht einmal etwas geahnt hatte. Er nahm kaum wahr, daß Henry etwas aus der Tasche holte, daß er am Daumennagel ein Streichholz anzündete - und dann kam etwas Rundes, Rotes über den Zaun geflogen, und Mike wich instinktiv gerade noch rechtzeitig aus, bevor der Feuerwerkskörper links von ihm explodierte und eine Staubwolke hochwirbelte.

Der Knall brachte alle für einen Augenblick zum Schweigen- Mike starrte sie durch den Zaun hindurch ungläubig an, und sie starrten zurück. Sogar Belch sah ganz verdattert aus.

Jetzt jagt Henry auch ihnen Angst ein, dachte Mike, und plötzlich meldete sich eine neue Stimme in seinem Innern zu Wort, eine verwirrend erwachsene Stimme. Er jagt ihnen Angst ein, aber das wird sie nicht abhalten. Du mußt machen, daß du hier wegkommst, Mike, sonst passiert noch etwas Schlimmes. Vielleicht werden einige es nicht gewollt haben - Victor, eventuell auch Peter Gordon -, aber es wird trotzdem passieren, weil Henry dafür sorgen wird. Also verschwinde lieber. Mach dich schleunigst aus dem Staub.

Er wich wieder einige Schritte zurück, und dann rief Henry: »Ich habe deinen Hund umgebracht, Nigger!«

Mike hatte das Gefühl, als hätte eine Kegelkugel ihn genau in der Magengrube getroffen. Er starrte Henry in die Augen und begriff, daß Henry die Wahrheit sagte: Er hatte Mr. Chips vergiftet.

In Wirklichkeit dauerte es natürlich nur den Bruchteil einer Sekunde, aber Mike kam es wie eine Ewigkeit vor - während er in Henrys dunkle, wahnsinnige Augen und das wutverzerrte, hochrote Gesicht blickte, hatte er das Gefühl, sehr vieles zum erstenmal im Leben zu begreifen, und die Tatsache, daß Henry ebenso verrückt war wie sein Vater, war dabei noch verhältnismäßig unwichtig. Viel bedeutsamer war die Erkenntnis, daß die Welt nicht gut, nicht freundlich ist; diese plötzliche neue Erkenntnis war es hauptsächlich, die ihn brüllen ließ: »Du hundsgemeiner Scheißbastard!«

Henry stieß einen Wutschrei aus und begann am Zaun hochzuklettern, mit einer erschreckenden, brutalen Kraft. Mike blieb noch einen Moment stehen, weil er sehen wollte, ob jene erwachsene Stimme in seinem Innern recht gehabt hatte. Sie hatte nicht getrogen: Nach kaum merklichem Zögern machten die anderen es ihrem Anführer nach und begannen ebenfalls am Zaun hochzuklettern.

Mike drehte sich um und rannte los, quer über das Bahnhofsgelände. Der Güterzug, den die Mitglieder des Klubs der Verlierer in den Barrens gesehen hatte, war schon lange wieder weg, und außer Mikes lautem Atem war nur noch das metallische Klirren des Kettenzauns zu hören, den Henry und die anderen Jungen erklommen.

Beim Überqueren des zweiten Gleises stolperte Mike und fiel hin. Ein Schmerz im Knöchel durchzuckte ihn. Er kam wieder auf die Beine und rannte weiter. Er hörte hinter sich einen lauten Plumps - Henry war vom Zaun runtergesprungen. Gleich darauf hörte Mike ihn brüllen: »Jetzt geht's dir an den Kragen, Nigger!«

Mike hatte entschieden, daß die Barrens seine einzige Chance waren. Wenn es ihm gelang, dorthin zu entkommen, konnte er sich im dichten Unterholz verstecken, oder im Bambus... schlimmstenfalls, in der allergrößten Not, sogar in einem der Abflußrohre.

Das alles konnte er tun... aber jetzt brannte heiße Wut in seinem Herzen. Er konnte noch verstehen, daß Henry ihn jagte, wenn sich ihm irgendeine Gelegenheit dazu bot, aber Mr. Chips...? Was hatte Mr. Chips ihm getan? Mein Hund war doch kein Nigger, du verdammter Scheißbastard, dachte Mike beim Rennen und geriet immer mehr in Rage.

Er hörte plötzlich die Stimme seines Vaters: Ich will nicht, daß du dein Leben mit Davonrennen verbringst... und das bedeutet, daß du dir sorgfältig überlegen mußt, wo Widerstand sich lohnt. Du mußt dich fragen, ob es überhaupt etwas bringt, sich mit Henry Bowers anzulegen...

Mike war bisher geradeaus auf die Lagerschuppen am Ende des Bahnhofsgeländes zugerannt, das durch einen Kettenzaun hinter den Schuppen von den Barrens getrennt wurde. Mike hatte vorgehabt, über den Zaun zu klettern und ins Dickicht hinabzuspringen. Aber nun machte er plötzlich eine scharfe Wendung nach rechts, in Richtung Kohlengrube.

Vor langer Zeit, vermutlich noch vor der Jahrhundertwende, war auch diese Kohlengrube eine Kiesgrube gewesen. Dann hatte sie den durch Derry fahrenden Dampfloks als Kohlendepot gedient, bis diese nach dem Zweiten Weltkrieg von den Dieselloks verdrängt worden waren. Die zur Kohlengrube führenden Gleise waren jetzt rostig, und zwischen den halb verfaulten Schwellen wucherte Unkraut, ebenso wie in der Grube selbst, wo es mit Goldruten und großen Sonnenblumen um die Wette emporwuchs. Aber zwischen den Pflanzen lagen immer noch jede Menge Kohlenstücke herum.

Während des Rennens zog Mike sein Hemd aus; am Rand der Kohlengrube angelangt, warf er einen Blick zurück. Henry war noch ein ganzes Stück entfernt, bei den Bahngleisen, und seine Kumpel waren neben und hinter ihm. Also war noch Zeit.

Mike machte aus seinem Hemd eine Art Bündel und füllte es so rasch wie möglich mit großen Kohlebrocken. Dann rannte er zum Zaun, aber anstatt daran hochzuklettern, wandte er ihm den Rücken zu, schüttete die Kohle aus seinem Hemd auf den Boden, bückte sich und hob einige große Stücke auf.

Henry Bowers sah die Kohle nicht; er sah nur, daß der Neger am Zaun in der Falle saß. Brüllend rannte er auf ihn zu.

»Das ist für meinen Hund, du Schwein!« schrie Mike und warf mit aller Kraft einen Kohlebrocken, der Henry mitten auf die Stirn traf. Henry taumelte und fiel auf die Knie. Er griff sich an die Stirn, und sofort sickerte Blut zwischen seinen Fingern hindurch.

Die anderen blieben stehen, und ihre Gesichter hatten alle den gleichen Ausdruck fassungsloser Ungläubigkeit. Henry stieß einen grellen Schmerzensschrei aus und rappelte sich wieder hoch, eine Hand immer noch auf die Stirn gepreßt. Mike warf ein zweites Kohlestück, aber Henry duckte sich und begann, auf Mike zuzugehen, und als Mike einen dritten Brocken schleuderte, nahm Henry die Hand von der Stirn, wo eine häßliche blutende Wunde zum Vorschein kam, und schlug die Kohle zur Seite. Er grinste bösartig.

»Oh, du wirst jetzt dein blaues Wunder erleben!« rief er. »Dein... o Gott!«

Mikes nächster Wurf hatte seine Hoden getroffen, und er ging erneut zu Boden. Peter Gordon brachte vor Verwunderung den Mund nicht mehr zu, und Moose Sadler runzelte die Stirn, als brütete er über einer schwierigen Rechenaufgabe.

»Worauf wartet ihr denn?« schrie Henry. »Schnappt ihn! Schnappt euch den kleinen Scheißkerl!«

Mike wartete nicht ab, ob sie gehorchen würden oder nicht. Er ließ sein Hemd liegen, wo es war, drehte sich um und begann am Zaun hochzuklettern. Einen Augenblick später spürte er, wie große Hände ihn am Fuß packten. Er schaute nach unten und sah Henrys verzerrtes, kohlenbeschmiertes Gesicht. Mike riß seinen Fuß mit einem Ruck hoch, und Henry hielt plötzlich nur noch einen Turnschuh in der Hand. Dann stieß Mike seinen nackten Fuß Henry ins Gesicht und hörte etwas knirschen. Henry schrie wieder auf und taumelte rückwärts - jetzt hielt er sich die blutende Nase.

Eine andere Hand - sie gehörte Belch - packte Mike am Saum seiner Jeans, aber es gelang ihm, sich loszureißen. Er schwang ein Bein über den Zaun, und dann traf ihn etwas mit betäubender Wucht an der Wange. Andere Geschosse trafen seine Hüfte, seinen Unterarm, seinen Oberschenkel. Sie warfen mit seiner eigenen Munition nach ihm.

Einen Moment lang hing er mit den Händen am Zaun, dann ließ er sich fallen und überschlug sich dabei zweimal. Der an dieser Stelle ziemlich steile Hang rettete ihm das Augenlicht, vielleicht sogar das Leben. Henry war nämlich wieder an den Zaun getreten und hatte eine seiner vier M-8o geschleudert, die mit einem fürchterlichen Knall explodierte und eine große kahle Stelle im Gras hinterließ.

Mit heftigem Ohrensausen machte Mike einen letzten Purzelbaum rückwärts und kam dann auf die Beine. Er stand im hohen Gras am Rand der Barrens. Er strich sich über die rechte Wange und betrachtete die blutbeschmierte Hand. Das Blut störte ihn aber nicht allzusehr; er hatte nicht erwartet, ganz unverletzt davonzukommen.

Henry warf wieder mit einem Feuerwerkskörper nach ihm, aber diesmal sah Mike ihn kommen und konnte leicht ausweichen.

»Los, ihm nach!« schrie Henry und begann am Zaun hochzuklettern.

»Du lieber Himmel, Henry, ich weiß nicht so recht...«, begann Peter. Diese Geschichte ging für seine Begriffe jetzt wirklich zu weit. Er hätte nie

gedacht, daß eine Situation sich so schnell in eine blutige Angelegenheit verwandeln konnte. So etwas durfte eigentlich nicht passieren, wenn man in einer so günstigen Ausgangsposition - fünf gegen einen - gewesen war.

»Du solltest es aber lieber wissen«, sagte Henry und starrte Peter aus halber Zaunhöhe herab mit blutigem Gesicht grimmig an. Mikes Fußtritt hatte ihm den Nasenrücken gebrochen, obwohl er das erst einige Zeit später registrieren würde. »Du solltest es wirklich lieber wissen«, wiederholte Henry. »Sonst bekommst du's mit mir zu tun, du gottverdammter Feigling!«

Gehorsam kletterten die Jungen den Zaun hoch. Peter und Victor widerwillig, Belch und Moose so eifrig und angriffslustig wie eh und je.

Mike hatte genug gesehen. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte ins Dickicht. Henry brüllte ihm nach: »Ich find' dich schon noch, Nigger! Ich find' dich, und dann bring' ich dich um!«

8

Sie hatten die Kiesgrube erreicht, die jetzt, 15 Jahre, nachdem die letzte Fuhre Kies abtransportiert worden war, nicht viel mehr als eine unkrautüberwucherte Erdvertiefung war. Alle scharten sich gerade um Stan und betrachteten voll Bewunderung seine Schwärmer, als die erste Explosion erfolgte. Eddie machte vor Schreck einen Satz - er war immer noch verstört über die Piranhas, die er glaubte gesehen zu haben (er wußte nicht genau, wie richtige Piranhas aussahen, war sich aber ziemlich sicher: nicht wie zu groß geratene Goldfische mit scharfen Zähnen).

»Immer mit der Ruhe, Eddie-san«, sagte Richie mit seiner Stimme-eines-chinesischen-Kulis. »Es sind nur irgendwelche anderen Kinder, die Feuerwerkskörper zünden.«

»Na s-s-so was, R-Richie, d-darauf wären wir von allein n-nie g-g-g-ge-kommen«, bemerkte Bill, und alle lachten fröhlich, selbst Eddie.

»Komm, mach die Packung auf, Stan«, sagte Beverly. »Ich habe Streichhölzer.«

Sie scharten sich wieder um Stan, der behutsam die Schachtel öffnete. Auf dem schwarzen Etikett waren exotische chinesische Buchstaben und eine nüchterne Warnung auf englisch, über die Richie sofort wieder kichern mußte: >Nicht in der Hand halten, wenn die Zündschnur brennt. <

»Gut, daß sie darauf hinweisen«, sagte er. »Ich hab' sie nämlich bisher immer nach dem Anzünden festgehalten, weil ich glaubte, es wäre die beste Methode, um lästig lange Fingernägel loszuwerden.«

Langsam und feierlich entfernte Stan die rote Zellophanhülle und legte den Satz roter, blauer und grüner Pappröhrchen auf seine Handfläche. Die Zündschnüre waren zusammengeflochten.

»Ich werd'...«, begann Stan, und dann erfolgte eine sehr viel lautere Explosion als zuvor, deren Echo durch die ganzen Barrens hallte. Eine Möwenschar stieg schreiend von der Ostseite der Müllhalde auf. Diesmal fuhren alle erschrocken zusammen. Stan ließ die Schwärmer fallen und mußte sie vom Boden aufheben.

»War das Dynamit?« fragte Beverly nervös und sah dabei Bill an, der lauschend den Kopf zurückgelegt hatte. Seine Augen waren riesengroß, und Bev dachte, daß er noch nie so schön ausgesehen hatte - aber seine Kopfhaltung hatte etwas zu Wachsames, zu Sprungbereites an sich. Er glich einem witternden Reh.

»Das war, glaube ich, eine M-8o«, sagte Ben ruhig. »Letztes Jahr am 4. Juli war ich im Park, und einige Jungs von der High School hatten ein paar M-8o. Sie warfen eine davon in eine Mülltonne aus Metall. Die Detonation hörte sich genauso an wie diese hier.«

»Hat die Mülltonne ein Loch bekommen, Haystack?« fragte Richie interessiert.

Ben schüttelte den Kopf. »Nein. Aber eine Seite wurde stark ausgebeult, so als hätte ihr jemand von innen einen heftigen Boxhieb versetzt. Die Jungs sind weggerannt.«

»Dieser Knall hat sich näher angehört«, sagte Eddie. Auch er sah Bill fragend an.

»Wollen wir die Schwärmer jetzt abfeuern oder nicht?« erkundigte sich Stan. Er hatte etwa ein Dutzend von dem Satz abgetrennt und den Rest für später weggepackt.

»Na klar...«, begann Richie.

»P-P-Pack sie w-wieder ein«, sagte Bill abrupt.

Alle sahen ihn fragend an.

»P-P-Pack sie ein!« wiederholte er. Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, die Wörter herauszubringen. »G-G-Gleich w-w-w-wird w-was p-p-p-passieren.«

Sie schauten ihn nervös an. Eddie leckte sich die Lippen, und Ben stellte sich unwillkürlich schützend vor Beverly.

Richie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und dann erfolgte eine dritte, aber leisere Detonation.

»Sch-Sch-Sch-Steine«, sagte Bill.

»Was ist, Bill?« fragte Stan.

»Sch-Sch-Steine. M-M-Munition.« Bill begann plötzlich, Steine aufzuheben und in seine Tasche zu stopfen, bis sie ganz ausgebeult waren. Die anderen starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren... und dann spürte Eddie plötzlich, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat. An jenem Tag, als er und Bill Bens Bekanntschaft gemacht hatten, als Henry Bowers ihm die Nase blutig geschlagen hatte, hatte er eine Vorahnung gehabt, daß etwas passieren würde. Und jetzt hatte er wieder jenes Gefühl.

Nun sammelte auch Ben Steine, und gleich darauf Richie - er bewegte sich rasch und hielt erstaunlicherweise den Mund. Seine Brille rutschte ihm von der Nase und fiel zu Boden. Geistesabwesend schob er sie unter sein Hemd.

»Warum machst du das, Richie?« fragte Beverly beunruhigt.

»Weiß ich selbst auch nicht«, erwiderte Richie und sammelte weiter Steine auf.

»Beverly, vielleicht solltest du lieber - na ja, für ein Weilchen zur Müllhalde zurückkehren«, schlug Ben vor. Er hatte die Hände voller Steine.

»Ich scheiß' drauf«, sagte sie und begann ihrerseits, Steine aufzusammeln.

Stan betrachtete nachdenklich seine Freunde, die wie sonderbare, verrückte Farmer Steine auflasen. Dann preßte er die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und machte sich selbst an die Arbeit.

Eddie spürte, wie ihm wieder einmal die Kehle eng wurde.

Diesmal nicht, verdammt noch mal! dachte er. Nicht, wenn meine Freunde mich brauchen... nicht diesmal, verdammt noch mal!

Er begann ebenfalls, Steine aufzusammeln.

9

Henry Bowers war viel zu rasch in die Höhe und Breite geschossen, um sich unter normalen Umständen schnell und gewandt bewegen zu können. Aber dies waren eben keine normalen Umstände. Er war völlig außer sich vor Wut und Schmerz. Jeder bewußte Gedanke war dadurch ausgeschaltet. Er raste hinter Mike Hanion her wie ein Stier hinter einem wehenden roten Tuch. Mike rannte einen schmalen, gewundenen Pfad entlang, der in der Barrens, in Richtung Müllhalde führte, aber das war Henry viel zu umständlich: Er stürmte quer durchs Gebüsch wie eine Dampfwalze und spürte weder Dornen, die ihm die Haut aufrissen, noch biegsame Äste, die ihm ins Gesicht, auf den Nacken und die Arme schlugen. Das einzige, was für ihn zählte, war der sich verringernde Abstand zwischen ihm und dem Krauskopf des Niggers. Henry hatte eine M-8o (von manchen Kindern auch Mülleimer genannt) in der rechten Hand, in der linken ein Streichholz. Er wollte den Nigger fangen, die M-8o anzünden und sie ihm vorne in die Hose stecken.

Mike wußte, daß Henry Bowers jetzt aufholte, und daß auch die anderen nicht weit hinter Henry waren. Er versuchte schneller voranzukommen. Er hatte wahnsinnige Angst und mußte seine ganze Willenskraft aufwenden, um nicht in totale Panik zu geraten. Er hatte sich beim Überqueren der Gleise den Knöchel stärker verstaucht, als er zuerst angenommen hatte, und jetzt hüpfte er hinkend vorwärts. Er hatte das unangenehme Gefühl, vor einem riesigen mörderischen Hund oder einem wilden Bär verfolgt zu werden, so laut rumorte Henry im Dickicht.

Der Pfad wurde plötzlich breiter und ging in die Kiesgrube über. Mike hatte sie schon halb durchquert, bevor er bemerkte, daß sich Kinder dort aufhielten, sechs an der Zahl.

»Hilfe!« keuchte Mike, während er auf sie zuhinkte. Sie sahen aus, als hätten sie fast soviel Angst wie er selbst, aber daneben las er in ihren Gesichtern noch etwas anderes... war es Entschlossenheit? Er hoffte es von ganzem Herzen.

»Hilfe!« rief er wieder, wobei er sich instinktiv an den großen rothaarigen Jungen wandte. »Ich werde...«

In diesem Moment kam Henry Bowers aus dem Gebüsch in die Kiesgrube gestürmt. Das Blut auf seiner Stirn glich einer Kriegsbemalung. Er sah die sechs Kinder und blieb abrupt stehen. Einen Moment lang spiegelte sein Gesicht eine gewisse Unsicherheit wider, und er warf einen Blick über die Schulter hinweg. Er sah, daß seine Truppe sich näherte, und als er sich dar-

aufhin wieder dem Klub der Verlierer zuwandte (Mike stand jetzt keuchend etwas seitlich hinter Bill Denbrough), grinste er breit.

»Dich kenn' ich doch, du stotternde Mißgeburt!« sagte er zu Bill. Dann wandte er sich Richie zu. »Und dich ebenfalls. Na, wo ist denn heute deine Brille, Vierauge?« Bevor Richie etwas erwidern konnte, hatte Henry Ben gesichtet. »Na so was! Der Fettkloß ist ja auch hier! Ist das deine Freundin, Fettkloß?«

Ben zuckte zusammen.

In diesem Moment tauchte Peter Gordon neben Henry auf, und gleich danach erschien Victor auf der anderen Seite. Dann waren auch Belch und Moose zur Stelle und nahmen neben Peter und Victor ihre Position ein. Die beiden gegnerischen Gruppen standen sich nun in geordneten Linien gegenüber.

»Ich habe mit einigen von euch noch ein Hühnchen zu rupfen«, rief Henry. Er war ganz außer Atem und schnaubte wie ein Stier. »Aber das braucht nicht unbedingt heute zu sein. Jetzt will ich den Nigger haben. Verschwindet also, ihr kleinen Scheißer!«

»Jawohl, verschwindet!« unterstützte Belch seinen Anführer.

»Er hat meinen Hund umgebracht!« rief Mike mit schriller, zittriger Stimme. »Er hat es selbst gesagt!«

»Du kommst jetzt sofort hierher!« kommandierte Henry. »Vielleicht werde ich dich dann nicht umbringen.«

Mike zitterte, bewegte sich aber nicht von der Stelle.

Ruhig und sehr deutlich sagte Bill: »Die B-B-Barrens g-gehören uns. M-Macht, daß ihr hier w-wegkommt.«

Henry riß die Augen weit auf, als hätte er unerwartet eine Ohrfeige bekommen.

»Wer soll mich denn von hier vertreiben?« fragte er. »Du etwa, Hasenfuß?«

»W-W-Wir alle«, erwiderte Bill. »Wir h-haben es s-s-s-satt, uns von dir r-rumk-k-kommandieren zu lassen, B-B-Bowers. Hau ab!«

»Du blöde stotternde Mißgeburt!« schrie Henry. Er senkte den Kopf und griff an.

Bill hatte eine Handvoll Steine, ebenso wie alle anderen außer Mike und Beverly, die nur einen Stein in der Hand hielt. Bill begann ohne übertriebene Hast, Henry damit zu bewerfen. Der erste Stein verfehlte sein Ziel; der zweite traf Henry an der Schulter; wenn der dritte Wurf danebengegangen wäre, hätte Henry eventuell Zeit gehabt, Bill über den Haufen zu rennen; aber Bill hatte diesmal besonders gut gezielt, und der Stein traf Henry mitten auf die gesenkte Stirn.

Henry schrie vor Überraschung und Schmerz auf, blickte hoch... und mußte gleich noch vier weitere Treffer einstecken: einen kleinen Gruß von Richie auf die Brust, einen von Eddie aufs Schulterblatt und einen von Stan aufs Schienbein; Beverlys Stein traf seinen Bauch.

Er starrte sie fassungslos an, und plötzlich war die ganze Luft nur so von Wurfgeschossen erfüllt. Henry wich etwas zurück. Sein Gesicht drückte immer noch äußerste Bestürzung aus. »Los, Jungs!« brüllte er. »Worauf wartet ihr denn? Helft mir!«

»G-G-Greift sie an«, sagte Bill leise, und ohne abzuwarten, ob sie ihm folgen würden, stürzte er vorwärts.

Sie folgten ihm und bewarfen jetzt nicht nur Henry mit Steinen, sondern auch dessen Freunde, die nun ihrerseits Munition vom Boden aufzuheben begannen. Aber bevor sie viel sammeln konnten, ging die erste schwere Angriffswelle auf sie nieder. Peter Gordon schrie auf, als ein von Ben geworfener Stein heftig gegen seinen Backenknochen prallte und eine blutende Wunde verursachte. Er wich zurück, blieb stehen, warf blindlings ein, zwei Steine... und dann flüchtete er. Er hatte jetzt endgültig genug; so etwas war er vom West Broadway her nicht gewöhnt.

Henry bückte sich und hob in wilder Hast eine Handvoll Steine auf. Zum Glück für den Klub der Verlierer hatte er aber hauptsächlich Kiesel erwischt. Mit einem der größeren Steine warf er nach Bev und traf sie am Arm. Sie schrie auf.

Brüllend stürzte sich Ben auf Henry, der ihn zwar kommen sah, ihm aber nicht mehr ausweichen konnte. Ben wog mehr als 150 Pfund - das Resultat war demnach nicht verwunderlich: Henry flog durch die Luft, landete auf dem Rücken und schlitterte noch ein Stück über den Kies. Ben verfolgte ihn und registrierte nur am Rande einen scharfen Schmerz am Ohr, als Belch mit einem Stein von der Größe eines Golfballs einen Treffer landete.

Henry war gerade mühsam auf die Beine gekommen, als Ben ihn mit voller Wucht in die linke Hüfte traf. Henry fiel erneut auf den Rücken. Seine Augen schleuderten Blitze in Richtung Ben.

»Man wirft nicht mit Steinen nach Mädchen!« brüllte Ben. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein. »Man wirft nicht...«

Er sah eine Flamme in Henrys Hand - Henry hatte das Streichholz angezündet und hielt es an die dicke Zündschnur der M-8o. Dann schleuderte er diese auf Ben. Er hatte auf sein Gesicht gezielt, aber Ben holte mit der Hand wie mit einem Schläger aus und traf sie im Fluge. Wie ein Schmetterball schoß sie wieder nach unten. Henry sah sie kommen. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, und er rollte schreiend zur Seite. Den Bruchteil einer Sekunde später explodierte die M-8o, schwärzte den Rücken von Henrys Hemd und zerfetzte es an mehreren Stellen.

Einen Moment später gelang Moose Sadler ein Volltreffer auf Bens Hinterkopf, und Ben landete auf allen vieren und biß sich dabei auf die Zunge. Halb betäubt schaute er sich um. Moose kam auf ihn zugerannt, aber bevor er Ben erreichen konnte, begann Bill ihn von hinten mit Steinen zu bombardieren. Brüllend wirbelte Moose auf dem Absatz herum.

»Du hast mich von hinten angegriffen, du Feigling!« schrie Moose. »Du verdammtes Dreckschwein!«

Er wollte sich auf Bill stürzen, aber Richie eilte Bill zu Hilfe und schleuderte seinerseits Steine auf den unglückseligen Moose. Einer davon riß die Haut über Moose' linker Braue auf, und er heulte vor Schmerz.

»Nennst du fünf gegen einen etwa einen fairen Kampf, du Arschloch?« schrie Richie und warf weitere Steine. Moose war gezwungen zurückzuweichen.

Eddie und Stan gesellten sich zu Bill und Richie. Auch Bev war mit von der Partie; ihr Arm blutete, aber ihre Augen funkelten wild. Steine flogen.

Belch Huggins schrie auf, als einer davon seinen Musikantenknochen traf; vor Schmerz tänzelte er auf der Stelle herum. Henry kam taumelnd auf die Beine; sein Hemd hing ihm in Fetzen herunter, aber sein Rücken war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben; noch bevor er sich umdrehen konnte, traf Ben ihn mit einem Stein am Hinterkopf, und er landete wieder auf allen vieren.

Es war Victor Criss, der von den großen Jungen an diesem Tag am erfolgreichsten kämpfte, teilweise, weil er ein ausgezeichneter Ballwerfer war, hauptsächlich aber (paradoxerweise!), weil er emotional am unbeteiligsten war. Ihm mißfiel diese Sache immer mehr; bei Steinschlachten konnte jemand ernsthaft verletzt werden - man konnte eine gefährliche Kopfverletzung davontragen, mehrere Zähne oder sogar ein Auge verlieren. Aber nachdem er nun einmal darin verwickelt worden war, gab er auch sein Bestes.

Er hatte sich besonnen die Zeit genommen, eine Handvoll ziemlich großer Steine zu sammeln. Einer davon traf Eddie arn Kinn, als der Klub der Verlierer sich gerade wieder zum Angriff formierte. Eddie schrie auf und fiel hin. Ben wollte ihm helfen, aber Eddie war schon auf den Beinen; sein blutendes Kinn hob sich leuchtend von der blassen Haut ab, doch seine zu Schlitzen verengten Augen funkelten entschlossen.

Victor nahm Richie aufs Korn und traf ihn am Brustkorb. Richie warf nach Victor, aber Victor wich mit Leichtigkeit aus und richtete das nächste Wurfgeschoß von der Seite her auf Bill Denbrough. Bill warf seinen Kopf zurück, aber nicht schnell genug - der Stein riß ihm die Wange auf.

Bill konzentrierte sich jetzt auf Victor. Ihre Blicke trafen sich, und Victor sah in den Augen des stotternden Jungen etwas, das ihm plötzlich wahnsinnige Angst einjagte. Absurderweise lagen ihm einen Augenblick lang die Worte Ich nehme alles zurück! auf den Lippen... aber natürlich sagte man so was nicht zu einem kleineren Jungen. Nicht, wenn man seine Freunde behalten wollte.

Bill begann auf Victor zuzugehen, und Victor begann auf Bill zuzugehen. Wie auf irgendein telepathisches Signal hin fingen sie genau gleichzeitig an, einander mit Steinen zu bewerfen. Um sie herum verebbte die Schlacht, weil alle - sogar Henry - fasziniert diesen Zweikampf beobachteten.

Victor versuchte den Geschossen auszuweichen; Bill hingegen machte sich diese Mühe nicht. Victors Steine trafen seinen Brustkorb, die Schulter und den Magen. Einer flog dicht an seinem Ohr vorbei. Scheinbar völlig unbeeindruckt davon schleuderte Bill mit mörderischer Kraft einen Stein nach dem anderen. Der dritte prallte mit voller Wucht gegen Victors Knie, und Victor konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Er hatte keine Munition mehr. Bill hatte noch einen Stein übrig. Er war glatt und weiß, mit Quarz durchsetzt, und hatte etwa die Größe eines Enteneis. Victor fand, daß er sehr hart aussah.

Bill war jetzt nur noch knapp fünf Fuß von ihm entfernt.

»V-V-Verschwinde s-sofort von hier«, sagte Bill, »s-s-sonst sch-sch-spalte ich dir den Sch-Sch-Schädel. Ich m-m-meine es ernst.«

Victor las in seinen Augen, daß er es wirklich ernst meinte. Er drehte sich wortlos um und verschwand.

Belch und Moose sahen sehr verunsichert drein. Aus Sadlers Mundwinkel sickerte Blut, und über Belchs Wange floß Blut aus einer Kopfwunde. Henrys Lippen bewegten sich, aber es war kein Laut zu hören.

»H-H-Hau ab!« wandte Bill sich an Henry.

»Was ist, wenn ich das nicht tu?« fragte Henry. Er bemühte sich um einen groben Ton, aber seine Augen verrieten Bill etwas anderes: Henry hatte jetzt Angst, und er würde abziehen. Eigentlich hätte Bill ein Gefühl des Triumphs verspüren müssen, aber er fühlte sich nur sehr müde. Traditionsgemäß hätte es sich jetzt gehört, Henry einen ehrenhaften Rückzug zu gestatten, doch dazu war Bill nicht bereit, weil er wußte, daß Henry sie dann irgendwann wieder angreifen würde... und sie hatten genügend andere Probleme.

»D-D-Dann w-werden wir dich zur Sch-Sch-Schnecke machen. Ich d-d-denke, daß wir s-sechs dich ins K-K-K-Krankenhaus bringen können.«

»Sieben«, sagte Mike Hanion und schloß sich ihnen an. Er hielt in jeder Hand einen baseballgroßen Stein. »Ich würde mich mit Freuden bei dir revanchieren.«

»Du verfluchter Nigger!« schrie Henry. Seine Stimme zitterte jetzt, und er war den Tränen bedenklich nahe. Diese Stimme raubte Belch und Moose den letzten Kampfgeist; sie wichen zurück und ließen ihre restliche Munition fallen.

»Lieber bin ich schwarz als so wie du!« rief Mike. »Ich wäre sogar noch lieber gepunktet als so wie du!«

»Hau ab!« rief Beverly.

»Halt die Klappe, Flittchen!« schrie Henry. »Du...« Sofort flogen vier Steine durch die Luft; sie trafen Henry an vier verschiedenen Stellen. Er schrie auf und fiel auf den steinigen, unkrautüberwucherten Boden. Er blickte von den grimmigen Gesichtern seiner Gegner zu Belch und Moose. Aber von dort war keine Hilfe zu erwarten. Belch wich seinem Blick aus, und Moose wandte sich verlegen ab.

Henry stand auf. Er schniefte und schluchzte durch seine gebrochene Nase. »Ich bring' euch alle um!« schrie er noch, bevor er auf den Pfad zurannte. Einen Augenblick später war er verschwunden.

»L-L-Los!« sagte Bill zu Belch. »H-Haut ab! Und k-k-kommt nie mehr her. Die B-B-B-Barrens gehören uns!«

»Ihr werdet noch bereuen, euch mit Henry angelegt zu haben«, rief Belch. »Komm, Moose.«

Sie entfernten sich wie geprügelte Hunde, ohne sich noch einmal umzusehen.

Die sieben Kinder standen etwa im Halbkreis; alle bluteten irgendwo. Die apokalyptische Steinschlacht hatte knapp vier Minuten gedauert, aber Bill fühlte sich so erschöpft, als hätte er den ganzen Zweiten Weltkrieg mitgemacht, im pausenlosen Einsatz.

Das Schweigen wurde durch Eddies Keuchen unterbrochen. Ben wollte zu ihm gehen, spürte, daß ihm die drei Twinkies und die vier Ding-Dongs, die er auf dem Weg in die Barrens gegessen hatte, hochkamen und rannte an Eddie vorbei in die Büsche, wo er sich so leise wie möglich übergab.

Nun eilten Richie und Bev Eddie zu Hilfe. Bev legte dem schmächtigen

Jungen einen Arm um die Taille, während Richie Eddies Aspirator aus dessen Hosentasche zog, ihm in den Mund schob und auf die Flasche drückte.

Eddie holte tief Luft und brachte schließlich hervor: »Danke, Richie.«

Ben kam mit rotem Kopf aus dem Gebüsch und wischte sich mit einer Hand den Mund ab. Beverly lief zu ihm hin und nahm ihn bei den Händen.

»Danke, daß du dich so für mich eingesetzt hast«, sagte sie und blickte ihm ganz ruhig in die Augen.

Ben bewegte lautlos die Lippen, bevor er schließlich stammelte: »W-W-War d-doch selbstverständlich.«

»Stotter-Bill, wie hast du dich verändert!« rief Richie, und alle mußten lachen, selbst Mike.

Als das Lachen verebbte, wandten sich nach und nach alle Blicke Mike zu, dessen Haut soviel dunkler war als die ihre. Für Mike war diese Neuigkeit natürlich nichts Neues - sie war ihm seit frühester Kindheit vertraut; gelassen hielt er ihren Blicken stand.

Bill schaute von Mike zu Richie, und Richie erwiderte seinen Blick. Bill glaubte fast, ein Klicken zu hören - das letzte Teilchen war soeben in eine Maschine unbekannter Funktion eingefügt worden. Er bekam eine Gänsehaut, und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Jetzt sind wir komplett, dachte er, und dieser Gedanke war so kraftvoll, so richtig, daß er einen Moment lang glaubte, ihm laut Ausdruck verliehen zu haben. Aber das wäre natürlich völlig überflüssig gewesen; er konnte diesen Gedanken in Richies Augen lesen, in Bens, in Eddies, in Stans, in Beverlys.

Jetzt sind wir komplett, dachte er wieder. O Gott, steh uns bei. Jetzt geht es erst richtig los. Bitte, Gott, hilf uns.

»Wie heißt du?« fragte Beverly.

»Mike Hanion.«

»Möchtest du ein paar Schwärmer abfeuern?« fragte Stan, und Mikes Grinsen drückte freudige Zustimmung aus.

Vierzehntes Kapitel Der Vogel und das Album 1

Alle haben etwas zu trinken mitgebracht.

Bill den Bourbon, Beverly Wodka und Orangensaft, Richie Bier, Ben Hanscom eine Flasche Wild Turkey. Mike hat bereits Bier in den kleinen Kühlschrank im Personalaufenthaltsraum getan.

Eddie Kaspbrak kommt als letzter und hält eine kleine braune Tüte in der Hand.

»Was hast du denn da drin, Eddie?« fragt Richie. »Za-Rex oder ein anderes Medikament?«

Eddie lächelt nervös und bringt eine Flasche Gin zum Vorschein... und eine Flasche Pflaumensaft.

Alle sitzen völlig perplex da, bis schließlich Richie das Schweigen bricht: »Jemand muß die Männer in weißen Kitteln anrufen. Eddie Kaspbrak hat nun endgültig den Verstand verloren.«

»Gin und Pflaumensaft sind sehr gesund«, verteidigt sich Eddie... und dann bricht ein allgemeines fröhliches Gelächter aus, das in der stillen Bücherei laut widerhallt. »Nur zu«, ruf Ben noch lachend und wischt sich die Tränen aus den Augen. »Nur zu, Eddie. Ich wette, daß die Mixtur auch gut für die Verdauung ist.«

Lächelnd füllt Eddie einen Pappbecher zu drei Vierteln mit Pflaumensaft und fügt dann sorgfältig zwei Verschlußkappen voll Gin hinzu.

»O Eddie, ich liebe dich!« sagt Beverly, und Eddie sieht verwirrt hoch, lächelt aber erfreut. Bev blickt in die Runde. »Ich liebe euch alle«, sagt sie.

»W-Wir lieben dich auch, B-Bev«, sagt Bill.

»Ja«, bestätigt Ben. »Wir lieben dich.« Er macht große Augen und lacht. »Ich glaube, wir alle lieben einander immer noch... wißt ihr, wie selten so etwas ist?«

Einen Augenblick lang herrscht Schweigen, und Mike registriert ohne Erstaunen, daß Richie eine Brille trägt.

»Meine Augen begannen von den Kontaktlinsen zu brennen; ich mußte sie rausnehmen«, erklärt Richie ziemlich kurz angebunden auf Mikes Frage hin. »Vielleicht sollten wir allmählich zur Sache kommen?«

Alle Blicke wenden sich nun Mike zu - wie damals in der Kiesgrube -, und er denkt: Sie sehen Bill an, wenn sie einen Anführer brauchen, und mich sehen sie an, wenn sie einen Steuermann brauchen. Ich frage mich, wie es ihnen gefallen würde, wenn ich ihnen erklärte, daß in Filmen der Held niemals eine Glatze hat, und daß ich meinen Kompaß verloren habe, während ich diese verdammten Tagebuchaufzeichnungen machte und mich bemühte, in mörderischen Feuern und riesigen Vögeln, in der Explosion einer Eisenhütte mit gut verschlossenen Kesseln und im Massenmord in einer Bar in Hell's Half Acre - einem Massenmord, bei dem die anderen Gäste anscheinend seelenruhig weitertranken - irgendein gemeinsames Muster zu erkennen, mir diese Katastrophe irgendwie zu erklären. Und wenn ich ihnen das alles sagen würde - würde ich ihnen damit überhaupt etwas Neues mitteilen?

Zur Sache kommen - was sich hinter dieser Redensart doch alles verbergen kann!

Soll ich ihnen sagen, daß die Kinderleichen - die jetzigen wie die von damals -

keine Spuren sexuellen Mißbrauchs aufwiesen, daß sie auch nicht eigentlich verstümmelt, sondern vielmehr teilweise aufgegessen waren? Soll ich ihnen sagen, dass ich in meinem Haus sieben Grubenhelme liegen habe, jene mit den starken elektrschen Lampen - daß einer davon für einen Mann namens Stan Uris vorgesehen war, der es nicht geschafft hat? Oder genügt es vielleicht, ihnen einfach zu sagen, sie sollten ins Hotel gehen und sich ordentlich ausschlafen, weil morgen früh oder morgen nacht das endgültige Ende kommt - entweder für Es oder für uns?

Vielleicht mußte nichts von alldem gesagt werden, und der Grund, weshalb es überflüssig sein mochte, war schon genannt worden: Sie Hebten einander immer noch. Sehr vieles hatte sich in den letzten 27 Jahren verändert, aber dieses eine wie durch ein Wunder nicht. Und darin bestand ihre einzige Hoffnung.

Das einzige, was wirklich noch zu tun blieb, war, fehlende Erinnerungen wachzurufen, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, damit der Streifen der Erfahrungen sich zu einem Rad biegen ließ. Ja, denkt Mike, das ist es. Heute abend besteht unsere Aufgabe darin, das Rad herzustellen; morgen werden wir dann sehen, ob es sich noch dreht... so wie es sich gedreht hat, als wir - als sie - die großen Jungen aus der Kiesgrube und aus den Barrens vertrieben.

»Ist dir inzwischen alles übrige wieder eingefallen?« fragt Mike Richte.

Richte trinkt einen Schluck Bier und schüttelt den Kopf. »Ich erinnere mich daran, daß du uns von dem Vogel erzählt hast... und ich erinnere mich an das Rauchloch.« Richie grinst übers ganze Gesicht. »Das Rauchloch ist mir eingefallen, als ich vorhin mit Bevvie und Ben auf dem Wege hierher war. War das eine gottverdammte Horrorshow...«

»Piep-piep, Richie!« unterbricht Beverly ihn lachend.

»Na, ihr wißt schon«, sagt er, immer noch lächelnd, und schiebt seine Brille hoch mit einer Geste, die gespenstisch an den alten Richie erinnert. Er blinzelt Mike zu. »Du und ich - stimmt's, Mikey?«

Mike muß wider Willen lachen. Er nickt.

»Miß Scarlett! Miß Scarlett!« quiekt Richie mit seiner Stimme-eines-Negermädchens. »'s wird ’n bißchen warm in dem Rauchloch, Miß Scarlett!«

Lachend sagt Bill: »Das war ein weiterer architektonischer Geniestreich von Ben Hanscom.«

»Wir waren gerade dabei, das Klubhaus zu graben, als du das Album deines Vaters in die Barrens mitgebracht hast, Mike«, stellt Beverly fest.

»O Gott!« Bill setzt sich mit einem Ruck aufrecht hin. »Und die Bilder...«

Richie nickt grimmig. »Der gleiche Trick wie in Georgies Zimmer. Nur daß es damals alle sahen.«

»Mir ist eingefallen, was aus dem letzten Silberdollar geworden ist«, sagt Ben.

Alle Blicke wenden sich ihm zu.

»Die anderen drei habe ich einem Freund geschenkt, bevor ich herkam«, erklärt Ben ruhig. »Für seine Kinder. Ich erinnerte mich daran, daß es einmal vier gewesen waren, aber mir fiel nicht ein, was aus ihm geworden ist. Jetzt weiß ich es.« Er sieht Bill an. »Wir haben Silberkugeln für die Schleuder daraus gemacht, stimmt's? Du, ich und Richie. Zuerst wollten wir Pistolenkugeln machen...«

»Du warst ziemlich sicher, daß du es schaffen würdest«, wirft Richie ein. »Aber dann...«

»Dann haben wir doch kalte Füße bekommen.«

Bill nickt langsam. Das Teilchen fügt sich nahtlos ins Puzzle seiner

Erinnerungen

ein, und er glaubt wieder, jenes leise Klicken zu hören. Wir kommen der Sache allmählich immer näher, denkt er.

»Und dann sind wir wieder in die Neibolt Street gegangen«, sagt Richte. »Diesmal alle zusammen.«

»Du hast mir das Leben gerettet, Beverly«, sagt Ben plötzlich, und Bev schüttelt verwirrt den Kopf. »Doch, das hast du«, beharrt Ben, und nun schüttelt Bev nicht mehr den Kopf. Vermutlich hat sie das wirklich getan, obwohl sie sich nicht daran erinnert.

»Entschuldigt mich bitte einen Augenblick«, sagt Mike. »Ich hab' mein Bier hinten ...«

»Du kannst doch eins von mir haben«, sagt Richie.

»Hanion trinkt kein Bier von weißem Mann«, erklärt Mike. »Und deins schon gar nicht, du verdammter Rassist.«

»Piep-piep, Mikey!« ruft Richie feierlich, und unter allgemeinem herzhaftem Gelächter geht Mike sein Bier holen.

Er schaltet das Licht im Aufenthaltsraum ein, einem schäbigen kleinen Zimmer mit abgewetzten Stühlen, einer Kaffeemaschine, die dringend entkalkt werden müßte, und einem schwarzen Brett voll uralter Notizen, Gehalts- und Arbeitszeitinformationen und einigen vergilbten Cartoons aus dem >New Yorker<. Er öffnet den kleinen Kühlschrank und spürt, wie eiskaltes Entsetzen ihn bis auf die Knochen erstarren läßt, ähnlich wie jene grimmige Februarkälte, bei der man den Eindruck hat, daß es nie April werden wird. Dutzende blauer und orangefarbener Luftballons fliegen heraus, streifen an seinem Gesicht vorbei und steigen zur Decke empor. Ganz wie bei einer Silvesterparty, denkt er trotz seiner Angst. Jetzt fehlt nur noch, daß Guy Lombardo und seine Royal Canadians >Auld Land Syne< blasen. Er versucht zu schreien, bringt aber keinen Laut hervor, als er sieht, was hinter den Luftballons verborgen ist, was Es in den Kühlschrank, neben sein Bier, gelegt hat.

Er macht einen Schritt zurück und schlägt die Hände vors Gesicht, um die Vision loszuwerden. Er stolpert über einen Stuhl, fällt beinahe hin und läßt die Hände wieder sinken. Das grauenvolle Ding ist immer noch da. Neben Mikes Bier liegt immer noch Stans Kopf- der Kopf eines zehnjährigen Jungen. Der Mund ist zu einem lautlosen Schrei geöffnet, aber Mike kann weder Zähne noch Zunge sehen, weil der Mund mit Federn vollgestopft ist. Die Federn sind hellbraun und unsagbar groß. Er weiß nur allzugut, von welchem Vogel diese Federn stammen. O ja. Er hat den Vogel im Mai 1958 gesehen, und sie alle haben ihn Anfang August 1958 gesehen, und vier Jahre später hat er dann, als er seinen sterbenden Vater im Krankenhaus besuchte, erfahren, daß Will Hanion einmal, während des Feuers im >Black Spot<, ebenfalls so etwas Ähnliches gesehen hatte. Vom zerfetzten Halsansatz des Kopfes ist Blut auf das unterste Kühlschrankfach getropft, wo es jetzt eine geronnene Pfütze bildet. Es funkelt dunkelrot wie Rubine im grellen Licht der Kühlschrankglühbirne.

»Uh... uh... uh.. .«-das ist der einzige Laut, den Mike hervorbringt; und dann öffnet der Kopf seine Augen, und es sind die silberhellen Augen von Pennywise, dem Clown. Sie blicken genau in Mikes Richtung, und die Lippen beginnen sich um den mit Federn vollgestopften Mund herum zu bewegen, so als versuche der Kopf zu sprechen, als wolle er wie das Orakel in einem griechischen Stück eine Prophezeiung verkünden.

Ich habe gedacht, ich sollte mich euch anschließen, Mike, denn ohne mich könnt ihr nicht gewinnen. Ihr könnt ohne mich nicht gewinnen, und das wißt ihr auch genau, nicht wahr? Alles, was ihr sechs ohne mich machen könnt, ist, einige alte Geschichten wieder aufzuwärmen und euch dann umbringen zu lassen. Stimmt's, Mike? Habe ich recht, alter Mikey?

Du bist nicht wirklich! schreit Mike, aber kein Laut kommt aus seiner Kehle; er gleicht einem Fernseher mit abgestelltem Ton.

So unglaublich und grotesk es ist, aber der Kopf blinzelt ihm zu.

O doch, ich bin wirklich, Mikey. Und du weißt auch genau, weshalb ihr nicht gewinnen könnt. Weil es den Weg zurück nicht gibt, weil ihr spätestens auf halbem Wege steckenbleiben werdet. Willst du eine Warnung hören? Ich gebe sie dir. Was ihr sechs vorhabt, ist etwa das gleiche, wie wenn jemand mit einer Lockheed L-1011 ohne Fahrwerk startet. Es ist sinnlos, vom Boden abzuheben, wenn man nicht wieder landen kann, Mikey. Ebenso sinnlos ist es zu landen, wenn man nicht wieder abheben kann. Ihr werdet nie auf den letzten Witz kommen. Mich werdet ihr nie zum Lachen bringen. Auf den letzten Witz werdet ihr nie kommen. Ihr alle habt vergessen, wie ihr eure Schreie auf den Kopf stellen könnt. Piep-piep, Mikey, was sagst du dazu? Erinnere dich an den Vogel. Nichts weiter als ein Sperling, aber von der Größe einer Scheune, von der Größe jener blödsinnigen japanischen Filmmonster, die dir als Kind Angst eingejagt haben. Die Zeiten, als du wußtest, wie du jenen Vogel loswerden konntest, sind für immer vorbei. Glaub es mir, Mikey. Wenn du deinen Kopf zu gebrauchen verstehst, wirst du schleunigst von hier verschwinden. Wir brauchen in Derry keine Leute wie dich. Keine Nigger. Deine Lippen sind zu wulstig, und du stinkst penetrant wie ein Stinktier, selbst wenn du viermal am Tag duschst. Dein Schwanz ist zu lang, und dein ganzer Lebensrhythmus ist zu primitiv. Benütz also deinen Kopf, Mikey. Und den hier kannst du auch benützen!

Der Kopf rollt auf SEIN Gesicht (die Feder in SEINEM Mund erzeugen ein fürchterliches knirschendes Geräusch) und fällt aus dem Kühlschrank heraus. Er prallt auf dem Boden auf und kommt auf Mike zu wie eine grausige Kegelkugel; einmal ist das blutdurchtränkte Haar oben, dann wieder das grinsende Gesicht; Es rollt auf Mike zu und hinterläßt eine klebrige Blutspur und abgebrochene Federstückchen. SEINE Lippen bewegen sich um die Federn herum.

Piep-piep, Mikey! schreit Es, während Mike entsetzt zurückweicht und abwehrend die Hände ausstreckt. Piep-piep, piep-piep, piep-piep.

Dann gibt es plötzlich ein lautes Flopp, so als hätte man einen Plastikkorken aus einer billigen Flasche Sekt gezogen. Der Kopf verschwindet (real, denkt Mike und hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen, das war nichts Übernatürliches, das war das Geräusch von Luft, die in ein plötzlich entstandenes Vakuum zurückströmt... real, o mein Gott, real). Ein paar Blutspritzer fliegen hoch und fallen dann wieder zu Boden. Trotzdem wird es nicht nötig sein, das Zimmer zu säubern; Carol wird morgen nichts bemerken, wenn sie hereinkommt, um sich ihre erste Tasse Kaffee zu kochen, selbst wenn der ganz Raum voller Luftballons ist. Wie praktisch! Er kichert schrill.

Er blickt hoch und sieht, daß die Ballons noch da sind. Auf den blauen stand: Zu NIGGERN IN DERRY KOMMT DER VOGEL Auf den orangefarbenen steht: DIE VERLIERER VERLIEREN IMMER NOCH, ABER STANLEY URIS HAT ES BISHER ALS EINZI

GER eingesehen. Spätestens auf halbem Wege werdet ihr steckenbleiben, hat der sprechende Kopf ihm versichert. Stimmt das? Undplötzlich fällt ihm jener

Tag ein, als er zum erstenmal nach der apokalyptischen Steinschlacht in die Barrens gegangen war. Am 6. Juli war das gewesen, zwei Tage, nachdem er in der Parade zum 4. Juli mitmarschiert war... zwei Tage, nachdem er den Clown Pennywise zum erstenmal in Person gesehen hatte. An jenem Tag in den Barrens, nachdem er den Geschichten der anderen gelauscht und dann zögernd seine eigene erzählt hatte, war er nach Hause gegangen und hatte seinen Vater gefragt, ob er sich dessen Fotoalbum anschauen dürfe.

Warum war er an jenem 6. Juli eigentlich in die Barrens gegangen? Hatte er gewußt, daß er sie dort vorfinden würde? Offenbar hatte er das gewußt, und zwar nicht nur, daß sie dort sein würden, sondern auch, wo sie sein würden. Er erinnert sich daran, daß sie sich über ein geplantes Klubhaus unterhalten hatten, daß er aber den Eindruck gehabt hatte, sie würden nur deshalb darüber reden, weil es da noch etwas anderes gab, von dem sie nicht wußten, wie sie darüber reden sollten.

Mike starrt auf die Ballons, aber jetzt nimmt er sie kaum wahr; er versucht, sich jede Einzelheit jenes sehr heißen Tages in Erinnerung zu rufen. Plötzlich scheint es ihm sehr wichtig, sich auch an die geringste Kleinigkeit zu erinnern.

Denn damals hatte eigentlich alles erst richtig begonnen. Zwar hatten die anderen schon vorher davon gesprochen, Es zu töten, doch sie hatten keinen festen Plan gehabt. Aber mit Mikes Ankunft hatte sich der Kreis geschlossen, das Rad war ins Rollen gekommen. Noch am selben Tag waren Bill, Richie und Ben in die Bücherei gegangen und hatten mit gründlichen Nachforschungen über die Idee begonnen, die Bill einen Tag, eine Woche oder einen Monat zuvor gekommen war. Alles war damals ins...

»Mike!« ruft Richie aus dem Konferenzraum, in dem alle sitzen. »Bist du da drin gestorben?«

Fast, denkt Mike, während er die Ballons, das Blut und die Federn im Kühlschrank betrachtet.

Er ruft zurück: »Ich glaube, ihr solltet lieber alle mal herkommen.«

Er hört, wie Stühle zurückgeschoben werden, vernimmt Stimmengemurmel; er hört Richie sagen: »O Gott, was ist denn nun schon wieder los?«; und mit dem Ohr der Erinnerung hört er Richie etwas anderes sagen, und plötzlich fällt ihm ein, wonach er die ganze Zeit in seinem Gedächtnis gekramt hat, und er begreift auch, warum es so schwer faßbar gewesen ist. Die Reaktion, als er an jenem Tag auf die Lichtung im dunkelsten, entlegensten und wildnisartigsten Teil der Barrens getreten war... sie war gleich Null gewesen. Keinerlei Überraschung, keine Fragen, wie er hergefunden hatte, keine Aufregung. Ben hatte ein Twinkie gegessen, erinnert er sich, Beverly und Richie hatten Zigaretten geraucht, Bill hatte auf dem Rücken gelegen, die Hände hinter dem Kopf gefaltet und in den Himmel hinauf geblickt, und Eddie und Stan hatten skeptisch die in den Boden gerammten Stöcke betrachtet, die mit Schnüren verbunden waren und ein Quadrat von etwa fünf Fuß Seitenlänge ergaben,.

Keine Überraschung, keine Fragen, keine Aufregung. Er war aufgetaucht und sofort einfach akzeptiert worden. Es war so, als hätten sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, auf ihn gewartet. Und mit dem Ohr der Erinnerung hört er Richies schrille Stimme-eines-Negermädchens kreischen: »Herrin, Miß Scarlett! Herrin, Miß Scarlett! Da kommt jener schwarze Junge wieder! O mein Gott, ich weiß gar nicht, was aus den Barrens geworden ist! Schau dir nur mal diesen Krauskopf an, Big Bill!« Bill drehte sich nicht einmal um; er blickte weiter verträumt zu den dicken Sommerwolken empor, die über den blauen Himmel zogen, und dachte dabei intensiv über eine äußerst wichtige Frage nach. Richie ließ sich von diesem Mangel an Aufmerksamkeit jedoch nicht stören und plärrte weiter. »Wenn ich diesen Krauskopf nur sehe, hab' ich schon das Gefühl, noch 'nen Pfefferminztee zu brauchen! Am besten auf der Veranda, wo's ein bißchen kühler ist...«

»Piep-piep, Richie«, sagte Ben mit vollem Mund, und Bev lachte.

»Hallo«, sagte Mike unsicher. Er hatte heftiges Herzklopfen, aber er war fest entschlossen, die Sache durchzustehen. Er war ihnen sehr zu Dank verpflichtet, und sein Vater hatte ihm beigebracht, daß man sich in solchen Fällen höflich zu bedanken hatte.

Stan drehte sich kurz um, rief »Hallo, Mike« und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Quadrat in der Mitte der Lichtung zu. »Ben, bist du sicher, daß das funktionieren wird?«

»O ja«, sagte Ben. »Hallo, Mike.«

Mike holte tief Luft und erklärte: »Ich wollte mich bei euch allen noch einmal für eure Hilfe neulich bedanken. Diese Kerle wollten Kleinholz aus mir machen. Ein paar von euch haben, glaube ich, bei dem Kampf ganz schön was abbekommen. Das tut mir sehr leid.«

Bill winkte ab. »M-M-Mach dir darüber k-keine G-G-Gedanken. Sie h-hatten es schon das g-g-ganze Jahr über auf uns abgesehen.« Er setzte sich auf und betrachtete Mike mit plötzlichem Interesse. »D-D-Darf ich dich etwas f-f-f-fragen?«

»Na klar«, sagte Mike und setzte sich hin, sorgfältig darauf bedacht, keinem der weißen Kinder zu nahe zu kommen. Er glaubte, sie zu mögen, aber er war sich noch nicht sicher, welche Gefühle sie für ihn hegten, ungeachtet der Tatsache, daß sie ihm neulich zu Hilfe gekommen waren.

Bill öffnete den Mund und begann schrecklich zu stottern. Er verstummte und räusperte sich, und Mike dachte: Gleich wird er mich fragen, wie es ist, schwarz zu sein, wette ich. Es war ein deprimierender Gedanke. Diese Frage war ihm schon so oft gestellt worden, und dabei glaubten die Leute immer, sie wären die ersten, die das wissen wollten.

Aber statt dessen sagte Bill, diesmal kaum stotternd: »G-Glaubst du, daß L-Larsen, als ihm vor zwei Jahren bei der B-Baseball-Weltmeisterschaft jener S-S-Superwurf gelang, ganz einfach nur G-G-Glück hatte?«

»Ja«, antwortete Mike. »Ich glaube, jeder Superwurf beruht mehr auf Glück als auf Geschicklichkeit.«

»Ich auch«, sagte Bill. Mike wartete auf weitere Fragen, aber Bill schien zufriedengestellt zu sein. Er legte sich wieder hin, faltete die Hände unter dem Kopf und betrachtete erneut die Wolken am Himmel.

»Was habt ihr denn hier vor?« fragte Mike und betrachtete das mit Stök-ken abgesteckte und mit Schnüren verbundene Quadrat.

»Oh, das ist eine von Haystacks glorreichen Ideen«, erklärte Richie.

»Letzten Monat hat er die Barrens überschwemmt. Diesen Monat hat er unter das Motto gestellt: >Schachtet euch euer eigenes Klubhaus aus!< Nächsten Monat...«

»Laß Ben in Ruhe«, sagte Bill. »Das Klubhaus wird bestimmt großartig.«

»Um Himmels willen, Bill, ich hab' doch nur Spaß gemacht.«

»M-M-Manchmal r-redest du zuviel dummes Zeug daher, R-Richie.«

Richie nahm den Vorwurf widerspruchslos hin.

»Ich kapier immer noch nichts«, sagte Mike.

»Nun, die Sache ist eigentlich ganz einfach«, schaltete Ben sich ein. »Sie wollten ein Baumhaus haben, und natürlich könnten wir eins bauen, aber Leute haben die dumme Angewohnheit, sich die Knochen zu brechen, wenn sie aus Baumhäusern stürzen, und deshalb werden wir das Quadrat, das ich dort drüben markiert habe, etwa fünf Fuß tief ausschachten. Viel tiefer können wir nicht graben, weil wir sonst vermutlich auf Grundwasser stoßen, das hier unten ziemlich nahe an der Oberfläche ist. Dann werden wir die Seiten abstützen, damit sie nicht einstürzen können.«

An dieser Stelle sah er Eddie bedeutungsvoll an, aber Eddie machte immer noch einen besorgten Eindruck.

»Und dann?« fragte Mike interessiert.

»Nun, dann werden wir das Ding abdecken.«

»Häh?«

»Wir werden Bretter über das Loch legen«, erklärte Ben geduldig. »Wir können eine Falltür zum Rein- und Raussteigen einbauen und sogar Fenster, wenn wir wollen...«

»Wir werden dazu einige Sch-Sch-Scharniere brauchen«, sagte Bill, ohne seinen Blick von den Wolken zu wenden.

»Die bekommen wir in Reynolds Eisenwarenhandlung«, sagte Ben.

»Sch-Sch-Spart also euer T-Taschengeld«, sagte Bill.

»Ich habe fünf Dollar«, sagte Beverly. »Die hab' ich mir von meinem Babysitter-Lohn zusammengespart.«

Richie kroch sofort auf allen vieren auf sie zu. »Ich liebe dich, Bevvie«, rief er und sah sie mit flehenden Hundeaugen an. »Willst du mich heiraten? Wir werden in einem Bungalow aus Fichtenholz wohnen... Fünf Dollar sind mehr als genug, Süße... nur wir drei, du und ich und das Baby...«

Beverly errötete, lachte und zog sich etwas von ihm zurück, während Ben die Szene mit einer Mischung von Amüsement und leichter Eifersucht beobachtete.

»W-w-wir t-teilen uns die K-K-K-Kosten«, sagte Bill. »D-Dazu haben wir ja einen K-K-Klub gegründet.«

»Wenn wir die Grube mit Brettern abgedeckt haben«, fuhr Ben fort, »werden wir Erde drüberschaufeln, glätten und vielleicht noch mit Tannennadeln bestreuen. Dann können wir dort unten sitzen, und Leute wie Henry Bowers und Co. werden nicht einmal wissen, daß wir dort sind, selbst wenn sie direkt über uns hinweglaufen.«

»Und das alles hast du dir ausgedacht?« rief Mike. »Das ist ja fantastisch!«

Ben lächelte und errötete.

Bill setzte sich plötzlich auf und sah Mike an. »W-W-Willst du uns h-hel-

fen?« »Na klar«, antwortete er. »Das würde mir viel Spaß machen.«

Die anderen tauschten Blicke.

Wir sind sieben, dachte Mike, und ohne jeden ersichtlichen Grund überlief ihn ein Schauder.

»Wann werdet ihr anfangen?«

»Sch-Sch-Schon s-sehr b-b-bald«, sagte Bill, und Mike wußte plötzlich -er wußte es -, daß Bill nicht Bens unterirdisches Klubhaus meinte. Auch Ben wußte es. Ebenso Richie, Beverly, Eddie und Stan. »W-Wir werden sehr b-b-bald anf-f-fangen.«

Schweigen trat ein, und Mike wurde sich plötzlich zweier Dinge bewußt: sie wollten etwas sagen, ihm etwas erzählen... und er war sich nicht ganz sicher, ob er es hören wollte. Ben stocherte mit einem Stecken in der Erde herum, und seine Haare verbargen sein Gesicht. Richie kaute an seinen ohnehin schon abgebissenen Fingernägeln. Nur Bill sah Mike offen ins Gesicht.

»Stimmt was nicht?« fragte Mike unbehaglich.

Sehr langsam sagte Bill: »W-W-Wir sind ein K-Klub. Du k-k-kannst M-Mitglied w-w-werden, wenn du w-willst, aber du d-d-d-darfst unsere Geh-h-h-heimnisse n-niemandem p-p-preisgeben.«

»Du meinst, solche Dinge wie das Klubhaus?« fragte Mike und fühlte sich noch unbehaglicher als zuvor. »Na klar...«

»Wir haben noch ein anderes Geheimnis«, sagte Richie, ohne Mike anzuschauen. »Und Big Bill sagt, wir hätten in diesem Sommer etwas Wichtigeres zu tun als unterirdische Klubhäuser zu bauen.«

»Und er hat völlig recht«, meinte Ben.

Plötzlich ertönte ein pfeifendes Keuchen, und Mike zuckte zusammen. Aber es war nur Eddie, der nach Luft schnappte. Er sah Mike entschuldigend an, zuckte die Achseln und nickte dann.

»Also los«, sagte Mike schließlich. »Spannt mich nicht so auf die Folter.«

Bill warf einen Blick in die Runde. »Hat jemand w-w-was dagegen, daß er M-M-Mitglied in unserem K-Klub wird?«

Niemand hob die Hand oder sagte etwas.

»W-W-Wer w-will es ihm s-s-sagen?« fragte Bill.

Wieder trat ein längeres Schweigen ein.

Schließlich seufzte Beverly und sah Mike ernst an.

»Die Kinder, die ermordet worden sind«, sagte sie. »Wir wissen, wer es getan hat. Aber Es ist kein menschliches Wesen.«

3

Nacheinander berichteten sie ihm alles: vom Clown auf dem Eis, vom Aussätzigen unter der Veranda, von dem Blut und den Stimmen aus dem Abfluß, von den Toten Jungen, die die Treppe im Wasserturm herabgestiegen waren. Richie erzählte, was passiert war, als er und Bill in die Neibolt Street gegangen waren, und zuletzt berichtete Bill von dem Schulfoto, auf dem Georgie ihm zugezwinkert hatte, und von jenem anderen Foto, in das er seine Hand gesteckt hatte. Schließlich erklärte er Mike, daß Es seinen Bruder George ermordet hätte, und daß der Klub der Verlierer fest entschlossen sei, das Monster zu töten... was immer dieses Monster in Wirklichkeit auch sein mochte.

Auf dem Nachhauseweg an jenem Abend dachte Mike, daß er eigentlich beim Zuhören zuerst ungläubig und dann entsetzt hätte sein müssen, daß er eigentlich hätte wegrennen müssen, so schnell er nur konnte, ohne sich noch einmal umzuschauen, daß er eigentlich hätte überzeugt sein müssen, entweder von einer Gruppe weißer Kinder, die etwas gegen Schwarze hatten, zum Narren gehalten zu werden (und das war sogar noch die tröstlichere der beiden Hypothesen) oder mit sechs total Verrückten zusammenzusitzen, die sich auf irgendeine Weise gegenseitig mit ihren Wahnvorstellungen angesteckt hatten, so wie sich in einer Klasse jeder beim anderen mit einer bösartigen Grippe anstecken kann.

Aber er war nicht weggerannt, denn trotz seiner Angst, seines Entsetzens, fühlte er sich in ihrer Mitte seltsam wohl und geborgen. Und außerdem hatte er das Gefühl, nun endlich heimgekehrt zu sein. Wir sind sieben, dachte er wieder, nachdem Bill geendet hatte.

Er öffnete den Mund, ohne genau zu wissen, was herauskommen würde.

»Ich habe diesen Clown gesehen«, hörte er sich sagen.

»Was?« fragten Richie und Stan gleichzeitig, und Beverly drehte so rasch ihren Kopf nach ihm um, daß ihr Pferdeschwanz über die linke Schulter flog.

»Ich habe ihn am 4. Juli gesehen«, sagte Mike langsam, hauptsächlich zu Bill gewandt. Bills scharfer, äußerst konzentrierter Blick ließ ihn nicht los, verlangte von ihm fortzufahren. »Ja, am 4. Juli...« Er verstummte für kurze Zeit und dachte: Aber das war nicht das erste Mal, daß ich ihn gesehen habe. Ich habe ihn wiedererkannt. Und es war auch nicht das erste Mal, daß ich etwas... etwas Eigenartiges gesehen habe.

Er dachte an den Vogel - zum erstenmal seit Mai erlaubte er es sich, bewußt daran zu denken. Bisher hatte der Vogel ihn nur in seinen Alpträumen heimgesucht. Er hatte geglaubt, verrückt zu werden. Es war eine Erleichterung festzustellen, daß er nicht verrückt war... aber es war eine furchterregende Erleichterung.

Er benetzte die Lippen.

»Erzähl endlich weiter!« rief Bev ungeduldig.

»Na ja, es war folgendermaßen. Ich bin in der Parade mitmarschiert. Ich...«

»Ich hab' dich gesehen«, sagte Eddie etwas schüchtern. »Du hast Saxophon gespielt. Ich hab' dir zugewinkt.«

»Genaugenommen ist es eine Posaune«, erklärte Mike. »Ich spiele im Orchester der Christlichen Tagesschule. Na ja, wie dem auch sei, jedenfalls hab' ich diesen Clown gesehen. Er verteilte Luftballons an Kinder, auf der großen Kreuzung in der Innenstadt. Er sah genauso aus, wie ihr ihn beschrieben habt, Ben und Bill. Das Silberkostüm, die großen orangefarbenen Knöpfe, die weiße Schminke auf dem Gesicht und das breite rote Grinsen. Ich weiß nicht, ob es Lippenstift oder Farbe ist, aber es sah wie Blut aus.«

Die anderen nickten aufgeregt, aber Bill sah Mike nur weiter aufmerksam

an. »H-H-Hatte er orangefarbene H-H-H-Haarbüschel?« fragte er Mike und deutete sie mit den Fingern über seinen eigenen Ohren an.

Mike nickte.

»Ihn zu sehen... es jagte mir irgendwie Angst ein. Und während ich ihn noch betrachtete, drehte er sich um und winkte mir zu, als hätte er meine Gedanken oder Gefühle oder was sonst auch immer gelesen. Und das... na ja, das hat mir noch mehr Angst eingejagt. Ich wußte damals nicht warum, aber ich hatte solche Angst, daß ich ein paar Sekunden lang nicht weiterblasen konnte. Ich hatte einen total trockenen Mund, und ich hatte das Gefühl ...« Er blickte kurz zu Beverly hinüber. Er erinnerte sich so deutlich an alles: wie ihm die Sonne auf seiner Posaune und auf dem Chrom der Autos plötzlich unerträglich grell und blendend vorgekommen war, die Musik viel zu laut, der Himmel viel zu blau. Der Clown hatte eine weiß behandschuhte Hand gehoben (in der anderen hielt er unzählige Ballons) und langsam gewinkt, und sein blutiges Grinsen war viel zu rot und zu breit gewesen, ein auf den Kopf gestellter Schrei. Er erinnerte sich an die Gänsehaut auf seinen Hoden, und wie sein Gedärm plötzlich ganz schlaff und heiß gewesen und er schon Angst gehabt hatte, daß er gleich in die Hose scheißen würde. Aber so etwas konnte er unmöglich vor Beverly sagen. So etwas sagte man nicht vor Mädchen, nicht einmal vor solchen, in deren Anwesenheit man Ausdrücke wie >Hurensohn< oder >Bastard< ruhig benutzen konnte.

»Na ja, ich hatte Angst«, wiederholte er deshalb einfach, obwohl er fühlte, daß das ein viel zu schwacher Ausdruck war. Aber sie nickten, als verstünden sie ihn genau, und er verspürte eine grenzenlose Erleichterung. Der Blick jenes Clowns, das breite rote Grinsen, die langsam winkende Hand im weißen Handschuh... irgendwie war das sogar noch schlimmer gewesen als von Henry Bowers und den anderen verfolgt zu werden. Sehr viel schlimmer.

»Dann waren wir an ihm vorbei«, fuhr er fort, »wir marschierten den Main Street Hill hinauf. Und dort sah ich ihn wieder, wie er Ballons an Kinder verteilte. Nur wollten viele der Kinder sie nicht nehmen. Einige kleine Kinder weinten.«

»Das w-w-wundert mich nicht«, sagte Bill Denbrough grimmig.

»Ich konnte mir nicht erklären, wie er so schnell dort hinaufgekommen ist«, fuhr Mike fort. »Ich dachte zuerst, es müßten zwei verschiedene sein, wißt ihr, völlig gleich gekleidet und so. Ein Team. Aber dann drehte er sich um und winkte mir wieder zu, und ich wußte, daß es derselbe war. Er winkte, und dann zwinkerte er mir zu. So als hätten wir ein Geheimnis miteinander, oder so als... als wüßte er, daß ich ihn wiedererkannt habe.«

»Du h-hast ihn w-w-wiedererkannt?«

»Ich glaube schon«, sagte Mike. »Aber ich möchte noch einmal nachschauen, um ganz sicher zu sein. Wißt ihr, mein Vater hat Bilder und Fotos... er sammelt sie... hört mal, ihr spielt doch sehr oft hier unten?«

»Na klar«, antwortete Ben. »Wir wollen doch das Klubhaus bauen, vergiß das nicht.«

Mike nickte. »Ich werde nachschauen und feststellen, ob ich recht hatte. Wenn ja, werde ich das Album mitbringen.«

»Sind es alte F-F-Fotos?« fragte Bill.

Mike nickte, und Bill nickte ebenfalls, so als hätte er das erwartet. Dann fragte er: »Und w-w-was sonst n-noch?«

Mike sah sie alle nacheinander forschend an, räusperte sich und sagte: »Ich habe einen Vogel gesehen. Im Mai. Ich habe einen Vogel gesehen.«

Stan Uris fuhr zusammen. »Was für einen Vogel?«

Nur sehr widerwillig fuhr Mike in seinem Bericht fort. »Er sah aus wie so 'ne Art Sperling, aber auch wie ein Rotkehlchen. Er hatte eine orangefarbene Brust.«

»Was ist denn so Besonderes an einem Vogel?« fragte Ben. »Es gibt jede Menge Vögel in Derry.« Aber ihm war unbehaglich zumute, und er war sich ganz sicher, als er Stan ansah, daß Stan sich jetzt wieder daran erinnerte, was im Wasserturm geschehen war, wie er entkommen war, indem er die Namen von Vögeln gerufen hatte. Doch als Mike weiterredete, vergaß Ben alles andere.

»Dieser Vogel war größer als ein Wohnwagen«, sagte Mike.

Er betrachtete ihre erschrockenen, fassungslosen Gesichter. Er wartete auf ihr Gelächter, aber niemand lachte. Stan sah aus, als wäre ihm ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen. Er war leichenblaß geworden.

»Ich schwöre, daß es wahr ist«, sagte Mike. »Es war ein riesiger Vogel, wie die Vögel in den Monsterfilmen, die angeblich prähistorisch sind...«

»Wie in >The Giant Claw< ?« fragte Richie. Diesen Horrorfilm hatte er vor einem Jahr gesehen.

»Ja, nur sah er nicht prähistorisch aus«, sagte Mike. »Und er sah auch nicht aus wie jener Vogel - wie heißt er doch gleich? -, der in den Geschichten der Griechen und Römer auftaucht...«

»R-R-Rok?« schlug Bill vor.

»Ja, genau. Aber so sah er auch nicht aus. Er sah einfach wie eine Kreuzung zwischen Rotkehlchen und Sperling aus. Die beiden häufigsten Vogelarten. Nichts Besonderes.« Er lachte etwas unsicher.

»W-W-Wo...«, begann Bill.

»Erzähl uns alles«, sagte Beverly ruhig, und nachdem er einen Moment lang seine Gedanken geordnet hatte, kam er ihrer Aufforderung nach. Und während er erzählte und beobachtete, wie ihre Gesichter zwar Unruhe und Angst, aber keinen Unglauben oder Spott widerspiegelten, spürte er, wie ihm ein riesiger Stein von der Seele fiel. Wie Ben mit seiner Mumie oder Eddie mit seinem Aussätzigen oder Stan mit seinen ertrunkenen Jungen im Wasserturm, so hatte auch er etwas erlebt, das einen Erwachsenen um den Verstand gebracht hätte, nicht einfach aus Angst und Entsetzen, sondern wegen der enormen Kraft einer Unwirklichkeit, für die es keine logische Erklärung gab, die aber gleichzeitig zu mächtig war, um einfach ignoriert zu werden. Das Gesicht des Propheten Elias war vom Licht der göttlichen Liebe verkohlt, jedenfalls hatte er das gelesen; aber Elias war schon ein alter Mann gewesen, als das geschehen war.

Er hatte Es gesehen und sein normales Leben weitergeführt; er hatte die Erinnerung daran in sein Weltbild integriert. Er war noch so jung, daß dieses Weltbild ungeheuer groß und weit war. Und doch hatte das, was an jenem Tag geschehen war, die dunkleren Schichten seines Geistes heimgesucht. In seinen Träumen rannte er manchmal vor jenem grotesken Vogel davon, während er - Es - seinen Schatten von oben über ihn warf. An einige dieser Träume erinnerte er sich, an andere nicht, aber sie waren da und überschatteten sein Bewußtsein.

Wie wenig von allem er vergessen und wie sehr es ihn gequält hatte (während er seinen normalen Beschäftigungen nachgegangen war: seinem Vater helfen, zur Schule gehen, Fahrrad fahren, eine Schleuder schnitzen, Aufträge seiner Mutter erledigen, nach der Schule darauf warten, daß in >Ame-rican Bandstand< die schwarzen Gruppen auf raten), ließ sich vielleicht nur daran ermessen, wie erleichtert er sich fühlte, sein schreckliches Erlebnis jetzt mit den anderen zu teilen.

4

Im April und Mai erwachte die Farm der Hanions jedes Jahr aus dem Winterschlaf. Die Gewißheit, daß es wieder einmal Frühling geworden war, überkam Mike nicht beim Aufbrechen der ersten Krokusse unter den Küchenfenstern seiner Mutter, auch nicht, wenn die Senatoren in Washington die Baseballsaison eröffneten, sondern erst, wenn sein Vater rief, er solle ihm helfen, ihren aus allen möglichen Bestandteilen zusammengebastelten Lieferwagen aus dem Schuppen zu schieben. Die vordere Hälfte war ein alter Ford Modell A, die hintere ein Lieferwagen, dessen Wagenschlag aus den Überresten der alten Hühnerstalltür bestand.

Sie schoben ihn dann, jeder auf einer Seite, die Auffahrt hinab, und wenn er gut rollte, sprang Will Hanion hinein - der Wagen hatte keine Türen, auch keine Windschutzscheibe - und ließ den Motor an. Dann durfte Mike einsteigen, und wenn er auf dem Beifahrersitz saß, es nach heißem Öl und Auspuffgasen stank, wenn der kräftige Wind ihm um die Nase wehte, dann dachte er frohlockend: Der Frühling ist wieder da. Jetzt wachen wir alle auf. Er verspürte Liebe zu allem, was ihn umgab, am meisten aber zu seinem Vater, der ihn angrinste und rief: »Halt dich fest, Mikey! Jetzt drehen wir mal voll auf! Die Vögel werden sich gleich wundern!«

Und dann brauste er den Weg entlang; die Hinterräder schleuderten Dreck und Erde hoch, und Mike und er wurden auf den Sitzen - einem alten Sofa, das Will von der Müllhalde geholt hatte - ordentlich durchgerüttelt und lachten wie närrisch. Will lenkte den Ford durch das hohe Gras des hinteren Feldes, das die Farm mit Heu versorgte, entweder in Richtung Südfeld (Kartoffeln) oder Westfeld (Mais und Bohnen) oder Ostfeld (Erbsen und Kürbisse). Aus dem Gras vor dem Wagen flatterten aufgescheuchte Vögel auf, die ängstlich und empört schrien. Einmal war ein Rebhuhn darunter gewesen, ein herrlicher Vogel, braun wie Eichenlaub im Spätherbst, und sein lauter, schwirrender Flügelschlag war trotz des dröhnenden Motors deutlich zu hören gewesen. Mike hatte es mit ausgestrecktem Zeigefinger anvisiert und Peng-Peng! Peng-peng! gerufen, und sein Vater hatte Tränen gelacht.

Mit diesen Fahrten begann für Mike der Frühling.

Sobald sie eines der Anbaufelder erreichten, bestand die erste Arbeit in der sogenannten >Steinernte<, wie Will das nannte. Eine Woche lang fuhren sie jeden Tag mit dem alten Lieferwagen hinaus und warfen Steine auf die Ladefläche, um später nicht die Egge zu beschädigen. Einmal hatte Mike seinen Vater gefragt, warum es jeden April mehr Steine gäbe, obwohl sie sie doch jeden Frühling aufsammelten und abtransportierten.

Will hatte sich eine Zigarette angezündet und geantwortet: »Mein Vater pflegte zu sagen, daß Gott Steine, Hausfliegen, Unkraut und arme Leute von Seiner ganzen Schöpfung am meisten liebte und deshalb so besonders viele davon schuf.«

»Aber es scheint so, als kämen sie jedes Jahr wieder zurück.«

»Ja, ich glaube, das tun sie auch«, sagte Will. »Für mich ist das jedenfalls die einzig mögliche Erklärung.«

Ein Haubentaucher schrie irgendwo am anderen Ufer des Kenduskeags; die Sonne ging gerade unter und färbte das Wasser dunkelorange. Es war ein irgendwie einsamer Laut, so einsam, daß Mikes müde Arme sich mit Gänsehaut überzogen.

»Ich liebe dich, Daddy«, hatte er plötzlich gesagt und seine Liebe so stark gespürt, daß er nur mit allergrößter Mühe die Tränen zurückhalten konnte.

»Ich liebe dich auch, Mikey«, hatte sein Vater gesagt und ihn mit seinen starken Armen ganz fest an sich gedrückt. Mike hatte den rauhen Stoff des Flanellhemdes an seiner Wange gespürt. »Na, was hältst du davon, wenn wir jetzt heimfahren? Wir haben dann gerade noch Zeit, beide ein Bad zu nehmen, bevor es Abendessen gibt.«

Es ist Frühling, hatte Mike an jenem Abend im Bett gedacht, während seine Eltern im Nebenzimmer vor dem Fernseher saßen. Es ist endlich wieder Frühling; danke, Gott, ich danke Dir sehr. Und im Halbschlaf hatte er noch einmal den Haubentaucher drüben im Sumpfgebiet schreien hören.

Der Frühling war eine arbeitsreiche, aber sehr schöne Zeit.

Nach der Steinernte wurde der Traktor aus der Scheune geholt, es wurde gepflügt und gesät. Mikes Mutter überholte die drei Vogelscheuchen Larry, Moe und Curly, und Mike half seinem Vater, an den Köpfen der Strohpuppen Konservendosen zu befestigen, deren Deckel und Böden fehlten. Etwa auf halber Höhe war rechts und links je ein Loch in diese Dosen gebohrt, und durch diese Löcher wurde eine sehr straff gespannte eingewachste Schnur gezogen und auf den Außenseiten verknotet. Wenn der Wind durch diese Dosen pfiff, entstand ein unheimliches Geräusch - eine Art wimmerndes Krächzen und Heulen. Die Vögel gewöhnten sich immer sehr schnell an die Vogelscheuchen und begriffen, daß sie keine Gefahr darstellten, aber vor dem Lärm der >Vogelschreck<-Dosen hatten sie solche Angst, daß sie davonflogen und das Getreide in Ruhe ließen. Ab Mitte Juli begann die Erntezeit: Zuerst kamen Erbsen und Radieschen an die Reihe, dann Kohl und Tomaten, im August und September Mais und Bohnen, anschließend die Kürbisse. Und wenn die Tage allmählich kürzer und kühler wurden, rief Will Norman Sadler an (der sich wie sein Sohn Moose nicht gerade durch Intelligenz auszeichnete, aber sehr gutmütig war), und Normie stellte sich mit seiner Kartoffelschleuder ein. In den nächsten drei Wochen waren alle mit der Kartoffelernte beschäftigt. Will stellte sogar immer noch drei oder vier Jungen von der High School als Helfer ein, die pro Faß einen

Vierteldollar erhielten. Aber nicht nur sie wurden bezahlt, auch Mike und seine Mutter bekamen Geld, und Will Hanion fragte sie nie, was sie damit machten. Mike hatte einen Anteil von 5 Prozent an der Farm bekommen, als er fünf Jahre alt geworden war - alt genug, so hatte Will ihm damals erklärt, um eine Egge zu halten und zwischen Unkraut und Erbsenstauden unterscheiden zu können. Jedes Jahr wurde Mikes Anteil um ein Prozent erhöht, und am Tag nach Thanksgiving errechnete sein Vater alljährlich den Gewinn der Farm und Mikes Anteil... aber dieses Geld bekam Mike nie zu Gesicht. Es wurde am Montag nach den Feiertagen auf sein Sparkonto eingezahlt - für sein Studium auf dem College.

Schließlich kamen dann die ersten Fröste, und Mike stand mit roter Nase auf dem Haushof und beobachtete, wie sein Vater zuerst den Traktor und anschließend den Lieferwagen wieder in die Scheune fuhr; und dann dachte er: Wir bereiten uns wieder einmal auf den Winterschlaf vor. Frühling und Sommer sind vorüber. Die Ernte ist eingebracht. Nun blieb nur noch das Ende des Herbstes übrig: entlaubte Novemberbäume, Bodenfröste, ein Streifen Eis entlang der Ufer des Kenduskeags. Auf den Feldern ließen sich jetzt manchmal Krähen häuslich auf den Vogelscheuchen nieder.

Der Gedanke, daß wieder ein Jahr sich dem Ende zuneigte, war Mike nicht gerade zuwider - es gab vieles, worauf er sich im Winter freute: man konnte Schlitten fahren, Schlittschuh laufen, Schneeballschlachten veranstalten und Schneeburgen bauen. Da war die Vorfreude auf Weihnachten -bald würde er mit seinem Vater auf Schneeschuhen den Weihnachtsbaum holen; und dann die Geschenke - würde er die Nordica-Ski bekommen, die er sich gewünscht hatte? Der Winter war schön... aber wenn er sah, wie sein Vater den Lieferwagen in die Scheune fuhr

(Frühlitfg und Sommer... vorüber... die Ernte... eingebracht)

und abdeckte, wurde ihm trotzdem immer traurig ums Herz, ebenso wenn er die Vogelscharen sah, die gen Süden zogen. Wir bereiten uns wieder einmal auf den Winterschlaf vor...

Obwohl es auf der Farm von Frühjahr bis Herbst immer viel zu tun gab, sorgte Will Hanion dafür, daß Mike auch genügend Freizeit hatte. An mindestens einem Schultag pro Woche - manchmal auch an zweien - fand Mike, wenn er von der Schule heimkam, keine Zettel seines Vaters vor, auf denen stand, welche Arbeiten er zu erledigen hatte. An diesen Tagen konnte Mike tun und lassen, was er wollte, und das genoß er von ganzem Herzen.

Hin und wieder legte sein Vater ihm auch Zettel anderen Inhalts hin. >Heute keine Arbeiten für dich<, stand beispielsweise auf einem davon. >Geh rüber nach Old Cape und schau dir die Straßenbahngleise an.< Mike ging in die Siedlung, fand die Straße, die sein Vater gemeint hatte, und staunte über die alten Gleise mitten darauf. Am Abend unterhielten sie sich dann über Straßenbahnen, und sein Vater zeigte ihm Fotos in seinem Album, auf denen die Straßenbahnen zu sehen waren - eine komische Stange führte vom Dach des Wagens zu einer elektrischen Oberleitung, und an den Wagenseiten waren Zigarettenreklamen. Ein anderes Mal hatte er Mike in den Memorial Park zum Vogelbad geschickt; und wieder ein anderes Mal war er mit ihm zusammen ins Gerichtsgebäude gegangen, um ihm eine grausige Vorrichtung zu zeigen, die Polizeichef Borton auf dem Dachboden gefunden hatte. Es war ein sogenannter >Landstreicher-Stuhl< aus Gußeisen. An den Armlehnen und Beinen waren Lederriemen angebracht, und aus Sitz und Rückenlehne ragten runde Köpfe hervor. Das Ding erinnerte Mike an ein Foto des elektrischen Stuhls in Sing Sing, das er in irgendeinem Buch gesehen hatte. Polizeichef Borton erlaubte Mike, sich auf diesen Stuhl zu setzen, und schnallte ihn mit Hilfe der Lederriemen darauf fest.

Nachdem das aufregende Gefühl, in Fesseln gelegt zu sein, etwas abgeklungen war, hatte Mike seinen Vater und Polizeichef Borton fragend angesehen, weil er nicht begreifen konnte, warum dieser Stuhl eine so schreckliche Strafe für die Vagabunden gewesen war, die in den 2oer und 3oer Jahren in die Stadt gekommen waren. Man saß wegen der Knöpfe zwar etwas unbequem, und die Fesseln an Hand- und Fußgelenken verhinderten, daß man eine bequemere Position einnehmen konnte, aber...

»Na ja, du bist ein kleiner Junge«, hatte Borton lachend gesagt (abends im Bett hatte Mike gehört, wie sein Vater seiner Mutter erzählte, er könne den Gedanken nicht loswerden, daß Borton gelacht habe, weil es ihm Spaß gemacht habe, einen Schwarzen auf diesem Stuhl zu sehen). »Wieviel wiegst du? So siebzig, achtzig Pfund? Die meisten Landstreicher, die Sheriff Sully in diesen Stuhl setzte, wogen etwa das doppelte. Nach einer Stunde wurde ihnen die Position etwas unbequem, nach zwei oder drei Stunden sehr unbequem, und nach vier oder fünf Stunden wurde es richtig schlimm. Nach sieben oder acht Stunden begannen sie meistens zu schreien, und spätestens nach sechzehn oder siebzehn Stunden heulten und brüllten sie. Und wenn sie dann ihre vierundzwanzig Stunden hinter sich hatten, schworen sie, einen weiten Bogen um Derry zu machen, wenn es sie wieder einmal nach Neuengland verschlug. Und soviel ich weiß, hielten die meisten sich auch daran. Vierundzwanzig Stunden in diesem Stuhl - das war eine sehr nachhaltige Erfahrung.«

Plötzlich hatte Mike den Eindruck gehabt, als hätte der Stuhl viel mehr Knöpfe, die sich tief in seinen Rücken und in sein Gesäß bohrten. »Können Sie mich jetzt bitte wieder herauslassen?« hatte er höflich gefragt, und Polizeichef Borton hatte wieder gelacht. Einen schrecklichen Moment lang hatte Mike gedacht, der Polizeichef würde nur mit den Schlüsseln für die Fesseln klimpern und sagen: Na klar laß ich dich raus, Nigger... wenn deine vierundzwanzig Stunden herum sind.

»Weshalb hast du mir das gezeigt, Daddy?« hatte er auf dem Heimweg gefragt.«

»Das wirst du verstehen, wenn du älter bist.«

»Du magst Polizeichef Borton nicht, Daddy, stimmt's?«

»Stimmt«, hatte sein Vater so kurz angebunden erwidert, daß Mike keine weiteren Fragen gestellt hatte.

Die meisten Orte in Derry, zu denen sein Vater ihn schickte, gefielen Mike jedoch, und als er zehn Jahre alt war, teilte er bereits Will Hanions Interesse an der Geschichte von Derry.

Die erste Botschaft, die sein Vater ihm in jenem Frühling 1958 hinterließ, war auf die Rückseite eines Briefumschlags gekritzelt und mit einem Salzstreuer beschwert. Die Luft war warm und duftete herrlich, und seine Mutter hatte alle Fenster geöffnet. >Heute keine Arbeiten für dich<, stand auf dem Umschlag. >Fahr mit dem Rad zur Pasture Road, wenn du Lust dazu hast. Auf dem Feld links von der Straße wirst du einen Haufen eingestürzter Mauern und Reste alter Maschinen sehen. Schau dich um und bring ein Andenken mit. Geh aber nicht in die Nähe des Kellerlochs! Und sei vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause... du weißt ja, warum.<

Das wußte Mike natürlich: wegen der Morde.

Er sagte seiner Mutter, wohin er ging, und sie runzelte besorgt die Stirn. »Warum fragst du nicht Randy Robinson, ob er mitkommen möchte?«

»Okay, ich werde bei ihm reinschauen und ihn fragen«, sagte Mike.

Das hatte er auch tatsächlich getan, aber Randy war mit seinem Vater nach Bangor gefahren, um Saatkartoffeln zu kaufen, und so radelte Mike allein zur Pasture Road. Es war eine Strecke von etwas über fünf Meilen, und Mike schätzte, daß es ungefähr drei Uhr sein mußte, als er sein Rad an den alten Lattenzaun auf der linken Seite der Pasture Road lehnte und über den Zaun kletterte. Er hatte etwa eine Stunde Zeit, um sich auf dem Gelände umzusehen, dann würde er sich wieder auf den Heimweg machen.

Er ging auf die riesigen Ruinen in der Mitte des Geländes zu. Er wußte natürlich, daß das die Überreste der Kitchner-Eisenhütte waren - vorübergefahren war er hier schon öfter, aber es war ihm nie eingefallen, die Ruinen zu erforschen, und seines Wissens nach hatte auch keiner seiner Schulkameraden das je getan. Während er sich jetzt bückte und einen kleinen Ziegelsteinhaufen betrachtete, glaubte er auch zu verstehen, warum. Das Gelände wurde von der Frühlingssonne in strahlendes Licht getaucht, und trotzdem hatte es etwas Unheimliches an sich- hier herrschte ein brütendes Schweigen, das nur von gelegentlichen Windstößen unterbrochen wurde. Mike fühlte sich wie ein Entdecker, der soeben die letzten Reste einer märchenhaften untergegangenen Stadt gefunden hat.

Rechts vor sich sah er ein massives zylinderförmiges Ziegelgebilde aus dem hohen Lieschgras herausragen. Er rannte hin und stellte fest, daß es der Hauptschornstein der Eisenhütte war, der hier wie die größte Schlange der Welt im Gras lag. Mike spähte hinein, und unwillkürlich lief ihm ein Schauder über den Rücken. Der Durchmesser des Schornsteins war so groß, daß er ihn ohne weiteres hätte betreten können, wenn er nur ein bißchen den Kopf eingezogen hätte. Dazu verspürte er aber nicht die geringste Lust - wer konnte schon wissen, ob da drinnen nicht irgendwelche gräßliche Insekten auf den rauchgeschwärzten Ziegeln saßen oder unheimliche Tiere hausten. Während er noch so dastand und mit großen, etwas ängstlichen Augen hineinspähte, erzeugte ein Windstoß im Innern des umgestürzten Schornsteins ein schauriges Gefühl. Mike wich nervös ein paar Schritte zurück; plötzlich war ihm der Film eingefallen, den er mit seinem Vater am Vorabend im Fernsehen angeschaut hatte. Er trug den Titel >Ro-dan<, und sie hatten einen Riesenspaß daran gehabt; sein Vater hatte jedesmal, wenn Rodan aufgetaucht war, lachend gerufen: »Knall den Vogel ab, Mikey!« Und Mike hatte mit dem Finger geschossen, bis seine Mutter die Tür einen Spalt breit geöffnet und ihnen gesagt hatte, sie sollten nicht einen solchen Lärm machen, sie bekäme sonst noch Kopfweh.

In der Erinnerung kam der Film Mike jetzt nicht mehr so komisch vor. Rodan war von japanischen Kohlenwerksarbeitern, die den tiefsten Schacht der Welt gruben, aus dem Erdinnern befreit worden. Und wenn man in das gähnende schwarze Rohr hineinblickte, konnte man sich nur allzu leicht vorstellen, daß am anderen Ende jener Vogel hockte, die lederartigen Fledermausflügel auf dem Rücken gefaltet, und mit seinen goldumrandeten Augen auf das kleine, runde, in die Dunkelheit blickende Kindergesicht starrte, starrte, starrte...

Um die unheimliche Öffnung nicht mehr sehen zu müssen, lief Mike ein Stückchen am Schornstein entlang, der etwa zur Hälfte in die Erde eingesunken war. Der Boden stieg hier leicht an, und plötzlich kam ihm der Einfall, auf das Rohr hinaufzuklettern, dessen Ziegeloberfläche warm von der Sonne und überhaupt nicht beängstigend war. Mit ausgestreckten Armen balancierte er darauf (der Schornstein hatte zwar einen so großen Umfang, daß keinerlei Gefahr bestand abzustürzen, aber Mike stellte sich vor, er wäre ein Seiltänzer im Zirkus) und genoß den Wind, der ihm durch die Haare strich.

Am anderen Ende angelangt, sprang er hinab und begann sich gründlich umzusehen. Hier lag allerhand Zeug herum: Ziegel, deformierte Gußformen, Holzstücke, rostige Maschinenteile. Bring ein Andenken mit, hatte sein Vater ihm aufgetragen; er mußte etwas wirklich Interessantes finden.

Er schlenderte immer näher an das gähnende Kellerloch der Eisenhütte heran, während er die Überreste betrachtete, sorgfältig darauf bedacht, sich nicht an den Glasscherben zu schneiden, von denen es hier jede Menge gab.

Mike hatte die Warnung seines Vaters, vom Kellerloch wegzubleiben, durchaus nicht vergessen; ebensowenig hatte er vergessen, daß vor 50 Jahren der Tod an dieser Stelle schrecklich gewütet hatte - er hielt es für durchaus möglich, daß es an diesem Ort spukte. Aber trotzdem - oder gerade deshalb - war er fest entschlossen, so lange hierzubleiben, bis er etwas Lohnendes finden würde, das er mit nach Hause nehmen und seinem Vater zeigen konnte.

Langsam und vorsichtig ging er auf das Kellerloch zu, bis eine innere Stimme ihn warnte, daß er allmählich zu nahe herankam, daß eine von den heftigen Frühlingsregen aufge weichte Seitenfläche abbröckeln und er in dieser Grube landen konnte, wo er dann vielleicht - wie ein Schmetterling von irgendeinem scharfen rostigen Eisenstück aufgespießt - eines langsamen qualvollen Todes sterben würde.

Er hob einen Fensterrahmen auf und warf ihn beiseite. Er entdeckte einen Schöpflöffel, der die richtige Größe für den Tisch eines Riesen gehabt hätte, und dessen Griff von einer unvorstellbaren Hitzewelle verbogen worden war. Da lagen auch Kolbenteile herum, die so schwer waren, daß er sie nicht einmal von der Stelle bewegen, geschweige denn hochheben konnte. Er machte einen großen Schritt darüber hinweg, und dann...

Was ist, wenn ich einen Schädel finde? schoß es ihm plötzlich durch den Kopf. Den Schädel von einem der Kinder, die hier ums Leben kamen, während sie nach Schokoladeneiern suchten - Ostern 1908 oder 1909 oder wann auch immer.

Er blickte ängstlich über das sonnenüberflutete einsame Gelände. Der Wind sauste in seinen Ohrmuscheln, und für kurze Zeit verhüllte eine Wolke die Sonne und warf einen Schatten auf das Feld, wie den einer riesi-

gen Fledermaus... oder eines riesigen Vogels. Mike kam jetzt wieder voll zu Bewußtsein, wie still es hier war, wie unheimlich das Gelände mit seinen Mauerruinen und den überall herumliegenden Metallteilen war - so als hätte hier vor langer Zeit einmal eine furchtbare Schlacht stattgefunden.

Nun sei mal kein solches Arschloch, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Alles, was hier zu finden war, ist schon vor 50 Jahren gefunden worden. Gleich nach der Katastrophe. Und selbst wenn damals etwas übersehen wurde, so hat es bestimmt irgendein Kind - oder auch ein Erwachsener - in der Zwischenzeit gefunden. Oder glaubst du etwa, daß du der erste und einzige bist, der hier nach Souvenirs sucht?

Nein... nein, das glaube ich nicht... aber...

Was - aber? fragte der rationale Teil seines Gehirns, und Mike fand, daß sich diese Stimme etwas zu laut, zu hektisch anhörte. Selbst wenn es hier wirklich noch etwas zu finden gibt, so ist es schon längst verwest. Also, was soll dieses

blöde Aber?

Mike entdeckte eine alte zerstörte Schreibtischschublade im Unkraut. Er schob sie mit dem Fuß beiseite und ging etwas näher an den Keller heran. Dort lag am meisten Zeug herum. Bestimmt würde er da ein lohnendes Andenken finden.

Aber - was, wenn es dort Gespenster gibt? Das ist das große Aber. Was ist, wenn plötzlich Hände am Rand der Kellermauer auf tauchen, wenn Kinder sich plötzlich hochstemmen, Kinder in den Fetzen ihrer Sonntagskleider, die ganz vermodert und zerrissen sind von 50 Jahren Frühlingsmorast und Herbstregen und verharschtem Schnee? Kinder ohne Köpfe (er hatte in der Schule gehört, daß eine Frau nach der Explosion den Kopf eines Opfers in einem Baum auf ihrem Hinterhof gefunden hatte), Kinder ohne Beine, Kinder mit zerfetzten Bäuchen, Kinder, die vielleicht möchten, daß ich zu ihnen herunterkomme und mit ihnen spiele... dort unten, wo es dunkel ist... unter den eingestürzten Eisenträgern und den riesigen Rädern...

Oh, hör auf damit, um Gottes willen, hör auf damit!

Aber wieder lief ihm ein Schauder über den Rücken, und er beschloß, daß es Zeit war, etwas aufzuheben - irgend etwas - und dann von hier zu verschwinden. Er bückte sich und griff aufs Geratewohl nach etwas - es erwies sich als Zahnrad von etwa sieben Zoll Durchmesser. Er hatte einen Bleistift in der Tasche, und damit entfernte er rasch den Dreck aus den Zahnzwischenräumen. Dann steckte er sein Souvenir ein. Jetzt würde er gehen. O ja, jetzt würde er gehen...

Aber seine Füße bewegten sich langsam in die falsche Richtung, auf den Keller zu, und er begriff erschrocken, daß er einfach einen Blick hinunterwerfen mußte, daß er sehen mußte, wie es dort unten ausschaute.

Er hielt sich an einem aus dem Boden ragenden hölzernen Stützbalken fest, beugte sich weit vor und versuchte, einen Blick nach unten zu werfen. Aber es gelang ihm nicht. Er war nur noch etwa 15 Fuß vom Rand entfernt, doch das war immer noch etwas zu weit, um auf den Boden des Kellers sehen zu können.

Das ist mir egal. Ich gehe jetzt. Mein Souvenir habe ich. Ich werde mir doch nicht ein blödes altes Loch anschauen. Außerdem hat Daddy extra geschrieben, ich solle davon wegbleiben.

Aber jene unglückselige, fieberhafte Neugierde ließ ihn nicht los. Er machte einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen auf den Keller zu, obwohl er sich durchaus bewußt war, daß er sich an nichts mehr würde festhalten können, sobald der Holzbalken außer Reichweite war; er spürte auch, daß der Boden hier wirklich weich und bröckelig war. Entlang des Randes konnte er stellenweise Vertiefungen entdecken, die eingefallenen Gräbern glichen, und er wußte, daß es sich dabei um Erdrutsche handeln mußte.

Mit laut pochendem Herzen erreichte er den Rand und blickte hinab.

In einem Nest im Keller lag der Vogel und schaute zu ihm hinauf.

Im ersten Moment traute Mike seinen Augen nicht. Er stand da wie gelähmt. Es war nicht nur der Schock, einen Monster-Vogel zu sehen, einen Vogel, dessen Brust orangefarben wie die eines Rotkehlchens war, dessen Federn aber das unauffällige Grau eines Sperlings hatten. Teilweise rührte der Schock auch einfach davon her, plötzlich etwas völlig Unerwartetes zu sehen. Er hatte mit halb im Dreck versunkenen Maschinenteilen gerechnet; statt dessen blickte er auf ein riesiges Nest hinab, das den Keller der Länge und Breite nach ganz ausfüllte. Das zum Nestbau verwendete Lieschgras hätte bestimmt mindestens ein Dutzend Ballen Heu ergeben, aber dieses Gras war silbrig und alt. Der Vogel saß mitten in seinem Nest, seine glänzenden Augen waren so schwarz wie frischer warmer Teer, und in dem grausigen Moment, bevor Mikes Erstarrung sich löste, konnte er sein Spiegelbild in jedem dieser Augen erkennen.

Dann begann sich der Boden unter seinen Füßen zu bewegen und nachzugeben. Er spürte, wie er ins Rutschen kam.

Mit einem Aufschrei warf er sich nach hinten. Obwohl er verzweifelt mit den Armen ruderte, verlor er das Gleichgewicht und fiel hin. Ein hartes, stumpfes Metallstück bohrte sich schmerzhaft in seinen Rücken, und dann hörte er auch schon den lauten, schwirrenden Flügelschlag des Vogels.

Er stemmte sich auf die Knie hoch, kroch vorwärts, warf einen Blick über die Schulter hinweg und sah den Vogel aus dem Keller emporfliegen. Die schuppigen Krallen waren dunkelorange. Die schlagenden Flügel, jeder mehr als zehn Fuß lang, versetzten das dürre Lieschgras in wirre Bewegung, so als wäre ein von Hubschrauberpropellern erzeugter Wind am Werke. Der Vogel stieß einen summenden, zwitschernden Schrei aus. Einige lose Federn fielen aus seinen Flügeln und schwebten langsam wieder ins Nest hinab.

Mike kam wieder auf die Beine und rannte los.

Er lief quer übers Gelände, ohne sich umzusehen - er hatte Angst zurückzusehen. Der Vogel sah nicht so aus wie Rodan, aber er war ebenso böse wie Rodan, das fühlte Mike. Er stolperte, fiel auf ein Knie, stand auf und rannte weiter.

Jener unheimliche summende, zwitschernde Schrei ertönte wieder. Ein Schatten fiel auf Mike, und als er hochblickte, sah er den Vogel: Er war knapp fünf Fuß über seinen Kopf hinweggeflogen. Der schmutziggelbe Schnabel öffnete und schloß sich und zeigte ein pinkfarbenes Maulinneres. Der Vogel machte eine Kehrtwendung in der Luft, und der von seinen Flügeln erzeugte Wind blies Mike ins Gesicht und brachte einen herben unangenehmen Geruch mit sich: nach staubigen Dachböden und schimmligen Polstern.

Mike schwenkte scharf nach links ab, und nun sah er wieder den umgestürzten Schornstein. Er rannte darauf zu, so schnell er nur konnte. Der Vogel schrie, und Mike vernahm die mächtigen Flügelschläge. Sie hörten sich an wie Segel, die im Wind flatterten. Etwas rammte seinen Hinterkopf, und der Schmerz breitete sich wie ein loderndes Feuer über seinen ganzen Nak-ken aus. Er spürte, wie ihm Blut in den Hemdenkragen rann.

Wieder machte der Vogel kehrt; diesmal kam er von vorne direkt auf Mike zugeflogen, und Mike begriff, daß er ihn mit seinen Krallen packen und ihn davontragen wollte wie eine Feldmaus, daß er mit ihm in das riesige Nest zurückfliegen und ihn dort auffressen wollte.

Das Monster schoß auf ihn herab und starrte ihn mit seinen schwarzen, grauenhaft lebendigen Augen an. Im letzten Moment schwenkte Mike scharf nach rechts ab. Der Vogel verfehlte ihn - aber nur ganz knapp. Der Staubgeruch seiner Flügel war überwältigend, unerträglich stark.

Jetzt rannte Mike parallel zum Schornstein, dessen Ziegel vor seinen Augen verschwammen. Wenn es ihm gelang, die Öffnung am Ende zu erreichen und hineinzulaufen, dann würde er vielleicht in Sicherheit sein, dachte er. Der Vogel war zu groß, um sich hineinzwängen zu können.

Um ein Haar hätte er es nicht geschafft. Der Vogel griff erneut an - schlug so heftig mit den Flügeln, daß er einen richtigen Wirbelsturm entfachte, fuhr die Schuppenkrallen gierig aus, schrie wieder, und diesmal glaubte Mike, in seiner Stimme einen furchtbaren Triumph zu hören.

Mike zog den Kopf ein, hob schützend den Arm und stürmte wild vorwärts. Die Krallen packten zu und erwischten ihn am Unterarm. Mike hatte das Gefühl, als hielten ihn unglaublich starke Finger mit scharfen Nägeln umklammert. Der Flügelschlag des Vogelmonsters dröhnte in seinen Ohren; Federn wirbelten um ihn herum, streiften seine Wangen. Dann begann der Vogel aufzusteigen, und Mike spürte, wie er emporgezogen wurde, wie er nur noch auf den Zehenspitzen stand... und wie er eine grauenhafte Sekunde lang auch diesen letzten Kontakt mit der Erde verlor.

»Laß mich Los!« schrie er und riß seinen Arm nach unten. Einen Moment lang hielten die Krallen ihn weiter fest, dann zerriß der Ärmel seines Hemdes, und er plumpste zu Boden. Der Vogel kreischte vor Enttäuschung und Wut laut auf. Mike rannte weiter, bahnte sich seinen Weg durch die Schwanzfedern des Monsters, deren Gestank ihn zum Husten brachte. An jenem 6. Juli erzählte er den anderen, es sei so gewesen, als würde man durch einen Duschvorhang aus Federn rennen.

Immer noch hustend, mit brennenden Augen - von Tränen ebenso wie von jenem bösartigen Staub auf den Federn des Vogels -, stolperte Mike auf die Schornsteinöffnung zu. Jetzt verlor er keinen Gedanken mehr daran, was sich dort drinnen wohl verbergen mochte. Er rannte einfach in die Dunkelheit hinein, und seine keuchenden, schluchzenden Atemzüge hallten im Tunnelinnern gespenstisch wider. Nach etwa 20 Schritten drehte er sich um und betrachtete den hellen Lichtkreis. Seine Brust hob und senkte sich stoßweise. Ihm kam plötzlich überdeutlich zu Bewußtsein, daß er -wenn er die Größe des Vogels oder den Schornsteindurchmesser falsch eingeschätzt hatte - sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte. Es gab kein Entrinnen - das andere Ende des Schornsteins war in der Erde vergraben.

Wieder schrie der Vogel, und dann wurde es vor der Öffnung wesentlich dunkler, und Mike sah die gelben schuppigen Beine, die so dick waren wie die Waden eines Mannes. Gleich darauf schob sich der Kopf des Monsters etwas ins Rohr hinein, und jene gräßlich glänzenden Teeraugen starrten ihn wieder an. Der Schnabel öffnete und schloß sich unaufhörlich, und jedesmal, wenn er sich schloß, hörte Mike ein lautes Klicken, ähnlich dem Geräusch, wenn man kräftig mit den Zähnen aufeinanderschlägt. Scharf, dachte er. Der Schnabel ist sehr scharf. Klar, Vögel müssen ja einen scharfen Schnabel haben... aber bis jetzt ist mir das nie... nie so richtig zu Bewußtsein gekommen.

Das Vogelmonster kreischte erneut, und der Schrei hallte im Schornstein so laut wider, daß Mike sich die Ohren zupreßte.

Der Vogel begann sich durch die Öffnung zu schieben.

»Nein!« schrie Mike. »Nein, hier kommst du nicht rein!«

Das Licht wurde immer schwächer, als der Vogel seinen Körper immer weiter durch die Öffnung schob. O mein Gott, warum habe ich nur nicht daran gedacht, daß er hauptsächlich aus Federn besteht? Warum habe ich nicht daran gedacht, daß er sich ja ganz schmal machen kann? Es wurde immer dunkler, und schließlich verschwand auch der letzte Lichtschimmer. Nun war Mike von tintenschwarzer Finsternis umgeben; er nahm den erstickenden Dachbodengestank des Vogels wahr und hörte das Knistern der Federn.

Mike ließ sich auf die Knie fallen und tastete mit den Händen auf dem Boden des Schornsteins herum. Er fand ein angebrochenes Ziegelstück, dessen scharfe Kanten mit etwas bedeckt waren, das sich wie Moos anfühlte. Er schleuderte es nach dem Vogel, und wieder ertönte jener summende, zwitschernde Schrei.

»Mach, daß du hier rauskommst!« brüllte Mike.

Einen Augenblick lang herrschte Stille... dann setzte das knisternde, raschelnde Geräusch wieder ein - der Vogel zwängte sich weiter ins Rohr. Mike tastete weiter auf dem Boden herum, fand neue Ziegelscherben und warf damit. Sie trafen den Vogel, prallten von seinem Gefieder ab und fielen klirrend auf den Ziegelbogen des Schornsteins.

Bitte, Gott, dachte Mike verzweifelt. Bitte, Gott, bitte, Gott, bitte, Gott...

Ihm fiel ein, daß er sich tiefer in den Schornstein zurückziehen konnte, der sich vermutlich nach oben zu verjüngt hatte, als er noch nicht umgestürzt war; hineingerannt war Mike am ehemals unteren Ende, dort wo der Schornstein am breitesten war. Ja, er konnte sich zurückziehen und dabei auf das Knistern und Rascheln des ihn verfolgenden Vogels lauschen. Er konnte zurückweichen, und wenn er Glück hatte, würde der Vogel an irgendeiner Stelle nicht mehr weiterkommen.

Was aber, wenn das Monster steckenblieb?

Dann würden sie hier beide sterben.

»Bitte, Gott!« flehte er, ohne sich bewußt zu sein, daß er diesmal laut gerufen hatte. Wieder schleuderte er einen Ziegelbrocken, und diesmal war sein Wurf kraftvoller - er erzählte seinen Freunden am 6. Juli, er hätte das Gefühl gehabt, als hätte jemand hinter seinem Arm einen mächtigen Stoß gegeben.

Der Vogel kreischte wieder - aber diesmal war es ein Schmerzensschrei.

Das düstere Schwirren seiner Flügel dröhnte im Schornstein, stinkende Luft fegte an Mike vorbei, ließ seine Kleider flattern, brachte ihn zum Husten, und er wich keuchend in einer Wolke von Staub und Moos zurück.

Plötzlich begann es heller zu werden; zuerst war das Licht noch grau und schwach, dann wurde es immer strahlender, als der Vogel sich etwas von der Schornsteinöffnung entfernte. Mike brach in Tränen aus, fiel wieder auf die Knie und sammeltte Ziegelbrocken, bis er beide Hände voll hatte (jetzt konnte er erkennen, daß sie mit blaugrauem Moos und Flechten bewachsen waren wie Grabsteine aus Schiefer). Dann rannte er nach vorne, fast bis zum Ende des Schornsteins. Er wollte, wenn irgend möglich, verhindern, daß das Monster sich noch einmal hineinzwängte.

Der Kopf des Vogels tauchte wieder vor der Öffnung auf, und Mike sah, wo das letzte Wurfgeschoß ihn getroffen hatte. Das rechte Auge des Vogels war nicht mehr da; statt des glänzenden teerschwarzen Augenrunds war nur noch ein mit Blut gefüllter Krater zu sehen. Eine weißgraue klebrige Masse tropfte aus einem Winkel der Augenhöhle auf den Schnabel.

Das Vogelmonster erblickte ihn und schoß nach vorne. Mike begann Ziegelbrocken zu schleudern. Sie trafen es am Kopf und am Schnabel, und einen Moment lang zog es sich zurück, tauchte aber sofort wieder auf; sein Schnabel öffnete sich und enthüllte wieder jenes pinkfarbene Innere. Diesmal sah Mike aber auch noch etwas anderes; vor Entsetzen klappte ihm der Unterkiefer herunter, und mit weit aufgesperrtem Mund - eine unbeabsichtigte Parodie des Vogels - stand er wie zur Salzsäule erstarrt da. Das Monster hatte eine gelbe Zunge, deren Oberfläche so rissig war wie eine Vulkanlandschaft. Und auf dieser Zunge saßen zahlreiche quastenartige Dinger.

Mit äußerster Willenskraft gelang es Mike, seine Starre zu überwinden, und er warf seine restlichen Ziegelstücke. Die beiden letzten flogen direkt in jenen aufgerissenen Schnabel-Rachen hinein, und der Vogel zog sich wieder zurück, vor Enttäuschung, Wut und Schmerz schreiend. Einen Moment lang sah Mike seine reptilartigen Beine und Klauen... dann schlug er schwerfällig mit den Flügeln und verschwand.

Gleich darauf landete er auf dem Schornstein.

Mike hob den Kopf und lauschte dem Herantappen der Krallen auf den Ziegeln; sein Gesicht war grau vor Entsetzen unter einer Kruste aus Dreck, Staub und Moosfetzen, die jene windmaschinenartigen Vogelflügel auf ihn geblasen hatten, und die an seinem Schweiß haftengeblieben waren. Halbwegs sauber waren nur die Stellen, wo ihm die Tränen über die Wangen gerollt waren.

Über seinem Kopf lief der Vogel hin und her: Tack-tack-tack-tack.

Mike ging ein Stückchen zurück, sammelte Ziegelbrocken und häufte sie in der Nähe der Öffnung auf. Wenn das Monster zurückkehrte, wollte er aus einer günstigen Position heraus angreifen können. Noch war es draußen ganz hell - jetzt, im Mai, würde es noch lange nicht dunkel werden -, aber angenommen, der Vogel beschloß abzuwarten?

Mike schluckte mit trockener Kehle.

Über ihm: Tack-tack-tack.

Er hatte jetzt einen ganz ordentlichen Vorrat an Munition, der hier im trüben Licht, wo die Sonne nicht mehr hinkam, wie ein Haufen Geschirrscherben aussah, den eine Hausfrau zusammengefegt hatte. Mike wischte sich die schmutzigen Handflächen an seinen Jeans ab und wartete einfach darauf, was als nächstes passieren würde.

Zunächst geschah gar nichts; der Vogel tappte unermüdlich auf dem Schornstein hin und her; wie ein schlafloser Mensch, der um drei Uhr nachts ruhelos im Zimmer auf und ab läuft. Ob das fünf Minuten dauerte oder aber fünfundzwanzig, das konnte Mike danach nicht sagen.

Dann hörte er wieder jenen lauten Flügelschlag. Der Vogel ließ sich vor der Schornsteinöffnung nieder, und diesmal begann Mike, der hinter seinem Ziegelhaufen kniete, ihn mit Wurfgeschossen zu bombardieren, noch bevor er den Kopf senken konnte. Ein Ziegelbrocken prallte gegen eines der gelben schuppigen Beine, und aus der Wunde sickerte Blut, das fast so schwarz aussah wie die Teeraugen. Mike schrie triumphierend auf, aber seine dünne Stimme ging im wütenden Kreischen des Vogels fast unter.

»Verschwinde!« brüllte Mike. »Ich werde dich immer weiter bombardieren, bis du von hier verschwindest, das schwöre ich bei Gott!«

Das Vogelmonster flog wieder auf den Schornstein hinauf und setzte seine ruhelose Wanderung fort.

Mike wartete.

Schließlich hörte er es erneut mit den Flügeln schlagen und davonfliegen Er rechnete damit, daß die gelben Beine, die große Ähnlichkeit mit Hühnerbeinen hatten, abermals vor der Öffnung auftauchen würden. Doch das geschah nicht. Überzeugt davon, daß es sich um irgendeinen Trick handeln mußte, wartete er noch längere Zeit, bis ihm schließlich klar wurde, daß das gar nicht der wahre Grund für sein Ausharren im Schornstein war, sondern daß er ganz einfach Angst hatte, seinen sicheren Zufluchtsort zu verlassen.

Los, nun überwinde dich schon! Du bist doch kein Hasenfuß! machte er sich selbst Mut.

Er schob einige Ziegelstücke in sein Hemd und nahm in beiden Händen soviel mit, wie er nur tragen konnte. Dann trat er aus dem Schornstein heraus, wobei er versuchte, seine Augen überall gleichzeitig zu haben. In diesem Moment wünschte er sich sehnlichst, ein zweites Augenpaar im Hinterkopf zu haben. Vor ihm, rechts und links erstreckte sich nur das öde Gelände, übersät mit den rostigen Überresten der Eisenhütte. Er wirbelte auf dem Absatz herum, überzeugt davon, den Vogel auf dem Schornstein zu erblicken wie einen auf Beute lauernden Geier, einen einäugigen Geier, der nur abwartete, bis der Junge ihn sah, um ihn dann zum letzten Mal anzugreifen und ihn mit seinem scharfen Schnabel zu zerfetzen und zu zerfleischen.

Aber der Vogel war nicht da.

Er war tatsächlich weggeflogen.

Jetzt erst ließen Mikes Nerven ihn fast im Stich.

Er stieß einen zittrigen Angstschrei aus (offenbar hatte er doch ziemlich viel von einem Hasenfuß an sich, gestand er den anderen Klubmitgliedern, die gebannt lauschten, während er mit leiser Stimme etwas zögernd seine Geschichte erzählte) und rannte auf den verwitterten Holzzaun zu, der das Feld von der Straße trennte. Unterwegs ließ er seine Munition fallen, und als sein Hemd aus der Hose rutschte, fielen auch die restlichen Ziegelvorräte heraus. Sich nur mit einer Hand festhaltend, setzte er über den Zaun, packte die Lenkstange seines Fahrrads und rannte eine ganze Weile neben ihm die Straße entlang, bevor er aufsprang. Dann trat er wie wild in die Pedale; er wagte weder sich umzusehen noch langsamer zu fahren, bis er die Kreuzung Pasture Road und Outer Main Street erreicht hatte, wo lebhafter Verkehr herrschte.

Als er nach Hause kam, wechselte sein Vater gerade die Zündkerzen an ihrem alten John Deere-Traktor aus. Will betrachtete seinen Sohn von Kopf bis Fuß und meinte dann, er sehe furchtbar schmutzig und staubig aus. Mike zögerte den Bruchteil einer Sekunde, dann erzählte er seinem Vater, er wäre auf der Heimfahrt vom Rad gestürzt, als er einem Schlagloch ausweichen wollte.

»Hast du ein Andenken mitgebracht?« fragte Will.

Mike zog das Zahnrad aus seiner Tasche und zeigte es seinem Vater, der einen kurzen Blick darauf warf und dann nach einem kleinen Ziegelkörnchen auf der Hautpartie unterhalb von Mikes Daumen griff, das ihn mehr zu interessieren schien.

»Aus dem alten Schornstein?« fragte er.

Mike nickte.

»Bist du drin gewesen?«

Mike nickte wieder.

»Hast du da drin irgendwas gesehen?« fragte Will und fügte dann rasch hinzu, um der ursprünglich gar nicht scherzhaft gemeinten Frage ihren Ernst zu nehmen: »Irgendeinen verborgenen Schatz?«

Mühsam lächelnd, schüttelte Mike den Kopf.

»Na ja, erzähl deiner Mutter nicht, daß du dich da herumgetrieben hast«, sagte Will. »Sie würde zuerst mich und dann dich umbringen.« Er betrachtete seinen Sohn noch einmal, aufmerksamer als zuvor, und Mike fühlte sich ziemlich unbehaglich unter seinen forschenden Blicken.

»Mikey, ist alles in Ordnung?«

»Häh?«

»Du siehst ein bißchen blaß um die Augen rum aus.«

»Wahrscheinlich bin ich nur müde«, sagte Mike. »Immerhin sind es hin und zurück zehn Meilen, vergiß das nicht. Soll ich dir beim Traktor helfen, Daddy?«

»Nein, ich bin fast fertig. Geh lieber rein und wasch dich.«

Mike machte sich auf den Weg, und dann rief sein Vater ihn noch einmal.

Mike drehte sich um.

»Ich möchte nicht, daß du noch einmal jenen Ort aufsuchst«, sagte Will, »zumindest nicht, bis diese Mordfälle aufgeklärt sind und der Täter hinter Schloß und Riegel sitzt... du hast da draußen niemanden gesehen, oder? Niemand hat dich belästigt oder verfolgt?«

»Ich habe keinen Menschen gesehen«, antwortete Mike wahrheitsgetreu.

Will nickte und zündete sich eine Zigarette an. »Na ja, trotzdem war's falsch von mir, dich dorthin zu schicken. Solche alten Orte... manchmal können sie gefährlich sein.«

Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke.

»Okay, Daddy«, sagte Mike. »Ich möchte sowieso nicht mehr dorthin. Es war... ein bißchen unheimlich.«

Will nickte wieder. »Je weniger du deiner Mutter davon erzählst, desto besser. Jetzt geh und wasch dich. Und sag ihr, sie soll drei oder vier Würste mehr als sonst heiß machen.«

Und das tat Mike dann auch.

5

Später an jenem Nachmittag des 6. Juli waren drei der Verlierer - Ben, Richie und Bill - auf dem Weg zur Stadtbücherei von Derry. Ben und Richie hielten aufmerksam Ausschau nach Henry Bowers und dessen Kumpanen, aber Bill starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin, ganz in Gedanken versunken. Mike war etwa eine Stunde, nachdem er ihnen von dem Vogel berichtet hatte, aufgebrochen, weil er um vier Uhr zu Hause sein mußte, um seinem Vater beim Erbsenpflücken zu helfen. Beverly mußte noch einkaufen und für ihren Vater das Abendessen kochen, und auch Eddie und Stan hatten noch zu tun. Aber bevor sie alle aufgebrochen waren, hatten sie noch damit begonnen, ihr zukünftiges unterirdisches Klubhaus zu graben. Für Bill - und er vermutete, auch für alle anderen - war das fast so etwas wie eine symbolische Handlung gewesen. Sie hatten ihr Werk begonnen.

»Hast du die Geschichte geglaubt, die er uns erzählt hat, Bill?« fragte Ben. Sie gingen gerade an der Stadthalle vorüber. Die Bücherei lag direkt vor ihnen; die alten Ulmen um sie herum spendeten dem Steingemäuer Schatten.

»Ja«, sagte Bill. »Ich g-g-glaube, er h-hat die W-W-Wahrheit gesagt. V-V-Verrückt, aber w-wahr. Was m-m-m-meinst du, Richie?«

Richie nickte. »Ich glaube ihm«, sagte er. »Ich hasse es, eine solche Geschichte glauben zu müssen, wenn ihr versteht, was ich meine - aber ich glaube ihm. Wißt ihr noch, was er über jene orangefarbenen Dinger auf der Zunge des Vogelmonsters sagte?« Bill und Ben nickten. »Die Pompons«, fuhr Richie fort. »Daran mußte ich sofort denken.«

»Ich auch«, sagte Ben. »Ganz gleich, welche Gestalt Es annimmt - Es hinterläßt immer seine Visitenkarte.«

Sie überquerten die Straße zur Bücherei.

»Ich h-h-habe Stan g-gefragt, ob er sch-sch-schon mal w-was von einem s-solchen V-V-V-Vogel gehört hat«, sagte Bill. »N-Nicht unbedingt von einem so g-g-großen, s-sondern einfach v-v-v-v-...«

»Von einem ganz normalen?« schlug Richie vor.

Bill nickte. »Er s-s-s-sagte, v-vielleicht gäbe es in S-Südamerika oder in A-A-Afrika so einen V-Vogel, aber k-k-k-keinesfalls hier b-bei uns.«

»Er glaubt die Geschichte also nicht?« fragte Ben.

»D-D-D-Doch«, erwiderte Bill. Und dann erzählte er ihnen, was Stan sonst noch gesagt hatte, als Bill mit ihm zu jener Stelle gegangen war, wo sie ihre Räder versteckt hatten. Stan hatte ihm erklärt, daß keiner von ihnen jenen Vogel hätte sehen können, bevor Mike ihnen davon erzählt hatte. Etwas anderes, ja, aber das nicht. Der Vogel war Mike Hanions persönliches

Monster gewesen. Jetzt aber... nun ja, jetzt war jener Vogel sozusagen das gemeinsame Eigentum des Klubs der Verlierer, und jeder von ihnen könnte Es in dieser Vogelgestalt sehen. Vielleicht würde Es für sie etwas anders aussehen - für Bill könnte es eine Krähe sein, für Richie ein Habicht, für Beverly vielleicht sogar ein goldener Adler -, aber Es würde irgendein Vogel sein. Daraufhatte Bill erwidert, das würde bedeuten, daß nun auch alle ihre Monster Mike gehörten, und daß er irgendeine Version des Aussätzigen, der Mumie, der Toten Jungen sehen könnte.

Stan hatte genickt, und bei den Rädern angelangt, hatte er gesagt: »Und das bedeutet, daß wir rasch handeln müssen, wenn wir überhaupt dazu entschlossen sind. Es weiß, daß wir Bescheid wissen. Ich glaube, Es wird versuchen, uns zu erledigen. Denkst du immer noch über das nach, worüber wir neulich sprachen?«

»J-J-Ja«, hatte Bill gesagt.

»Ich wollte, ich könnte dich begleiten.«

»B-B-Ben und R-Richie b-b-b-begleiten mich ja. Ben ist w-w-wirklich g-gescheit, und R-R-Richie auch, w-wenn er nicht gerade sch-sch-spinnt.«

Als sie jetzt vor der Bücherei standen, fragte Richie Bill, was er nun eigentlich genau vorhätte. Bill erzählte es ihnen - er sprach ganz langsam, um nicht zu stark zu stottern. Die Idee sei ihm seit zwei Wochen im Kopf herumgegangen, aber sie sei ganz verschwommen gewesen. Seltsamerweise habe sie sich nach Mikes Geschichte von dem Vogel schärfer herauskristallisiert.

Was man mit Vögeln tat, die man loswerden mußte, war, sie zu erschießen.

Was man mit Monstern tat, die man loswerden mußte, war, sie mit einer Silberkugel zu erschießen.

Richie und Ben hörten beeindruckt zu.

»Woher willst du aber eine Silberkugel nehmen?« fragte Richie.

»S-S-Selber m-machen. W-Wenn es geht, sogar zwei oder d-drei.«

»Aber wie?«

»Ich nehme an, daß wir hierher in die Bücherei gekommen sind, um das herauszufinden«, sagte Ben.

Richie nickte und schob seine Brille den Nasenrücken hinauf. Seine Augen hinter den Brillengläsern waren lebhaft und nachdenklich - er ist aufgeregt, dachte Bill. Aber jedenfalls nicht zu allerhand dummen Spaßen aufgelegt. Und das ist gut.

»Denkst du an die Walther deines Vaters?« fragte Richie. »Die wir in die Neibolt Street mitgenommen haben?«

»G-Genau«, sagte Bill.

»Selbst wenn wir wüßten, wie man Silberkugeln herstellt«, machte Richie einen neuen Einwand, »woher sollen wir denn das Silber nehmen?«

»Das laßt meine Sorge sein«, sagte Ben ruhig.

»Und was dann?« fragte Richie. »Wieder in die Neibolt Street?«

Bill nickte. »W-Wieder in die N-N-Neibolt Street. Und d-dann machen wir ihm den G-G-G-Garaus.«

Die drei Jungen blieben noch einen Moment stehen und sahen einander feierlich an, dann gingen sie zusammen in die Bücherei hinein.

»Na, da schau einer an, da ist ja wieder dieser schwarze Kerl!« rief Richie mit seiner Stimme-eines-irischen-Bullen. Fast eine Woche war vergangen, seit Mike ihnen die Geschichte vom Vogel auf dem Gelände der Kitchner-Eisenhütte erzählt hatte; es war der 12. Juli, und das unterirdische Klubhaus näherte sich der Vollendung. »Einen wunderschönen Morgen, Mr. O'Hanlon! Es ist ein herrlicher, herrlicher Tag, wie meine alte Mutter zu...«

»Es ist zwei Uhr nachmittags, Richie!« sagte Ben und streckte seinen Oberkörper aus der Grube heraus. Er und Richie hatten die Seiten des Klubhauses mit Brettern verkleidet. Ben hatte seinen Sweater ausgezogen, weil der Tag heiß und die Arbeit schwer war. Sein T-Shirt war durchgeschwitzt und klebte an seinem fetten Oberkörper und an seinem Hängebauch. Sobald aber Beverly auftauchte, dachte Mike, würde Ben seinen Sweater (der ordentlich an einem Ast hing) rasch wieder anziehen und aus Liebe mit Freuden schwitzen.

»Spielt keine Rolle«, sagte Richie. Er war aus der Grube herausgeklettert, weil es Zeit für eine Zigarettenpause war. Nachdem er dann festgestellt hatte, daß ihm für eine Zigarettenpause die Zigaretten fehlten, hatte er beschlossen, trotzdem eine Pause einzulegen. »Ich bin nicht kleinlich«, erklärte er hoheitsvoll, während Ben unten keuchend schaufelte. »Die Uhrzeit spielt überhaupt keine Rolle. Alle Iren sagen, >einen wunderschönen Morgen<. Frag Mr. Nell. Er wird's dir bestätigen.«

Mike hatte sein Fahrrad neben Silver unter der Brücke versteckt. Er hielt das Album seines Vaters unter dem Arm geklemmt. »Wo sind denn alle anderen?«

»Bill und Eddie sind vor etwa 'ner halben Stunde zur Müllhalde gegangen, um Bretter fürs Dach zu holen«, berichtete Richie. »Und Stan und Bev sind in der Stadt, um die Scharniere zu besorgen. Übrigens, du schuldest uns 23 Cent, wenn du immer noch Klubmitglied sein willst. Dein Anteil an den Scharnieren.«

Mike kramte in seiner Hosentasche, zählte 23 Cent ab (danach war er noch im stolzen Besitz von ganzen 10 Cent) und gab sie Richie. Dann trat er näher an die Grube heran und blickte hinab.

Das ist ja gar keine einfache Grube mehr, dachte er beeindruckt. Die Wände bildeten korrekte Quadrate und waren sorgfältig verkleidet. Die dazu verwendeten Bretter waren zwar unterschiedlichster Herkunft - von einem halben Dutzend verschiedener Orte zusammengeklaut -, aber Ben, Bill und Stan hatten sie ordentlich zurechtgesägt, und Ben und Beverly hatten dann noch Querlatten angenagelt. Eddie war zwar immer noch ein bißchen nervös, aber das lag einfach in seiner Natur. An den oberen Kanten war die Erde ringsherum rechtwinklig ausgestochen worden, und Mike vermutete, daß die Deckenbretter dort genau eingepaßt würden.

»Ich glaube, du weißt wirklich, was du tust«, sagte Mike.

»Na klar«, meinte Ben und deutete auf das Album unter Mikes Arm. »Was ist das?«

»Das Derry-Album meines Vaters«, erklärte Mike. »Er sammelt alte Bilder und Zeitungsausschnitte über diese Stadt. Das ist sein Hobby. Ich hab's

mir schon vor einigen Tagen angeschaut - ich hab' euch doch erzählt, daß ich glaubte, jenen Clown schon vor dem 4. Juli irgendwo gesehen zu haben -, aber ich konnte es erst heute herbringen. Ich dachte, ihr solltet lieber alle selbst einen Blick darauf werfen.«

»Laß sehen«, sagte Richie.

»Warten wir lieber, bis alle da sind. Ich glaube, das ist besser.«

»Okay.« Richie hatte ehrlich gesagt sowieso keine allzu große Lust, sich Fotos von Derry anzusehen. Nicht nach jenem Vorfall in George Denbroughs Zimmer. »Magst du, Ben und mir beim Abstützen der Wände helfen?«

»Klar«, sagte Mike. Er legte das Album behutsam auf den Boden, in einigem Abstand zur Grube, damit es nicht schmutzig wurde; dann nahm er Bens Schaufel zur Hand.

»Du mußt genau hier graben«, erklärte Ben und zeigte ihm die Stelle. »Etwa einen Fuß tief. Dann setze ich das Brett ein und presse es gegen die Wand, während du das Loch wieder zuschaufelst.«

»Ein ausgezeichneter Plan, Mann«, kommentierte Richie weise von seinem Sitzplatz auf der Grubenkante her.

»Warum arbeitest du denn nicht mit?« fragte Mike.

»Ich hab' 'nen Knochen im Bein«, erklärte Richie gemütlich.

»Und wie steht's mit Bills Plan?« erkundigte sich Mike beim Schaufeln. Er unterbrach die Arbeit für einen Moment, um sein Hemd auszuziehen. Es war heiß, sogar hier unten. Grillen zirpten schläfrig im Unterholz.

»Gut«, antwortete Richie, und Mike glaubte zu sehen, daß er Ben einen warnenden Blick zuwarf. Er war darüber nicht gekränkt; diese Jungen kannten einander schließlich schon lange. Er war Mitglied im Klub, und er spürte, daß er ganz dazugehören würde, bevor der Sommer vorüber war. Das genügte ihm. Sie zu drängen wäre sinnlos. Irgendwann würden sie es ihm ganz von allein erzählen. »Wir dürfen nicht allzuviel verraten«, fügte Richie hinzu. »Bill bringt uns sonst noch glatt um.«

»Piep-piep«, rief Mike lachend. Richie versuchte, ein finsteres Gesicht zu machen. Seit Ben angefangen hatte, den Spottruf des Roadrunners auf Richie anzuwenden, sobald dieser seine Spinnereien allzusehr übertrieb, hatte dieses >Piep-piep< bei allen Klubmitgliedern große Beliebtheit erlangt

- halb war es ein Losungswort, halb ein Stammes-Schlachtruf. Wenn man Ben fragte, wie er überhaupt darauf gekommen war, konnte er nur den Kopf schütteln. Es war ihm eines Tages einfach plötzlich eingefallen.

»Warum machst du nicht dein Radio an, Richie?« fragte Ben. Er stellte das Brett in das von Mike ausgeschachtete Loch und hielt es fest. Richies Transistorradio hing wie immer an seinem Band vom dicken Ast eines Busches herab. »Im WABI kommt jetzt Rock and Roll.«

»Die Batterien sind leer«, sagte Richie. »Und du mußtest ja unbedingt meine letzten 23 Cent für deine Scharniere haben, wenn du dich noch daran erinnerst. Gemein vor dir, Haystack, sehr gemein. Und das nach allem, was ich für dich getan habe. Und außerdem - ist für dich Tommy Sands etwa Rock and Roll? Oder Pat Boone? Du hast sie ja nicht alle, Mann! Elvis, das ist Rock and Roll. Ernie K. Doe, das ist Rock and Roll. Carl Perkins, das ist Rock and Roll. Buddy Holly, Richie Valens...«

»Fats Domino«, fuhr Mike fort, auf seine Schaufel gestützt. »Frankie Ly-mon, Hank Ballard and the Midnighters, Jackie Wilson, Muddy Waters, La-Verne Baker, Chuck Berry, Little Richard, die Crests, die Chords, Shep and the Limelights...«

Sie sahen ihn so verblüfft an, daß er lachen mußte.

»Nach Fats Domino bin ich nicht mehr mitgekommen«, klagte Richie. Dann blies er die Backen auf und begann mit einer absolut schrecklichen Fats-Domino-Stimme zu schmettern: »Ah... foun... mäh... threeyul... on Blewberreh Heeyul...«

Ben hielt sich den stattlichen Bauch, taumelte in der Grube umher und tat so, als müßte er sich übergeben. Mike hielt sich die Nase zu und lachte so, daß ihm Tränen über die Wangen rollten.

»Was ist denn los?« fragte Richie. »Fehlt euch was? Das wargutl Das war ganz große Klasse!«

»O Mann!« rief Mike, der vor Lachen kaum reden konnte. »O Mann, Richie, aus dir wird nie ein Neger!«

»Ich möchte ja auch gar keiner sein«, erwiderte Richie aufrichtig. »Wer will denn schon pinkfarbene Hosen tragen und in Boston leben und Pizza scheibchenweise kaufen? Ich möchte viel lieber Jude sein wie Stan und ein Pfandleihhaus besitzen.«

Darüber mußten sie alle drei schallend lachen; ihr Gelächter hallte durch die grüne dschungelartige Wildnis mit dem irreführenden Namen >Bar-rens<, schreckte Vögel auf und ließ Eichhörnchen auf Ästen für einen Moment erstarren. Es waren junge Laute, durchdringend, lebendig, kraftvoll, ungekünstelt, frei. Fast alle Lebewesen, die dieses Lachen hörten, reagierten in irgendeiner Weise darauf, aber jenes Etwas, das vor kurzem aus einem großen Abflußrohr in den Kenduskeag geschwemmt worden war, lebte nicht mehr. Am Vortag hatte es nachmittags ein heftiges Gewitter mit Wolkenbruch gegeben (dem im Bau befindlichen Klubhaus war nicht viel passiert; seit Beginn der Ausschachtungsarbeiten hatte Ben es jeden Abend sorgfältig mit einer alten Plane abgedeckt, die Eddie hinter einer Kneipe -Wally's Spa - entdeckt und geklaut hatte; sie stank zwar, aber sie erfüllte ihren Zweck), und einige Stunden lang hatte in der unterirdischen Kanalisation von Derry eine starke Strömung geherrscht. Und diese starke Wasserströmung hatte eine gräßliche Überraschung ans Sonnenlicht befördert, die nur den Fliegen sehr willkommen war.

Es war die Leiche eines neunjährigen Jungen namens Jimmy Cullum. Abgesehen von der Nase war sein Gesicht nicht mehr zu erkennen. Übriggeblieben war davon nur eine weiche konturenlose Masse - konturenlos bis auf einige rotschwarze Löcher, die Stan Uris bestimmt hätte identifizieren können - es waren Schnabelhiebe eines riesigen Vogels. Wasser plätscherte über Jimmy Cullums schmutzige Baumwollhose. Die weißen Leichenhände trieben dahin wie tote Fische. Auch sie waren zerfleischt, wenn auch nicht so stark wie das Gesicht.

Bill und Eddie, die mit Brettern von der Müllhalde schwer beladen waren, überquerten den Kenduskeag auf den nach Bens Patent im Wasser verteilten Steinen, nicht einmal ganze 40 Yards von der Leiche entfernt, aber dank einer Biegung des Flußbettes blieb ihnen dieser grausige Anblick er-

spart. Sie hörten Richie, Ben und Mike lachen, lächelten selbst ein wenig und beeilten sich, zu ihren Freunden zu kommen.

7

Die drei lachten immer noch, als Bill und Eddie die Lichtung erreichten. Beide schwitzten, und sogar Eddie hatte etwas Farbe im Gesicht. Sie warfen ihre Bretter auf einen Haufen, und Ben kletterte aus der Grube heraus, um sie zu begutachten.

»Gut«, sagte er. »Sehr gut. Ausgezeichnet.«

Bill ließ sich erschöpft zu Boden fallen. »K-K-Kann ich meinen H-H-H-Herzinfarkt gleich b-bekommen, oder m-muß ich bis sch-sch-später w-w-warten?«

»Wart lieber bis später«, sagte Ben zerstreut. Er hatte einige Werkzeuge in die Barrens mitgebracht, und nun kontrollierte er jedes einzelne Brett sorgfältig, zog Nägel heraus und entfernte Schrauben. Eines warf er weg, weil es zersplittert war, ein zweites prüfte er mit der Faust auf seine Stabilität.

Die anderen sahen ihm eine Zeitlang bei der Arbeit zu. Richies Transistorradio, das seiner Stimme beraubt war, bis Richie wieder Taschengeld bekommen oder irgendwo einen Rasen zum Mähen finden würde, schwankte in der leichten Brise hin und her. Bill mußte plötzlich daran denken, wie merkwürdig es doch war, daß sie in diesem Sommer alle hier waren. Manche Kinder besuchten Verwandte in anderen Gegenden des Landes. Andere waren in kirchlichen Ferienlagern oder in Pfadfinderlagern oder in jenen Ferienlagern für Kinder reicher Leute, wo man segeln und Golf spielen lernen konnte. Sehr viele Kinder waren in diesem Sommer nicht in Derry, und Bill kannte auch den Grund dafür. Ihre Eltern wollten sie aus der Stadt heraushaben. Viele Leute, die ursprünglich geplant hatten, ihren Urlaub zu Hause zu verbringen, waren doch lieber weggefahren. Es war so ähnlich wie bei der Angst vor Kinderlähmung im Jahre 1956; damals waren vier Kinder, die im Pederson-Park-Teich geschwommen waren, daran erkrankt. Eines war fast gestorben, ein zweites würde den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen müssen. Plötzlich waren alle, die es sich irgendwie leisten konnten, weggefahren. Und jetzt war es ebenso; nur war es diesmal keine Kinderlähmung, sondern eine andere Art von Gefahr.

Aber keiner von uns ist weggefahren, dachte er, während Ben Nägel aus den Brettern herauszog und Eddie sich ins Gebüsch verzog, um zu pinkeln. Wir sind alle zur Stelle. Kein Ferienlager, keine Urlaubsreise, nichts. Wir sind zur Stelle. So als müßte es so sein.

»Da unten auf dem Müll liegt 'ne große alte Tür rum«, berichtete Eddie, als er gleich darauf auf die Lichtung zurückkam und beim Gehen seinen Reißverschluß hochzog. »Sie war zu schwer für uns. Aber Bill meint, wenn wir alle hingehen würden, könnten wir sie tragen.«

»Was für eine Tür ist es denn?« fragte Ben.

»M-M-M-Mahagoni, g-glaube ich.«

»Jemand hat eine Mahagonitür weggeworfen?« fragte Ben überrascht, aber nicht ungläubig.

»Die Leute werfen alles mögliche weg«, sagte Mike, der bisher ruhig dagesessen war, die Arme um die Knie geschlungen, und den anderen zugehört hatte. »Mir wird immer ganz übel, wenn ich das sehe.«

»W-W-Was ist d-das?« fragte Bill, der das Fotoalbum entdeckt hatte. Mike erklärte es ihm und sagte, er würde ihnen zeigen, was er darin gefunden hatte, sobald Stan und Beverly zurückkämen.

Sie arbeiteten an ihrem Klubhaus weiter, bis Stan und Bev auftauchten, beide mit einer braunen Tüte voller Scharniere in der Hand. Während Mike erzählte, saß Ben im Schneidersitz da und machte in zwei der langen Bretter glaslose Fenster, die man richtig öffnen und schließen konnte. Bill beobachtete bewundernd, wie rasch, sicher und geschickt sich Bens Finger bewegten - wie die eines Chirurgen.

»Einige dieser Bilder sind mehr als hundert Jahre alt, sagt mein Vater«, erzählte Mike, während er das Album auf dem Schoß liegen hatte. »Er kauft sie bei Altwarenhändlern oder auf Flohmärkten. Und manchmal tauscht er mit anderen Sammlern. Er hat nämlich auch einige von diesen Stereoskopbildern, wo auf einer langen Karte immer zwei genau gleich sind.«

»Was findet er denn an diesem Zeug?« fragte Beverly.

»Kapier' ich auch nicht«, meinte Eddie. »Die meiste Zeit ist Derry doch stinklangweilig.«

»Na ja, ich glaube, es liegt daran, daß er nicht hier geboren ist«, erklärte Mike ein bißchen schüchtern. »Es ist alles so... ich weiß auch nicht, wie ich sagen soll... so neu für ihn oder so, als käme man erst in der Mitte eines Films ins Kino...«

»K-K-Klar, man möchte w-wissen, was am Anfang 1-1-los war«, kam Bill ihm zu Hilfe.

»Ja, das ist es.« Mike nickte dankbar. »Die Geschichte von Derry ist wirklich sehr interessant. Und ich glaube, einiges davon steht in Zusammenhang mit diesem... diesem Es, wenn ihr es so nennen wollt.«

Er blickte Bill an, und Bill nickte mit schmalen, nachdenklichen Augen.

»Ich habe das Album nach der Parade vom 4. Juli wieder einmal durchgesehen, weil ich wußte, daß ich diesen Clown schon vorher gesehen hatte. Ich wußte es. Ich bin eines Morgens aufgewacht und wußte es einfach. Seht mal!«

Er öffnete das Album, schlug es an einer bestimmten Stelle auf und reichte es Ben, der rechts neben ihm saß.

»R-R-Rührt die S-S-S-Seiten nicht an!« rief Bill scharf, und seine Stimme war so eindringlich, daß alle zusammenzuckten. Er hatte eine Hand zur Faust geballt; Richie sah, daß es die Hand war, die er sich in Georgies Zimmer verletzt hatte.

»Bill hat recht«, sagte er mit einer so gedämpften, besorgten Stimme, wie man sie von ihm überhaupt nicht gewöhnt war. »Seid vorsichtig. Wenn wir es damals gesehen haben, könntet ihr es auch sehen.«

Das Album ging von Hand zu Hand; alle hielten es nur ganz vorsichtig an den Kanten fest, so als könnte es jeden Moment explodieren.

»Daddy sagt, man könnte nicht mehr feststellen, aus welcher Zeit dieses Bild genau stammt, aber vermutlich vom Anfang oder von der Mitte des 18. Jahrhunderts«, erklärte Mike. »Er hat einem Mann für einen Karton alter

Bücher und Bilder die Bandsäge repariert. Dieses Bild war darunter. Daddy sagt, daß es 40 Dollar oder noch mehr wert sein könnte.«

Es war ein Holzschnitt von der Größe einer großen Postkarte, und als Bill an die Reihe kam, es zu betrachten, stellte er erleichtert fest, daß Mikes Vater ein Album verwendet hatte, in dem die Bilder unter einer durchsichtigen Schutzfolie eingelegt wurden. Er starrte fasziniert auf den Holzschnitt und dachte: Da! Ich sehe ihn - oder vielmehr Es. Ich sehe Es wirklich. Das ist das Gesicht des Feindes.

Das Bild zeigte einen komischen Kauz, der mitten auf einer morastigen Straße mit etwas jonglierte, das wie Kegelkugeln aussah. Rechts und links der Straße standen einige Häuser und ein paar Gebäude, bei denen es sich vermutlich um Läden handelte. Das Ganze hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Derry, von einer Ausnahme abgesehen: der Kanal war schon da, auf beiden Seiten ordentlich mit Kopfsteinen gepflastert. In der oberen Ecke waren im Hintergrund Maultiere zu sehen, die auf einem Treidelweg ein Boot zogen.

Etwa ein halbes Dutzend Kinder stand um den komischen Kauz herum. Eines trug einen pastoralen Strohhut. Ein Junge hatte einen Reifen in der Hand, und in der anderen einen Stock, um ihn damit anzutreiben. Der komische Kauz grinste übers ganze Gesicht. Er war nicht geschminkt (doch Bill fand, daß sein ganzes Gesicht wie eine geschminkte Maske aussah), aber er war kahlköpfig, bis auf zwei Haarbüschel, die wie Hörner über seinen Ohren hochstanden, und Bill erkannte mühelos ihren Clown. Vor zweihundert Jahren oder mehr, dachte er und verspürte eine eigenartige Mischung aus Angst, Zorn und Erregung. Als er 25 Jahre später in der Stadtbücherei von Derry saß und sich an diesen ersten Blick in das Album von Mikes Vater erinnerte, dachte er, daß er sich damals gefühlt hatte wie ein Jäger, der die erste frische Spur eines alten Killertigers gefunden hat. Vor zweihundert Jahren ... so lange schon, und nur Gott weiß, wieviel länger. Dieser Gedanke brachte ihn auf die Frage, wie lange der Geist von Pennywise, dem Clown, schon in Derry sein mochte - aber er stellte fest, daß er sich mit dieser Frage lieber nicht ausführlich beschäftigen wollte.

»Gib's mir, Bill«, sagte Richie, aber Bill hielt das Album noch einen Augenblick in den Händen und starrte auf den Holzschnitt, überzeugt davon, daß er gleich zum Leben erwachen würde. Die Kugeln, mit denen der komische Kauz jonglierte, würden durch die Luft fliegen, die Kinder würden lachen und Beifall klatschen (vielleicht würden einige statt dessen aber auch schreien und weglaufen), die Maultiere würden jenseits des Bildrandes verschwinden.

Aber nichts von all dem geschah, und Bill reichte das Album weiter an Richie.

Als es zu Mike zurückkam, blätterte er einige Seiten um. »Hier«, sagte er. »Dieses Bild ist von 1856, vier Jahre, bevor Lincoln Präsident wurde.«

Wieder machte das Album die Runde. Es handelte sich um ein farbiges Scherzbild, das eine Schar Betrunkener darstellte, die vor einem Saloon herumstanden (oder herumtaumelten), während ein fetter Politiker mit Kotelettenbart auf einem Brett eine Rede hielt - besagtes Brett lag auf zwei großen Fässern und bog sich unter seinem Gewicht bedenklich durch. Aus einiger Entfernung betrachtete eine Gruppe von Frauen in Häubchen angewidert diese Trunksüchtigen. Das Bild trug die Unterschrift: Politik in DERRY MACHT DURSTIG, SAGT SENATOR GARNER!

»Daddy sagt, solche Bilder seien in den 4oer und 5oer Jahren des 19. Jahrhunderts sehr beliebt gewesen«, erklärte Mike. »Man nannte sie >Narren-Karten< und verschickte sie gern an Freunde und Bekannte. Ich nehme an, sie waren so was Ähnliches wie heute manche Karikaturen in >Mad<.«

»S-S-S-Satire.«

»Ja«, sagte Mike. »Aber schaut euch mal die untere Ecke der Karte genauer an.«

Aber sie hätten den Clown auch ohne Mikes Hinweis nicht übersehen. Er trug einen grellkarierten, eng anliegenden Anzug, wie manche Handlungsreisende sie liebten, und er spielte mit einigen betrunkenen Holzfällern das Spiel >Eine-Erbse-drei-Nußschalen<. Er zwinkerte einem Holzfäller zu, der - seinem offenen Mund und dem ganzen überraschten Gesichtsausdruck nach zu schließen - gerade die falsche Nußschale erwischt hatte. Der Handlungsreisende/Clown nahm eine Münze von ihm entgegen. Diese Szene war nur eine von vielen. Auf der Karte war auch ein grinsender dik-ker Mann zu sehen, der einem gefleckten Hund ein Glas Bier in die Kehle schüttete; eine Frau, die hingefallen war und mitten in einer Pfütze auf dem Hintern saß; zwei boshafte Straßenbengel, die einem wohlhabend aussehenden Geschäftsmann Schwefelhölzer in die Schuhsohlen steckten; und ein Mädchen, das mit dem Kopf nach unten in einer Ulme schaukelte.

»Wieder er - Es«, sagte Ben. »Wann war das - 100 Jahre später?«

»In etwa«, antwortete Mike. »Und hier ist eins von 1891.«

Diesmal war es ein Zeitungsausschnitt aus den >Derry News<: der Leitartikel auf der ersten Seite. hurra!! lautete die übrschwengliche Überschrift. EISENHÜTTE eröffnet! Und direkt darunter: Die ganze Stadt strömt zum Galapicknick. Das Zeitungsfoto war ein Holzschnitt, der die Zeremonie des Band-Zerschneidens in der Kitchner-Eisenhütte zeigte; der Stil erinnerte Bill an die Drucke von Currier und Ives, die seine Mutter im Eßzimmer aufgehängt hatte, obwohl dieses Bild hier bei weitem nicht so künstlerisch gestaltet war. Ein mit Cut und Zylinder herausgeputzter Mann hielt eine große, mit Bändern geschmückte Schere geöffnet an das Band, während eine riesige Menschenmenge zuschaute. Links davon vollführte ein Clown

- ihr Clown - gerade einen Handstand für eine Gruppe von Kindern. Der Künstler hatte ihn auf dem Kopf stehend eingefangen, und auf diese Weise war sein Grinsen diesmal wirklich zum Schrei geworden.

Bill reichte das Album rasch an Richie weiter.

Das nächste Bild war ein Foto, das Will Hanion mit der Unterschrift 1931: Aufliebung der Prohibition in Derry versehen hatte. Obwohl keines der Kinder viel über die Prohibition und deren Aufhebung wußte, waren die ins Auge springenden Tatsachen aus dem Foto noch deutlich zu erkennen. Er zeigte >Wally's Spa< unten in Hell's Half-Acre. Die Spelunke war buchstäblich zum Brechen voll mit Männern: Männern in weißen Hemden mit offenen Kragen und steifen Strohhüten, Männer in Unterhemden, Holzfäller in karierten Hemden, Männer in Bankiersanzügen. Sie alle hielten triumphierend Gläser und Flaschen hoch. Im Fenster hingen zwei Plakate: willkommen daheim, john barleycorn! stand auf dem einen, auf dem anderen:

heute abend freibter. Der Clown, diesmal wie ein richtiger Dandy gekleidet (weiße Schuhe, kurze Gamaschen, gestreifte Hosen), hatte einen Fuß auf das Trittbrett eines Reo-Autos gestellt und trank aus einem Bierkrug, den er mit beiden Händen hielt.

»Und das hier ist von 1945«, sagte Mike.

Wieder ein Ausschnitt aus den >Derry News<. Die Schlagzeile lautete: JAPAN kapituliert! - der KRIEG ist aus! Es ist überstanden! Eine Parade marschierte die Main Street hinab, auf den Up-Mile Hill zu. Und da war wieder der Clown in seinem Silberkostüm mit den orangefarbenen Knöpfen, im Hintergrund des körnigen Zeitungsfotos, das aus einer Punktmatritze bestand.

Aber als Bill das Album in der Hand hielt, verschwanden die einzelnen Punkte plötzlich, und das Foto erwachte zum Leben.

»Das...«, begann Mike.

»S-S-S-Seht mal!« brachte Bill mühsam hervor. »S-S-Seht euch das a-a-alle mal an.«

Sie scharten sich um ihn.

»O mein Gott!« flüsterte Beverly entsetzt.

»Das ist es!« rief Richie und schlug Bill vor Aufregung auf den Rücken. Er drehte sich um und blickte in Eddies leichenblasses, angespanntes Gesicht und in Stans zur Maske erstarrtes Antlitz. »Das ist es, was wir in Georges Zimmer gesehen haben, genau das haben wir...«

»Pssst!« sagte Ben. »So hört doch nur!« Und fast schluchzend: »Man kann sie hören! Mein Gott, man kann sie hören!«

Und in der Stille, die nur vom ganz leisen Rascheln des Laubs in der leichten Sommerbrise unterbrochen wurde, konnten sie es alle hören. Die Kapelle spielte einen Militärmarsch, der kraftlos und blechern klang... durch die Entfernung... oder aber den Zeitabstand... oder warum sonst auch immer. Der Jubel der Menge hörte sich an, als würde er von einer unscharf eingestellten Rundfunkstation übertragen. Auch schwaches Knallen war zu hören, so als schnalzte jemand mit den Fingern.

»Feuerwerkskörper«, flüsterte Beverly und rieb sich mit zitternden Händen die Augen. »Das sind doch Feuerwerkskörper, nicht wahr?«

Niemand antwortete. Sie starrten gebannt auf das Foto, und ihre Gesichter schienen nur noch aus riesigen Augen zu bestehen.

Die Parade marschierte direkt auf sie zu, aber kurz bevor die Teilnehmer den äußersten Vordergrund erreichten - an dem Punkt, wo es so aussah, als müßten sie jeden Moment aus dem Foto herausmarschieren, hinein in eine Welt dreizehn Jahre später - verschwanden sie, so als wären sie um eine unsichtbare Kurve gebogen. Zuerst die Soldaten des Ersten Weltkriegs, deren Gesichter unter ihren Helmen eigentümlich alt aussahen, und die ein Transparent mit sich trugen: die Kriegsveteranen von derry heissen unsere tapferen junos willkommen. Dann die Soldaten aus Derry, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten, und schließlich die Kapelle der High School. Die Zuschauermenge wogte hin und her. Konfetti flog aus den Fenstern der oberen Stockwerke der Gedschaftshäuser entlang der Strecke. Der Clown paradierte und stolzierte entlang der Gehwege, schlug Purzelbäume und Räder, tat so, als hielte er ein Gewehr, tat so, als salutierte er. Und Bill bemerkte jetzt zum erstenmal, daß die Menschen sich von ihm abwandten - aber nicht so, als würden sie ihn wirklich sehen, sondern vielmehr so, als spürten sie einen kalten Windhauch und oder nähmen einen üblen Geruch wahr.

Nur die Kinder sahen ihn wirklich, und sie wichen erschrocken vor ihm zurück.

Ben streckte seine Hand nach dem Foto aus, wie Bill es in Georges Zimmer getan hatte.

»N-N-N-N-EiN!« schrie Bill.

»Ich glaube, mir kann nichts passieren, Bill«, sagte Ben. »Sieh mal.« Und er legte seine Hand einen Moment lang auf die Schutzfolie über dem Bild; dann zog er sie wieder zurück. »Aber wenn man diese Folie abheben würde. ..«

Beverly stieß einen schrillen Schrei aus. Der Clown hatte plötzlich aufgehört, Possen zu reißen, und kam direkt auf sie zu. Sein blutrot geschminkter Mund lachte. Bill zuckte zusammen, hielt das Album aber weiter fest, überzeugt davon, daß der Clown gleich aus dem Foto verschwinden würde wie die Parade und die Marschkapelle und die Pfadfinder und das CadillacKabriolett mit Miß Derry 1945.

Aber der Clown bog nicht um jene unsichtbare Kurve; er verschwand nicht. Statt dessen sprang er mit furchterregender Geschicklichkeit auf einen Laternenpfahl im äußersten linken Vordergrund des Fotos und kletterte wie ein Affe daran hoch. Und plötzlich preßte er sein Gesicht gegen die starke Plastikfolie, mit der die Bilder im Album bedeckt waren. Beverly schrie wieder auf, und diesmal schrie auch Eddie, obwohl sein Schrei eher ein rasselndes Japsen war. Die Folie wölbte sich - später stimmten sie alle darin überein, daß sie es genau gesehen hatten. Bill sah, wie die rote Nase des Clowns platt wurde, als ob jemand seine Nase gegen eine Fensterscheibe drückt.

»Ich bringe euch alle um!« rief der Clown lachend. »Wenn ihr versucht, euch mir in den Weg zu stellen, bringe ich euch alle um! Erst treibe ich euch in den Wahnsinn, und dann bringe ich euch um! Ihr könnt gegen mich nichts ausrichten, ich bin der Pfefferkuchenmann! Ihr könnt nichts gegen mich ausrichten, ich bin der Teen-age-Werwolf!«

Und für einen Moment veränderte sich sein Gesicht, und es war der Werwolf, dessen behaarte Fratze aus dem Kragen des Silberkostüms herausragte und sie mit gebleckten weißen Zähnen anglotzte.

»Ihr könnt nichts gegen mich ausrichten, ich bin der Aussätzige!«

Jetzt war es das gequälte zerfressene und vermodernde Gesicht des Aussätzigen, das sie mit seinen Augen eines lebendigen Toten anstarrte.

»Ihr könnt nichts gegen mich ausrichten, ich bin die Mumie!«

Das Gesicht des Aussätzigen wurde uralt und zerfurcht. Zerfallene Bandagen schwammen aus seiner Haut empor und gewannen Konturen. Ben wandte sich mit totenblassem Gesicht ab, eine Hand gegen Hals und Ohr gepreßt.

»Ihr könnt nichts gegen mich ausrichten, ich bin die Toten Jungen!«

»Nein!« schrie Stan Uris. Seine Augen traten fast aus den Höhlen, die von dunklen, krankhaft aussehenden Ringen umgeben waren. Schockhaut,

dachte Bill flüchtig bei diesem Anblick und 20 Jahre später verwendete er dieses Wort in einem Roman, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, woher er es hatte.

Stan entriß Bill das Album und schlug es zu. Er hielt es mit beiden Händen so fest umklammert, daß die Sehnen an seinen Handgelenken und Unterarmen hervortraten. Er starrte die anderen mit fast irren Augen an. »Nein«, sagte er gehetzt. »Nein, nein, nein.«

Und plötzlich stellte Bill fest, daß Stans wiederholtes Leugnen ihn mehr beunruhigte als der Clown, und er begriff, daß das genau die Reaktion war, die der Clown bewirken wollte, weil...

Weil ER - weil Es - vielleicht beunruhigt ist... weil Es vielleicht zum erstenmal in SEINEM langen, langen Leben sogar richtig Angst hat.

Er packte Stan bei den Schultern und schüttelte ihn kräftig. Stans Zähne schlugen aufeinander, und er ließ das Album fallen. Mike hob es auf und legte es rasch beiseite; nach allem, was er soeben gesehen hatte, hätte er es am liebsten überhaupt nicht mehr angerührt, aber immerhin war es das Album seines Vaters, und er begriff intuitiv, daß sein Vater das, was er selbst gerade gesehen hatte, darin nie sehen würde.

»Nein«, sagte Stan leise.

»Ja«, sagte Bill.

»Nein«, sagte Stan wieder.

»W-W-Wir haben es a-a-alle g-g-g-gesehen, Stan«, sagte Bill.

»Ja«, sagte Ben.

»Ja«, sagte Richie.

»Ja«, sagte Mike. »O Gott, ja.«

»Ja«, sagte Beverly.

»Ja«, sagte Eddie keuchend; selbst dieses kleine Wörtchen brachte er nur mühsam hervor, weil er kaum noch Luft bekam.

Bill suchte Stans Blick und hielt ihn eindringlich fest. »D-D-Du hast es a-auch g-g-gesehen.«

»Ich wollte es aber nicht sehen!« schrie Stan. Seine Stirn war schweißüber-strömt, und Schweißperlen hingen ihm in den Augenbrauen.

»Aber du hast es gesehen?«

Stan blickte die anderen an. Er fuhr sich mit den Händen durch die kurzen Haare und holte tief Luft - es hörte sich an wie ein zittriger Seufzer. Allmählich wich jener irre Glanz, der Bill so beunruhigt hatte, aus seinen Augen.

»Ja«, sagte er.

Bill seufzte erleichtert und dachte: Wir bilden immer noch eine Gemeinschaft. Es hat SEIN Ziel nicht erreicht. Wir können Es immer noch töten. Wir können Es töten ... wenn wir tapfer sind.

Bill blickte in die Runde und sah in jedem Augenpaar etwas von Stans Hysterie. Nicht ganz so ausgeprägt, aber doch deutlich vorhanden.

»K-K-Kommt«, sagte er, weil jemand etwas sagen mußte. »M-Machen wir das K-K-K-Klubhaus fertig. Einverstanden?«

Er sah die Dankbarkeit in ihren Augen und freute sich für sie... aber ihm selbst half ihre Dankbarkeit nicht viel. Sein Entschluß stand immer noch fest, aber es war ein bitterer Entschluß.

Ein sehr bitterer Entschluß.

Fünfzehntes Kapitel Das Rauchloch

1

In der Bücherei ist Schweigen eingetreten, aber es ist kein ungemütliches, betretenes oder besonders ängstliches Schweigen. Richie Tozier schiebt seine Brille hoch (eine Geste, die ihm schon wieder ganz vertraut ist, obwohl er seit 18 Jahren Kontaktlinsen getragen hat) und denkt erstaunt, daß die Atmosphäre im Raum sich verändert hat, während Mike ihnen sein Erlebnis mit dem riesigen Vogel auf dem Gelände der Eisenhütte - dort, wo jetzt das Einkaufszentrum steht -und das zum Leben erwachte Foto im Album seines Vaters ins Gedächtnis gerufen hat.

Richie hat gespürt, daß eine merkwürdige heitere Energie im Raum immer stärker wird. Er hat in den letzten paar Jahren neun- oder zehnmal Kokain ausprobiert -meistens auf Parties; Kokain ist nicht gerade etwas, das man im Haus haben will, wenn man ein erfolgreicher Disc-Jockey ist - und das ist ein ähnliches Geßhl gewesen, aber doch nicht das gleiche. Dieses Gefühl hier ist reiner, und er glaubt sich aus seiner Kindheit daran zu erinnern, als er jeden Tag davon erfüllt gewesen war und das für etwas ganz Selbstverständliches gehalten hatte. Wenn er als Kind jemals über diese nie versiegende Energiequelle nachgedacht hätte (seines Wissens hatte er das aber nie getan), so hätte er sie höchstwahrscheinlich als unveränderliche Tatsache des Lebens angesehen, als etwas, das immer da sein würde, wie seine Augenfarbe oder seine abscheulich krummen Zehen.

Nun, das stimmte aber nicht. Jene Energie, die einem als Kind so unerschöpflich zur Verfügung stand, von der man glaubte, sie würde nie versiegen - sie ging einem irgendwann zwischen 18 und 24 verloren und wurde von etwas viel Langweiligerem ersetzt: Vorsätzen oder Zielen oder welche hochtrabende Bezeichnung man auch immer wählen mochte. Man merkte es kaum, denn sie verschwand nicht mit einem Schlag. Und das ist vielleicht das Schlimmste daran, denkt Richie - daß man nicht mit einem Schlag aufhört, ein Kind zu sein, mit einem lauten Knall, so als ob einer der Luftballons des Clowns zerplatzt. Die Energie läuft einfach langsam aus, fließt sozusagen aus einem heraus...

Aber nun ist sie wieder da. Nein, nicht vollständig-zumindest noch nicht -, aber sie kommt zurück Er spürt sie im Raum. Zum erstenmal, seit sie sich zu jenem gräßlichen Mittagessen getroffen haben, sieht Mike jetzt völlig normal aus. Als Richie mittags das Restaurant betreten und Mike gesehen hatte, der mit Ben und Eddie im Foyer saß, hatte er entsetzt gedacht: Dieser Mann ist nahe daran, den Verstand zu verlieren oder Selbstmord zu begehen. Jetzt sieht Mike nicht mehr danach aus. Sein Gesicht hat diesen gehetzten Ausdruck verloren. Der letzte Rest davon ist verschwunden, während er seine Erlebnisse mit dem Vogel und dem Album seines Vaters noch einmal lebendig werden läßt. Irgendwie hat er Energie getankt. Und das trifft auf sie alle zu Diese neue Energie steht in ihren Gesichtern geschrieben, ist auch an ihren Stimmen zu erkennen... die ganze Luft ist davon erfüllt.

Eddie schenkt sich noch ein Glas Pflaumensaft mit Gin ein. Bill kippt einen Bourbon, Mike öffnet eine neue Dose Bier. Beverly wirft einen Blick auf die Luftballons, die Bill ans Mikrofilmgerät angebunden hat, und leert hastig ihr drittes Glas Wodka

mit Orangensaft. Sie haben alle ganz schön gebechert, aber keiner von ihnen ist betrunken. Jene neue Energie rührt nicht vom Alkohol her.

Es ist Eddie, der das Schweigen bricht. »Was meint ihr-wieviel weiß Es wohl von dem, was wir gerade tun?« fragt er.

»Na ja - schließlich war Es ja hier«, sagt Ben.

»Ich bin nicht sicher, daß das viel zu besagen hat«, erwidert Eddie.

Bill nickt. »Das sind nur bildhafte Vorstellungen«, sagt er. »Visionen. Ich bin nicht sicher, daß das zwangsläufig bedeutet, daß Es uns sehen kann oder weiß, was wir treiben. Wir sehen schließlich auch einen Nachrichtensprecher im Fernsehen, ohne daß er uns sieht.«

»Diese Ballons sind aber nicht nur Visionen«, sagt Beverly und deutet über ihre Schulter hinweg darauf. »Sie sind real.«

»Diese Differenzierung stimmt nicht«, meint Richie, und alle Blicke wenden sich ihm zu. »Auch Visionen sind real. Selbstverständlich sind sie das. Sie...«

Und plötzlich klickt ein neues Glied in der langen Kette seiner Erinnerungen ein; es klickt mit solcher Kraft ein, daß er sich unwillkürlich die Ohren zuhält. Seine Augen hinter den Brillengläsern werden riesengroß.

»O mein Gott!« ruft er plötzlich. Er greift nach der Tischkante, richtet sich halb auf und läßt sich dann wieder kraftlos auf seinen Stuhl fallen. Er will nach seiner Bierdosegreifen, stößt sie dabei um, umklammert sie dann und trinkt den restlichen Inhalt aus. Er starrt Mike an, während die anderen ihn verwirrt ansehen.

»Das Brennen!« schreit er. »Das Brennen in meinen Augen! Mike! Jenes Brennen in meinen Augen...« Mike nickt lächelnd.

»R-R-Richie?« fragt Bill. »W-Was ist denn l-l-los?«

Aber Richie hört ihn kaum. Die Erinnerung braust wie eine riesige Sturzwelle über ihn hinweg; ihm wird abwechselnd heiß und kalt, und er versteht plötzlich, warum all diese Erinnerungen sich nur ganz allmählich einstellen. Wenn er sich an alles auf einmal erinnert hätte, wäre es das gleiche gewesen, als ob jemand dicht an seiner Schläfe eine Schrotflinte abgefeuert hätte. Die Wucht dieser psychologischen Schrotflinte hätte ihm den Kopf zerschmettert.

»Wir sahen Es kommen«, sagt er, an Mike gewandt. »Wir sahen Es kommen, wir beide... oder war nur ich es?« Ergreift nach Mikes Hand, die auf dem Tisch liegt. »Hast du es auch gesehen, Mikey, oder nur ich? Hast du es gesehen? Den Waldbrand? Den Krater?«

»Ich habe es gesehen«, sagt Mike ruhig und drückt Richie die Hand. Richie schließt einen Moment lang die Augen und denkt, daß er noch nie in seinem Leben eine so warme und mächtige Woge der Erleichterung verspürt hat.

»Wovon redet ihr eigentlich?« fragt Eddie und blickt von Mike zu Richie.

Richie sieht Mike an, aber Mike schüttelt den Kopf. »Erzähl du's, Richie. Ich habe für heute abend genug geredet.«

»Nun ja, ich und Mikey, wir waren die beiden letzten Indianer im Rauchloch.«

»Das Rauchloch!« murmelt Bill.

»Jenes Brennen in meinen Augen«, sagt Richie, »unter meinen Kontaktlinsen. Ich habe es zum erstenmal gespürt, kurz nachdem Mike mich in Kalifornien angerufen hatte. Damals konnte ich es mir nicht erklären, aber jetzt weiß ich, was es war. Es war Rauch. Fünfundzwanzig Jahre alter Rauch.« Er sieht Mike wieder an. »Ist das etwas Psychologisches? Etwas Psychosomatisches? Etwas, das aus dem Unterbewußtsein kommt? Was würdest du sagen?«

»Ich würde sagen - nein«, erwidert Mike ruhig. »Ich würde sagen, daß das, was du gespürt hast, ebenso wirklich war wie die Luftballons oder der Kopf, den ich im Kühlschrank gesehen habe, oder wie die Leiche Tony Truckers, die Eddie gesehen hat. Komm, Richte, erzähl's ihnen.«

»Es war vier oder fünf Tage, nachdem Mike das Album seines Vaters in die Barrens mitgebracht hatte«, beginnt Richie. »Mitte Juli, glaube ich. Das Klubhaus war fertig. Aber... die Idee mit dem Rauchloch stammte ebenfalls von dir, Haystack Du hattest sie aus einem deiner Bücher.«

Ben nickt lächelnd.

Es war an jenem Tag bewölkt, denkt Richie. Windstill. Die Luft gewitterschwül. Wie an dem Tag etwa einen Monat später, als wir im Fluß standen und einen Kreis bildeten, und als Stan uns mit der Scherbe einer Colaflasche die Handflächen ritzte. Die Luft schien einfach dazusitzen und auf etwas zu warten, und später sagte Bill, deshalb sei es da drin auch so schnell so schlimm geworden - weil es völlig windstill war.

Der 17. Juli. Ja, da war's, das war der Tag des Rauchlochs. Der 17. Juli 1958, fast einen Monat, nachdem die Sommerferien begonnen hatten, fast einen Monat, nachdem sich in den Barrens die ersten Mitglieder der Klubs der Verlierer - Bill, Eddie und Ben - getroffen hatten.

Lassen Sie mich die Wettervorhersage für jenen Tag vor fast 27 Jahren sehen, denkt Richie, und noch bevor ich sie gelesen habe, werde ich Ihnen sagen, wie sie lautete; Richie Tozier, der Große Hellseher. »Heiß, schwül, starke Gewitterneigung. Und achten Sie auf die Visionen, die sich vielleicht einstellen, während Sie unten im Rauchloch sitzen...«

Es war zwei Tage nach der Auffindung von Jimmy Cullums Leiche gewesen, und am Vortag war Mr. Neu wieder in die Barrens gekommen, und er hatte direkt auf ihrem Klubhaus gesessen, ohne etwas von dessen Existenz zu ahnen, denn sie hatten die Decke schon fertiggestellt, und anschließend hatten sie unter Bens Anleitung alles sorgfältig mit Grasstücken abgedeckt. Wie der Damm, so war auch Bens Klubhaus ein durchschlagender Erfolg, aber diesmal ahnte Mr. Nell nichts davon.

Er hatte sie gründlich ausgefragt, ganz offiziell, und ihre Antworten in sein kleines schwarzes Notizbuch eingetragen, aber sie hatten ihm nur wenig sagen können -über Jimmy Cullum wußten sie wirklich nicht viel -, und schließlich war Mr. Nell wieder gegangen, nachdem er sie noch einmal daran erinnert hatte, daß sie niemals allein in den Barrens spielen sollten. Richie vermutet jetzt, daß. Mr. Nell ihnen einfach befohlen hätte zu verschwinden, wenn jemand von der Polizei in Derry wirklich geglaubt hätte, daß Jimmy (oder eines der anderen Mordopfer) in den Barrens umgebracht worden war. Aber sie wußten es natürlich besser; es lag einfach am Kanalisationssystem, daß die Leichen oft hier zum Vorschein kamen.

Mr. Nell war am 16. Juli in die Barrens gekommen, ja, und auch das war ein heißer und schwüler Tag gewesen, aber sonnig. Am 17. war es dagegen bewölkt gewesen.

»Wirst du's uns nun erzählen oder nicht, Richie?« fragt Bev. Sie lächelt ein wenig; ihre vollen Lippen sind blaßrosa, und ihre Augen leuchten.

»Ich überlege gerade, womit ich anfangen soll«, sagt Richie. Er nimmt die Brille ab, putzt sie an seinem Hemd, und plötzlich weiß er, womit er anfangen muß: wie sich an jenem Tag vor seinen und Bills Füßen die Erde aufgetan hatte. Natürlich wußte er, wo das Klubhaus war, ebenso wie Bill und die anderen. Trotzdem ver-bluffte es ihn immer noch, wenn die Erde sich plötzlich vor ihm einen Spalt breit auftat.

Er erinnert sich daran, daß Bill ihn auf dem Gepäckträger von Silver bis zur üblichen Stelle auf der Kansas Street mitgenommen und sein Rad wie immer unter der kleinen Brücke versteckt hatte. Er erinnert sich daran, wie sie den Pfad zur Lichtung hinabgegangen und stellenweise nur noch seitlich durchgekommen warenes war Hochsommer gewesen, und um diese Jahreszeit glichen die Barrens ganz besonders stark einem Dschungel. Er erinnert sich daran, wie sie nach den Moskitos geschlagen hatten, die sie umschwirrten; er erinnert sich sogar, daß Bill gesagt hatte (oh, wie deutlich hat er jetzt alles vor Augen, nicht einmal so, als wäre es erst gestern gewesen, sondern so, als würde es gerade in diesem Moment geschehen!): »B-B-B-Bleib mal sch-sch-sch-

2

stehen, Richie. Da s-s-sitzt ein P-Prachtexemplar auf deinem N-N-Nacken.«

»Scheiße!« rief Richie. Er haßte Moskitos. Kleine fliegende Vampire waren das, wenn man es sich richtig überlegte. »Mach ihm den Garaus, Big Bill.«

Bill schlug Richie auf den Nacken.

»Aua!«

»Siehst du?«

Er hielt Richie seine Hand vors Gesicht. Ein zerquetschter Moskito lag mitten in einem kleinen Blutfleck. Mein Blut! dachte Richie und sagte: »Igitt, igitt!«

»Na ja«, meinte Bill, während er sich die Hand an einigen Blättern abwischte, »der w-w-wird jedenfalls n-niemanden mehr sch-sch-stechen.«

Sie gingen weiter und schlugen nach den Moskitos, die von ihrem Schweißgeruch scharenweise angezogen wurden.

»Bill, wann wirst du den anderen von den Silberkugeln erzählen?« fragte Richie, als sie sich der Lichtung näherten. >Den anderen< bedeutete in diesem Fall Bev, Eddie, Mike und Stan; Richie vermutete allerdings, daß Stan schon ziemlich genau wußte, was sie in der Stadtbücherei so gründlich studierten. Stan war sehr scharfsinnig - scharfsinniger, als für ihn gut war, dachte Richie manchmal. An jenem Tag, als Mike das Album seines Vaters in die Barrens mitgebracht hatte, war Stan fast ausgeflippt. Richie war eigentlich so gut wie sicher gewesen, daß sie Stan danach nicht wiedersehen würden, daß der Klub der Verlierer auf sechs Mitglieder zusammenschrumpfen würde. Aber am nächsten Tag war Stan wieder zur Stelle gewesen, und Richies Achtung vor ihm war seitdem noch um einiges gestiegen. »Wirst du es ihnen heute sagen?«

»H-H-Heute n-nicht«, antwortete Bill.

»Du glaubst nicht, daß es klappen wird, stimmt's?«

Bill zuckte die Achseln, und Richie, der Bill Denbrough vermutlich besser verstand als jeder andere Mensch - viel später fand Bill dieses Verständnis bei Audra Phillips -, ahnte, was Bill auf der Seele lag, was er ohne das Hindernis seines Stotterns bestimmt ausgesprochen hätte: daß Kinder, die sil-

berne Pistolenkugeln herstellten, sich zwar in spannenden Büchern für Jungen und in Comics gut machten... daß solche Schilderungen aber reinster Humbug waren. Natürlich, versuchen konnten sie es. Ben Hanscom könnte es vielleicht sogar schaffen. In einem Film würde es klappen. Aber...

»Aber was dann?«

»Ich h-habe eine a-a-andere Idee«, sagte Bill. »Eine viel einf-f-fächere. Aber nur, wenn B-B-Beverly...«

»Wenn Beverly was?«

»Ach nichts.«

Und Bill äußerte sich nicht mehr zu diesem Thema.

Sie traten auf die Lichtung hinaus. Bei ganz genauem Hinsehen hätte jemand vielleicht bemerken können, daß das Gras etwas struppig aussah -ein bißchen mitgenommen - und daß die darauf verstreuten Blätter und Tannennadeln etwas künstlich wirkten. Die beiden Jungen gingen zur Mitte der Lichtung... und plötzlich öffnete sich mit quietschenden Scharnieren vor ihnen die Erde auf etwa 10 Zoll Länge und drei Zoll Breite, und aus der Dunkelheit starrte ein Augenpaar hervor. Unwillkürlich zuckte Richie zusammen. Aber es waren nur Eddie Kaspbraks Augen, und Eddie -der eine Woche später im Krankenhaus liegen würde - sagte: »Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke?«

Kichern von unten und der Schein einer Taschenlampe.

»Wir, Senhor«, rief Richie mit seiner Pancho-Vanilla-Stimme, ging in die Hocke und zwirbelte einen unsichtbaren Schnurrbart. »Kommt sofort raus, ihr verdammten Gringos! Ihr seid umzingelt!«

»Geh zum Teufel, Pancho!« sagte Eddie prompt und schlug den Fensterspalt zu. Wieder war von unten gedämpftes Kichern zu hören.

»Kommt sofort mit erhobenen Händen raus!« brüllte Bill mit der tiefen Kommandostimme eines Erwachsenen. Er begann über die grasbedeckte Decke des Klubhauses zu trampeln; der Boden unter seinen Füßen bewegte sich etwas auf und ab, aber kaum merklich; sie hatten gute Arbeit geleistet. »Ihr habt keine Chance!« brüllte er und sah sich in seiner Fantasie als furchtlosen Dan Matthews von der Highway Patrol. »Kommt sofort raus, Rafferty! Sonst kommen wir runter... und schiessen!«

Er hüpfte einmal auf und ab, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Von unten waren Schreie und Gelächter zu hören. Bill lächelte breit, ohne zu bemerken, daß Richie ihn mit offenem Mund anstarrte.

»Laß ihn rein, Ben, bevor die Decke einstürzt«, sagte Bev, und einen Augenblick später öffnete sich die große Falltür wie die Luke eines Unterseeboots, und Ben kam zum Vorschein. Er lächelte mit rotem Kopf, und Richie vermutete sofort, daß er neben Beverly gesessen hatte.

Bill und Richie sprangen hinab, und Ben schloß hinter ihnen die Falltür. Alle waren versammelt; sie saßen mit angezogenen Beinen da und lehnten sich gegen die Bretterwände; im Schein von Bens Taschenlampe waren ihre Gesichter einigermaßen zu erkennen.

»Na, w-was treibt ihr so?« fragte Bill.

»Nicht viel«, sagte Ben. Er saß wirklich neben Beverly und sah überglücklich aus. »Wir haben gerade...«

»Erzähl's ihnen, Ben«, fiel Eddie ihm ins Wort. »Erzähl ihnen die Geschichte. Ich möchte wissen, was sie davon halten.«

»Diese Sache wäre ohnehin nichts für dein Asthma«, sagte Stan nüchtern.

Richie setzte sich zwischen Mike und Ben und winkelte die Beine an. Es war herrlich kühl hier unten, herrlich geheimnisvoll. Vorübergehend vergaß er sogar, worüber er draußen so perplex gewesen war. »Wovon redet ihr eigentlich?« erkundigte er sich.

»Oh, Ben hat uns von einer Indianerzeremonie erzählt«, sagte Bev. »Aber Stan hat wohl recht - das wäre nichts für dein Asthma, Eddie.«

»Vielleicht wird's mir gar nichts ausmachen«, erwiderte Eddie etwas unbehaglich. »Normalerweise bekomm' ich nur dann einen Anfall, wenn ich sehr aufgeregt bin. Jedenfalls würde ich's gern ausprobieren.«

»W-W-Was ausprobieren?« fragte Bill.

»Die Rauchloch-Zeremonie«, sagte Eddie und schaute Ben an.

»Und w-w-was ist d-das?«

»Na ja, ich habe da ein Buch aus der Bücherei ausgeliehen«, erklärte Ben. »Es heißt >Ghosts of the Great Plains<, und es handelt von all den Indianerstämmen, die vor 100 und 150 Jahren weiter im Westen lebten. Die Piute und die Pawnee und die Kiowa und die Komantschen. Es war wirklich ein ganz tolles Buch. Ich würde furchtbar gern einmal jene Gegenden sehen, wo sie gelebt haben. lowa, Nebraska, Colorado, Utah...«

»Schweif nicht ab, erzähl lieber von der Rauchloch-Zeremonie«, unterbrach ihn Beverly mit einem Rippenstoß.

»Okay, du hast völlig recht«, sagte Ben, und Richie vermutete, daß Ben ihr ebenso bereitwillig zugestimmt hätte, wenn sie ihn aufgefordert hätte: »Trink jetzt dieses Gift, Ben, okay!«

»Na ja, fast alle diese Stämme kannten die Zeremonie, und unser Klubhaus brachte mich auf die Idee. Vor jeder wichtigen Entscheidung, die sie treffen mußten - ob sie den Büffelherden folgen sollten, ob sie näher an frisches Wasser umziehen sollten, ob sie gegen ihre Feinde kämpfen sollten -, gruben sie ein Loch in die Erde, bedeckten es mit Zweigen und ließen nur ein kleines Loch frei...«

»Das R-R-Rauchloch«, sagte Bill.

»Deine rasche Auffassungsgabe erstaunt mich immer wieder, Big Bill«, sagte Richie feierlich. »Du solltest dich für >Twenty-One< melden.«

Bill tat so, als wollte er nach ihm schlagen, und Richie wich zurück und stieß sich dabei kräftig den Kopf an einem Stützbalken an.

»Auaaah!«

»Das geschieht d-dir r-r-recht«, sagte Bill.

»Ich leg dich um, du verfluchter Gringo«, rief Richie. »Wir brauchen hier wirklich keine stinkenden...«

»Hört doch mit dem Blödsinn auf!« sagte Beverly. »Das ist interessant.« Und sie warf Ben einen so anerkennenden Blick zu, daß Richie glaubte, im nächsten Moment würde Rauch aus Bens Ohren kommen.

»Okay, B-B-Ben«, sagte Bill. »Erzähl w-w-weiter.«

Ben mußte sich kräftig räuspern, bevor er fortfahren konnte.

»Na ja, wenn das Rauchloch fertig war, machten sie dort unten Feuer. Sie benutzten hauptsächlich ganz frisches Holz, damit es richtig stark rauchte. Dann setzten sich alle tapferen Krieger da unten um das Feuer herum. Das Loch füllte sich mit Rauch, und im Buch stand, es sei so eine Art Wettbewerb gewesen. Und nach einem halben Tag oder so waren dann nur noch zwei oder drei da unten. Und angeblich bekamen sie durch den Rauch Visionen.«

»Klar, wenn ich fünf oder sechs Stunden lang Rauch einatmen müßte, würde ich auch Visionen haben«, sagte Mike, und alle lachten.

»Diese Visionen sollten dem Stamm sagen, was er zu tun hatte«, fuhr Ben fort. »Und in dem Buch stand -ob es stimmt oder nicht, weiß ich natürlich nicht -, daß die Visionen meistens richtig waren.«

Schweigen trat ein, und Richie sah Bill an. Er war sicher, daß sie alle jetzt Bill ansahen, und er hatte das Gefühl, als sei Bens Geschichte vom Rauchloch viel mehr als nur etwas, worüber man in einem Buch liest und das man dann selbst ausprobieren möchte wie ein chemisches Experiment oder einen Zaubertrick. Er wußte es; jeder von ihnen wußte es. Vielleicht wußte Ben es am allerbesten: Sie sollten das tun, es wurde von ihnen erwartet.

Durch den Rauch bekamen sie Visionen... meistens waren diese Visionen richtig.

Richie dachte: Ich wette, wenn wir Haystack fragen würden, so würde er uns antworten, daß dieses Buch ihm sozusagen in die Hände gesprungen ist. So als hätte jemand gewollt, daß er dieses ganz spezielle Buch las und uns dann über die Rauch-loch-Zeremonie berichtete. Denn schließlich ist hier ja ein Stamm versammelt. Wir sind der Stamm. Und ich vermute, daß wir wirklich unbedingt wissen müssen, wie es weitergehen wird.

Dieser Gedanke führte zu einem anderen: Hatte dies geschehen sollen? War das vorgesehen, geplant gewesen, von jenem Zeitpunkt an, als Ben die Idee zu einem unterirdischen Klubhaus anstelle eines Baumhauses gehabt hatte? Wieviel von all dem denken wir uns selbst aus, und inwieweit werden wir gelenkt?

Richie war überzeugt davon, daß die Macht, die sie alle zusammengeführt hatte, die Macht, die Ben als Botschafter benutzt hatte, um ihnen die Idee des Rauchlochs einzugeben - daß diese Macht nicht identisch war mit jener, die für die Kindermorde verantwortlich war. Diese Macht war eine Art Gegenkraft zu jener anderen - zu (oh, du kannst es ruhig aussprechen) jenem Es. Aber trotzdem, es gefiel ihm nicht- dieses Gefühl, nicht frei in seinen Handlungen zu sein, manövriert zu werden, gelenkt zu werden.

Alle sahen Bill an, warteten darauf, was Bill sagen würde.

»W-W-Wißt ihr«, meinte er schließlich, »das h-h-h-hört sich w-wirklich t-t-t-toll an.«

Beverly seufzte leise, und Stan bewegte sich unbehaglich... das war alles.

»W-W-Wirklich toll«, wiederholte Bill nachdenklich und betrachtete seine Hände. Vielleicht lag es am Licht der Taschenlampe, oder er bildete es sich nur ein - aber Richie hatte den Eindruck, daß sein Freund Bill bleich und sehr verängstigt aussah, obwohl er lächelte. »W-W-Wir k-könnten eine V-V-Vision g-gut gebrauchen, die uns s-sagt, wie wir unser P-P-P-Problem anp-p-packen s-sollen.«

Und wenn jemand eine Vision haben wird, so Bill, dachte Richie. Aber darin täuschte er sich.

»Na ja«, sagte Ben, »vermutlich funktioniert die Sache nur bei Indianern, aber probieren können wir's ja mal - es könnte ganz interessant sein.«

»O ja, wahrscheinlich werden wir alle vom Rauch bewußtlos und sterben hier drin«, prophezeite Stan düster. »Das wäre wirklich eine sehr interessante Erfahrung.«

»Du willst es nicht probieren, Stan?« fragte Eddie.

»Doch, irgendwie reizt es mich«, erwiderte Stan seufzend. »Ich glaube, unter eurem Einfluß verliere ich noch jeden Rest von gesundem Menschenverstand, wißt ihr das?« Er sah Bill an. »Wann?«

»N-Na ja, am b-b-besten jetzt g-gleich«, sagte Bill. »F-Findet ihr nicht auch?«

Eine Zeitlang herrschte bestürztes, nachdenkliches Schweigen. Dann stand Richie auf und öffnete die Falltür. Das gedämpfte Licht dieses bewölkten Sommertages flutete ins Klubhaus.

»Ich hab' mein Beil dabei«, sagte Ben. »Wer möchte mir helfen, grüne Äste abzuschneiden?«

Alle beteiligten sich daran.

3

Die Vorbereitungen nahmen etwa eine Stunde in Anspruch. Sie schnitten vier oder fünf Armvoll kleiner grüner Zweige ab, und Ben entfernte die Blätter. »Rauchen würden sie, das steht fest«, sagte er. »Ich weiß aber nicht mal, ob wir sie überhaupt zum Brennen bringen.«

Beverly und Richie gingen zum Ufer des Kenduskeags hinab und sammelten verhältnismäßig große Steine, wobei sie Eddies Jacke (seine Mutter zwang ihn immer, eine Jacke mitzunehmen, sogar wenn es irrsinnig heiß war) als behelfsmäßigen Beutel verwendeten. Auf dem Rückweg zum Klubhaus sagte Richie plötzlich: »Du kannst bei dieser Sache nicht mitmachen, Bev. Du bist ein Mädchen. Ben hat gesagt, daß nur die tapferen Krieger in dieses Rauchloch hinabsteigen, nicht aber die Squaws.«

Beverly blieb stehen und betrachtete Richie mit einer Mischung aus Ärger und Amüsement. »Dann werde ich eben eine tapfere Kriegerin sein«, erklärte sie kurz und bündig.

Richie hatte sie nur necken wollen, als er sagte, sie könne als Mädchen nicht an der Zeremonie teilnehmen; Bill Denbrough hingegen war es damit völlig ernst.

Sie stand ihm gegenüber, die Hände in die Hüften gestemmt, mit vor Zorn hochroten Wangen. »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen, Stot-ter-Bill! Ich bin mit von der Partie - oder gehöre ich etwa nicht mehr zu eurem lausigen Klub?«

Geduldig erklärte Bill: »D-D-Darum g-geht es n-n-n-nicht, Bev, und d-das w-w-weißt du g-genau. Jemand m-muß draußen b-b-b-bleiben.«

»Warum?«

Bill wollte ihr antworten, aber er spürte, daß er jetzt vor Stottern kein einziges Wort herausbringen würde. Hilfesuchend sah er Eddie an.

»Stan hat es vorhin schon erwähnt«, erklärte Eddie ruhig. »Es ist wegen des Rauchs. Bill sagt, so was könnte wirklich passieren - wir könnten da unten alle ohnmächtig werden. Und dann würden wir sterben. Bill sagt, daß bei Hausbränden die meisten Leute nicht verbrennen, sondern am Rauch ersticken. Sie...«

Jetzt wandte Bev sich Eddie zu. »Okay, er will also, daß jemand oben bleibt, für den Fall, daß es Probleme gibt?«

Eddie nickte unglücklich.

»Nun, wie war's dann mit dirl Du bist doch derjenige, der Asthma hat!«

Eddie sagte nichts mehr. Sie wandte sich wieder Bill zu. Die anderen standen herum, die Hände in den Hosentaschen, mit unglücklichen Gesichtern.

»Es ist doch, weil ich ein Mädchen bin, nicht wahr? Nicht wahr, das ist doch der wahre Grund?«

Widerwillig nickte Bill.

Sie sah ihn mit zitternden Lippen an, und Richie dachte, daß sie in Tränen ausbrechen würde. Aber statt dessen explodierte sie.

»Hol dich der Teufel, verflucht noch mal!« Sie wirbelte herum und blickte in die Runde; ihre Augen schleuderten Blitze, und die Jungen zuckten unwillkürlich zusammen. »Hol euch alle der Teufel, wenn ihr derselben Meinung seid wie er! Diese Sache ist viel mehr als nur irgendein beschissenes Kinderspiel wie Verstecken, Fangen oder Schießen, und das wißt ihr genau. Wir sollen das tun, es wird von uns erwartet. Und ihr könnt mich nicht einfach davon ausschließen, nur weil ich ein Mädchen bin. Habt ihr verstanden? Wenn nicht, so gehe ich auf der Stelle. Und zwar für immer! Kapiert?«

Richie spürte, daß er Angst hatte. Er spürte, daß jetzt alles auf dem Spiel stand, jede Chance, die sie haben mochten zu gewinnen, eine Möglichkeit zu finden, um an das Monster heranzukommen, das George Denbrough und die anderen Kinder ermordet hatte, an dieses Monster heranzukommen und es zu töten. Sieben, dachte Richie. Das ist die magische Zahl. Wir müssen zu siebt sein.

Irgendwo sang ein Vogel, verstummte, sang wieder.

»Ö-O-Okay«, sagte Bill schließlich, und Richie stieß einen erleichterten Seufzer aus. »A-A-Aber jemand m-muß oben b-b-bleiben. Wer w-w-w-will das t-tun?«

Richie dachte, daß Eddie sich bestimmt freiwillig melden würde, aber Eddie schwieg. Stan stand blaß, nachdenklich und stumm da. Mike hatte seine Daumen in den Gürtel gehakt wie Steve McQueen in >Wanted, Dead or Alive<, und nur seine Augen bewegten sich.

»N-N-Na 1-los!« drängte Bill, und Richie erkannte, daß jetzt keiner von ihnen mehr so tat, als hielte er das alles nur für ein Spiel. Dafür hatten Bevs leidenschaftlicher Ausbruch und Bills ernstes, viel zu alt aussehendes Gesicht gesorgt. Dies konnte vielleicht ebenso gefährlich werden wie die Expedition, die er und Bill zum Haus Nr. 29 auf der Neibolt Street gemacht hatten. Sie wußten es alle... und keiner von ihnen kniff. Und plötzlich war er sehr stolz auf sie alle und auf sich selbst. Er wußte nicht, ob sie noch Verlierer waren oder nicht, aber er wußte, daß sie eine verschworene Gemeinschaft bildeten. Sie waren Freunde. Verdammt gute Freunde. Richie nahm seine Brille ab und putzte sie energisch.

»Ich weiß, wie wir s machen«, sagte Beverly und holte ein Streichholzheftchen aus ihrer Tasche. Sie riß ein Streichholz ab, zündete es an und blies es dann aus. Sie riß sechs weitere ab, wandte den Jungen den Rücken zu, und als sie sich wieder umdrehte, ragten die Streichhölzer aus ihrer geschlossenen Faust heraus; nur die Köpfe waren darin verborgen. »Zieh eins raus«, sagte sie und hielt die Streichhölzer Bill hin. »Wer das Streichholz mit dem abgebrannten Kopf zieht, muß oben bleiben und die anderen rausholen, wenn sie ohnmächtig werden.«

Bill sah sie aufmerksam an. »D-D-Du w-willst es w-w-w-wirklich so haben?«

Sie lächelte ihn strahlend an. »Ja, du Dummkopf, so will ich es haben. Und was ist mit dir?«

»Ich 1-1-1-1-liebe dich, B-B-Bev«, sagte er, und sie errötete heftig.

Bill schien das nicht zu bemerken. Er betrachtete die Streichhölzer, die aus ihrer Faust herausragten, und schließlich zog er eins. Der Kopf war blau und nicht abgebrannt. Sie wandte sich Ben zu und hielt ihm die restlichen sechs hin.

»Ich liebe dich auch«, sagte Ben heiser. Sein Gesicht war rotviolett; er sah aus, als würde er gleich einen Herzschlag bekommen. Aber niemand lachte. Irgendwo tiefer in den Barrens sang wieder der Vogel. Stan weiß bestimmt, was für ein Vogel das ist, dachte Richie so nebenbei.

»Ich danke dir«, sagte Bev ernst, und Ben suchte ein Streichholz aus. Es war unversehrt.

Als nächstem hielt sie Eddie die Streichhölzer hin. Eddie lächelte; es war ein scheues Lächeln, unglaublich süß und herzerweichend verletzlich. »Ich glaube, ich liebe dich auch, Bev«, sagte er und zog blindlings ein Streichholz heraus. Es hatte einen blauen Kopf.

Nun bot Beverly die vier Streichhölzer Richie an.

»Oh, ich liebe Sie, Miß Scarlett!« schrie Richie laut und gab schmatzende Kußlaute von sich. Beverly sah ihn nur leicht lächelnd an, und plötzlich schämte er sich. »Ich liebe dich wirklich, Bev«, sagte er und berührte ihr Haar. »Du bist großartig.«

»Danke.«

Er zog ein Streichholz heraus und war plötzlich überzeugt davon, daß es das abgebrannte sein würde. Aber das war nicht der Fall.

Sie hielt die restlichen Streichhölzer Stan hin.

»Ich liebe dich«, sagte Stan lächelnd und zog eines heraus. Blauer Kopf.

»Du oder ich, Mike«, sagte sie und ließ ihm die Wahl zwischen den beiden letzten Streichhölzern.

Er trat etwas vor. »Ich kenne dich nicht gut genug, um dich zu lieben«, sagte er. »Aber ich tu's trotzdem. Du könntest, glaube ich, sogar meiner Mutter noch Unterricht im Brüllen geben.«

Alle lachten, und Mike wählte das linke Streichholz. Es war ebenfalls unversehrt.

»A-A-Also m-mußt doch d-du oben b-b-bleiben, Bev«, sagte Bill.

»Ja, so soll...«, begann sie und verstummte, als sie die Faust öffnete. Ihr Gesicht nahm einen so überraschten Ausdruck an, daß es fast komisch wirkte. Sie starrte auf das Streichholz in ihrer Hand.

Sein Kopf war ebenfalls unversehrt.

»D-Du h-h-h-hast geschummelt!« beschuldigte Bill sie.

»Nein«, sagte Beverly und sah alle der Reihe nach an. »Ich habe nicht geschummelt. Ich schwor's euch!«

Sie zeigte ihnen ihre Handfläche, und alle sahen die schwachen Rußspuren.

»Bill, ich habe die Streichhölzer nicht ausgetauscht!« Ihre Augen waren riesengroß. »Ich schwor's dir, ich schwor's dir beim Leben meiner Mutter!«

Bill sah sie einen Moment lang an und nickte dann. Ohne sich abzusprechen, streckten alle Bill ihre Streichhölzer hin. Sieben Stück, keines davon abgebrannt. Stan und Eddie begannen auf dem Boden herumzukriechen, aber auch dort lag kein abgebranntes Streichholz.

»Ich hab' nicht geschummelt!« wiederholte Beverly.

»Und was machen wir jetzt?« fragte Richie.

»Wir gehen alle r-r-runter«, entschied Bill. »D-Denn das wird ansch-sch-scheinend von uns erwartet.«

»Und wenn wir alle ohnmächtig werden?« fragte Eddie.

Bill sah wieder Beverly an. »W-W-Wenn B-Bev die W-W-W-Wahrheit s-sagt, und das t-tut sie, dann w-w-w-wird das nicht passieren.«

»Woher weißt du das?« fragte Stan.

»Ich w-w-w-weiß es einfach.«

Wieder sang ein Vogel.

4

Ben und Richie stiegen als erste in die Grube, und die anderen reichten Richie die Steine hinunter, die er an Ben weitergab. Ben ordnete sie in der Mitte des Lehmbodens ihres Klubhauses kreisförmig an. »Okay«, sagte er. »Das reicht jetzt.«

Die anderen kamen herunter; jeder trug eine Handvoll grüner Zweige. Bill war der letzte. Er schloß die Falltür und öffnete das schmale Fenster. »D-D-Da«, sagte er. »D-Da hast du d-dein R-R-Rauchloch. Haben w-wir irgendwas zum Anzünden?«

»Du kannst das hier haben, wenn du willst«, sagte Mike und zog ein zerknittertes Archie-Heftchen aus der Hüfttasche. »Ich hab's schon gelesen.«

»Danke«, sagte Bill und begann langsam, die Seiten herauszureißen. Die anderen saßen an den Wänden, Knie an Knie, Schulter an Schulter, und sahen ihm schweigend zu. Die Spannung stieg immer mehr, und es war so, als hätte sich das Klubhaus schon mit einer Art psychischem Rauch gefüllt.

Bill legte kleine Zweige auf das Papier, dann sah er Beverly an. »D-Du hast die Sch-Sch-Streichhölzer.«

Sie zündete eins an, eine winzige gelbe Flamme in der Dunkelheit. »Das verdammte Zeug wird vermutlich sowieso nicht brennen«, sagte sie mit einer etwas schwankenden Stimme und hielt die Flamme an mehreren Stellen ans Papier. Als es fast heruntergebrannt war, warf sie es auf das Holz.

Gelbe Flammen züngelten knisternd empor und ließen alle Gesichter reliefartig hervortreten, und in diesem Moment glaubte Richie mühelos an

Bens Indianergeschichte, und er dachte, daß es genauso gewesen sein mußte, damals in alten Zeiten, bevor die Siedler sich nach Westen aufmachten, als die Indianer den weißen Mann nur von vagen Gerüchten her kannten.

Die Zweige fingen Feuer, und das Klubhaus begann sich mit Rauch zu füllen. Ein Teil davon, weiß wie Baumwolle, entwich durch den Fensterspalt. Aber da es draußen völlig windstill war, blieb der größte Teil unten. Es war ein beißender Rauch, der ihre Augen zum Tränen brachte und sich in ihren Kehlen staute. Richie hörte Eddie zweimal husten - es war ein flacher, trockener Husten. Er sollte nicht hier unten sein, dachte er... aber etwas oder jemand war da offensichtlich anderer Meinung.

Bill warf eine Handvoll grüner Zweige in das schwelende Feuer und fragte mit dünner Stimme, die sich ganz anders anhörte als gewöhnlich: »H-H-Hat irgend jemand irgendwelche V-V-Visionen?«

»Visionen, hier herauszukommen«, sagte Stan. Beverly lachte darüber, aber ihr Lachen ging rasch in einen Hustenanfall über.

Richie lehnte den Kopf gegen die Bretterwand und blickte zum Rauchloch empor - einem schmalen Rechteck weichen gelben Lichtes. Er dachte an jenen Märztag, an die Statue von Paul Bunyan... aber das war nur ein Traum gewesen, eine Halluzination, eine

(Vision)

»Dieser Rauch bringt mich noch um«, sagte Ben. »Puh!«

»Dann geh rauf«, murmelte Richie, ohne seinen Blick vom Rauchloch zu wenden. Er hatte das Gefühl, zehn Pfund abgenommen zu haben. Und er hatte das sichere Gefühl, daß das Klubhaus größer geworden war. Dessen war er sich verdammt sicher. Vorhin hatte sich Bens dickes rechtes Bein gegen sein linkes gepreßt, und Bills knochige Schulter hatte sich in seinen rechten Arm gebohrt. Jetzt berührte er keinen von beiden. Er drehte seinen Kopf langsam nach rechts und links, um sich zu vergewissern, daß sein Eindruck richtig war, und es stimmte: Ben saß etwa einen Fuß entfernt zu seiner Linken, und Bill zu seiner Rechten war sogar noch weiter weg.

»Der Raum wird größer«, sagte er. Er holte tief Luft und mußte sofort husten. Es tat weh, tief in seiner Brust, so wie Husten weh tat, wenn man eine Erkältung oder eine Grippe hatte. Eine Zeitlang dachte er, daß der Hustenanfall überhaupt nicht mehr aufhören würde; daß er immer weiterhusten würde, bis die anderen ihn schließlich herausziehen würden. Wenn sie noch dazu imstande sein werden, dachte er, aber der Gedanke war zu verschwommen, um ihm Angst einzujagen.

Dann klopfte Bill ihm auf den Rücken, und der Hustenanfall verging.

»Du hast nicht gestottert«, sagte Richie. Er schaute dabei aber nicht Bill an, sondern blickte wieder zum Rauchloch empor. Wie leuchtend hell es aussah! Wenn er die Augen schloß, konnte er das Rechteck immer noch sehen; es schwebte da oben in der Dunkelheit, aber nicht leuchtend weiß, sondern leuchtend grün.

»W-W-Wann?« fragte Bill.

»Draußen. Als wir herkamen und alle anderen hier unten waren.« Er verstummte, weil jetzt jemand anderer hustete; er konnte aber nicht erkennen, wer es war. »Du solltest mit verschiedenen Stimmen reden, nicht ich, Big Bill. Du...«

Das Husten wurde stärker. Plötzlich wurde das Klubhaus von hellem Tageslicht überflutet, so plötzlich, daß Richie die Augen zukneifen mußte. Er konnte gerade noch Stan Uris erkennen, der herauskletterte.

»Tut mir leid«, brachte Stan mühsam hervor, von Husten nur so geschüttelt. »Tut mir leid, ich kann nicht...«

»Na klar doch, ist völlig in Ordnung«, hörte Richie sich sagen.

Einen Augenblick später fiel die Falltür wieder zu, aber die frische Luft hatte seinen Kopf ein bißchen geklärt. Bevor Ben etwas abrückte und Stans Platz einnahm, spürte Richie Bens dickes Bein wieder an seinem eigenen. Wie war er nur auf die Idee gekommen, daß das Klubhaus größer geworden war?

Mike warf weitere Zweige ins rauchende Feuer. Richie atmete flach und blickte wieder zum Rauchloch empor. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, aber er war sich dunkel bewußt, daß es im Klubhaus allmählich auch ganz schön heiß wurde.

Er schaute sich nach seinen Freunden um. Sie waren nur verschwommen zu erkennen, wurden von den Rauchschwaden und dem weißen Sommerlicht halb verschluckt. Bev hatte den Kopf an ein Brett gelehnt, ihre Hände lagen auf den Knien, ihre Augen waren geschlossen, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Bill saß mit gekreuzten Beinen da, dasXinn auf die Brust gepreßt. Ben saß...

Aber plötzlich sprang Ben auf und stieß die Falltür auf.

»Da geht Ben dahin«, sagte Mike. Er saß Richie genau gegenüber, und seine Augen waren rot wie die eines Wiesels.

Wieder streifte sie ein verhältnismäßig kühler Hauch. Die Luft wurde etwas frischer, als Rauch durch die Falltür entwich. Ben hustete und würgte. Er kletterte mit Stans Hilfe hinaus, und bevor einer von beiden die Falltür schließen konnte, taumelte Eddie auf die Beine; sein Gesicht war leichenblaß, abgesehen von den dunklen Ringen unter den Augen und den hektisch roten Flecken auf seinen Backenknochen. Seine magere Brust hob und senkte sich rasch; er atmete beunruhigend flach und krampfhaft. Er griff nach dem Rand der Luke, wäre aber abgerutscht, wenn Ben und Stan nicht seine Hände gepackt hätten.

»Tut mir leid«, flüsterte Eddie keuchend, und dann zogen die anderen ihn hoch. Die Falltür wurde wieder geschlossen.

Dann blieb lange Zeit alles ruhig. Der Rauch wurde immer dicker, bis er einem dichten, undurchdringlichen Nebel glich. Sieht mir ganz nach einer richtigen Erbsensuppe aus, Watson, dachte Richie, und einen Moment lang stellte er sich vor, er wäre Sherlock Holmes, der wachsam die Baker Street entlangging; Moriarty war irgendwo in der Nähe, und das Spiel war im Gange.

Der Gedanke war erstaunlich klar, erstaunlich greifbar, fast gewichtig, so als wäre es nicht einer jener Tagträume, die er andauernd spann, sondern fast etwas Reales.

Er hatte aber noch genügend gesunden Menschenverstand und Humor, um sich zu sagen, daß diese ganze Idee von Visionen stark überbewertet wurde, wenn nichts anderes dabei herauskam, als Richie Toziers Vision von sich selbst als Sherlock Holmes.

Und natürlich lauert da draußen auch nicht Moriarty, wie in >The Secret Claw< oder >The Hound ofthe Baskervüks<. Da draußen lauert Es... irgendein Es... und Es ist real. Es...

Dann wurde die Falltür wieder geöffnet, und Beverly versuchte hustend, eine Hand vor den Mund haltend, nach oben zu gelangen. Ben griff nach ihrer freien Hand, Stan packte sie unter dem Arm; halb aus eigener Kraft, halb von den beiden Jungen gezogen, kam sie heraus.

»Der R-R-Raum wird w-w-w-wirklich g-größer«, stellte Bill fest.

Richie schaute sich um. Er sah den Steinkreis, in dem das Feuer schwelte und Rauchwolken verbreitete. Jenseits des Feuers saß Mike ihm gegenüber, mit gekreuzten Beinen wie ein Indianer, und starrte ihn mit roten Augen an. Nur war Mike nun mehr als 20 Yards entfernt, und Bill, rechts von Richie, sogar noch weiter. Das unterirdische Klubhaus hatte mittlerweile die Größe eines Ballsaals.

»Das macht nichts«, sagte Mike. »Ich glaube, es wird jetzt sehr schnell gehen, was immer auch geschehen mag.«

»J-Ja«, stammelte Bill. »A-A-A-Aber i-ich...«

Er begann zu husten. Er versuchte, den Husten unter Kontrolle zu bringen; statt dessen wurde er immer schlimmer, ein trockener, rasselnder Husten. Richie sah verschwommen, wie Bill taumelnd auf die Beine kam, nach der Falltür tastete und sie auf stieß.

»V-V-V-Viel G-G-G-G1...«

Dann wurde er von den anderen hochgezogen.

»Sieht so aus, als wären nur noch wie beide übrig, Mikey«, sagte Richie und begann selbst zu husten. »Ich war überzeugt davon, daß es Bill sein würde...«

Der Husten wurde schlimmer. Er beugte sich weit vor und schnappte nach Luft. Sein Kopf dröhnte. Seine Augen tränten hinter der Brille.

Von ferne hörte er Mikes Stimme: »Geh rauf, wenn's nicht anders geht, Richie. Quäl dich nicht so rum.«

Richie hob die Hand und winkte ab. Allmählich ließ der Husten wieder nach. Mike hatte recht; etwas würde geschehen, und zwar schon sehr bald. Etwas, das für sie alle vielleicht sehr bedeutsam sein konnte.

Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete wieder das Rauchloch. Nach dem Hustenanfall war sein Kopf merkwürdig leicht geworden, und er hatte das Gefühl, auf einem Luftpolster zu schweben. Es war ein angenehmes Gefühl. Er atmete flach und dachte: Eines Tages werde ich ein Rock-'n'-Roll-Star sein. Das ist es, jawohl. Ich werde berühmt sein. Ich werde Schallplatten und Filme machen. Und wenn ich dann nach Derry zurückkomme, werden sie mir alle zu Füßen liegen, sogarBowers. Buddy Holly trägt auch eine Brille, khwerdeder erste Rock-'n '-Roll-Star aus Maine sein. Ich werde...

Der Gedanke verflog. Aber das machte ihm nichts aus. Er stellte fest, daß er jetzt nicht mehr flach zu atmen brauchte. Seine Lunge hatte sich an den Rauch gewöhnt. Er konnte so tief und so viel atmen, wie er nur wollte.

Mike warf neue Zweige aufs Feuer, und Richie tat es ihm nach.

»Wie fühlst du dich, Rich?« fragte Mike.

Richie lächelte. »Besser. Ganz gut. Und du?«

Mike nickte und lächelte ebenfalls. »Mir geht's gut. Hast du auch so komische Gedanken gehabt?«

»Ja. Vorhin hab' ich mich einen Moment lang für Sherlock Holmes gehalten. Deine Augen sind wahnsinnig rot.«

»Deine auch. Wir sind zwei Wiesel im Gehege.«

Sie grinsten einander zu, und dann lehnte Richie seinen Kopf wieder an die Wand und blickte zum Rauchloch empor. Kurz darauf glaubte er erneut zu schweben. Nach oben zu schweben. Wie ein Luftballon.

»Ist b-b-bei euch alles in O-O-Ordnung?«

Bills Stimme durch das Rauchloch. Besorgt. Richie fühlte sich unsanft in sich selbst zurückgeworfen.

»Alles in Ordnung«, hörte er seine eigene verärgerte Stimme wie aus weiter Ferne. »Sei still, Bill, es fängt jetzt an.«

Das Klubhaus war größer denn je, und der Boden schien aus poliertem Holz zu bestehen. Der Rauch glich dichtem Nebel, und Richie konnte das Feuer kaum noch sehen - der Raum war jetzt so groß, daß er mindestens fünf Minuten gebraucht hätte, um dorthin zu gelangen. Mike sah ihn von der anderen Seite an, ein im Nebel verschwpmmener Schatten.

Kommst du, Mikey?

Ich bin hier bei dir, Richie.

Halt meine Hand fest... kannst du sie erreichen?

Ich glaube schon.

Richie streckte die Hand aus, und obwohl Mike ganz am anderen Ende des riesigen Raumes saß, spürte Richie, wie seine kräftigen braunen Finger sich um sein Handgelenk schlössen. Es war ein tröstliches Gefühl; er hatte es ein bißchen mit der Angst zu tun bekommen.

Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das leuchtend weiße Rauchloch. Es war jetzt weiter entfernt. Meilenweit. Wieder begann er zu schweben. Also los, dachte er und stieg durch den Rauch, den Nebel oder was auch immer es sein mochte empor.

5

Sie waren nicht mehr in ihrem Klubhaus.

Sie standen nebeneinander mitten in den Barrens, in einem eigenartigen Zwielicht. Es waren die Barrens, das wußte er, aber alles sah ganz anders aus. Das Laubwerk war saftiger, üppiger; es verströmte einen wilden Duft. Es gab Pflanzen, die Richie noch nie gesehen hatte, und er entdeckte, daß einige der Bäume in Wirklichkeit gigantische Farne waren. Er hörte das Rauschen von Wasser, aber es war viel lauter, als es eigentlich hätte sein dürfen - dieses Wasser hörte sich nicht wie die gemächliche Strömung des Kenduskeags an, sondern eher so, wie er sich den Colorado vorstellte, wenn dieser sich einen Weg durch den Grand Canyon bahnte.

Es war sehr heiß. Nicht daß es in Maine im Sommer nicht heiß und schwül gewesen wäre - manchmal lag man nachts total verschwitzt im Bett; aber hier war es heißer und feuchter, als er es je zuvor erlebt hatte. Ein dich

ter, rauchiger Bodennebel lag in den Tälern dieser Landschaft und strich um die Beine der Jungen. Er hatte einen schwach ätzenden Geruch.

Wortlos bewegten sich Mike und Richie auf das Rauschen des Wassers zu, bahnten sich ihren Weg durch die seltsam wilde Vegetation. Es waren die Barrens, aber alles sah ganz anders aus. Dicke Lianen hingen zwischen manchen Bäumen, und einmal hörte Richie, wie etwas durchs Dickicht brach. Es mußte größer als ein Hirsch sein.

Er blieb stehen und drehte sich einmal im Kreise. Er wußte, wo der dicke weiße Zylinder des Wasserturms hätte emporragen müssen, aber der Wasserturm war nicht da. Ebensowenig die Eisenbahnbrücke, die zum Güterbahnhof an der Neibolt Street führte, und auch nicht die Siedlung Old Cape

- wo sie eigentlich hätte sein müssen, sah er niedrige Klippen, rote Sandsteinfelsen, die zwischen riesigen Farnen und Kiefern emporragten.

Ein Sausen erfüllte die Luft, und die Jungen duckten sich, als eine Schar Fledermäuse vorbeiflog. Es waren die größten Fledermäuse, die Richie jemals gesehen hatte, und ihr Anblick ängstigte ihn im ersten Moment sogar noch mehr als der Werwölf, der Bill und ihn verfolgt hatte. Die Stille und Fremdartigkeit dieser Landschaft waren schrecklich, aber noch viel schlimmer war ihre furchtbare Vertrautheit. Du brauchst keine Angst zu haben, sagte er sich. Denk daran, dies ist nur ein Traum oder eine Vision oder wie man es auch immer nennen mag. In Wirklichkeit sind Mike und ich im Klubhaus, vom Rauch benebelt. Bald wird Bill nervös werden, weil wir nicht mehr antworten, und er und Ben werden kommen und uns herausholen.

Aber er konnte sehen, daß ein Fledermausflügel so zerfetzt war, daß die diesige Sonne hindurchschien, und gleich darauf sah er im Vorbeigehen eine fette gelbe Raupe, die über ein großes grünes Blatt kroch und hinter sich einen Schatten warf. Wenn dies ein Traum war, so enthielt er viel mehr Einzelheiten als jeder andere Traum, den er bisher gehabt hatte.

Sie gingen weiter auf das Wasser zu, und Richie konnte nicht sagen, ob seine Füße den Boden berührten oder nicht. Dann standen sie am Ufer, und Richie starrte ungläubig in die Tiefe. Dies war nicht der breite, flache, friedliche Kenduskeag - und doch war er es. Das Wasser brauste und strudelte in einem schmalen Flußbett, das sich durch die rötlichen Sandsteinfelsen wand; am anderen Ufer konnte er Gesteinsschichten erkennen, die aus verschiedenen Epochen stammen mußten - rot, dann orange, dann wieder rot. Diesen Strom hätte man nicht auf Steinen überqueren können; wenn man hineinfiel, würde die reißende Strömung einen sofort abtreiben. Das Wasser brauste und donnerte, und während Richie es mit offenem Mund betrachtete, sah er einen riesigen rosasilbrigen Fisch in unglaublich hohem Bogen aus dem Wasser emporschießen und nach den Insekten schnappen, die in dichten Scharen über der Wasseroberfläche umherschwirrten. Dann tauchte der Fisch wieder unter - ein Fisch, wie Richie ihn noch nie zuvor im Leben gesehen hatte, nicht einmal in Büchern.

Vögel kreisten am Himmel und kreischten heiser. Nicht etwa ein Dutzend oder zwei; einen Moment lang verdunkelten dichte Vogelscharen die Sonne. Wieder brach etwas durchs Dickicht. Richie drehte sich mit laut pochendem Herzen um und sah etwas antilopenähnliches in Richtung Südosten rennen. Etwas wird geschehen. Und sie wissen es.

Die Vogelscharen flogen gen Süden. Wieder raschelte und krachte es im Gebüsch, und weitere Tiere liefen und sprangen an ihnen vorbei. Dann trat von neuem Stille ein; nur das Rauschen des Kenduskeags war noch zu hören. Diese Stille hatte etwas Abwartendes an sich, etwas Spannungsgeladenes, das Richie überhaupt nicht gefiel. Er fühlte, wie sich seine Nak-kenhaare sträubten, und er griff wieder nach Mikes Hand.

Weißt du, wo wir sind? rief er Mike zu.

Ja, antwortete Mike. Wir befinden uns in der Vergangenheit.

Richie nickte. Das war auch seine Erklärung. Sie waren in der Vergangenheit, immer noch in den Barrens, aber in den Barrens, wie sie vor, Gott weiß wieviel, Jahrtausenden ausgesehen hatten. Sie befanden sich in einer unvorstellbaren Vergangenheit vor der Eiszeit, als Neuengland noch so tropisch gewesen war wie heutzutage Südamerika. Er schaute sich nervös nach allen Seiten um und erwartete fast, daß ein Brontosaurus mit kranichartigem Hals plötzlich aus der Höhe auf sie herniederstarren würde, das Maul voller Schlamm und tropfender, mitsamt den Wurzeln ausgerissener Pflanzen, oder daß ein Säbelzahntiger plötzlich aus dem Dickicht auf sie zuschleichen würde.

Doch da war nur diese Stille, wie während der fünf oder zehn Minuten, bevor ein bösartiger Gewittersturm losbricht, wenn das Licht einen unheimliche, widernatürliche Farbe annimmt, der Wind sich völlig legt und ein unangenehmer Geruch wie von überbeanspruchten Autobatterien die Luft erfüllt.

Wir befinden uns in der Vergangenheit, sind zurückversetzt um eine Million Jahre, vielleicht auch um zehn Millionen oder achtzig Millionen, und irgend etwas wird gleich passieren, ich weiß nicht was, aber etwas wird passieren, und ich habe Angst, diese Vision soll aufhören, ich möchte wieder im Klubhaus sein, bitte, Bill, zieh uns raus, ich habe das Gefühl, in das Bild hineingefallen zu sein, in irgendein Bild, bitte, hilf uns, bitte...

Mike umklammerte seine Hand, und Richie stellte fest, daß die Stille durchbrochen worden war. Eine stetige leichte Vibration - er konnte sie im Trommelfell mehr fühlen als hören. Sie wurde allmählich stärker. Sie hatte keinen Klang. Es war nur ein tonloses, seelenloses Geräusch. Richie griff nach dem Baum in ihrer Nähe, und als er seine Hände an den Stamm legte, spürte er die Vibration im Innern. Gleichzeitig fühlte er sie auch in seinen Füßen - ein Prickeln, das sich über Knöchel und Waden bis zu den Knien fortsetzte.

Sie wurde immer stärker und stärker.

Sie kam vom Himmel. Wider Willen hob er das Gesicht und starrte empor. Die Sonne war eine geschmolzene Münze, ein brennender Kreis in den tiefhängenden Wolken, umgeben von märchenhaft anmutenden Feuchtigkeitsringen. Unten, in den Barrens, herrschte eine unheimliche, unnatürliche Stille, und plötzlich begriff Richie; in einer Woge dumpfen Entsetzens begriff er, was es mit dieser Vision auf sich hatte: sie würden Es sehen, seine Ankunft auf Erden.

Jetzt bekam die Vibration eine Stimme - ein tiefes, rollendes Dröhnen, das zu einem zerschmetternden brausenden Crescendo anschwoll. Er hielt sich die Ohren zu und schrie und konnte seine Schreie nicht hören.

Neben ihm tat Mike das gleiche, und Richie sah, daß Mike aus der Nase blutete.

Plötzlich flammten die Wolken im Westen in rotem Feuer, das auf sie zukam, sich von einem dünnen Strahl zum breiten Strom von bedrohlicher Farbe erweiterte, und als dann ein brennendes herabstürzendes Objekt durch die Wolkendecke brach, kam ein Wind auf, rauchig und erstickend -ein heißer, alles versengender Wind. Das Ding am Himmel war gigantisch, ein Flammenhaupt von blendender Grelle. Es verschoß lodernde Blitze nach allen Seiten, blaue Ochsenpeitschen, die aus ihm herauszuckten, gefolgt von brausendem Donner.

Ein Raumschiff, schrie Richie, während er auf die Knie fiel und seine Augen mit den Händen bedeckte. O mein Gott, es ist ein Raumschiff! Aber er wußte - und würde später versuchen, es den anderen zu erklären, so gut er konnte -, daß es kein Raumschiff war, obwohl es so aussah, als käme es aus dem Weltall. Was jedoch an jenem längst vergangenen Tag auf die Erde herabschoß, kam ursprünglich von einem Ort, der viel weiter entfernt war als irgendein anderer Stern, irgendeine andere Galaxie.

Es folgte eine Explosion - ein ohrenbetäubendes Dröhnen - und eine alles zermalmende Erschütterung, die sie beide zu Boden schleuderte. Diesmal war es Mike, der nach Richies Hand griff, dann eine zweite Explosion... Richie öffnete die Augen und sah ein blendendes Feuer und eine riesige Rauchwolke, die zum Himmel aufstieg. Und nordöstlich der Barrens, dort wo nach Jahrtausenden die Stadt Derry erbaut werden würde, brannten die Wälder. Durch die Flammen hindurch, flimmernd wie eine Fata Morgana, konnte er einen gigantischen Krater erkennen, aus dem Erde und große Felsbrocken in alle Richtungen geschleudert wurden.

Es! schrie er Mike zu, in einer Ekstase des Schreckens - nie im Leben, weder vorher noch nachher, würde er so völlig von einem Gefühl beherrscht, so völlig überwältigt sein. Es! Es! Es! Etwas anderes brachte er nicht hervor; das Wort dröhnte in seinem Kopf wie die alptraumhafte Stimme eines Abgesandten der Hölle, der eine infernalische Hochzeit ankündigt.

Mike zog ihn hoch, und sie rannten dicht am hohen Steilufer des jungen Kenduskeags entlang, ohne zu bemerken, wie nahe sie dem Abgrund waren. Einmal stürzte Mike, dann wieder Richie. Der heftige Wind trieb den Geruch des brennenden Waldes zu ihnen her, von dort, wo Es auf der Erde aufgeprallt war. Der Rauch wurde immer dichter, und Richie nahm vage wahr, daß die Tiere wieder in Bewegung geraten waren. Sie rannten davon, vor dem Rauch, vor dem Feuer, vor dem Flammentod. Es... sie rannten vor ihm davon. Vor dem Neuen, das in ihre Welt eingedrungen war.

Richie begann zu husten. Er hörte auch Mike neben sich husten. Der Rauch wurde immer dichter, verhüllte alles Grün und Grau und Rot des Tages. Mike fiel wieder hin, und Richie verlor seine Hand. Er tastete danach, konnte sie aber nicht finden.

Mike! schrie er in panischer Angst. Mike, wo bist du? Mike! mike!

Aber Mike war verschwunden. Mike war nicht mehr da. Überall nur noch Rauch. Er hustete hilflos, griff sich mit den Händen an die Kehle. Er blickte hoch und sah die Sonne durch den Rauch schimmern

auf ihn herabschimmern

(herab)

durch den Rauch

(Rauch ja, Bevvie, du hast ganz schön gequalmt)

Rauch

(Mike, wo bist du, nimm meine Hand)

Richte! Richie! Richie!

(klatsch!!)

»Richie! Richie! Richie! Bist du

6

okay?«

Er blinzelte und sah Beverly neben sich knien; sie wischte ihm den Mund mit einem Taschentuch ab. Die anderen - Bill, Eddie, Stan und Ben - standen mit besorgten Gesichtern hinter ihr. Richies Wangen brannten wie Feuer. Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur ein Krächzen hervor. Er wollte sich räuspern und verspürte sofort einen starken Brechreiz. Seine Kehle und Lunge schienen von Rauch erfüllt zu sein.

Schließlich krächzte er: »Hast du mich geschlagen, Beverly?«

»Es war das einzige, was mir einfiel«, sagte sie.

»Klatsch«, murmelte Richie.

»Ich hab' geglaubt, du kämst überhaupt nicht mehr zu dir«, sagte Bev und brach plötzlich in Tränen aus.

Richie klopfte ihr unbeholfen auf die Schulter, und Bill legte ihr eine Hand auf den Nacken. Sie griff sofort danach und drückte sie dankbar.

Es gelang Richie, sich aufzusetzen. Die Welt verschwamm um ihn herum. Als er wieder halbwegs klar sehen konnte, entdeckte er Mike, der mit aschfahlem, verwirrtem Gesicht an einem Baum in der Nähe lehnte.

»Hab' ich gekotzt?« fragte Richie Bev.

Sie nickte weinend.

Mit seiner Stimme-eines-irischen-Bullen, die aber sehr krächzend und schwankend klang, fragte er: »Haben meine Kleider was abbekommen, Liebling?«

Bev lachte unter Tränen und schüttelte den Kopf. »Ich habe dich auf die Seite gedreht. Ich hatte Angst..., d-d-daß du d-d-daran ersch-sch-sticken k-könntest.« Sie schluchzte wieder auf.

»D-D-Das ist n-nicht f-f-f-fair«, sagte Bill, der immer noch ihre Hand hielt. »H-Hier bin ich es, der sch-sch-stottert.«

»Nicht schlecht, Big Bill«, sagte Richie. Er versuchte aufzustehen, setzte sich aber hastig wieder hin, weil sich vor seinen Augen immer noch alles drehte. Er begann erneut zu husten und zu würgen und konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite drehen, bevor er sich wieder übergab. Er spuckte grünlichen Schleim und dicken Speichel aus, schloß die Augen und krächzte: »Kleiner Imbiß gefällig?«

»Pfui Teufel!« rief Ben angewidert, mußte aber unwillkürlich lachen.

Als Richie schließlich die Augen wieder öffnete, sah er das Klubhaus in etwa 20 Yards Entfernung. Sowohl das schmale Fenster als auch die große Falltür waren geöffnet. Aus beiden stieg Rauch auf.

Diesmal gelang es Richie, auf die Beine zu kommen. Einen Moment lang war er überzeugt, daß er sich gleich wieder übergeben oder in Ohnmacht fallen würde oder beides zugleich. Die ganze Welt drehte sich um ihn. Er wartete, bis dieses Gefühl vergangen war, dann ging er zu Mike hinüber. Mikes Augen waren immer noch rot wie die eines Wiesels, und aus seinen feuchten Hosensäumen schloß Richie, daß Mike wohl ebenfalls eine Fahrt im Magen-Aufzug hinter sich hatte.

»Für einen Weißen hast du dich ganz wacker gehalten!« krächzte Mike und klopfte Richie auf die Schulter.

Richie war sprachlos - was ihm nur äußerst selten passierte.

Bill trat zu ihnen, und die anderen folgten ihm.

»Hast du uns rausgezogen?« fragte Richie.

»Ich und B-B-Ben. Ihr h-habt geschrien. B-B-Beide. A-A-Aber...« Er sah Ben an.

»Es muß am Rauch gelegen haben, Bill«, sagte Ben, doch es klang alles andere als überzeugend.

»Ich glaube, ich weiß, was ihr meint«, sagte Richie.

»Und w-w-was ist d-das?«

Mike antwortete anstelle von Richie. »Wir waren zuerst nicht da, stimmt's? Als ihr runtergestiegen seid, weil ihr uns schreien gehört habt, waren wir zuerst nicht da.«

»Man konnte vor Rauch fast nichts sehen«, sagte Ben zögernd. »Wißt ihr, euch beide so schreien zu hören, das war schon schlimm genug. Aber diese Schreie... sie hörten sich auch noch so an, als ob... na ja...«

»Als ob s-sie aus w-w-weiter F-Ferne k-k-k-kämen«, vollendete Bill. Sehr stark stotternd erzählte er ihnen, daß er und Ben weder Richie noch Mike hätten sehen können, als sie hinabgestiegen waren. Sie waren im dunklen, rauchgeschwängerten Klubhaus herumgestolpert und hatten panische Angst gehabt, daß die beiden an Rauchvergiftung sterben könnten, wenn sie sie nicht schnell genug fanden. Schließlich hatte Bill eine Hand zu fassen bekommen - Richies Hand. Er hatte »g-g-gezogen w-wie v-v-v-verrückt«, und Richie war aus der Dunkelheit herausgeflogen, nur noch zu etwa einem Viertel bei Bewußtsein. Bill hatte einen Arm um seine Taille geschlungen, und als er sich umgedreht hatte, hatte er gesehen, daß Ben Hanscom Mike auf den Armen trug. Irgendwie war es Ben dann gelungen, Mike durch die Falltür ins Freie zu befördern.

»Bei mir war's das gleiche«, berichtete Ben. »Ich habe in alle Richtungen getastet... mit ausgestreckten Armen, so als wollte ich jemandem die Hand schütteln. Du hast danach gegriffen, Mike. Es war, glaube ich, höchste Zeit, denn gleich darauf bist du ohnmächtig geworden.«

»Wenn man euch so reden hört, könnte man glauben, das Klubhaus wäre riesig«, sagte Richie. »Dabei sind die Wände nur fünf Fuß lang.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Alle sahen Bill an, der mit gerunzelter Stirn dastand.

»Es w-w-w-war größer«, sagte er schließlich. »Sch-Sch-Stimmt's, Ben?«

Bert nickte. »Mir kam's auch so vor. Wenn es nicht einfach am Rauch lag.«

»Es lag nicht am Rauch«, sagte Richie. »Kurz bevor es passierte - bevor wir das Klubhaus verließen -, dachte ich, es sei mindestens so groß wie ein Ballsaal im Film. Ich konnte Mike an der gegenüberliegenden Wand kaum noch erkennen.«

»Bevor ihr das Klubhaus verlassen habt?« fragte Beverly und packte Richie aufgeregt am Arm. »Es ist also wirklich geschehen? Ihr habt eine Vision gehabt wie die Indianer in Bens Buch!« Ihr Gesicht strahlte, ihre Augen funkelten. »Es ist also wirklich geschehen]«

Richie betrachtete zuerst sich, dann Mike. Mikes Hose war an einem Knie zerrissen, seine eigenen Jeans an beiden Knien. Durch die Löcher hindurch sah er blutige Kratzer.

»Wenn es eine Vision war, so will ich nie wieder eine haben«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob der Krauskopf da drüben schon vorher ein Loch in der Hose hatte - aber meine war jedenfalls ganz. Sie war noch so gut wie neu.«

»Was ist passiert?« fragten Ben und Eddie gleichzeitig.

Richie und Mike tauschten einen Blick, dann sagte Richie: »Bevvie, hast du 'ne Zigarette für mich?«

Sie hatte zwei, sorgfältig in Alufolie eingewickelt. Richie steckte sich eine davon in den Mund, aber als sie ihm Feuer gab, mußte er schon beim ersten Zug so stark husten, daß er sie ihr schnell zurückgab. »Rauch du sie«, sagte er. »Ich kann nicht.«

»Wir befanden uns in der Vergangenheit«, erzählte Mike. »Wir waren in den Barrens, aber es waren die Barrens, wie sie vor langer Zeit ausgesehen haben. Der Kenduskeag hatte eine sehr starke Strömung. Er war tief. Und es gab Fische darin. Lachse, glaube ich.«

»M-M-Mein Vater sagt, d-d-daß es im K-K-K-Kenduskeag schon seit 1-1-langem k-keine Fische mehr g-gibt. W-Wegen der Abwässer.«

»Wir waren auch sehr weit in der Vergangenheit«, erklärte Richie und warf einen unsicheren Blick in die Runde. »Ich glaube, es muß mindestens eine Million Jahre gewesen sein.«

Das schlug wie eine Bombe ein, und längere Zeit herrschte Schweigen. Schließlich fragte Beverly: »Aber was ist nun eigentlich passiert?«

Richie wollte es sagen, aber zuerst blieben ihm die Worte im Hals stecken, und er hatte das Gefühl, sich gleich wieder übergeben zu müssen. »Wir sahen Es kommen«, brachte er schließlich hervor.

»Mein Gott«, murmelte Stan. »O mein Gott.«

Eddie schnappte keuchend nach Luft und schob seinen Aspirator in den Mund.

»Es kam vom Himmel herab«, berichtete Mike. »Ich möchte so etwas nie mehr erleben. Es schoß aus dem Himmel herab wie ein Meteor. Es brannte so grell, daß man kaum hinschauen konnte. Und es verschoß Blitz und Donner. Das gewaltige Tosen...« Er schüttelte den Kopf und sah zu Richie. »Es hörte sich an wie das Ende der Welt. Und als es auf der Erde aufschlug, brach ein Waldbrand aus. Das war gegen Ende.«

»War es ein Raumschiff?« fragte Ben.

»Ja«, sagte Richie.

»Nein«, widersprach Mike.

Sie tauschten einen Blick.

»Na ja, vermutlich war's eins«, sagte Mike, und gleichzeitig sagte Richie: »Nein, es war eigentlich kein Raumschiff, wißt ihr, aber...«

Sie verstummten wieder, während die anderen sie total fassungslos anstarrten.

»Erzähl du's«, sagte Richie zu Mike. »Ich glaube, wir meinen dasselbe, aber sie verstehen es nicht.«

Mike hustete hinter vorgehaltener Faust, dann sah er die anderen fast entschuldigend an. »Ich weiß nicht, wie ich's euch erklären soll«, sagte er.

»V-V-Versuch's«, bat Bill eindringlich.

»Es kam vom Himmel«, wiederholte Mike, »aber es war kein Raumschiff. Auch kein Meteor. Es war mehr so etwas wie ein Gefäß... so was wie die Bundeslade in der Bibel, in der der Geist Gottes seine Wohnstatt gehabt haben soll... nur war das hier nicht Gott. Wenn man Es nur spürte, Es nur kommen sah, wußte man schon, daß Es etwas Böses bedeutete, daß Es böse war.«

Er schaute sie an.

»Dieses Wesen«, fuhr er fort, »dieses... dieses Es... es kam nicht von der Erde. Aber ich hatte das Gefühl, daß Es ebensowenig von einem anderen Planeten herkam. Weißt du, was ich glaube, Richie?«

Richie nickte. »Es kam von... außerhalb. Ich hatte das Gefühl, als käme Es von außerhalb.«

»Von außerhalb was, Richie?« fragte Eddie.

»Von außerhalb allem«, erwiderte Richie einfach. »Und als Es herunterkam ... als Es aufprallte... da verursachte Es das riesigste Loch, das ihr je gesehen habt. Es landete genau dort, wo jetzt Derry ist. Genau dort, wo jetzt die Stadtmitte von Derry ist.«

Er sah sie an. »Versteht ihr?« fragte er.

Beverly warf ihre Zigarette erst halb geraucht weg und trat sie mit dem Schuh aus.

»Es haust unter der Stelle, an der später die Stadt erbaut wurde«, sagte Mike. »Es ist immer hier gewesen, seit Anbeginn der Zeiten... noch bevor es überhaupt irgendwo Menchen gab, es sei denn, daß vielleicht in Afrika ein paar auf den Bäumen herumturnten. Der Krater ist jetzt verschwunden, aber das Tal, das Es durch seinen Aufprall bildete, ist immer noch da -Derry ist an seinen Abhängen erbaut. Oh, die Eiszeit hat das Tal vermutlich vertieft und einiges verändert und den Krater gefüllt... aber Es war schon damals hier, vielleicht schlief Es, wartete darauf, daß das Eis schmelzen würde, daß Menschen auftauchen würden.«

»Deshalb benutzt Es auch die Abwasserkanäle«, fiel Richie ein. »Sie müssen ja so was wie regelrechte Autobahnen für Es sein.«

»Ihr habt nicht gesehen, wie Es aussah?« fragte Stan Uris heiser.

Sie schüttelten die Köpfe.

»Können wir Es besiegen?« fragte Eddie in die Stille hinein. »Ein solches Wesen?«

Niemand antwortete.

Sechzehntes Kapitel Eddies Armbruch

1

Als Richte verstummt, nicken alle - sie erinnern sich jetzt genau an die RauchlochEpisode. Eddie verspürt einen brennenden Schmerz im rechten Arm, bis hinauf zum Ellbogen. Ergreift in die Tasche seines Sportjacketts, betastet verschiedene Arzneien und holt das Excedrin heraus. Er schluckt zwei Tabletten mit einem Schluck Pflaumensaft-Gin herunter. Sein Arm hat schon den ganzen Tag von Zeit zu Zeit weh getan, und zuerst dachte er, es wäre eine Schleimbeutelentzündung, wie er sie manchmal bei feuchtem Wetter bekommt. Aber während Richie erzählte, ist in ihm plötzlich

eine neue Erinnerung wach geworden, und jetzt begreift er die Ursache seines Schmerzes. Dieser Arm ist einmal gebrochen gewesen, und er weiß jetzt auch genau, wie es dazu gekommen ist.

Vor fünf Jahren hatte sein Arzt bei einer Routineuntersuchung (Eddie läßt alle sechs Wochen eine Routineuntersuchung vornehmen) beiläufig festgestellt: »Hier ist eine alte Bruchstelle, Eddie... sind Sie als Kind einmal von einem Baum gefallen?«

»Irgend so was in dieser Art«, hatte Eddie geantwortet, obwohl er wußte, dass seine Mutter ihm nie erlaubt hätte, auf Bäume zu klettern, und obwohl er sich überhaupt nicht an diesen Armbruch erinnerte (was bei einem Mann, der jedem Wehwehchen, jedem nur möglichen Krankheitssymptom größte Aufmerksamkeit schenkt, sehr sonderbar ist!). Es kam ihm nicht wichtig vor. Schließlich handelte es sich ja, wie der Arzt gesagt hatte, um einen Bruch, der lange zurücklag, irgendwann in der Kindheit, an die er sich kaum erinnern konnte - und auch gar nicht erinnern wollte. Dieser alte Bruch bereitete ihm keine starken Beschwerden; nur wenn er an regnerischen Tagen stundenlang am Steuer sitzen mußte, tat der Arm etwas weh, doch zwei Aspirin schafften rasch Abhilfe.

Jetzt aber hat er so starke Schmerzen, als wäre der Bruch ganz frisch.

Ohne die Absicht gehabt zu haben, hört er sich plötzlich sagen: »Es war Henry Bowers, der mir den Arm gebrochen hat. Erinnert ihr euch noch daran?«

Mike nickt bedächtig. »Das war, kurz bevor Patrick Hockstetter verschwand.«

»Bowers hat mir den Arm am 20. Juli gebrochen«, sagt Eddie. »Hockstetter wurde am... wann war es doch noch gleich?... am 23. Juli?... als vermißt gemeldet.«

»Am 24.«, sagt Beverly Huggins, aber sie erzählt ihnen nicht, daß sie sich so genau an das Datum erinnert, weil sie damals sah, wie Es Hockstetter schnappte; sie erzählt ihnen nicht, daß sie damals wie heute Patrick Hockstetter für verrückt hielt, vielleicht sogar noch verrückter als Henry Bowers. Sie wird es ihnen später erzählen -jetzt ist erst einmal Eddie an der Reihe. Und wenn sie selbst ihren Bericht beendet haben wird, wird vermutlich Benfür sie alle den Höhepunkt jenes Julis lebendig werden lassen - die Sache mit den Silberkugeln. Eine alptraumhafte Tagesordnung, wie sie schlimmer nicht sein könnte, denkt Beverly - doch jene aberwitzige Hochstimmung hält weiter an. Wann hat sie sich zuletzt derart jung gefühlt? Sie vermag kaum still zu sitzen.

»Am 20. Juli«, murmelt Eddie und spielt mit seinem Aspirator. »Drei oder vier

Tage nach der Rauchloch-Vision. Ich hatte den Arm für den Rest des Sommers in Gips, wißt ihr noch?«

Richie schlägt sich an die Stirn - eine Geste, die allen aus alten Zeiten vertraut ist. »Klar, jetzt fällt's mir wieder ein! Du warst in Gips, als wir dem Haus auf der Nei-bolt Street einen Besuch abstatteten; und später... im Dunkeln...« Aber an dieser Stelle schüttelt er verwirrt den Kopf.

»W-Was, R-R-Richie?« fragt Bill.

»An jenen Teil kann ich mich noch nicht erinnern«, gibt Richie zu. »Du?« Bill schüttelt langsam den Kopf.

»Ja, Hockstetter war an jenem Tag mit von der Partie«, sagt Eddie. »Es war das letzte Mal, daß ich ihn lebendig gesehen habe. Vermutlich war er ein Ersatz für Peter Gordon. Ich nehme an, daß Bowers auf Peter stinksauer war, weil der bei der Steinschlacht das Weite gesucht hatte.«

»Sie sind alle umgekommen, nicht wahr?« fragt Beverly ruhig. »Nach Jimmy Cullum sind nur noch Henrys Freunde... oder Exfreunde... umgebracht worden.«

»]a, alle außer Bowers selbst«, sagt Mike und wirft einen Blick auf die am Mkro-ßlmgerät festgebundenen Luftballons. »Und er ist inJuniperHill, einer privaten Irrenanstalt in Augusta.«

»W-W-Wie war das, als sie d-d-deinen Arm gebrochen haben, E-E-Eddie?«

»Dein Stottern wird schlimmer, Big Bill«, stellt Eddie fest und leert sein Glas in einem Zug.

»Das m-macht nichts«, sagt Bill. »Erz-z-zähl's uns.«

»Ja, erzähl's uns«, wiederholt Beverly und legt ihm behutsam die Hand auf den schmerzenden Arm.

»Also gut«, sagt Eddie, »nachdem wir heute abend schon mal beim Geschichtenerzählen sind.« Er mixt wieder Pflaumensaft mit Gin, spielt mit dem Pappbecher und beginnt: »Damals im Krankenhaus... ich hatte einen Riesenkrach mit meiner Mutter. Sie wollte mir jeden weiteren Umgang mit euch allen verbieten. Und vielleicht hätte ich mich wirklich dazu überreden lassen - sie hatte so eine Art, mich zu bearbeiten, wißt ihr...«

Bill nickt. Er erinnert sich noch gut an Mrs. Kaspbrak, eine sehr große, korpulente Frau mit einem eigenartigen, etwas schizophrenen Gesicht, das zugleich versteinert, wütend und furchtbar verängstigt aussehen konnte.

»Ja, vielleicht hätte sie mich wirklich dazu gebracht«, fährt Eddie fort. »Aber an jenem Tag, als Henry mir den Arm gebrochen hat, ist noch etwas anderes passiert. Ich habe etwas erfahren, wißt ihr... etwas, das mich wirklich erschüttert hat.«

Er lacht verkrampft vor sich hin und denkt: Es hat mich wirklich erschüttert, okay... aber ist das alles, was du dazu sagen kannst? Was nützt alles Reden, wenn man doch nie jemandem seine Gefühle richtig vermitteln kann? In einem Buch oder Film hätte das, was ich an jenem Tag erfuhr, mein ganzes Leben verändert, und nichts wäre so gekommen, wie es tatsächlich kam... In einem Buch oder Film hätte diese Sache mich zuerst beunruhigt und geängstigt, mich dann aber frei gemacht. In einem Buch oder Film hätte ich nicht eine ganze Reisetasche voll Medikamente im Hotel stehen, ich wäre nicht mit Myra verheiratet, ich hätte jetzt auch nicht diesen verdammten Aspirator bei mir. In einem Buch oder Film. Denn...

Plötzlich - alle sehen es - rollt Eddies Aspirator über den Tisch, mit einem trockenen Rasseln, das sich anhört wie das Klappern von Knochen... oder wie leises Ge-

lächter. Am anderen Tischende, zwischen Richie und Ben, springt er etwas hoch und fällt dann zu Boden. Richie will ihn aufheben, aber Bill ruft scharf: »R-R-Rühr ihn nnicht an!«

»Die Ballons!« schreit Ben, und alle reißen die Köpfe herum.

Auf beiden am Mikrofilmgerät festgebundenen Ballons steht jetzt: ASTHMAMEDIZIN VERURSACHT krebs! Und darunter grinsende Totenschädel.

Dann platzen beide Luftballons mit lautem Knall.

Eddie starrt mit trockenem Mund; er hat das altvertraute Gefühl, keine Luft zu bekommen.

Bill wendet seinen Blick wieder ihm zu. »W-Wer hat dir etwas erzählt, und w-w- was w-war das?«

Eddie fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Am liebsten würde er aufstehen und seinen Aspirator holen, aber er traut sich nicht. Wer weiß, was er jetzt enthalten könnte?

Er denkt an jenen Tag, an den 20. Juli. Es war heiß, und seine Mutter hatte ihm einen Scheck gegeben, auf dem nur der Betrag noch nicht eingesetzt war, sowie einen Dollar, den er ausgeben konnte, wofür er wollte.

»Mr. Keene«, sagt er, und seine eigene Stimme dringt wie aus weiter Ferne an seine Ohren und kommt ihm sonderbar kraftlos vor. »Es war Mr. Keene.«

Ja, es war heiß an jenem Tag, aber im Center Street Drugstore war es herrlich kühl, die Ventilatoren waren eingeschaltet, und es roch angenehm nach verschiedenen Pulvern und geheimnisvollen Mixturen. Er hatte vor dem Drehständer mit Comics gestanden und nachgeschaut, ob es neue Nummern von >Batman< oder >Super-boy< oder >Plastic Man< gab. Er hatte Mr. Keene den Zettel und den Scheck seiner Mutter übergeben, und Mr. Keene würde wie immer den Betrag auf dem Scheck einsetzen und Eddie eine Quittung geben. Drei verschiedene Medikamente für seine Mutter, außerdem noch eine Flasche Geritol, weil es, wie sie ihm einmal geheimnisvoll erklärt hatte, »viel Eisen enthält, und Frauen brauchen mehr Eisen als Männer«. Dann noch seine Vitaminpillen, eine Flasche Dr. Swetts Elixier für Kinder... und natürlich seine Asthmamedizin.

Es war alles so wie immer gewesen, und er hatte vorgehabt, sich hinterher im Costello Avenue Market zwei Schokoriegel und ein Pepsi kaufen; auf dem Heimweg würde er dann vergnügt mit dem Kleingeld in seiner Tasche klimpern. Aber es war ganz anders gekommen - er war an diesem Tag im Krankenhaus gelandet, und das war nun wirklich etwas völlig Neues gewesen, aber das Neue hatte schon begonnen, als Mr. Keene ihn gerufen hatte. Denn anstatt ihm wie sonst immer die große weiße Tüte voller Medikamente auszuhändigen und ihm zu raten, die Quittung in die Tasche zu stecken, um sie nicht zu verlieren, hatte Mr. Keene ihn nachdenklich angesehen und gesagt: »Komm mal

2

mit nach hinten in mein Büro, Eddie. Ich möchte kurz mit dir reden.«

Eddie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und zwinkerte beunruhigt mit den Augen. Ihm schoß die Idee durch den Kopf, daß Mr. Keene ihn vielleicht des Ladendiebstahls verdächtigte. Da hing dieses Schild an der Tür, das er beim Betreten des Drugstores immer las, anklagende schwarze Buch-

staben: ladendiebstahl ist kein Kavaliersdelikt! ladendiebstahl ist

EIN VERBRECHEN UND WIRD VON UNS STRAFRECHTLICH VERFOLGT! Eddie hatte noch nie etwas in einem Laden gestohlen, aber dieses Schild rief in ihm immer Schuldgefühle hervor, so als wüßte Mr. Keene etwas über ihn, das er selbst nicht wußte.

Dann verwirrte Mr. Keene ihn noch mehr mit der Frage: »Wie war's mit einem Eiscreme-Soda - auf Kosten des Hauses? Ich genehmige mir um diese Tageszeit immer eins. Es schenkt Energie - ist 'ne gute Sache, wenn man nicht gerade Probleme mit seinem Gewicht hat, und ich würde meinen, das ist bei uns beiden nicht der Fall. Meine Frau sagt immer, ich würde aussehen wie ein Strich in der Landschaft. Dein Freund Ben Hanscom, ja, der müßte auf sein Gewicht achten. Welche Sorte möchtest du, Eddie?«

»Schokolade«, murmelte Eddie ohne nachzudenken, und während er beobachtete, wie Mr. Keene seine Brille mit Goldfassung die Nase hochschob, begriff er, daß der Apotheker nervös war... und diese Nervosität übertrug sich sofort auf ihn selbst. Wenn ein Erwachsener wegen eines Kindes nervös war, so hatte das meist nichts Gutes zu bedeuten.

Vielleicht will er mir sagen, daß ich Krebs habe oder so was Ähnliches, dachte Eddie angsterfüllt. Vielleicht Leukämie. Diesen Kinderkrebs...

Oh, sei doch nicht so blöd, antwortete er sich selbst, wobei er versuchte, im Geist wie Stotter-Bill zu klingen. Bill war Eddies Held; trotz der Tatsache, daß er nicht ordentlich sprechen konnte, schien er alles immer im Griff zu haben. Sei nicht blöd, er ist Apotheker und kein Arzt. Aber er blieb nervös.

Mr. Keene hatte die Klappe in der Theke geöffnet und winkte Eddie mit einem knochigen Finger zu. Eddie folgte widerwillig seiner Aufforderung. Mr. Keene rief Ruby zu, die hinter der Marmortheke für Getränke und Eis an einer Seite des langen, schmalen Drugstores saß und >Silver Screen< las: »Machst du uns zwei Eiscreme-Soda, Ruby? Einmal Schoko, einmal Kaffee.«

»Klar«, sagte Ruby und ließ ihren Kaugummi platzen.

»Bring sie dann ins Büro.«

»Okay.«

»Komm, mein Junge. Ich beiß' dich schon nicht.«

Eddie war noch nie hinter der Verkaufstheke gewesen, und die vielen Flaschen, Gläser und Pillen versetzten ihn in Erstaunen. Er hätte sich gern länger hier aufgehalten und Mr. Keenes Mörser und Stößel, seine Waagen und Gewichte und die vielen verschiedenen Kapseln genau betrachtet. Aber Mr. Keene hielt ihm die Tür zu seinem Büro auf, und Eddie trat ein. Als die Tür wieder geschlossen war, spürte Eddie, wie ihm die Kehle eng wurde. Er kämpfte gegen dieses warnende Vorzeichen. Unter den Einkäufen war ja auch ein neuer Aspirator, und er konnte lange inhalieren, sobald er hier wieder draußen war.

Eddies Unruhe und Angst wuchs noch, als Mr. Keene sich auf seinen Drehstuhl hinter dem Schreibtisch setzte, den Aspirator plötzlich auf die Löschunterlage legte und sich dann so weit zurücklehnte, daß sein Kopf fast den Wandkalender berührte. Auf dem Kalenderblatt für Juli waren irgendwelche Pillen abgebildet. Und...

Und einen schrecklichen Augenblick lang, als Mr. Keene gerade den

Mund öffnete, erinnerte sich Eddie an den Vorfall im Schuhgeschäft, als er ein kleiner Junge war und seinen Fuß in die Röntgenmaschine gesteckt hatte. In diesem schrecklichen Moment dachte Eddie, daß Mr. Keene gleich sagen würde: >Eddie, neun von zehn Ärzten sind der Ansicht, daß Asthmamedizin Krebs verursacht, ebenso wie die Röntgenmaschinen, die man früher in Schuhgeschäften hatte. Ich dachte, das solltest du wissen.«

Aber was Mr. Keene dann wirklich sagte, war so eigenartig, daß Eddie sich überhaupt keinen Reim darauf machen konnte.

»Das hat jetzt wirklich lange genug gedauert«, sagte Mr. Keene.

Eddie öffnete den Mund, klappte ihn aber wortlos wieder zu.

»Wie alt bist du, Eddie? Zehn, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Eddie ziemlich leise. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er pfiff zwar noch nicht wie ein Teekessel (das war natürlich Richies Ausdrucksweise: Stell man jemand Eddie ab. Er kocht!), aber das konnte jederzeit passieren. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf seinen Aspirator, der auf Mr. Keenes Schreibtisch lag, und weil er den Eindruck hatte, noch etwas sagen zu müssen, fügte er hinzu: »Ich werde am 5. November elf.«

Mr. Keene nickte, dann beugte er sich vor wie ein Apotheker im Werbefernsehen und faltete die Hände. Seine Brille funkelte im grellen Licht der Neonröhren an der Decke. »Weißt du, was ein Placebo ist, Eddie?«

Nervös riet Eddie, so gut er konnte: »Das sind die Dinger bei den Kühen, wo die Milch rauskommt, glaube ich.«

Mr. Keene lachte und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. »Nein«, sagte er, und Eddie errötete bis zu den Haarwurzeln. Er konnte jetzt schon das Pfeifen in seinem Atem hören. »Ein Placebo...«

Er wurde durch ein lautes Klopfen an der Tür unterbrochen. Ohne sein >Herein< abzuwarten, betrat Ruby das Büro, in jeder Hand ein altmodisches Eiscremesoda-Glas. »Deins muß das mit Schokolade sein«, sagte sie zu Eddie und lächelte ihm zu. Er erwiderte ihr Lächeln, aber es gelang ihm nicht so recht; sein Interesse an Eiscremesoda war vermutlich noch nie in seinem ganzen Leben so gering gewesen. Er saugte am Strohhalm, während Ruby hinausging, aber er nahm den Geschmack kaum wahr.

Mr. Keene wartete, bis Ruby hinter sich die Tür geschlossen hatte, dann sagte er: »Entspann dich doch, Eddie. Ich beiße dich ganz bestimmt nicht, und ich tu' dir auch sonst nichts.«

Halbherzig saugte er wieder am Strohhalm, aber es nützte nichts: das Pfeifen wurde immer schlimmer. Er betrachtete den Aspirator auf Mr. Keenes Schreibtisch, traute sich aber nicht, Mr. Keene darum zu bitten oder ihn sich selbst zu nehmen. Er wünschte von ganzem Herzen, jetzt mit seinen Freunden in den Barrens zu sein.

»Entspann dich doch«, sagte Mr. Keene wieder. »Deine Beschwerden kommen teilweise - größtenteils - daher, daß du immer so angespannt, so verkrampft bist. Nimm nur mal beispielsweise dein Asthma. Sieh mal.«

Mr. Keene öffnete seine Schreibtischschublade, kramte darin herum und brachte zu Eddies größtem Erstaunen einen Luftballon zum Vorschein, den er aufblies. center street Drugstore stand darauf. Mr. Keene verknotete den Ballonhals. »Stellen wir uns jetzt mal vor, dieser Ballon wäre eine Lunge«, sagte er. »Deine Lunge. Natürlich müßte ich eigentlich zwei davon

aufblasen, aber ich habe nur noch diesen einen, der vom Sonderverkauf nach Weihnachten übriggeblieben ist...«

»Mr. Keene, könnte ich bitte meinen Aspirator haben?« keuchte Eddie. Sein Kopf dröhnte. Er spürte, wie seine Luftröhre sich immer mehr verengte. Er hatte rasendes Herzklopfen, und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Sein Eiscremesoda stand vergessen auf der Ecke von Mr. Keenes Schreibtisch.

»Gleich«, sagte Mr. Keene. »Paß jetzt erst mal gut auf, Eddie. Ich möchte dir helfen. Es ist höchste Zeit. Und wenn RUSS Handor nicht Manns genug ist, so muß ich es eben tun. Deine Lunge ist wie dieser BaiIon, nur ist sie von einer Muskelhülle umgeben - dem Diaphragma oder Zwerchfell. Bei einem normalen, gesunden Menschen hilft das Zwerchfell den Lungen, sich mühelos zusammenzuziehen und auszudehnen. Wenn aber der Besitzer dieser Lungen - dieser gesunden Lungen - sich immer verkrampft, beginnt das Zwerchfell gegen die Lungen anstatt mit ihnen zu arbeiten. Etwa so!«

Mr. Keene preßte den Ballon mit seiner schwieligen, mageren Hand zusammen. Eddie sah, wie der Ballon sich über und unter der Faust auswölbte und machte sich auf den scheinbar unvermeidlichen Knall gefaßt. Gleichzeitig spürte er, daß er überhaupt keine Luft mehr bekam. Er beugte sich vor und griff nach seinem Aspirator auf der Löschunterlage. Dabei streifte er mit der Schulter das schwere Sodaglas. Es viel vom Schreibtisch und zerschellte mit lautem Klirren auf dem Fußboden.

Eddie nahm das nur verschwommen wahr. Er schob sich den Aspirator in den Mund und drückte auf die Flasche. Er inhalierte gierig, und seine Gedanken rasten in wilder Panik, wie immer in solchen Momenten: Bitte, Mom, ich ersticke, ich kann nicht ATMEN; oh lieber Gott, oh, lieber Jesus sanftund-mild, ich kann nicht ATMEN, bitte, ich will nicht sterben, will nicht sterben, o bitte...

Dann kondensierte sich der nach Medizin schmeckende Nebel aus dem Aspirator auf den geschwollenen Wänden seiner Kehle, und er konnte wieder atmen.

»Es tut mir leid«, stammelte er fast weinend. »Es tut mir leid... ich werde das Glas bezahlen und alles aufwischen... nur sagen Sie meiner Mutter nichts davon, bitte! Es tut mir so leid, Mr. Keene, aber ich konnte nicht atmen...«

Wieder klopfte es an de Tür, und Ruby steckte ihren Kopf herein. »Ist alles. ..«

»Alles in Ordnung«, sagte Mr. Keene scharf. »Laß uns allein.«

»Hmm!« gab Ruby von sich und schloß die Tür.

Eddies Atem wurde wieder pfeifend, und er nahm noch einmal seinen Aspirator zu Hilfe. Dann fing er wieder an, sich stammelnd zu entschuldigen. Er verstummte erst, als Mr. Keene plötzlich die Hand hob wie Mr. Nell, wenn dieser den Verkehr anhielt, damit die kleinen Kinder nach Schulschluß die Jackson Street überqueren konnten.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte der Apotheker. »Ruby wird nachher alles aufwischen, und - ehrlich gesagt - bin ich ganz froh, daß du das Glas zerbrochen hast, Eddie.« Er lächelte, und nachdem Eddie jetzt wieder richtig atmen konnte, kam dieses Lächeln ihm plötzlich sehr freundlich... und ziemlich melancholisch vor. »Ich bin froh darüber, weil wir jetzt nämlich ein gegenseitiges Interesse haben, Eddie. Ich verspreche dir, deiner Mutter nichts von dem zerbrochenen Glas zu sagen, wenn du mir versprichst, deiner Mutter nichts von unserer Unterhaltung zu sagen.«

»O ja, das verspreche ich«, sagte Eddie eifrig.

»Gut. Wir haben also ein Abkommen getroffen. Wie fühlst du dich jetzt, Eddie?«

»Besser.«

»Viel besser?«

Eddie nickte.

»Warum?«

»Warum?« wiederholte Eddie erstaunt. »Nun... weil ich meine Medizin hatte.« Er sah Mr. Keene so an, wie er in der Schule Mrs. Casey ansah, wenn er nicht ganz sicher war, die richtige Antwort gegeben zu haben.

»Aber du hast gar keine Medizin gehabt«, sagte Mr. Keene, »sondern nur ein Placebo.«

»Was ist das?«

»Es ist etwas, das wie Medizin aussieht und wie Medizin schmeckt, aber keine Medizin ist«, erklärte Mr. Keene. Er seufzte tief und betrachtete sein kaum angerührtes Eiscremesoda. Er schien Eddies Anwesenheit fast vergessen zu haben, und Eddie riß ihn nicht aus seiner Versunkenheit. Schließlich blickte der Apotheker wieder hoch. »Du mußt entschuldigen, wenn ich ein bißchen umständlich rede«, sagte er. »Ich habe so etwas noch nie gemacht - mich noch nie in eine Angelegenheit zwischen Eltern und Kind eingemischt, um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. Das ist eine heikle Sache, Eddie. Eine sehr heikle Sache.«

Er verstummte wieder. In Eddies Kopf drehte sich alles. Was Mr. Keene vorhin gesagt hatte, kam ihm erst jetzt richtig zu Bewußtsein: Du hast gar keine Medizin gehabt.

»Ein Placebo ist keine Medizin, weil keine medizinisch wirksamen Bestandteile darin enthalten sind«, fuhr Mr. Keene fort. »Oder vielleicht ist es eine Medizin... eine Medizin ganz spezieller Art. Ein Placebo kann... kann eine Medizin für den Kopf sein. Verstehst du das, Eddie? Eine Medizin für den Kopf.«

Mit tauben Lippen flüsterte Eddie: »Nein, ich versteh's nicht.« Aber er hatte schreckliche Angst, daß er es doch verstand - er hatte Angst, daß Mr. Keene ihm auf Umwegen beizubringen versuchte, daß er verrückt war.

»Ich will dir mal eine kleine Geschichte erzählen, Eddie«, sagte Mr. Keene. »Im Jahre 1954 wurde in der DePaul-Universität eine medizinische Testreihe bei Patienten mit Geschwüren durchgeführt. In diesen Tests bekamen die hundert Patienten Tabletten. Ihnen wurde gesagt, daß die Tabletten ihnen helfen würden. 50 Prozent der Tabletten waren richtige Geschwürmedikamente, die anderen 50 Prozent waren nur Placebos, von den Ärzten manchmal auch >M&M-Pillen< genannt. Von diesen 100 Patienten sagten 93 hinterher, sie verspürten eine deutliche Besserung, und bei 81 zeigte sich auch eine Besserung. Was sagst du dazu?«

»Ich weiß nicht«, flüsterte Eddie.

Mr. Keene klopfte sich ernst an den Kopf. »Die meisten Krankheiten nehmen hier ihren Anfang, das ist es, was ich glaube, Eddie. Ich bin schon sehr lange in diesem Geschäft, und ich wußte schon lange vor diesen Experimenten in der DePaul-Universität oder auch vor jenen, die während des Krieges in englischen Militärhospitälern durchgeführt wurden, über Placebos Bescheid. Normalerweise sind es alte Menschen, denen Placebos verschrieben werden. Der alte Mann oder die alte Frau geht zu ihrem Arzt und ist überzeugt davon, eine Herzkrankheit oder Krebs oder Grünen Star oder Diabetes oder sonst irgendwas Gefährliches zu haben. Nun, in den meisten Fällen trifft das nicht zu. Sie fühlen sich nicht gut, weil sie alt sind, das ist alles. Sie fühlen sich nicht gut, weil ihre Zeit langsam abläuft. Aber was soll ein Arzt in solchen Fällen tun? Soll er einem alten Mann sagen: >Sie fühlen sich nicht gut, weil Sie alt sind, und Sie können die kleine Schrift in Ihrer Bibel einfach deshalb nicht mehr ohne Lupe lesen, weil Ihre Augen versagen. Dagegen läßt sich überhaupt nichts machen. < Soll er das sagen? Oder soll ich sagen, wenn ein alter Mensch zu mir kommt: »Es tut mir leid, es gibt keine Pillen, die ich Ihnen geben könnte. Sie sollten Ihre Hoffnungen lieber nur noch auf die Auferstehung des Leibes und auf das ewige Leben setzendas sagen, Eddie?«

Eddie zuckte stumm die Achseln; er verstand nicht ganz, was Mr. Keene meinte... aber er hatte noch immer Angst. Du hast gar keine Medizin gehabt -diese Worte dröhnten in seinem Kopf.

»Nein, das sage ich ihnen nicht. Es gibt nämlich eine bessere, menschenfreundlichere Möglichkeit. Manchmal kommen die Alten mit einem Rezept zu mir, auf dem es deutlich steht: Placebos oder 25 gr. Blauer Himmel, wie der alte Doktor Pearson das zu umschreiben pflegte. Und Doktor Hill, der jetzt irgendwo in Colorado ist, sagte es mir geradeheraus - Geben Sie diesem Patienten ein paar M&M-Pillen - nur war seine Handschrift so unleserlich, daß ohnehin kein Patient sie hätte entziffern können.«

Mr. Keene kicherte ein wenig und saugte an seinem Eiscremesoda.

»Nun, Placebos sind ein wahrer Segen für alte Menschen«, fuhr er fort, »und dann gibt es auch jene anderen Fälle - Krebs, schwerze Herzkrankheiten und ähnliches mehr - Fälle, die wir bis jetzt noch nicht heilen können; nun, wenn in solchen Fällen ein Placebo dem Patienten das Gefühl gibt, sich besser zu fühlen, so kann ich darin nichts Negatives sehen. Du etwa, Eddie?«

»Nein«, murmelte Eddie und betrachtete die von ihm angerichtete Sauerei auf dem Fußboden. Dieser Anblick bereitete ihm großes Unbehagen, und er spürte, wie ihm die Kehle wieder eng wurde.

»Nein, ich glaube, dadurch entsteht wirklich kein Schaden. Weißt du, vor fünf Jahren, als Vernon Maitland Speiseröhrenkrebs hätte - eine besonders schmerzhafte Krebsart - und die Ärzte mit keinen Medikamenten mehrge-gen seine Schmerzen ankamen, besuchte ich ihn im Krankenhaus und brachte ihm eine Flasche Zuckerpillen mit. Er war ein enger Freund von mir. Und ich sagte: >Vern, dies sind spezielle Schmerztabletten, die zur Zeit noch getestet werden. Die Ärzte wissen nicht, daß ich sie dir gebe, also sei, um Gottes willen, vorsichtig. Ich kann nicht garantieren, daß sie dir helfen werden, aber ich vermute es. Nimm nicht mehr als eine Tablette pro Tag,

wenn die Schmerzen besonders heftig sind.< Er dankte mir mit Tränen in den Augen. Und in den nächsten drei oder vier Wochen nahm er dann diese eine Tablette pro Tag, und ganz zuletzt nahm er dann zwei, bis er im Oktober starb. Sie wirkten bei ihm, Eddie - es waren nur Zuckerpillen, aber sie betäubten seine Schmerzen... weil Schmerzen hier entstehen.« Wieder klopfte er sich an den Kopf.

Eddie sagte: »Meine Medizin wirkt aber wirklich.«

»Sie wirkt auf deine Kehle und Lunge, weil sie auf deinen Kopf wirkt«, sagte Mr. Keene. »Deine Asthmamedizin besteht aus Wasser, dem eine Spur von Kampfer beigemischt ist, damit es wie ein Medikament schmeckt.«

»Nein!« rief Eddie. Sein Atem ging jetzt wieder pfeifend.

Mr. Keene trank von seinem Soda, aß etwas halb geschmolzenes Eis und wischte sich bedächtig das Kinn mit seinem Taschentuch ab, während Eddie wieder seinen Aspirator benutzte.

»Ich möchte jetzt gehen«, sagte Eddie.

»Laß mich bitte ausreden«, erwiderte Mr. Keene.

»Nein, ich möchte jetzt gehen. Sie haben Ihr Geld bekommen, und ich möchte gehen!« In Eddies Augen standen Tränen. Er hatte recht gehabt. Jetzt würde Mr. Keene sich gleich vorbeugen und sagen: Das eigentliche Problem besteht darin, Eddie, daß du verrückt bist. Total meschugge. Bist du nicht auch dieser Meinung?

»Laß mich ausreden«, sagte Mr. Keene noch einmal, so eindringlich, daß Eddie sitzen blieb. Erwachsene hatten manchmal so eine schreckliche Macht - er haßte sie dafür.

»Ein Teil des Problems besteht darin, daß dein Arzt, RUSS Handor, schwach ist. Und der andere Teil des Problems liegt darin, daß deine Mutter starrköpfig und herrschsüchtig ist. Und du, Eddie, zappelst dazwischen wie ein Fisch im Netz.«

»Ich bin nicht verrückt«, flüsterte Eddie heiser.

Mr. Keene beugte sich vor; sein Stuhl knarrte. »Was?«

»Ich sagte, ich bin nicht verrückt!« schrie Eddie und errötete gleich darauf hefig.

Er dachte, daß Mr. Keene ärgerlich sein würde, weil er geschrien hatte -man schrie Erwachsene niemals an, das hatte seine Mutter ihn gelehrt -, aber statt dessen sah Mr. Keene im ersten Moment völlig verdattert aus... und dann fing er an zu lachen.

»Nein, natürlich bist du nicht verrückt. Hast du geglaubt, daß ich dir das beibringen will? Nein, keineswegs.«

Mr. Keene hörte auf zu lachen und sah Eddie wieder mit eindringlichem Ernst an.

»Ich sage doch nicht, daß du geistig oder körperlich krank bist, Eddie; ganz im Gegenteil, ich versuche dir zu erklären, daß du nicht krank bist.«

Eddie starrte den Apotheker fassungslos an.

»Hör mir gut zu, Eddie. Auch wenn du nie wieder jemandem aufmerksam zuhören wirst - bitte tu's jetzt. Deine Mutter hat, wie du weißt, zahlreiche gesundheitliche Probleme. Viele beruhen auf der Tatsache, daß sie starkes Übergewicht hat und nicht abnehmen will oder kann. Andere haben

Gründe, die wir heute noch nicht kennen und vielleicht nie kennen werden. Außerdem hat sie mit ansehen müssen, wie dein Vater, den sie sehr liebte, qualvoll an Gehirntumor starb. Und bei deiner Geburt wäre sie fast selbst gestorben - auch das in erster Linie aufgrund ihres Übergewichts. Das alles hat bei ihr zu einer beinahe schon pathologischen Hypochondrie geführt, die sie an dich weitergegeben hat.«

»Was ist das?« fragte Eddie.

»Ein Hypochonder ist ein Mensch, der kleine Beschwerden immer zu schlimmen Krankheiten aufbläht oder glaubt, er wäre krank, obwohl er es nicht ist, oder glaubt, daß seine Krankheit ganz andere Ursachen als die tatsächlichen hat.«

»Ich finde, Sie sollten aufhören, gegen meine Mom zu reden«, sagte Eddie, der den Tränen wieder sehr nahe war.

»Vermutlich hast du recht«, stimmte Mr. Keene ihm zu, »und vermutlich werde ich dafür bezahlen müssen. Aber indem ich gegen deine Mutter rede, rede ich für dich. Seit du ein Baby warst, war deine Mutter immer überzeugt davon, daß du krank bist. Als Dr. Pearson anfing, ihr zu widersprechen ... als er versuchte, ihr die absurde Idee auszureden, du müßtest mindestens sechsmal im Jahr gründlich untersucht werden, oder als sie darauf beharrte, daß du unbedingt ins Krankenhaus müßtest, als du dir mit drei Jahren an einem regnerischen Tag in der Garage den Knöchel verstaucht hattest - wechselte sie zu Dr. Seymour über. Als der ihr erklärte, es sei unmöglich, ein Kind unter einer Glasglocke aufzuziehen, wie sie es offenbar tun wollte, da wechselte sie zu Dr. Handor über, der einfach zu feige ist, um ihr zu widersprechen.«

Mr. Keenes welke Wangen hatten vor Erregung jetzt Farbe bekommen.

»In den fast elf Jahren deines Lebens ist es deiner Mutter gelungen, Eddie, nicht nur sich selbst, sondern auch dich davon zu überzeugen, daß du ein sehr kranker Junge bist. Als du fünf Jahre alt warst, hattest du eine ganz leichte Bronchitis. Deine Mutter zog ihre medizinischen Bücher zu Rate und war bald überzeugt davon, daß du keine Bronchitis, sondern schweres Asthma hast. Sie schleppte dich jede Woche in Handors Praxis und verlangte, daß er das angebliche Asthma behandelte. Die Bronchitis verging natürlich, und eine Zeitlang hast du ganz normal geatmet. Dann hast du ganz allmählich begonnen, die Symptome zu entwickeln, die du zweimal hier gezeigt hast - das Pfeifen, das Ringen nach Atem, die Blässe. Was passiert war, ist ganz einfach zu erklären: deine Mutter impfte dir ein, welche Symptome sie erwartete - nein, welche Symptome sie verlangte -, und du gehorchtest ihr, indem du diese Symptome entwickeltest.«

»Das ist eine Lüge!« schrie Eddie und war ganz überrascht, daß die Worte so kraftvoll aus seiner engen Brust herauskamen. Er dachte an Bill, überlegte, wie Bill wohl auf so schreckliche Anklagen reagieren würde. Bill wüßte bestimmt trotz seines Stotterns etwas darauf zu erwidern. Bill konnte tapfer sein. »Das ist eine Lüge, ich habe Asthma.«

»Ja, du hast es, aber es gibt keine körperliche Ursache dafür«, sagte Mr. Keene. »Dr. Handor weiß das aufgrund seiner Röntgenuntersuchungen, und ich weiß es auch so - weil ich dich beobachte und weil ich deine Mutter kenne. Vor vier Jahren, 1954 - eigenartigerweise in jenem Jahr, als die Tests an der DePaul-Universität durchgeführt wurden - begann Dr. Handor, dir eine Asthmamedizin mit dem Namen HydrOx zu verschreiben - einer Abkürzung von Hydrogen und Oxygen, den beiden Bestandteilen von Wasser. Ich habe dieses Täuschungsmanöver vier Jahre lang unterstützt, aber jetzt will ich mich nicht mehr dazu hergeben. Es ist eine Sache, sehr alten oder sehr kranken Patienten Placebos zu verabreichen, aber bei jungen Menschen wie dir, einem potentiell völlig gesunden Menschen, halte ich das für völlig falsch. Ja, ich glaube, jetzt habe ich dir alles gesagt, was ich dir sagen wollte, Eddie. Deine Asthmamedizin besteht aus Wasser und etwas Kampfer. Sie hilft dir, weil deine Atemorgane physisch völlig in Ordnung sind. Sie hilft dir, weil du daran glaubst. Dein Asthma ist die Folge eines nervösen Zusammenziehens des Zwerchfells, das von deinem Kopf gesteuert wird. Du bist nicht krank.«

Ein schreckliches Schweigen breitete sich aus.

Eddie saß wie angewurzelt auf seinem Stuhl, aber in seinem Kopf wirbelten die Gedanken nur so herum. Einen Moment lang erwog er die Möglichkeit, daß Mr. Keene ihm die Wahrheit gesagt hatte, aber diese Vorstellung war von so furchtbarer blendender Helligkeit, daß er sich ihr nicht zu stellen vermochte. Aber weshalb sollte Mr. Keene lügen, besonders in einer so ernsten Angelegenheit?

Ich habe Asthma, ich habe es wirklich.

An jenem Tag, als Henry Bowers mich auf die Nase schlug, an jenem Tag, als Bill und ich versuchten, in den Barrens einen Damm zu bauen - da wäre ich fast gestorben. Soll ich wirklich glauben, daß ich mir das einfach eingebildet habe?

Aber weshalb sollte er lügen?

Nur undeutlich hörte er Mr. Keene sagen: »Ich habe dich immer beobachtet, Eddie. Ich habe dich gern, und ich finde, du hast dich so gut gehalten wie es... nun ja, wie es unter so schwierigen häuslichen Verhältnissen überhaupt möglich ist. Ich glaube, ich habe es dir jetzt gesagt, weil du alt genug bist, um es zu verstehen, aber auch, weil ich bemerkt habe, daß du endlich Freunde gefunden hast. Es sind wirklich gute Freunde, stimmt's?«

»Ja.«

Mr. Keene schob seinen Stuhl zurück und schloß ein Auge, was wohl ein Zwinkern sein sollte. »Und ich wette, deine Mutter mag sie nicht besonders, stimmt's?«

»Sie mag sie sehr«, widersprach Eddie und dachte dabei an die abfälligen Bemerkungen seiner Mutter über Richie Tozier (»Er hat ein übles Mundwerk ... und ich habe seinen Atem gerochen, Eddie... ich glaube, er raucht«), an ihren >gutgemeinten< Rat, Stan Uris kein Geld zu leihen, weil er Jude sei, an ihre ausgesprochene Abneigung gegen Bill Denbrough und >jenen fetten Jungen<.

Mr. Keene gegenüber beharrte er jedoch darauf: »Sie mag sie sogar sehr.«

»Na ja... mach dir nichts draus«, sagte Mr. Keene, als wisse er es besser. »Du hast Freunde, und das ist sehr wichtig. Freunde können einen unterstützen. Sie können einem manchmal auch dabei helfen, über gewisse Dinge nachzudenken. Ich würde vorschlagen, Eddie, daß du mit deinen Freunden darüber redest und ihre Meinungen hörst, bevor du deiner Mutter etwas von unserer Unterhaltung erzählst, denn daran kann ich dich natürlich nicht hindern - zerbrochenes Glas hin, zerbrochenes Glas her.«

Eddie gab keine Antwort; es schien ihm sicherer, sich nicht weiter mit Mr. Keene zu unterhalten. Und er befürchtete, wirklich noch in Tränen auszubrechen, wenn er nicht möglichst rasch hier herauskam.

»Nun«, sagte Mr. Keene und stand auf. »Ich glaube, das war's, Eddie. Es tut mir leid, wenn ich dich verstört habe. Ich habe nur getan, was ich für meine Pflicht hielt. Ich...«

Aber bevor er noch etwas sagen konnte, hatte Eddie schon nach der weißen Tüte mit den Medikamenten gegriffen und stürzte davon, rannte aus dem Drugstore, als wäre der Teufel hinter ihm her, trotz seines pfeifenden Atems.

An der großen Kreuzung von Kansas-, Main- und Center Street blieb er stehen und benutzte wieder seinen Aspirator; dann setzte er sich auf die niedrige Steinmauer neben der Bushaltestelle - seine Kehle war jetzt schon ganz schleimig von der Medizin

(nichts weiter als Wasser mit einer Spur Kampfer)

und er dachte, daß er sich höchstwahrscheinlich übergeben würde, wenn er heute noch einmal seinen Aspirator benutzen mußte.

Er schob ihn langsam in die Tasche und beobachtete den Verkehr. Er versuchte, an nichts zu denken. Die Sonne brannte glühend heiß auf seinen Kopf. Von jedem vorbeifahrenden Auto bekam er reflektierte Sonnenstrahlen in die Augen, und in seinen Schläfen regte sich ein leichtes Kopfweh. Er brachte es nicht fertig, böse auf Mr. Keene zu sein, aber er tat sich selbst leid. Er tat sich selbst sehr leid. Er vermutete, daß Bill Denbrough nie Zeit mit Selbstmitleid vergeudete, aber er selbst kam einfach nicht dagegen an.

Lieber als alles andere hätte er jetzt genau das getan, was Mr. Keene vorgeschlagen hatte: in die Barrens zu gehen und seinen Freunden alles zu erzählen und ihre Meinung darüber zu hören und zu erfahren, welche Antworten sie hatten. Aber das konnte er jetzt nicht tun. Seine Mutter erwartete ihn bald mit den Medikamenten zurück.

(deine Mutter impfte dir die Symptome ein, die sie erwartete)

und wenn er nicht kam

(du gehorchtest... schwierige häusliche Verhältnisse.., ich wette, deine Mutter mag sie nicht besonders, stimmt's?)

würde es Schwierigkeiten geben. Sie würde sofort vermuten, daß er mit Bill oder Richie zusammengewesen war oder mit dem >Judenjungen<, wie sie Stan nannte (wobei sie immer betonte, diese Bezeichnung sei kein Vorurteil, nichts Abfälliges, sie würde einfach >die Karten auf den Tisch legen< -ihr Ausdruck dafür, in schwierigen Situationen die Wahrheit zu sagen). Und während er auf der Steinmauer saß und versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen, wußte Eddie genau, was sie sagen würde, wenn ihr zu Ohren käme, daß zu seinen Freunden auch ein schwarzer Junge und ein Mädchen gehörten.

Er begann langsam den Up-Mile Hill hinaufzugehen - bei dieser Hitze war der steile Hügel eine Qual. Es war fast heiß genug, um auf dem Gehweg Spiegeleier zu braten. Zum erstenmal wünschte er sich, die Schule würde wieder anfangen, und er könnte sich mit dem neuen Schuljahr und den Eigenheiten eines neuen Lehrers auseinandersetzen. Er wünschte sich, daß dieser schreckliche Sommer bald vorüber wäre.

Auf halber Höhe des Hügels blieb er stehen und zog seinen Aspirator aus der Tasche. hydrox-spray stand auf dem Aufkleber, nach bedarf verwenden.

Und plötzlich wurde ihm etwas klar. nach bedarf verwenden. Er war nur ein Kind, noch nicht trocken hinter den Ohren (wie seine Mutter ihm manchmal erklärte, wenn sie >die Karten auf den Tisch legte<), aber sogar ein zehnjähriges Kind wußte, daß man nicht jemandem ein richtiges Medikament gab und draufschrieb: Nach Bedarf verwenden. Mit einer richtigen Medizin könnte man sich nur zu leicht umbringen, wenn man sie sorglos nach Bedarf verwendete. Eddie vermutete, daß man sich bei solcher Anwendung sogar mit einfachem Aspirin umbringen konnte.

Er starrte auf den Aspirator und bemerkte nicht einmal die neugierigen Blicke einer alten Frau, die mit ihrer Einkaufstasche am Arm den Up-Mile Hill hinunterging. Er fühlte sich betrogen. Und einen Moment lang war er nahe daran, die Druckflasche aus Plastik in den Rinnstein zu werfen - noch besser wäre es, dachte er, sie in den Gully hinabzuwerfen. Na klar! Warum auch nicht? Sollte es diesen blöden Aspirator doch dort unten in seinen Kanalisationsrohren und tropfenden Rattenwegen haben! Da hast du ein Pla-ce-bo, du hundertgesichtiges Scheusal! Er lachte kurz auf. Fast hätte er es getan - um ein Haar hätte er es getan. Aber die Gewohnheit war schließlich doch zu mächtig. Er schob den Aspirator wieder in seine rechte vordere Hosentasche und ging weiter; das gelegentliche Hupen eines Autos oder das Dröhnen eines Dieselmotors eines vorbeifahrenden Stadtbusses nahm er kaum wahr. Und natürlich ahnte er nicht, wie nahe er daran war, richtige starke Schmerzen kennenzulernen; er ahnte natürlich nicht, daß er diesen heißen Tag in einem Einzelzimmer des Krankenhauses von Derry beschließen würde.

3

Als Eddie 25 Minuten später aus dem Castello Avenue Market herauskam, ein Cola in der Hand, eine Papiertüte mit zwei Payday-Schokoriegeln in der anderen, sah er zu seinem Entsetzen Henry Bowers, Victor Criss, Moose Sadler und Patrick Hockstetter auf dem Kies vor dem kleinen Geschäft knien und auf Victors Baseball-Hemd mit dem Aufdruck >Lion's Club< ihr gemeinsames Kapital zählen. Ihre Sommerschulbücher lagen achtlos neben ihnen. Einen Moment lang hätte Eddie vielleicht die Chance gehabt, sich einfach wieder in den Laden zurückzuziehen und Mr. Gerdreau zu bitten, den Hinterausgang benutzen zu dürfen. An einem gewöhnlichen Tag hätte er vielleicht dieses Geistesgegenwart besessen, aber dies war alles andere als ein gewöhnlicher Tag, und so blieb Eddie einfach wie gelähmt auf der obersten Stufe stehen, ohne die noch einen Spalt breit geöffnete Tür loszulassen.

Victor Criss blickte auf, sah ihn und stieß Henry mit dem Ellbogen an.

Henry schaute hoch, Patrick Hockstetter ebenfalls. Moose, der nicht so schnell schaltete, zählte noch etwa fünf Sekunden lang weiter Pennies, bevor die plötzlich eingetretene Stille auch ihm auffiel.

Henry Bowers stand auf und strich lose Kieselsteinchen von den Knien seiner Latzhose.

»Na, da laust mich doch der Affe!« sagte er. »Einer von den Steinwerfern. Wo sind denn deine Freunde, Arschloch? Im Laden?«

Eddie schüttelte leicht den Kopf; im selben Moment wurde ihm klar, daß das ein verhängnisvoller Fehler war.

Henry grinste jetzt übers ganze Gesicht. »Na großartig«, rief er. »Ich nehm' euch auch gern nacheinander vor. Komm runter, Arschloch.«

Victor trat neben Henry, und Patrick Hockstetter stellte sich hinter sie; er grinste auf die geistlose, schweinische Art, die Eddie von der Schule her kannte. Moose erhob sich gerade erst.

»Nun komm schon, Arschloch!« sagte Henry. »Und dann wollen wir uns mal ein bißchen übers Steinewerfen unterhalten.«

Sehr verspätet fiel Eddie ein, daß es klüger wäre, sich in den Laden zurückzuziehen. Aber bei der ersten Bewegung schoß Henrys Arm vor und packte ihn unterhalb des linken Knies. Er zog mit aller Kraft, und die Türklinke glitt Eddie aus der Hand. Die Tür fiel zu. Eddie wurde die Stufen heruntergezogen und wäre der Länge nach auf dem Kies gelandet, wenn Victor ihn nicht grob unter den Armen gepackt und dann von sich geschleudert hätte. Eddie drehte sich zweimal um sich selbst, aber irgendwie gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben. Die vier Jungen waren höchstens zehn Fuß von ihm entfernt, Henry sogar noch etwas weniger. Er lächelte bösartig, und seine Haare standen am Hinterkopf hoch. Eddie registrierte wieder, wie heiß es war.

Links hinter Henry stand Patrick, der ein besonders widerlicher und etwas unheimlicher Junge war. Bis zu diesem Tag hatte Eddie ihn nie mit irgendwelchen anderen Kindern gesehen. Er war ziemlich dick, und sein Bauch hing etwas über seinen Hosengürtel. Er hatte ein richtiges Vollmondgesicht, das normalerweise käseweiß war. Jetzt hatte er aber einen Sonnenbrand; seine Nase schälte sich, und auch die Wangen waren rot. In der Schule liebte Patrick es besonders, mit seinem grünen Plastiklineal Fliegen zu töten und sie in seinem Bleistiftkasten aufzubewahren. Manchmal zeigte er seine Fliegensammlung während der Pause auf dem Schulhof irgendeinem neuen Mitschüler; dabei gab er nie ein Wort von sich, lächelte nur mit seinen dicken Lippen und starrte den anderen mit seinen graugrünen Augen unheimlich an. Diesen Ausdruck hatte er auch jetzt.

»Wie geht's, Steinwerferlein?« fragte Henry, während er auf Eddie zuging. »Hast du wieder Steine bei dir?«

»Laß mich in Ruhe«, sagte Eddie mit bebender Stimme.

»Laß mich in Ruhe«, ahmte Henry ihn mit einer hohen Altweiberstimme nach, und Victor lachte. »Und was willst du tun, wenn ich dich nicht in Ruhe lasse, Steinwerferlein? Häh?« Er holte blitzschnell aus und gab Eddie eine schallende Ohrfeige. Eddies Kopf flog zur Seite, und Tränen traten ihm ins linke Auge.

»Meine Freunde sind im Laden«, schrie er.

»Meine Freunde sind im Laden«, quiekte Patrick Hockstetter. »Oooooh! Ooooh! Ooooh!« Er begann rechts von Eddie herumzutänzeln.

Eddie drehte sich ein wenig in diese Richtung; Henry holte wieder weit aus, und diesmal glühte Eddies andere Wange.

Weine nicht, dachte er, genau das wollen sie ja, aber tu's nicht, Eddie, Bill würde es nicht tun, Bill würde nicht weinen, und auch du darfst nicht wei...

Victor trat ein paar Schritte vor und versetzte Eddie mit offener Handfläche einen harten Stoß gegen die Brust. Eddie taumelte rückwärts und fiel dann über Patrick, der direkt hinter seinen Füßen in die Hocke gegangen war. Er stürzte auf den Kies und schürfte sich dabei die Arme auf.

Einen Augenblick später saß Henry auf seinem Bauch und drückte mit den Knien seine Oberarme in den Kies.

»Na, hast du Steine bei dir, Steinwerferlein?« brüllte Henry, und Eddie fürchtete sich noch mehr vor dem irren Glanz in Henrys Augen als vor dem Schmerz oder der Tatsache, daß er nicht richtig atmen konnte. Henry war verrückt.

Irgendwo in der Nähe kicherte Patrick.

»Na, hast du Steine, Steinwerferlein? Häh? Hast du Lust zum Steinewerfen? Ich werd' dir Steine geben! Hier! Hier hast du Steine!«

Henry hob eine Handvoll Kiesel auf und rieb sie Eddie ins Gesicht. Sie zerkratzten ihm die Wangen, die Lider und Lippen. Er öffnete den Mund und schrie.

»Willst du Steine? Ich geb' dir welche! Hier hast du deine Steine! Willst du noch mehr? Okay! Okay! Okay!«

Kiesel flogen in Eddies offenen Mund, zerschnitten sein Zahnfleisch, knirschten an seinen Zähnen. Er schrie wieder und spuckte Kiesel aus.

»Möchtest du noch welche? Okay? Wie war's mit noch mehr Steinen? Wie war's...«

»Hört sofort auf! Ihr da! Hört sofort auf! Hörst du nicht, Junge? Laß ihn sofort los! Hörst du mich? Laß ihn sofort in Ruhe!«

Durch seine Tränen hindurch sah Eddie eine große Hand, die Henry am Hemdkragen und am rechten Träger seiner Latzhose packte und zurückriß. Er landete im Kies, stand aber sofort auf. Langsam rappelte sich auch Eddie hoch. Er keuchte und spuckte blutige Kiesel aus.

Es war Mr. Gerdreau in seiner langen weißen Schürze, und er sah sehr wütend, aber überhaupt nicht ängstlich aus, obwohl Henry mindestens drei Zoll größer und 50 Pfund schwerer war. Mr. Gerdreau hatte vor Henry keine Angst, weil er der Erwachsene und Henry das Kind war. Nur könnte das in diesem Falle nichts zu bedeuten haben, dachte Eddie. Mr. Gerdreau begriff nicht, daß Henry verrückt war.

»Und jetzt verschwindet sofort!« sagte Mr. Gerdreau und ging auf Henry zu, bis er dicht vor dem plumpen Jungen mit dem verstockten Gesicht stand. »Verschwindet und laßt euch hier nicht mehr sehen! Vier gegen einen, pfui Teufel! Was würden eure Mütter dazu sagen?«

Er sah die anderen Jungen zornig an. Moose und Victor wichen seinem Blick aus und starrten ihre Turnschuhe an. Patrick stierte einfach durch Mr. Gerdreau hindurch. Als dieser seine Aufmerksamkeit wieder Henry zuwandte und befahl: »Steigt auf eure Räder und...« - da versetzte Henry ihm einen kräftigen Stoß.

Ein Ausdruck höchster Überraschung, der unter anderen Umständen vielleicht komisch gewirkt hätte, trat auf Mr. Gerdreaus Gesicht, als er nach hinten flog und wild mit den Armen ruderte, um sein Gleichgewicht zurückzuerlangen. Er stolperte über die Stufen zu seinem Laden und setzte sich hart aufs Gesäß.

»Na warte, du...«, begann er.

Henry kam drohend auf ihn zu. »Gehen Sie rein«, sagte er.

»Du...«, setzte Mr. Gerdreau noch einmal an, verstummte aber gleich wieder. Eddie wußte - endlich hatte Mr. Gerdreau es auch gesehen. Jenen irren Glanz in Henrys Augen. Der Ladeninhaber stand rasch auf. Er lief mit wehender Schürze die Stufen hinauf, so schnell er konnte, stolperte auf der zweitobersten und fiel auf ein Knie. Er erhob sich sofort wieder, aber jenes kurze Stolpern schien ihm den Rest seiner Erwachsenenautorität geraubt zu haben.

Oben drehte er sich um und schrie: »Ich ruf die Polizei!«

Henry tat so, als wollte er sich auf ihn stürzen, und Mr. Gerdreau wich zurück. Das war das Ende, erkannte Eddie. So unglaublich, so undenkbar es auch zu sein schien - von dieser Seite hatte er keinen Schutz mehr zu erwarten. Es war höchste Zeit, sich aus dem Staub zu machen.

Während Henry am Fuß der Treppe stand und Mr. Gerdreau anstarrte, während die anderen noch ganz benommen vor Staunen (und, mit Ausnahme von Patrick nicht wenig erschrocken) über diesen erfolgreichen Angriff auf die Autorität eines Erwachsenen waren, erkannte Eddie seine Chance. Er wirbelte herum und rannte los.

Er hatte einen halben Block zurückgelegt, bevor Henry sich mit funkelnden Augen umdrehte. »Wir müssen ihn schnappen!« brüllte er.

Asthma hin, Asthma her - Eddie legte ein tolles Tempo an den Tag. Zeitweise hatte er das Gefühl, den Boden unter seinen Füßen gar nicht mehr zu berühren, und ihm schoß sogar die fantastische Idee durch den Kopf, daß er sie vielleicht wirklich abhängen könnte.

Aber kurz bevor er die Kansas Street erreichte, wo er vielleicht in Sicherheit gewesen wäre, fuhr ein kleiner Junge auf einem Dreirad dicht vor Eddie aus einer Ausfahrt heraus. Eddie schwenkte scharf ab, aber nicht weit genug; er blieb mit einem Fuß am Hinterrad des Dreirads hängen und flog gleich darauf durch die Luft. Er schlug auf dem Betongehweg auf und schlitterte etwa zehn Fuß weit, wobei er sich Arme und Knie aufschürfte. Gerade als er aufzustehen versuchte, rannte Henry ihn über den Haufen, und er fiel erneut der Länge nach hin und schlug sich am Beton die Nase blutig.

Henry war sofort wieder auf den Beinen und packte Eddie am Nacken und am rechten Handgelenk. Eddie spürte seinen heißen, feuchten Atem am Ohr.

»Willst du Steine, Steinwerfer?« brüllte Henry und riß Eddies Arm auf den Rücken. Eddie schrie auf. »Steine für das Steinwerferlein, stimmt's?« kicherte Henry und verdrehte Eddies Arm noch stärker. Eddie heulte vor Schmerz. Verschwommen hörte er die anderen näher kommen und den kleinen Jungen auf dem Dreirad weinen. Tritt unserem Klub bei, Kleiner, dachte er, und trotz der Schmerzen, trotz der Tränen und der Angst wieherte er plötzlich laut vor Lachen.

»Findest du das komisch?« rief Henry. Jetzt hörte er sich nicht einmal so sehr wütend als vielmehr verwirrt und fast ein bißchen beunruhigt an. »Findest du das komisch?«

Um ein Haar wäre es Eddie gelungen, sein schweißnasses Handgelenk aus Henrys Griff zu befreien. Vielleicht verdrehte Henry ihm nur deshalb daraufhin den Arm noch stärker als zuvor; wahrscheinlicher war jedoch, daß er von Anfang an diese Absicht gehabt hatte. Das Resultat war jedenfalls dasselbe: Eddie hörte ein Knirschen, und ein wahnsinniger Schmerz schoß durch seinen Körper. Er schrie, aber seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Die Welt verlor ihre Farben, und als Henry seinen Arm losließ und ihm einen Stoß versetzte, schien er auf den Gehweg zuzuschweben. Es dauerte lange, bis er aufschlug. Er hatte viel Zeit, sich jeden Riß im Beton einzuprägen, während er darauf zuschwebte. Er hatte Zeit, die Sonnenringe darauf zu bewundern und die verwaschenen Reste eines mit Kreide auf den Gehweg gemalten >Himmel und Hölle<-Spiels wahrzunehmen.

Vielleicht wäre er ohnmächtig geworden, wenn er nicht gerade auf seinen soeben erst von Henry gebrochenen Arm gefallen wäre; der neue Schmerz durchzuckte ihn heiß und messerscharf. Er spürte, wie die gesplitterten Knochen aneinanderrieben. Er biß sich auf die Zunge, die sofort zu bluten begann. Langsam rollte er auf den Rücken und sah Henry, Victor, Moose und Patrick über sich stehen. Sie sahen unglaublich groß, unglaublich hoch aus, wie Sargträger, die in ein Grab hinabschauen, wo der teure Verstorbene ohne Sarg beerdigt wurde.

»Gefällt dir das, Steinwerferlein?« fragte Henry. Seine Stimme drang von ferne, durch Wolken von Schmerz, an Eddies Ohren. »Gefällt dir dieses Spielchen?«

Patrick Hockstetter kicherte.

»Dein Vater ist verrückt«, hörte Eddie sich plötzlich sagen, »und du genauso.«

Henrys Grinsen verschwand so plötzlich, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Er holte mit dem Fuß aus, um Eddie zu treten... und dann zerriß das Heulen einer Sirene die Stille des heißen Nachmittags. Henry hielt mitten in der Bewegung inne. Victor und Moose schauten sich unbehaglich um.

»Henry, ich glaube, wir sollten lieber verschwinden«, sagte Moose.

»Ich bin mir jedenfalls verdammt sicher, daß ich verschwinde«, sagte Victor - wie weit entfernt ihre Stimmen waren! Sie schienen zu schweben, wie die Ballons des Clowns. Victor drehte sich um und rannte in Richtung Bücherei, bog aber gleich darauf in den McCarron-Park ab, um von der Straße wegzukommen.

Henry zögerte einen Moment, und wieder ertönte die Sirene, diesmal schon näher. »Okay, kommt«, sagte er und rannte mit Moose Victor nach.

Patrick Hockstetter blieb noch stehen und beugte sich über Eddie. »Hier hab' ich noch ein kleines Extrageschenk für dich«, flüsterte er mit seiner tiefen, heiseren Stimme. Er zog scharf den Atem ein, und dann spuckte er di-

rekt in Eddies emporgewandtes verschwitztes und blutiges Gesicht. Platsch! »Iß nicht alles auf einmal, wenn du nicht willst«, zischte Patrick und verzog seine wulstigen Lippen zu einem breiten unheimlichen Grinsen. »Heb dir was für später auf.«

Dann rannte auch er davon.

Eddie versuchte, die Spucke mit seinem heilen Arm abzuwischen, aber sogar diese kleine Bewegung jagte eine neue heiße Schmerzwelle durch seinen Körper. Als du dich auf den Weg zum Drugstore gemacht hast, hättest du dir nicht träumen lassen, daß du etwas später mit gebrochenem Arm und mit Patricks Spucke im Gesicht auf dem Gehweg der Costello Avenue liegen würdest, was? Du bist nicht mal dazu gekommen, deine Cola zu trinken. Das Leben hält viele Überraschungen bereit, stimmt's?

Und unglaublicherweise lachte er wieder. Es war ein schwacher Laut, und das Lachen tat in seinem gebrochenen Arm weh, aber trotzdem tat es ihm gut. Und auch noch etwas anderes war bemerkenswert: kein Asthma. Er atmete ganz normal. Das war wirklich ein Glück, denn er hätte seinen Aspirator nicht aus der Tasche ziehen können. Auf gar keinen Fall.

Die Sirene heulte jetzt schon ganz in der Nähe. Eddie schloß die Augen und sah rot unter seinen Lidern. Dann fiel ein dunkler Schatten auf ihn. Es war der kleine Junge auf dem Dreirad.

»Geht's dir gut?« fragte der Kleine.

»Sehe ich so aus?« erwiderte Eddie.

»Du siehst schrecklich aus«, sagte der kleine Junge und trat in die Pedale, wobei er >The Farmer in the Dell< schmetterte.

Eddie begann zu kichern. Die Sirene war jetzt ganz nahe, und er hörte die quietschenden Reifen des Polizeiautos.

Warum in Gottes Namen kicherst du so?

Er wußte es nicht, und ebensowenig wußte er, warum er sich trotz der starken Schmerzen so erleichtert fühlte. War es vielleicht einfach deshalb, weil er noch am Leben war, weil er wußte, daß er nur einen gebrochenen Arm davongetragen hatte, daß man ihn wieder zusammenflicken konnte? Er kam zu dem Schluß, daß es so sein mußte, aber als er Jahre später in der Stadtbücherei von Derry saß, ein Glas Pflaumensaft mit Gin vor sich, erklärte er den Freunden, er glaube inzwischen, es sei noch etwas anderes gewesen; er sei damals alt genug gewesen, um dieses andere zu spüren, aber nicht alt genug, um es sich erklären zu können. Ich glaube, es war der erste wirkliche Schmerz, den ich je im Leben hatte, sagte er ihnen. Ich hatte mir Schmerz immer ganz anders vorgestellt. Er ließ mich als Person unversehrt. Ich glaube... herauszufinden, daß man trotz des Schmerzes weiterlebt, das verschaffte mir eine Art Vergleichsbasis.

Dann quietschten Bremsen. Er drehte den Kopf etwas nach rechts und sah große schwarze Firestone-Reifen, glänzende Radkappen aus Chrom und Blaulicht. Und dann hörte er Mr. Nells Stimme mit breitem irischen Akzent; sie klang mehr nach Richies Stimme-eines-irischen-Bullen als nach Mr. Nells richtiger Stimme... aber vielleicht lag das auch nur an der Entfernung:

»Du lieber Himmel, das ist der Kaspbrak-Junge!«

Dann wurde Eddie endlich ohnmächtig.

Er kam im Krankenwagen zu sich und sah, daß Mr. Nell ihm gegenüber saß, an seiner kleinen braunen Flasche nippte und einen Taschenbuchkrimi von Mickey Spillane mit dem Titel >I the ]ury< las. Eddies Blicke schweiften von Mr. Nell zum Fahrer des Wagens. Dieser drehte sich nach Eddie um; er hatte ein breites schlaues Grinsen im Gesicht, seine Haut war weiß geschminkt, seine Augen funkelten wie neue Münzen. Es war Pennywise.

»Mr. Nell«, flüsterte Eddie heiser.

Mr. Nell blickte lächelnd von seinem Buch auf. »Wie fühlst du dich, mein Junge?«

»... Fahrer... der Fahrer...«

»Ja, wir werden gleich da sein«, sagte Mr. Nell. »Trink mal 'nen Schluck. Es wird dir guttun.«

Eddie trank aus der braunen Flasche, die Mr. Nell ihm an den Mund hielt. Es schmeckte wie flüssiges Feuer. Er hustete, und sein Arm schmerzte davon. Er schaute nach vorne und sah, daß der Fahrer nur irgendein Mann mit Bürstenhaarschnitt war. Kein Clown.

Dann verlor er wieder das Bewußtsein.

Als er das nächste Mal zu sich kam, lag er in einem Notraum, und eine Krankenschwester wischte ihm mit einem kalten, nassen Tuch das Blut und den Schmutz vom Gesicht ab. Das brannte, aber gleichzeitig war es sehr angenehm. Er hörte seine Mutter draußen auf schreien und toben, und er wollte der Krankenschwester sagen, sie solle seine Mutter nicht hereinlassen, aber so sehr er es auch versuchte - er brachte keinen Laut heraus.

»... er stirbt, will ich wissen!« schrie seine Mutter. »Hören Sie mich? Es ist mein Recht, das zu erfahren, und es ist mein Recht, ihn zu sehen! Ich kann Sie gerichtlich belangen, hören Sie? Ich kenne Anwälte, jede Menge Anwälte. ..«

»Versuch nicht zu reden«, sagte die Krankenschwester. Sie war jung, und er spürte ihre Brüste an seinem Arm.

Er verlor wieder das Bewußtsein.

Und dann war seine Mutter im Zimmer und redete wie ein Maschinengewehr auf Dr. Handor ein. Rose Kaspbrak war eine sehr große, sehr dicke Frau. Ihre Beine unter dem geblümten Kleid waren elefantenartig. Ihr Gesicht war jetzt bleich, abgesehen von den hektischen roten Flecken, und ihre Tränen hatten ihr Make-up verschmiert.

»Ma«, brachte Eddie mühsam hervor, »... in Ordnung... ich bin ganz in Ordnung.«

»Das bist du nicht, das bist du nicht«, stöhnte Mrs. Kaspbrak. Sie rang ihre Hände, und Eddie hörte ihre Knöchel knacken. Er fühlte, wie seine Kehle sich zusammenzog, als er wieder zu ihr aufblickte und sah, in welchem Zustand sie war, wie seine neueste Eskapade sie getroffen und verletzt hatte. Er wollte ihr sagen, sie solle sich nicht so aufregen, sonst würde sie noch einen Herzinfarkt bekommen. Aber er konnte nichts mehr sagen. Seine Kehle war zu trocken. »Dir geht's überhaupt nicht gut, du hattest einen schweren Unfall, einen sehr schweren Unfall, aber es wird alles wieder gut, das verspreche ich dir, Eddie, es wird alles wieder in Ordnung kom-

men, und wenn wir dazu sämtliche Spezialisten herschaffen müssen, oh, Eddie... Eddie... dein armer Arm...«

Sie brach in lautes, schnaubendes Schluchzen aus. Eddie sah, daß die Krankenschwester, die ihm das Gesicht gewaschen hatte, seine Mutter ohne große Sympathie betrachtete.

Während dieser ganzen Arie hatte Dr. Handor immer wieder gestammelt: »Rose... bitte, Rose... Rose...« Er war ein kleines, mageres Männlein mit einem schütteren Schnurrbärtchen, das außerdem noch schief geschnitten und links länger als rechts war. Er sah sehr nervös aus. Eddie fiel ein, was Mr. Keene ihm vor kurzem erzählt hatte, und er verspürte ein gewisses Mitleid mit dem Arzt.

Schließlich raffte Dr. Handor sich aber doch zu der Bemerkung auf: »Wenn Sie sich nicht zusammennehmen können, müssen Sie gehen, Rose.«

Sie ging auf ihn los wie eine Furie, und er wich etwas zurück. »Das werde ich nicht tun! Sagen Sie so etwas nicht noch einmal! Das ist mein Sohn, der hier liegt und Qualen leidet! Mein Sohn!«

Eddie erstaunte alle dadurch, daß er plötzlich seine Stimme wiederfand. »Ich möchte, daß du gehst, Ma. Wenn es weh tun wird, möchte ich, das du gehst.«

Sie wandte sich ihm zu, überrascht... und verletzt. Beim Anblick ihres verletzten Gesichts spürte Eddie, wie seine Brust wieder unerträglich eng wurde. »Das werde ich nicht tun!« schrie sie. »Wie kannst du nur etwas so Schreckliches sagen, Eddie? Du bist nicht bei dir! Du weißt nicht, was du sagst, das ist die ein/ige Erklärung.« Sie sah die Krankenschwester wild an, die ihren Blick mit gerunzelter Stirn erwiderte. »Das ist die einzige Erklärung.«

»Ich weiß nicht, welche Erklärung es dafür gibt, und es ist mir auch völlig egal«, sagte die Krankenschwester. »Ich weiß nur, daß wir hier herumstehen und nichts tun, obwohl wir den Arm Ihres Sohnes schienen müßten.«

»Wollen Sie damit etwa sagen...«, begann Rose, und ihre Stimme wurde immer lauter und durchdringender, wie immer, wenn sie sich sehr aufregte oder ärgerte.

»Bitte, Rose«, sagte Dr. Handor. »Wir wollen doch jetzt nicht streiten. Wir sollten lieber Eddie helfen.«

Rose verstummte, aber in ihren wutentbrannten Augen - den Augen einer Bärenmutter, deren Junges bedroht wird - stand geschrieben, daß die Krankenschwester sich später noch auf etwas gefaßt machen konnte -vielleicht sogar auf eine Anzeige. Dann wandte sich ihre Aufmerksamkeit wieder Eddie zu, griff nach seiner unverletzten Hand und drückte sie so fest, daß er aufstöhnte.

»Es ist schlimm, aber bald wird es dir wieder gut gehen«, versicherte sie. »Es wird dir bald wieder gut gehen, das verspreche ich dir.«

»Klar, Ma«, japste Eddie. »Könnte ich meinen Aspirator haben?«

»Aber selbstverständlich«, sagte Rose Kaspbrak und warf der Krankenschwester einen triumphierenden Blick zu, so als wäre sie soeben von irgendeiner lächerlichen Anklage, ein Verbrechen begangen zu haben, freigesprochen worden. »Mein Sohn hat Asthma«, erklärte sie, »ziemlich schweres Asthma, aber er wird großartig damit fertig.«

»Oh«, sagte die Krankenschwester nur.

Seine Mutter hielt seinen Aspirator so, daß er inhalieren konnte. Gleich darauf tastete Dr. Handor Eddies gebrochenen Arm ab. Er ging dabei so behutsam wie irgend möglich vor, aber es tat trotzdem wahnsinnig weh. Eddie biß die Zähne zusammen, um nicht zu schreien, weil er befürchtete, daß seine Mutter sonst auch schreien würde. Große Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn.

»Sie tun ihm weh!« rief Mrs. Kaspbrak. »Ich weiß das! Und es ist nicht notwendig! Hören Sie auf! Sie dürfen ihm nicht weh tun! Er ist sehr zart, er kann solche Schmerzen nicht ertragen!«

Eddie sah, wie die wütende Schwester und der erschöpfte, besorgte Arzt einen Blick tauschten. Er verstand ihre wortlose Unterhaltung: Schmeißen Sie diese Frau doch raus, Doktor. Und die hilflosen Augen des Arztes: Ich kann nicht. Ich traue mich nicht.

Der Schmerz verschaffte ihm große Klarsicht, und während der wortlosen Unterhaltung zwischen Arzt und Krankenschwester akzeptierte er alles, was Mr. Keene ihm gesagt hatte. Sein Aspirator war mit nichts anderem als Wasser gefüllt, dem etwas Kampfer zugefügt war. Das Asthma hatte seine Ursache nicht in seiner Kehle, in seiner Brust oder in seinen Lungen, sondern in seinem Kopf. Irgendwie würde er mit dieser Wahrheit fertig werden müssen.

Er betrachtete auch seine Mutter mit dieser Klarsicht; er sah jede einzelne Blume an ihrem Kleid, sah die Schweißringe unter ihren Achseln und ihre schiefgetretenen Schuhe. Er sah, wie klein ihre Augen zwischen den Fleischmassen waren, und plötzlich hatte er einen schrecklichen Gedanken: diese Augen waren fast raubvogelartig, wie die Augen des Aussätzigen, der aus dem Keller des Hauses Nr. 29 in der Neibolt Street herausgekrochen war. Hier komme ich, Eddie... es wird dir nichts nützen wegzurennen, Eddie...

Dr. Handor legte seine Hände behutsam um Eddies gebrochenen Arm und drückte zu. Der Schmerz durchzuckte ihn wie eine Flamme.

Er verlor wieder das Bewußtsein.

5

Sie. flößten ihm irgendeine Flüssigkeit ein, und Dr. Handor schiente den gebrochenen Arm. Verschwommen hörte er den Arzt seiner Mutter erklären, es sei ein glatter Bruch, nichts weiter Schlimmes. »Es ist ein Bruch, wie Kinder ihn sich oft zuziehen, wenn sie von einem Baum fallen«, sagte der Arzt, und seine Mutter erwiderte wütend: »Eddie klettert nie auf Bäume! Und jetzt will ich die Wahrheit wissen! Wie schlecht geht es ihm?«

Dr. Handor erwiderte etwas, aber dann gab die Krankenschwester Eddie eine Tablette. Er spürte wieder ihre Brüste an seiner Schulter und war dankbar für diese irgendwie tröstliche Berührung. Trotz seiner Benommenheit sah er, daß die Schwester verärgert war, und er glaubte zu sagen: Sie ist nicht

der Clown, bitte glauben Sie das nicht, sie frißt mich nur auf, weil sie mich liebt, aber vielleicht hatte er das auch nur gedacht, denn das ärgerliche Gesicht der Schwester veränderte sich nicht.

Er bekam undeutlich mit, daß er in einem Rollstuhl einen Korridor entlanggeschoben wurde, und irgendwo hinter sich hörte er die immer schwächer werdende Stimme seiner Mutter: »Was soll denn das heißen - Besuchs-zeitenl Erzählen Sie mir doch nicht so einen Blödsinn! Besuchszeiten! Er ist mein So/m!«

Er war froh, daß ihre Stimme immer schwächer wurde. Die Schmerzen waren verschwunden, und mit ihnen auch seine Klarsicht. Er wollte nicht nachdenken. Er wollte nur vor sich hindösen. Sein rechter Arm kam ihm sehr schwer vor. Er überlegte, ob sie ihn wohl schon eingegipst hatten, aber er konnte es nicht genau sehen. Er nahm undeutlich wahr, daß aus Krankenzimmern Radios zu hören waren, daß auf den breiten Korridoren Patienten herumliefen, die in ihren Krankenhauspyjamas wie Gespenster aussahen, und daß es heiß war... irrsinnig heiß. Als er in sein Zimmer gefahren wurde, konnte er die Sonne als grelle orangefarbene Blutkugel untergehen sehen, und er dachte zusammenhanglos: Wie ein großer dicker Clown-Kopf.

»Komm, Eddie, du kannst laufen«, sagte eine Stimme, und er stellte fest, daß er es wirklich konnte. Gleich darauf lag er zwischen knisternden kühlen Bettlaken. Die Stimme erklärte ihm, daß er in der Nacht Schmerzen haben würde, aber nur dann klingeln und um eine Tablette bitten sollte, wenn die Schmerzen sehr stark würden. Eddie fragte, ob er ein Glas Wasser haben könnte. Er bekam es mit einem in der Mitte knickbaren Strohhalm. Es war kühl und schmeckte gut. Er trank alles aus.

In der Nacht bekam er wirklich Schmerzen, ziemlich starke. Er lag wach im Bett und hielt den Klingelknopf in der linken Hand, ohne jedoch darauf zu drücken. Draußen ging ein Gewitter nieder, und jedesmal, wenn ein blauweißer Blitz aufflammte, wandte er den Kopf vom Fenster ab, weil er Angst hatte, in diesem elektrischen Feuerstrahl ein riesiges grinsendes Gesicht am Himmel zu erkennen.

Schließlich schlief er wieder ein und hatte einen Traum. Er sah Bill, Ben, Richie, Stan, Mike und Beverly - alle seine Freunde - auf ihren Rädern beim Krankenhaus ankommen (Richie saß auf dem Gepäckträger von Silver). Er stellte überrascht fest, daß Bev ein Kleid trug - es hatte eine wunderschöne grüne Farbe, wie der Karibische Ozean auf einem Foto in »National Geographie. Er konnte sich nicht erinnern, sie je zuvor in einem Kleid gesehen zu haben; er erinnerte sich nur an Jeans oder pinkfarbene knielange Hosen und, ziemlich undeutlich, an das, was die Mädchen Schulkleidung nannten: Blusen und Röcke, die Blusen normalerweise weiß mit runden Kragen, die Röcke meistens braun und plissiert und schienbeinlang, damit ihre aufgeschürften Knie nicht zu sehen waren.

In seinem Traum sah er sie kurz vor den beiden Nachmittags-Besuchsstunden kommen, und er sah, wie seine Mutter - die seit elf Uhr geduldig wartete - sie wegschickte, wie sie seine Freunde anschrie, so daß alle sich nach ihr umdrehten. Schließlich kam ein Arzt angerannt und brachte sie zum Schweigen.

Wenn ihr glaubt, zu ihm gehen zu können, so habt ihr euch schwer getäuscht! schrie Eddies Mutter, und nun sprang der Clown auf, der die ganze Zeit neben ihr gesessen hatte, und klatschte Beifall. Er machte Luftsprünge und tanzte umher, schlug ein Rad und vollführte einen Salto rückwärts, während Mrs. Kaspbrak Eddies Freunden gründlich die Leviten las und sie einer nach dem anderen hinter Bill zurückwichen, der als einziger bleich, aber nach außen hin ruhig dastand, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. Niemand außer Eddie sah den Clown... allerdings erwachte ein Baby, das bisher friedlich in den Armen seiner Mutter geschlafen hatte, und begann laut zu schreien.

Ihr habt genug Unheil angerichtet! schrie Eddies Mutter. Ich weiß, wer diese Jungen waren! Sie haben Schwierigkeiten in der Schule, und sie haben Schwierigkeiten mit der Polizei! Ich werde meinen Eddie nicht in solcher Gesellschaft herumlaufen lassen! Was passiert wohl sonst als nächstes? Er wird bei einer Schwarzfahrt im Auto ums Leben kommen oder irgend so was Ähnliches! Nein! Schert euch weg! Er ist fertig mit euch! Ich habe ihm verboten, euch zu sehen, und er ist ganz meiner Meinung! Er stimmt seiner Mutter zu! Er will eure sogenannte Freundschaft nicht mehr! Von keinem von euch! Ihr seid... ihr seid gefährlich! Ich wußte, daß das schlecht enden würde, und nun schaut euch das einmal an! Mein Eddie im Krankenhaus! Ein so zarter Junge wie er...

Der Clown machte Luftsprünge und Spagat und Handstand auf einer Hand. sein Grinsen war jetzt sehr zufrieden, und im Traum begriff Eddie, daß der Clown genau das wollte - einen Keil zwischen die sieben Freunde treiben, sie endgültig auseinanderbringen und ihnen damit jede Möglichkeit zu gemeinsamem Handeln nehmen. In einer Art niederträchtiger Ekstase schlug der Clown einen doppelten Purzelbaum und küßte Eddies Mutter schmatzend auf die Wange.

D-D-Die Jungen, die d-d-d-das getan h-haben, s-s-s-sind nicht unsere F-F-Freunde, sagte Bill. S-S-S-S-Sie...

Widersprich mir nicht! kreischte Mrs. Kaspbrak. Wag es ja nicht, mir zu widersprechen oder supergescheit daherzureden! Er ist fertig mit euch, sage ich dir! Fertig!

In diesem Moment eilte der Arzt herbei und erklärte ihr klipp und klar, sie müsse entweder still sein oder sofort gehen. Der Clown begann zu verblassen, und während dieser Zeit veränderte er sich ständig. Eddie sah den Aussätzigen, die Mumie, den Riesenvogel; er sah den Werwolf, einen Vampir mit rasiermesserscharfen Zähnen; er sah Frankenstein, das Wesen aus der Schwarzen Lagune, das Kriechende Auge; er sah etwas Fleischiges und Muschelartiges, das sich öffnete und schloß wie ein Mund; er sah ein Dutzend anderer schrecklicher Gestalten, Hunderte davon.

Aber im letzten Moment, bevor der Clown endgültig verschwand, sah Eddie das Allerschrecklichste: Das Gesicht des Clowns wurde zum Gesicht seiner Mutter.

Nein! versuchte Eddie zu schreien. Nein, sie ist nicht ein Teil von ihm, sie ist nur eifersüchtig... und sie ist eifersüchtig, weil sie Angst hat! Nein! Nein! Nicht sie! Nicht meine Mutter! Sie ist nicht Es!

Aber niemand drehte sich um; niemand hörte ihn. Und als der Traum allmählich vorüberging, erkannte Eddie mit kaltem, lähmenden Entsetzen, daß sie ihn nicht hören konnten. Er war tot. Es hatte ihn umgebracht, und er war tot. Er war ein Geist.

6

Rose Kaspbraks Triumphgefühl, Eddies sogenannte Freunde weggeschickt zu haben, verflüchtigte sich, sobald sie Eddies Einzelzimmer am folgenden Nachmittag - dem 21. Juli - betrat. Sie konnte sich selbst nicht genau erklären, warum dieses Triumphgefühl verging und von einer undefinierbaren Angst abgelöst wurde; etwas an dem bleichen Gesicht ihres Sohnes beunruhigte sie - es drückte weder Ängstlichkeit noch Schmerz aus, sondern etwas, das sie nie zuvor an ihm gesehen hatte: Schärfe. Dieses Kindergesicht war plötzlich scharf und wachsam und entschlossen.

Die Auseinandersetzung mit Eddies Freunden hatte nicht im Wartezimmer stattgefunden, wie er es in seinem Traum gesehen hatte; Mrs. Kaspbrak hatte gewußt, daß sie kommen würden, diese >Freunde<, die an seinem Armbruch schuld waren, die ihn vermutlich trotz seines Asthmas zum Rauchen verführten, diese >Freunde<, die einen so starken Einfluß auf ihn ausübten, daß er abends nur noch von ihnen redete. Sie hatte sich bei ihrer Nachbarin, Mrs. Van Pratt, darüber beklagt, aber Mrs. Van Pratt, die schreckliche Probleme mit ihrer Haut hatte und fast immer mit allem, was Rose Kaspbrak von sich gab, von sich gab, völlig übereinstimmte und häufig auch ihr Mitgefühl zum Ausdruck brachte - Mrs. Van Pratt hatte doch die Frechheit besessen, ihr zu widersprechen.

Ich finde, Sie sollten froh sein, daß er Freunde gefunden hat, hatte Mrs. Van Pratt geäußert, während sie früh am Morgen vor der Arbeit ihre Wäsche aufgehängt hatten - das war Anfang Juli gewesen. Er ist sicherer, wenn er mit anderen Kindern zusammen spielt, Mrs. Kaspbrak finden Sie nicht auch? Bei all den schlimmen Dingen, die in dieser Stadt passieren, bei all diesen armen Kindern, die ermordet worden sind!

Mrs. Kaspbraks einzige Antwort hatte in einem wütenden Schnauben bestanden (ihr war in diesem Moment keine passende Antwort eingefallen, obwohl sie später Dutzende davon formulierte - einige in sehr scharfer, beleidigender Form), und als Mrs. Van Pratt sie am selben Abend angerufen und gefragt hatte, ob sie wie immer zusammen zum Bingo-Spielen in St. Mary gehen würden, hatte Mrs. Kaspbrak kalt erwidert, sie ziehe es an diesem Abend vor, zu Hause zu bleiben und sich auszuruhen.

Nun, sie hoffte, daß Mrs. Van Pratt jetzt zufrieden war. Sie hoffte, daß Mrs. Van Pratt jetzt einsehen würde, daß der Sexualmörder, der es auf Kinder abgesehen hatte, durchaus nicht die einzige - und vielleicht nicht einmal die größte - Gefahr war, die in diesem Sommer in Derry ihrem Sohn drohte. Da lag Eddie nun mit großen Schmerzen im Krankenhaus, und vielleicht würde er seinen rechten Arm nie wieder benutzen können; oder lose Splitter von der Bruchstelle könnten im Blut zu seinem Herzen transportiert werden und ihn töten, oh, das würde Gott natürlich nie zulassen, aber sie hatte auch von derartigen Fällen schon gehört.

Deshalb ging sie auf der langen schattigen Veranda des Krankenhauses auf und ab; sie wußte, daß die Kinder auftauchen würden, und sie war besessen von dem leidenschaftlichen Wunsch, dieser sogenannten >Freund-schaft<, die zu gebrochenen Armen und Schmerzenslagern führte, ein für allemal ein Ende zu machen.

Und natürlich tauchten sie wirklich auf, und zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, daß zu der Gesellschaft auch ein Nigger gehörte. Nicht daß sie etwas gegen Nigger gehabt hätte; sie war durchaus der Meinung, daß sie das Recht haben sollten, unten im Süden jeden Bus benutzen zu dürfen und in Restaurants der Weißen essen zu dürfen und in Kinos neben Weißen sitzen zu dürfen, solange sie diese nicht belästigten; aber genauso fest überzeugt war sie von der >Vogeltheorie<, wie sie das nannte. Amseln flogen zusammen mit anderen Amseln, nicht mit Rotkehlchen. Stare nisteten mit Staren; sie paarten sich nicht mit Blaukehlchen oder Nachtigallen. Jedem das Seine, war ihr Motto; und als sie sah, wie Mike Hanion zusammen mit den anderen angeradelt kam, so als gehörte er dorthin, wuchs ihr Zorn nur noch mehr. Sie dachte vorwurfsvoll, so als könnte Eddie sie hören: Du hast mir nie erzählt, daß einer deiner >Freunde< ein Nigger ist.

Na, dachte sie, als sie zwanzig Minuten später das Krankenzimmer betrat, in dem ihr Sohn vor sich hin döste, den Gipsarm in einer Schlinge (schon dieser Anblick allein tat ihr weh), denen hatte sie es aber ordentlich gezeigt; die waren schnell wieder verschwunden. Und nur der Den-brough-Junge, der so fürchterlich stotterte, hatte die Frechheit besessen, ihr zu widersprechen. Das Mädchen, wer immer es auch gewesen sein mochte, hatte Rose zwar mit seinen entschieden flittchenhaften Jadeaugen wild angeblitzt, aber wohlweislich den Mund gehalten. Die kommt bestimmt aus der Lower Main Street oder aus einer noch übleren Wohngegend, hatte Rose gedacht, und wenn sie es gewagt hätte, auch nur einen Piep von sich zu geben, so hätte Rose ihr ordentlich die Meinung gesagt, ihr erklärt, welche Sorte von Mädchen mit Jungs herumlaufe. Es gab gewisse Namen für solche Mädchen, und Mrs. Kaspbrak würde nie zulassen, daß ihr Sohn sich mit solchen Schlampen abgab.

Die anderen waren nur verlegen von einem Bein aufs andere getappt und hatten zu Boden geblickt. Als sie ihnen alles gesagt hatte, was zu sagen war, waren sie auf ihre Räder gestiegen und weggefahren. Der Den-brough-Junge hatte den frechen kleinen Tozier auf dem Gepäckträger seines riesigen, gefährlich aussehenden Fahrrads mitgenommen, und Mrs. Kaspbrak hatte sich schaudernd gefragt, wie oft wohl ihr Eddie auf diesem Rad gesessen und riskiert hatte, sich Arme und Beine und den Hals zu brechen und ums Leben zu kommen.

Ich habe es für dich getan, Eddie, hatte sie gedacht, als sie hocherhobenen Hauptes das Krankenhaus betreten hatte. Ich weiß, daß du zuerst vielleicht ein bißchen enttäusclit sein wirst; das ist ganz natürlich. Aber Eltern wissen es besser als ihre Kinder; Gott hat Eltern in erster Linie dazu geschaffen, um Kinder zu lenken und zu lehren... und zu beschützen.

Sobald Eddie seine anfängliche Enttäuschung überwunden hatte, würde er das begreifen. Und wenn sie selbst sich jetzt erleichtert fühlte, so natürlich nur, weil sie zu Eddies Bestem gehandelt hatte. Sie war erleichtert, weil sie glaubte, ihren Sohn von üblen und gefährlichen Freunden befreit zu haben.

Doch ihre Erleichterung wurde von großem Unbehagen abgelöst, als sie Eddies Gesicht sah. Sein Ausdruck, als er erwachte und sie erblickte, jener scharfe, wachsame Ausdruck, war so ganz anders als Eddies normalerweise weiches und schüchternes Gesicht. Wie auch Ben Hanscom (obwohl Rose das nicht wußte), so gehörte Eddie zu jenen Jungen, die rasch einen forschenden Blick auf jemanden warfen, als wollten sie das emotionale Wetter vom Gesicht ablesen, und die dann sofort wieder wegschauten. Aber jetzt sah Eddie sie unverwandt an (vielleicht sind es die Medikamente, dachte sie. Natürlich, das ist es; ich werde mit Dr. Handor über die Medikamente reden müssen), und schließlich mußte sie den Blick abwenden. Auch die Art und Weise, wie er aufgewacht war, beunruhigte sie. In einem Moment hatte er noch geschlummert, und im nächsten war er schon hellwach gewesen und hatte sie angesehen, so als wäre er nicht ein kleiner Junge, der gehört hatte, wie die Tür leise geschlossen wurde, sondern als wäre er ein Wachposten auf feindlichem Gebiet, der das verdächtige Knacken eines Zweiges wahrgenommen hatte.

Sie öffnete den Mund und wollte ihn fragen, wie es ihm ging, wollte ihm wieder versichern, daß er bald völlig gesund sein würde, wollte ihn fragen, ob er ein Glas Wasser oder Ginger Ale möchte, aber er ergriff das Wort, bevor sie etwas sagen konnte.

»Du hast meine Freunde weggeschickt.« Er redete mit leiser, aber fester Stimme.

Sie zuckte schuldbwußt zusammen, und als erstes schoß ihr durch den Kopf - Woher weiß er das? Das kann er doch gar nicht wissen! - aber schon im nächsten Moment ärgerte sie sich über dieses leichte Schuldbewußtsein. Sie lächelte ihm zu.

»Wie fühlst du dich heute, Eddie?«

Das war die richtige Erwiderung. Jemand - vielleicht sogar jene unfähige und aufsässige Krankenschwester vom Vortag - mußte es ihm erzählt haben. Jemand...

Aber er hat geschlafen, als du zur Tür hereinkamst. Das weißt du genau.

»Wie fühlst du dich?« fragte sie noch einmal, als er keine Antwort gab. Sie dachte, er hätte sie nicht gehört. Sie hatte in all ihren Büchern zwar noch nie gelesen, daß ein Knochenbruch das Hörvermögen beeinträchtigen konnte, aber möglich war es vermutlich - alles war möglich.

Eddie antwortete noch immer nicht.

Sie trat näher an sein Bett heran und begriff nicht, warum sie sich plötzlich so unsicher, ja fast schüchtern fühlte; solche Gefühle hatte sie Eddie gegenüber doch noch nie gehabt. Gleichzeitig stieg leiser Ärger in ihr auf. Welches Recht hatte er, in ihr solche Gefühle wachzurufen, nach allem, was sie für ihn getan hatte?

»Ich habe mit Dr. Handor gesprochen, und er versichert mir, daß du wieder hundertprozentig in Ordnung kommst«, sagte sie rasch, während sie auf dem Holzstuhl neben seinem Bett Platz nahm. »Wenn auch nur das geringste Problem auftaucht, werden wir allerdings selbstverständlich einen Spezialisten in Portland aufsuchen. Oder sogar in Boston, wenn es sein muß.« Sie lächelte huldvoll. Aber Eddie erwiderte ihr Lächeln nicht. Und er sagte immer noch nichts.

»Eddie, hörst du mich?«

»Du hast meine Freunde weggeschickt«, wiederholte er und sah ihr fest in die Augen.

»Ja«, bestätigte sie, fügte aber nichts hinzu, sondern erwiderte einfach seinen Blick.

Und dann geschah etwas Sonderbares, etwas Schreckliches. Eddies Augen schienen irgendwie... irgendwie größer zu werden. Die Pupillen bewegten sich in diesen Augen wie dahinjagende Sturm wölken. Ihr wurde plötzlich klar, daß er nicht von irgendwelchen Medikamenten benommen war. Es war kalter Zorn, der in seinem Gesicht geschrieben stand. Eddie war zornig auf sie... und plötzlich hatte sie Angst, denn etwas Stärkeres als nur ihr Sohn schien plöt/lich im Zimmer zu sein. Sie bekam eine richtige Gänsehaut auf ihren dicken Armen und senkte den Blick.

»Ja, ich habe sie weggeschickt«, sagte sie und stellte fest, daß ihre Stimme kräftig und energisch klang... solange sie ihn nicht ansah. »Du bist ernsthaft verletzt, Eddie. Du kannst im Augenblick außer deiner Mutter keine Besucher gebrauchen, und solche Besucher kannst du überhaupt nicht gebrauchen. Wenn sie nicht gewesen wären, würdest du jetzt zu Hause gemütlich vor dem Fernseher sitzen oder in der Garage an deiner Seifenkiste basteln.«

Es war Eddies Traum, eine schnelle Seifenkiste zu bauen, damit in Bangor das Seifenkistenrennen zu gewinnen und anschließend auch das in Akron, Ohio. Rose ermutigte ihn bei diesem Traum... solange sie sicher war, daß es eben nur ein Traum blieb. Selbstverständlich hatte sie nicht die Absicht, Eddie bei einem so gefährlichen Unternehmen sein Leben riskieren zu lassen, weder in Bangor noch in Akron. Allein schon der Gedanke, daß ihr Eddie mit einem Flugzeug nach Akron fliegen müßte - hoch über der Erde! - ließ sie schaudern.

»Meine Freunde haben mir nicht den Arm gebrochen«, sagte Eddie mit jener tonlosen Stimme. »Ich habe es Dr. Handor gestern abend erklärt, und heute morgen auch noch Mr. Nell, als er mich besuchte. Henry Bowers hat mir den Arm gebrochen. Einige andere Jungen waren dabei, aber getan hat es Henry. Es wäre nie passiert, wenn meine Freunde bei mir gewesen wären. Es ist nur passiert, weil ich allein war.«

Diese Bemerkung brachte Rose Mrs. Van Pratts Kommentar in Erinnerung, es sei sicherer, Freunde zu haben, und sie geriet sofort in Wut. Herausfordernd warf sie den Kopf zurück. »Das spielt überhaupt keine Rolle, das weißt du selbst genau! Was glaubst du denn, Eddie? Glaubst du, daß deine Mutter total bekloppt ist? Natürlich weiß ich, daß Bowers dir den Arm gebrochen hat, aber ich weiß auch, warum. Dieser irische Polizist ist auch bei mir gewesen. Bowers hat dir den Arm gebrochen, weil du und deine sogenannten Freunde euch irgendwie mit ihm angelegt habt. Na, glaubst du, daß das auch passiert wäre, wenn du auf mich gehört und diesen Umgang gemieden hättest?«

»Das oder etwas noch viel Schlimmeres«, erwiderte Eddie.

»Eddie, das meinst du doch nicht im Ernst?«

»O doch«, sagte er, und sie spürte die Kraft, die in Wellen von ihm ausging, die er ausströmte. »Bill und meine anderen Freunde werden wiederkommen, Ma. Das weiß ich. Und wenn sie kommen, wirst du kein Wort sagen. Sie werden mich besuchen, und du wirst kein Wort dagegen sagen. Sie sind meine Freunde, und ich lasse mir von dir nicht meine Freunde stehlen, nur weil du Angst hast, allein zu sein.«

Sie starrte ihn verblüfft und entsetzt an. In diesem Ton hatte Eddie noch nie im Leben mit ihr gesprochen, und sie hätte es auch nie für möglich gehalten, daß er es je tun würde. Hatte sie ihn nicht gelehrt, daß man seine Eltern ehren mußte?

Tränen traten ihr in die Augen, rollten über ihre Wangen und verschmierten den Puder. »So also redest du jetzt mit deiner Mutter«, schluchzte sie. »Vermutlich reden so deine sogenannten Freunde mit ihren Eltern. Und du hast es von ihnen gelernt.«

Ihre Tränen verliehen ihr Sicherheit. Wenn sie weinte, weinte normalerweise auch Eddie oder war zumindest den Tränen sehr nahe. Eine unfaire Waffe, würden manche Leute sagen, aber gab es so etwas wie unfaire Waffen überhaupt, wenn es darum ging, ihren Sohn zu beschützen? Sie war nicht dieser Meinung.

Sie blickte mit tränenüberströmtem Gesicht auf; sie fühlte sich traurig, beraubt und betrogen... aber gleichzeitig triumphierte sie bereits. Eddie würde eine solche Flut von Tränen und Leid nicht ertragen können. Jener kalte, scharfe Blick würde aus seinen Augen verschwinden. Vielleicht würde er anfangen zu keuchen und nach Luft zu schnappen, und das würde - wie immer - das Zeichen dafür sein, daß der Kampf vorüber war, daß sie wieder einen Sieg errungen hatte... natürlich zu seinem Besten. Immer nur zu seinem Besten.

Sie war so fassungslos, immer noch jenen Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen - womöglich hatte er sich noch verstärkt -, daß sie sogar im Schluchzen innehielt. In seinem Gesicht stand auch Kummer geschrieben, aber sogar das war beängstigend, denn es war irgendwie der Kummer eines Erwachsenen, und jeder Gedanke an Eddie als erwachsenen Menschen ließ in ihrem Kopf einen kleinen Vogel in wilder Panik herumflattern. Diesen Vogel, der in ihrem Kopf eingesperrt zu sein schien wie ein Spatz in einer Garage, spürte sie jedesmal, wenn sie sich fragte - was sie allerdings möglichst selten tat -, was aus ihr werden sollte, wenn Eddie größer wurde, wenn er sich weigerte, auf die University of Maine in Bangor zu gehen und jeden Abend nach Hause zu kommen, wenn er sich in ein Mädchen verlieben und heiraten würde. Wo ist dann der Platz für mich? schrie bei solchen Überlegungen jener zu Tode geängstigte Vogel in ihrem Kopf. Wo wäre mein Platz in einem solchen Leben? Ich liebe dich, Eddie! Ich liebe dich! Ich sorge für dich, und ich liebe dich! Du kannst nicht kochen, du kannst dein Bett nicht selbst frisch beziehen, du kannst deine Unterwäsche nicht selbst waschen: Ich liebe dich!

Er sagte es jetzt selbst auch: »Ich liebe dich, Ma. Aber ich liebe auch meine Freunde. Ich glaube... ich glaube, du bringst dich selbst zum Weinen.«

»Eddie, du tust mir so furchtbar weh!« flüsterte sie und begann wieder, wild zu schluchzen. Ein paar Tränen fielen auf sein blasses Gesicht, benetzten es. Und diesmal weinte sie nicht aus Berechnung. Auf ihre Weise war sie stark - sie hatte ihren Mann begraben, ohne zusammenzubrechen, sie hatte eine Stellung gefunden, obwohl der Arbeitsmarkt sehr ungünstig gewesen war, sie hatte ihren Sohn allein aufgezogen und, wenn nötig, für ihn gekämpft - und dies waren ihre ersten echten Tränen seit Jahren, nicht Tränen, die von ihr als Waffe eingesetzt wurden; Tränen dieser Art hatte sie nicht mehr vergossen, seit Eddie mit fünf Jahren Bronchitis gehabt hatte, und sie überzeugt davon gewesen war, daß er sterben würde. Sie weinte wegen dieses furchtbar erwachsenen, ihr so völlig fremden Gesichtsausdrucks. Sie hatte Angst um ihn, aber absurderweise hatte sie auch Angst vor ihm... sie hatte Angst vor jener Aura der Kraft, die ihn zu umgeben schien... die ihr etwas abzuverlangen schien.

»Zwing mich nicht, zwischen dir und meinen Freunden zu wählen, Ma«, sagte Eddie. Seine Stimme klang angespannt, aber immer noch fest. »Denn das ist nicht fair.«

»Es sind schlechte Freunde, Eddie!« schrie sie völlig außer sich. »Ich weiß das, ich spüre das mit jeder Faser meines Herzens. Sie werden dir nur Kummer und Schmerz bringen. Ich weiß es!« Und das Schlimmste war, daß sie tatsächlich dieses Gefühl hatte; sie hatte es intuitiv erfaßt, hatte es dem Den-brough-Jungen an den Augen abgelesen, diesem Jungen, der mit den Händen in den Hosentaschen vor ihr gestanden hatte, dessen rote Haare in der Sommersonne einer lodernden Flamme geglichen hatten. Seine Augen hatten einen so ernsten, sonderbar fernen Blick gehabt... genauso wie jetzt Eddies Augen. Und hatte nicht auch er jene merkwürdige Kraft ausgestrahlt, die jetzt von Eddie ausging? Nur in noch stärkerem Maße? Ja, das hatte er.

»Ma...«

Sie stand so abrupt auf, daß sie fast ihren Stuhl umgeworfen hätte. »Ich komme heute abend wieder«, sagte sie. »Es ist der Schock, der Unfall, die Schmerzen - all diese Dinge sind es, die dich so reden lassen. Ich weiß es. Du... du...« Sie suchte in ihrem verwirrten Gehirn nach Worten und fand sie in ihrer ursprünglichen Litanei, an die sie sich jetzt klammerte wie eine Ertrinkende an eine im Wasser treibende Schiffsplanke. »Du hast einen schlimmen Unfall gehabt, aber es wird dir bald wieder gut gehen. Und du wirst sehen, daß ich recht habe, Eddie. Es sind schlechte Freunde. Sie sind nicht unsresgleichen. Sie sind nichts für dich. Denk darüber nach und frag dich, ob deine Mutter dir je etwas Falsches gesagt hat. Denk darüber nach und... und...«

Ich laufe ja davon! dachte sie mit schmerzhaftem Schrecken. Ich laufe vor meinem eigenen Sohn davon! O Gott, bitte, das darfst Du nicht zulassen!

»Ma«, sagte er wieder.

Sie durchquerte dessen ungeachtet sein Zimmer in wilder Hast; sie hatte jetzt richtig Angst vor ihm; er war Eddie, aber er war zugleich mehr als das; sie spürte die anderen in ihm, seine >Freunde<, und noch etwas anderes, etwas, das hinter ihnen stand, und davor hatte sie Angst. Es war so, als hätte etwas von ihm Besitz ergriffen, so wie damals jene Bronchitis.

Die Hand auf der Türklinke, blieb sie doch noch stehen, obwohl sie nicht hören wollte, was er ihr vielleicht sagen würde... und als er es sagte, war es etwas so völlig Unerwartetes, daß sie es im ersten Moment gar nicht richtig verstand. Und als ihr dann zu Bewußtsein kam, was er gesagt hatte, war es so, als wäre ihr ein Sack Zement auf den Kopf gefallen, und sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

Eddies Worte waren: »Mr. Keene sagte, meine Asthmamedizin bestehe nur aus Wasser.«

»Was? Was?« Sie starrte ihn mit verwirrten, wütenden Augen an.

»Nur aus Wasser, dem irgendwas zugefügt ist, damit es nach Medizin schmeckt. Er sagte, es sei ein Pla-ce-bo.«

»Das ist eine Lüge! Warum sollte Mr. Keene dir so eine Lüge erzählen? Na ja, es gibt auch noch andere Drugstores in Derry! Ich vermute...«

»Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken«, sagte Eddie leise und unerbittlich, ohne sie aus den Augen zu lassen, »und ich glaube, daß er mir die Wahrheit gesagt hat.«

»Eddie, ich sage dir, das hat er nichtl« Sie geriet wieder in Panik.

»Ich habe darüber nachgedacht«, fuhr Eddie fort. »Ich glaube, es ist die Wahrheit - sonst würde auf der Flasche nämlich irgendeine Warnung stehen, daß man sterben oder zumindest krank werden kann, wenn man das Zeug zu oft anwendet. Sogar...«

»Eddie, ich will das nicht hörenl« schrie sie und hielt sich die Ohren zu. »Du bist... du bist... du bist einfach nicht ganz bei dir, das ist es!«

»Sogar bei Sachen, die man so einfach kaufen kann, stehen besondere Gebrauchsanleitungen drauf«, fuhr er fort, ohne die Stimme zu heben. Er schaute ihr fest in die Augen, und sie war außerstande, ihren Blick abzuwenden. »Sogar wenn es nur Vicks Hustensirup ist... oder dein Geritol.«

Er schwieg einen Augenblick. Sie nahm die Hände von den Ohren; ihre Arme fühlten sich bleischwer an, und sie hatte das Gefühl, sie nicht länger hochhalten zu können.

»Und... und du mußt das die ganze Zeit über gewußt haben, Ma.«

»Eddie!« kreischte sie.

»Du weißt nämlich über Arzneimittel Bescheid«, fuhr er fort, ohne sie zu beachten - er runzelte jetzt vor Konzentration die Stirn - »und ich benutze diesen Aspirator fünf- oder auch sechsmal am Tag. Und das würdest du mir nie erlauben, wenn es mir... na ja, irgendwie schaden könnte. Also... hast du es gewußt, Ma? Hast du gewußt, daß es praktisch nur Wasser ist?«

Sie schwieg. Ihre Lippen zitterten. Sie hatte das Gefühl, als zitterte ihr ganzes Gesicht. Sie weinte nicht mehr. Zum Weinen war ihre Panik jetzt viel zu groß.

»Wenn du es nämlich gewußt hast«, sagte Eddie, immer noch mit gerunzelter Stirn, »wenn du es gewußt und mir nichts davon gesagt hast, so wüßte ich gern, warum. Ich kann mir manches erklären, aber nicht, warum meine Mutter mir weismachen will, daß Wasser Medizin ist oder daß ich hier Asthma habe« - er deutete auf seine Brust - »wenn ich es, wie Mr. Keene sagt, in Wirklichkeit nur hier oben habe.« Und er deutete auf seinen Kopf.

Sie dachte einen Moment lang, sie würde ihm nun alles erklären. Wie sie geglaubt hatte, daß er damals mit fünf Jahren sterben würde, als er so furchtbar gehustet und Fieber gehabt hatte, und daß sie in diesem Fall bestimmt wahnsinnig geworden wäre, nachdem sie erst zwei Jahre zuvor ihren Mann Frank verloren hatte. Wie sie dann begriffen hatte, daß man sein Kind nur durch Vorsicht und Liebe beschützen konnte, daß man ein Kind -ähnlich wie einen Garten - sorgfältig hegen mußte. Sie würde Eddie erklären, daß es für ein Kind - besonders für ein zartes Kind wie ihn - manchmal besser war zu glauben, er wäre krank, als wirklich krank zu werden. Und zuletzt würde sie ihm von den ungeheuer törichten Ärzten und von der wunderbaren Macht der Liebe erzählen; sie würde ihm sagen, sie wisse, daß er Asthma habe, ganz egal, was die Ärzte behaupteten oder ihm verschrieben; Medizin ließ sich auch anders herstellen als mit einem albernen Apothekermörser.

Eddie, würde sie sagen, es ist Medizin, weil die Liebe deiner Mutter es zu Medizin macht, und ich kann das vollbringen, solange du es willst und es mich tun läßt. Dies ist eine Macht, die Gott liebenden, aufopfernden Müttern verleiht. Bitte, du mußt mir glauben.

Doch dann schwieg sie doch einfach, weil ihre Angst zu groß war.

»Aber vielleicht müssen wir gar nicht darüber reden«, fuhr Eddie fort. »Vielleicht wollte Mr. Keene mich nur aufziehen. Erwachsene tun so etwas doch gern.«

»O ja«, stimmte Rose eifrig zu. »Sie machen gern dumme Scherze, und manchmal sind sie gemein... und bösartig... und... und...«

»Ich werde also nach Bill und meinen anderen Freunden Ausschau halten«, sagte Eddie, »und meine Asthmamedizin auch weiterhin nehmen. Das ist vermutlich am besten, glaubst du nicht auch?«

Sie erkannte erst jetzt, als es schon zu spät war, in welch geschickte -grausame! - Mausefalle er sie gelockt hatte. Was er da machte, war fast schon Erpressung, aber hatte sie noch eine Wahl? Sie wollte ihn fragen, wie er nur so berechnend, so manipulierend gegenüber seiner eigenen Mutter sein konnte. Sie öffnete schon den Mund, um es zu sagen... und dann schloß sie ihn wieder. Es wäre immerhin möglich, daß er ihr die gleiche Frage stellen würde.

Das einzige, was sie sicher wußte, war, daß sie in ihrem ganzen Leben nie, nie, nie wieder jemals einen Fuß in Mr. Keenes Drugstore setzen würde.

Seine auf einmal wieder sehr schüchterne Stimme unterbrach ihre Gedankengänge.

»Ma?«

Sie blickte auf und sah, daß er wieder Eddie war, nur Eddie und sonst niemand, und sie ging überglücklich zu ihm.

»Kann ich einen Kuß bekommen, Ma?«

Sie umarmte und küßte ihn, aber sehr vorsichtig, um nicht an seinen gebrochenen Arm zu stoßen und ihm weh zu tun (oder lose Knochensplitter in Gang zu setzen, die dann durch den Blutkreislauf in sein Herz gelangen würden - welche Mutter wollte schon ihren Sohn durch Liebe töten?), und auch Eddie umarmte und küßte sie.

Sie ging gerade noch rechtzeitig - Eddie hatte während der schrecklichen Auseinandersetzung mit ihr die ganze Zeit schon gespürt, wie sich sein Atem in seinen Lungen und in seiner Kehle bewegungslos staute und ihn zu vergiften drohte.

Er wartete, bis die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war, dann begann er zu keuchen und zu röcheln. Die verbrauchte, bittere Luft stieß in seiner engen Kehle auf und ab wie ein warmer Schürhaken. Er griff hastig nach seinem Aspirator, ohne auf die Schmerzen in seinem gebrochenen Arm zu achten, und inhalierte. Er atmete den Kampfergeschmack tief ein und dachte: Es spielt keine Rolle, daß es nur ein Pla-ce-bo ist, Worte spielen keine Rolle, wenn es mir nur hilft.

Er lehnte sich mit geschlossenen Augen auf seine Kissen zurück und konnte zum erstenmal, seit seine Mutter ins Zimmer gekommen war, frei atmen. Er hatte Angst, große Angst. Die Dinge, die er ihr gesagt hatte, die ganze Art seines Benehmens... das war er gewesen und doch nicht er. Etwas war in ihm am Werk gewesen, hatte durch ihn gewirkt, irgendeine mächtige Kraft... und das hatte auch seine Mutter gespürt. Er hatte es in ihren Augen, an ihren zitternden Lippen gesehen. Er hatte nicht das Gefühl, daß diese Kraft böse war, aber ihre enorme Stärke war beängstigend. Es war ein bißchen so, als würde man in einem Vergnügungspark eine wirklich gefährliche Karussellfahrt machen und erkennen, daß man - komme was da wolle - nicht vorzeitig aussteigen konnte.

Es gibt keinen Ausweg, dachte Eddie und spürte den heißen, schweren Gipsverband an seinem gebrochenen Arm. Wir müssen bis zum Ende durchhalten. Aber, o mein Gott, ich habe solche Angst, so wahnsinnige Angst. Und er wußte, daß er seiner Mutter den wichtigsten Grund für seine Forderung, ihn nicht von seinen Freunden zu trennen, niemals erklären konnte: Allein könnte ich dem, was auf mich zukommt, nicht standhalten. Ich würde verrückt werden. Wenn der Clown das nicht bewirken würde, dann jenes andere -jene andere Kraft, Macht oder was auch immer es sein mag.

Er weinte ein bißchen, und dann fiel er in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von einer Dunkelheit, in der Maschinen - Pumpmaschinen -dröhnten und summten.

8

Es sah wieder nach Gewitter aus, als Bill und die anderen Verlierer abends ins Krankenhaus kamen. Eddie war nicht überrascht, sie zu sehen. Er hatte gewußt, daß sie wiederkommen würden.

Es war den ganzen Tag sehr heiß gewesen - später herrschte allgemeine Übereinstimmung darüber, daß diese dritte Juliwoche die heißeste eines insgesamt ungewöhnlich heißen Sommers gewesen war -, und die Gewitterwolken begannen gegen vier Uhr nachmittags aufzuziehen, rotschwarz und riesig, Regen, Blitz und Donner verheißend. Erledigungen wurden möglichst schnell ausgeführt, mit unbehaglichen Blicken zum Himmel. Die

meisten Leute glaubten, daß es zur Abendessenszeit heftig regnen würde, und daß es danach vielleicht nicht mehr so furchtbar schwül sein würde. Derrys Parks und Spielplätze, die sich in jenem Sommer ohnehin keiner großen Beliebtheit erfreuten, waren gegen sieben Uhr abends völlig menschenleer. Es hatte immer noch nicht geregnet, und das Licht hatte eine merkwürdige fahlgelbe Farbe. Schatten wirkten irgendwie gespenstisch, fast dreidimensional. Fernes Donnergrollen, das Bellen eines Hundes und gedämpfter Verkehrslärm von der Outer Main Street - das waren die einzigen Geräusche, die durch Eddies Fenster drangen, bevor die Verlierer eintrafen.

Bill betrat das Krankenzimmer als erster, gefolgt von Richie. Dann kamen Beverly, Stan und Mike, zuletzt Ben Hanscom, der bei dieser Hitze in seinem hochgeschlossenen Sweater wahre Todesqualen ausstehen mußte.

Sie traten ernst an sein Bett. Nicht einmal Richie lächelte.

Ihre Gesichter, dachte Eddie fasziniert. Ihre Gesichter!

Er sah in ihnen das gleiche, was seine Mutter nachmittags vermutlich in seinem eigenen Gesicht gelesen hatte: jene seltsame Mischung aus Kraft und Hilflosigkeit. Das unheimliche gelbe Gewitterlicht verfärbte ihre Haut, verlieh ihren Gesichtern ein gespenstisches, schattenhaftes Aussehen.

Wir haben die Grenze überschritten, dachte Eddie. Die Grenze zu etwas Neuem

- und vielleicht sind nur Kinder dazu imstande. Wohin gehen wir? Wohin?

»H-H-H-Hallo, E-Eddie«, sagte Bill. »W-Wie geht's d-dir?«

»Alles in Ordnung, Big Bill«, antwortete Eddie und versuchte zu lächeln.

»Na, du hattest gestern ja wirklich einen aufregenden Tag«, sagte Mike, und seine Worte wurden von Donnergrollen begleitet. In Eddies Zimmer waren keine Lampen eingeschaltet, und sie waren alle nur in dieses krankhaft gelbe Licht getaucht. Eddie dachte, daß dieses Licht jetzt ganz Derry einhüllte, daß es über dem stillen McCarron-Park lag und über der Kußbrücke, die vom Bassey-Park über den Kanal zur High School führte; daß dieses Licht dem Kenduskeag in seinem breiten, flachen Flußbett in den Barrens das Aussehen von Rauchglas verlieh; er dachte an leere Schaukeln hinter seiner Schule, die sich im Wind unter den Gewitterwolken quietschend bewegten; er dachte an dieses gelbe Licht und an die Stille, und ihm war so, als wäre die ganze Stadt in Schlaf gesunken... oder aber gestorben.

»Ja«, antwortete er. »Ein aufregender Tag, das kann man wohl sagen.«

»M-M-Meine Eltern g-gehen überm-morgen abend ins K-K-Kino«, sagte Bill. »An d-d-diesem Abend w-w-wollen w-wir sie m-m-m-machen. Die S-

s-s-s...«

»Silberkugeln für die Schleuder«, warf Richie ein.

»Ich dachte...«

»Es ist besser so«, sagte Ben ruhig. »Ich glaube immer noch, daß wir es schaffen könnten, Pistolenkugeln herzustellen, aber hunderprozentig sicher bin ich mir da nicht. Ja, wenn wir erwachsen wären...«

»O ja, die Welt wäre großartig, wenn wir erwachsen wären«, fiel Beverly ihm ins Wort. »Erwachsene können einfach alles, stimmt's? Erwachsene können alles machen, was sie nur wollen, und es gelingt ihnen immer.« Sie lachte nervös. »Bill will, daß ich Es erschieße. Kannst du dir das vorstellen, Eddie? Man wird mich bald nur noch Beverly Oakley nennen.«

»Ich hab' keine Ahnung, wovon ihr redet«, sagte Eddie, aber das stimmte nicht ganz - zumindest eine vage Vorstellung hatte er bereits.

Ben erklärte ihm alles. Sie würden eine seiner Silberdollarmünzen einschmelzen und daraus zwei Silberkugeln, etwas kleiner als Kugellager, gießen. Und wenn tatsächlich ein Werwolf oder ein anderes Monster in der Neibolt Street 29 hauste, so würde Beverly ihm mit Bills Schleuder eine Silberkugel in den Kopf jagen. Und wenn sie mit ihrer Theorie recht hatten, daß es sich um eine einzige Kreatur mit vielen verschiedenen Gesichtern oder Erscheinungsformen handelte - dann leb wohl, Es.

Eddie vermutete, daß sein Gesicht Bände sprach, denn Richie nickte lachend.

»Ich weiß genau, was du denkst, Mann. Ich hab' selbst gedacht, daß Bill nun auch den letzten Rest seines ohnehin schon kümmerlichen Verstandes verloren haben muß, als er zum erstenmal mit der Idee rausrückte, statt der Pistole seines Vaters seine Schleuder benutzen zu wollen. Aber heute nachmittag. ..« Er verstummte und räusperte sich. Heute nachmittag, nachdem deine Mutter uns den Marsch geblasen und verscheucht hat, hatte ihm auf der Zunge gelegen, aber er schluckte es lieber herunter. »Heute nachmittag sind wir zur Müllhalde gegangen. Bill hatte seine Schleuder dabei. Sieh mal.« Er zog aus der Gesäßtasche seiner Jeans eine plattgetretene Ananasdose mit einem ausgezackten Loch von etwa zwei Zoll Durchmesser, genau in der Mitte. »Das hat Beverly mit einem Stein geschafft, aus etwa 20 Fuß Entfernung. Sieht für meine Begriffe ganz so aus, als war's 'ne Kugel Kaliber .38 gewesen. Sogar mir altem Lästermaul hat's glatt die Sprache verschlagen. Und wenn Richie Lästermaul überzeugt ist, dann ist er wirklich überzeugt.«

»Auf Dosen zu schießen ist eine Sache«, sagte Beverly. »Wenn es etwas anderes gewesen wäre... etwas Lebendiges... Bill, du müßtest schießen. Wirklich!«

»N-N-Nein«, widersprach Bill. »W-Wir haben d-d-doch alle gescfi-sch-schossen. Und du w-w-weißt ja, was dabei r-rausgekommen ist.«

»Was denn?« fragte Eddie.

Bill erklärte es ihm langsam und stotternd, während Beverly aus dem Fenster schaute. Ihre Lippen waren zu einer schmalen weißen Linie zusammengepreßt. Sie hatte nicht nur Angst; aus irgendeinem Grunde, den sie sich selbst nicht so richtig erklären konnte, war sie zutiefst verstört von dem, was heute passiert war. Vorhin, auf dem Weg ins Krankenhaus, hatte sie wieder leidenschaftlich dafür plädiert, daß sie doch lieber versuchen sollten, Pistolenkugeln herzustellen... nicht weil sie überzeugter als Bill und Richie gewesen wäre, daß sie im Ernstfall wirklich funktionieren würden, sondern weil dann (Bill)

jemand anderer die Waffe benutzen würde.

Aber an den Tatsachen gab es nicht zu rütteln. Jeder von ihnen hatte aus 20 Fuß Entfernung mit je zehn Steinen auf zehn Dosen geschossen. Richie hatte eine getroffen (und auch das mehr oder weniger zufällig), Ben zwei, Bill vier und Mike fünf.

Beverly hingegen, die überhaupt nicht richtig zu zielen schien, hatte neun Dosen genau in der Mitte getroffen, und auch die zehnte war umgefallen, als der Stein an ihrem oberen Rand abgeprallt war.

»A-A-Aber zuerst m-m-müssen wir noch die M-M-M-Munition herstellen.«

»Übermorgen? Bis dahin müßte ich zu Hause sein«, sagte Eddie. Seine Mutter würde natürlich dagegen protestieren... aber vermutlich nicht allzusehr. Nicht nach diesem Nachmittag.

»Tut dein Arm sehr weh?« fragte Beverly. Sie trug ein pinkfarbenes Kleid (nicht das Kleid, das sie in seinem Traum angehabt hatte - vielleicht hatte sie das nachmittags getragen, als seine Mutter sie weggeschickt hatte), das mit kleinen Blumen geschmückt war. Und Seiden- oder Nylonstrümpfe; sie sah sehr erwachsen, aber zugleich auch sehr kindlich aus, wie ein Mädchen, das sich als große Dame verkleidet; ihr Gesicht wirkte jetzt verträumt und entrückt, und Eddie dachte: Ich wette, daß sie so aussieht, wenn sie schläft.

»Es geht«, sagte er.

Sie unterhielten sich eine Weile über alles mögliche, und der Donner untermalte ihre Stimmen. Eddie fragte nicht, was vorgefallen war, als sie ihn nachmittags besuchen wollten, und niemand von ihnen erwähnte die Begegnung mit seiner Mutter. Richie holte sein Yo-Yo aus der Tasche und ließ es ein paarmal >schlafen<, dann steckte er es wieder weg.

Die Unterhaltung verebbte, und plötzlich hörte Eddie ein kurzes Klicken und drehte den Kopf. Bill hatte etwas in der Hand, und im ersten Moment bekam Eddie rasendes Herzklopfen. Er glaubte, Bill hätte ein Messer. Aber dann schaltete Stan die Deckenlampe ein, und in ihrem hellen Licht erkannte Eddie, daß es nur ein Kugelschreiber war. Und nun sahen seine Freunde auch alle wieder ganz normal aus, real, so wie sie immer aussahen.

»Ich d-d-dachte, w-wir s-s-s-sollten alle auf d-deinem G-G-Gips un-tersch-sch-schreiben«, sagte Bill und schaute Eddie kurz in die Augen.

Aber es ist nicht nur das, dachte Eddie mit plötzlicher beunruhigender Klarheit. Es ist ein Vertrag, Big Bill, nicht wahr, oder jedenfalls so was Ähnliches. Er hatte Angst... und gleich darauf schämte er sich und ärgerte sich über sich selbst. Wer hätte den Gips signiert, wenn er seinen Arm vor diesem Sommer gebrochen hätte? Niemand außer seiner Mutter und vielleicht Dr. Handor. Höchstens noch seine Tante in Bangor.

Dies waren seine Freunde, und seine Mutter hatte unrecht; sie waren keine schlechten Freunde. Vielleicht, dachte er, vielleicht gibt es so etwas wie gute oder schlechte Freunde gar nicht - vielleicht gibt es einfach nur gute Freunde, Menschen, die einem helfen, sich nicht so einsam zu fühlen. Vielleicht sind Freunde es immer wert, daß man sich Sorgen um sie macht, für sie hofft und lebt. Ja, und vielleicht sind sie es auch wert, daß man für sie stirbt, wenn es sein muß...

»Okay«, sagte Eddie etwas heiser. »Okay, das wäre wirklich toll, Big Bill.«

Bill beugte sich feierlich über sein Bett und schrieb mit großen, verschnörkelten Buchstaben seinen Namen auf den weißen Gips. Richie verzierte seine Unterschrift mit einem langen Schnörkel am Schluß. Bens Schrift war so klein, wie er selbst groß und dick war; die Buchstaben neigten sich rückwärts und sahen aus, als würden sie schon beim leichtesten Schubs umkippen. Mike Hanions Schrift war groß und ungelenk, denn er war Linkshänder, und der Gips hatte für ihn eine unbequeme Lage. Er setzte seinen Namen über Eddies Ellbogen und rahmte ihn mit einem Kreis ein. Als Beverly sich über Eddies Bett beugte, nahm er einen leichten Hauch von Blumen-parfum wahr. Sie unterschrieb mit runder Schrift. Und zuletzt schrieb Stan seinen Namen neben Eddies Handgelenk, mit ordentlichen kleinen, eng zusammenstehenden Buchstaben.

Dann traten alle etwas zurück, so als sei ihnen deutlich bewußt, daß sie soeben ihre Absicht bekräftigt hatten - daß sie eine Art wortlosen Schwur getan hatten. Draußen donnerte es wieder, und Blitze tauchten die Holzfassade für Sekunden in grelles Licht.

»Das war's?« fragte Eddie.

Bill nickte. »K-K-Komm überm-m-morgen nach d-dem Abendessen z-zu m-m-mir, w-wenn du k-k-kannst, okay?«

Eddie nickte, und damit war das Thema beendet.

Danach plauderten sie wieder über alles mögliche. Sie kamen auch auf das beliebteste Thema jenes Julis in Derry zu sprechen - auf den Prozeß gegen Richard Macklin wegen Totschlags an seinem Stief sohn Dorsey und auf das Verschwinden von Dorseys älterem Bruder Eddie. Macklin brach erst zwei Tage später weinend im Kreuzverhör zusammen und gestand, aber der ganze Klub der Verlierer stimmte darin überein, daß Macklin höchstwahrscheinlich nichts mit Eddies Verschwinden zu tun hatte. Der Junge war entweder weggelaufen... oder Es hatte ihn sich geschnappt.

Sie gingen so gegen Viertel vor acht, und es regnete immer noch nicht. Die Wolken hingen noch drohend über der Stadt, lange nachdem Eddies Mutter ihn besucht und wieder nach Hause gekommen war (sie war entsetzt über Eddies Entschlossenheit, das Krankenhaus schon am nächsten Tag zu verlassen - sie hatte sich einen Aufenthalt von mindestens einer Woche in absoluter Ruhe vorgestellt).

Schließlich lösten sich die geballten Gewitterwolken auf und verzogen sich, ohne daß in Derry auch nur ein einziger Regentropfen gefallen war. Die Schwüle lastete unverändert auf der Stadt, und viele Leute schliefen in jener Nacht auf Veranden, auf Rasen und in Schlaf sacken auf Feldern.

Der Regen fiel erst am nächsten Tag, kurz nachdem Beverly sah, wie Patrick Hockstetter etwas Schreckliches zustieß.

Siebzehntes Kapitel Ein weiterer Vermißter - Patrick Hockstetters Tod

1

Gegen Ende seiner Erzählung gießt Eddie sich mit etwas unsicherer Hand noch einen Drink ein. Er schaut Beverly an und sagt: »Du hast's gesehen, nicht wahr? Am Tag, nachdem ihr alle eure Namen auf meinen Gips geschrieben habt, hast du gesehen, wie Es Patrick Hockstetter geschnappt hat.« Die anderen beugen sich vor.

Beverly wirft ihre rotgoldene Haarmähne zurück Ihr Gesicht ist sehr bleich. Sie holt eine neue Zigarette aus der Packung - die letzte - und will sie anzünden. Aber ihre Hand zittert so, daß es ihr nicht gelingt. Schließlich greift Bill nach ihrer Hand und führt sie. Beverly wirft ihm einen dankbaren Blick zu und stößt eine Wolke blaugrauen Rauchs aus.

»Ja«, sagt sie. »ich habe es gesehen. Es ist mir etwa zur gleichen Zeit eingefallen wie Eddie sein gebrochener Arm. Hockstetter...« Sie verstummt schaudernd.

»Er war verrückt«, sagt Bill und denkt: Allein schon die Tatsache, daß Henry einen Irren wie Patrick Hockstetter um sich duldete, als der Sommer immer weiter fortschritt... das besagt doch sehr viel, oder? Entweder, daß Henry viel von seiner Anziehungskraft verloren hatte oder aber, daß er zu dieser Zeit selbst schon so verrückt war, daß Hockstetter ihm normal vorkam. Beides läuft letztlich auf dasselbe hinaus - Henrys zunehmende Mordlust, seine... seine Entartung? Ist das fair? Ja, ich glaube, aufgrund der Tatsache, daß er schließlich im Irrenhaus landete, kann man das sagen.

Diese Theorie wird auch noch von etwas anderem gestützt, denkt Bill, aber er kann sich nur vage daran erinnern. Er, Richie und Beverly waren auf dem Gelände der Gebrüder Tracker gewesen - Anfang August war das, und die Sommerschule, der sich ihre weitgehende Ruhe vor Henry zu verdanken hatten, würde demnächst beendet sein - und war da nicht Victor Criss plötzlich auf sie zugekommen? Ein sehr verängstigter Victor Criss? Ja, so war es gewesen. Die Dinge hatten sich damals sehr schnell auf das Ende hin entwickelt, und Bill denkt jetzt, daß jedes Kind in Derry das damals vermutlich irgendwie gespürt hat - und am stärksten der Klub der Verlierer und Henrys Bande. Aber das war etwas später gewesen.

»Ja«, stimmt Beverly tonlos zu. »Patrick Hockstetter war verrückt. Kein Mädchen wollte in der Schule vor ihm sitzen. Man saß da, rechnete oder schrieb einen Aufsatz, und plötzlich spürte man diese Hand... federleicht, aber warm und verschwitzt. Fleischig.« Sie schluckt. Die anderen schauen sie ernst an. »Man spürte diese Hand auf den Rippen oder auf der Brust. Man spürte diese Berührung, und man rückte rasch ab und drehte sich um, und Patrick saß da und grinste mit seinen wulstigen Lippen. Er hatte einen Bleistiftkasten...«

»Das Ding war voller Fliegen«, fällt Richie ihr plötzlich ins Wort. »Klar, jetzt seh' ich's genau vor mir - er tötete die fliegen mit seinem grünen Lineal und legte sie in seinen Bleistiftkasten. Ich weiß sogar noch, wie er aussah - rot, mit einem gewellten weißen Schiebedeckel aus Plastik.«

Eddie nickt.

»Er grinste, und manchmal öffnete er den Bleistiftkasten, so daß man die toten fliegen sehen konnte«, sagt Beverly. »Und das Schlimmste - das Grauenhafteste -war die Art, wie er grinste und nie etwas sagte. Mrs. Douglas wußte genau über ihn Bescheid. Greta Bowie hatte sich bei ihr beschwert, und ich glaube, Sally Mueller ebenfalls. Aber... na ja, ich glaube, Mrs. Douglas hatte selbst ein bißchen Angst vor ihm.«

Ben schaukelt mit seinem Stuhl auf und ab, die Hände im Nacken verschränkt. Sie kann es immer noch nicht fassen, wie schlank er jetzt ist. »Ich bin ganz sicher, daß du recht hast«, sagt er.

»W-W-Wfls hast du g-gesehen, B-Bev?« fragt Bill.

Sie schluckt wieder und versucht, sich von dem Bann des alptraumhaften Geschehens jenes Tages zu befreien. Sie hatte ihre Rollschuhe aneinandergebunden und über die Schulter gehängt; ein Knie war frisch aufgeschlagen und schmerzte, weil sie auf der St. Crispan's Lane hingefallen war, einer dieser kurzen, von Bäumen gesäumten Sackgassen, die am Steilabhang zu den Barrens hin endeten. Sie erinnert sich auch (oh, diese Erinnerungen, wenn sie kommen, sind sie so klar und so übermächtig!), daß sie Baumwollshorts trug, die etwas zu knapp waren und direkt unterhalb des Pos endeten. Sie war sich ihres Körpers im Laufe jenes Jahres stärker bewußt geworden - seit sich weibliche Rundungen abzuzeichnen begannen. Natürlich war der Spiegel ein Grund für dieses geschärfte Bewußtsein gewesen, der Hauptgrund bestand jedoch in der Tatsache, daß ihr Vater in letzter Zeit noch strenger als früher geworden war, sie noch häufiger schlug. Er kam ihr ruhelos vor wie ein Raubtier im Käfig, und sie wurde in seiner Gegenwart immer nervöser, immer vorsichtiger. Vielleicht spürte er das ebenfalls, denn sie sah ihn in jenem Sommer so selten wie nie zuvor, zum Teil wegen seines Kegelklubs, aber auch, weil er seinem Freund joe Tammerly half, Autos zu reparieren... doch rückblickend glaubt sie jetzt, daß er irgendwie Angst vor ihr hatte oder vielmehr Angst vor dem hatte, was er ihr eventuell antun könnte.

Ja, die blauen Shorts, die mit dem Blut...

Sie runzelt die Stirn. Diese Erinnerung will sich immer noch nicht einstellen; wieder hat sie statt dessen jene Vision von Vögeln, Hunderten und Tausenden von Vögeln, die sich auf Hausdächern, auf Telefonleitungen und Fernsehantennen niederlassen. Irgend etwas mit Blut. Menstruationsblut? Mit zehn Jahren? Und wieder denkt sie: Nein, bestimmt nicht.

»Undgiftiger Efeu«, sagt sie laut.

»W-W-Was?« fragt Bill.

»Irgendwas war mit giftigem Efeu«, sagt sie langsam, den Blick auf ihn gerichtet. »Aber in Wirklichkeit war es gar keiner. Es fühlte sich nur an wie giftiger Efeu. Mike...?«

»Mach dir nichts draus«, sagt Mike. »Es wird dir schon noch einfüllen. Erzähl uns einfach, woran du dich erinnerst, Bev.«

Ich erinnere mich an die blauen Shorts, liegt ihr auf der Zunge, und wie ausgeblichen sie waren, wie eng sie meine Hüften und meinen Po umspannten. Ich hatte eine halbe Packung Lucky Strikes in einer Tasche und die Schleuder in der anderen...

»Bill hat mir seine Schleuder gegeben«, sagt sie. »Ich wollte sie eigentlich nicht, aber es. ..er...« Sie schenkt Bill ein leichtes Lächeln. »Man konnte Big Bill einfach nichts abschlagen. Ich hatte die Schleuder also bei mir, und ich wollte ein bißchen üben. Ich glaubte immer noch nicht, daß ich im Ernstfall den Mut haben würde, sie zu benutzen. Aber... ich habe an jenem Tag geschossen. Ich mußte es tun. Ich habe damit eins von diesen Dingern getötet... eins der Teile von ihm . Es war schrecklich Selbst heute noch fällt es mir schwer, daran zu denken. Und ein anderes dieser Biester hat mich damals erwischt. Seht mal her.«

Sie hebt ihren Arm und dreht ihn um, so daß alle eine glänzende, faltige Narbe etwas unterhalb des Ellbogens sehen können. Sie sieht wie eine sehr große Impf- oder Brandwunde aus - so als hätte man einen sehr heißen runden Gegenstand vom Durchmesser einer Havanna-Zigarre auf ihre Haut gedrückt. Ein leichter Schauder überläuft Mike Hanion beim Anblick dieser leichten Einbuchtung. Dies ist einer jener Teile der Geschichte, die ihm - wie Eddies unfreiwillige Unterhaltung mit Mr. Keene - neu sind.

»Du hattest recht, Richte«, sagt Beverly. »Diese Schleuder war echt Klasse. Sie jagte mir Angst ein... aber gleichzeitig liebte ich sie auch.«

Richie lacht und klopft ihr auf den Rücken. »Das wußte ich damals schon, du dummes Frauenzimmer.«

»Du wußtest es? Wirklich?«

»O ja«, sagt er. »Ich hab's dir irgendwie an den Augen abgelesen, Bewie.«

»Das Ding sah aus wie ein Spielzeug, aber es war eine richtige Waffe. Man konnte damit wirklich etwas durchlöchern.«

»Und das hast du an jenem Tag getan«, murmelt Ben.

Sie nickt, drückt ihre Zigarette aus, nippt an ihrem Drink und ringt sichtlich um Fassung. Schließlich hat sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle. »Ich bin Rollschuh gelaufen, und dann bin ich hingefallen und habe mir ein Knie stark aufgeschürft. Daraufhin habe ich beschlossen, in die Barrens zu gehen und mit der Schleuder Schießübungen zu machen. Ich wollte zur Müllhalde, weil es dort jede Menge Zeug gab, auf das man schießen konnte. Vielleicht sogar Ratten.« Sie verstummt. Ihre Stirn ist jetzt schweißbedeckt. »Das war eigentlich meine Absicht«, fährt sie schließlich fort. »Auf etwas Lebendiges zu schießen. Nicht auf Möwen - ich wußte, daß ich das nie fertigbringen würde -, sondern auf Ratten... ich wollte feststellen, ob ich mich dazu überwinden konnte, auf eine Ratte zu schießen.

Ich bin heilfroh, daß ich nicht von der Old-Scape-Seite in die Barrens kam, sondern von der Kansas Street her, denn an dem Ufer, wo die Eisenbahnlinie verlief, gab es viel weniger Möglichkeiten, in Deckung zu gehen. Sie hätten mich bestimmt gesehen, und Gott weiß, was dann passiert wäre.«

»W-Wer hätte dich gesehen?«

»Sie«, sagte Beverly. »Henry Bowers, Victor Criss, Belch Huggins und Patrick Hockstetter. Sie waren unten in der Müllhalde und...«

Zum großen Erstaunen der anderen beginnt sie plötzlich zu kichern wie ein kleines Mädchen. Ihre Wangen laufen rot an, und sie kichert so, daß ihr Tränen in die Augen treten.

»Verdammt, Bev, was ist los?« sagt Richie. »Wir wollen doch auch unseren Spaß haben,.«

»O ja, es war spaßig, echt komisch, aber ich glaube, sie hätten mich umgebracht, wenn sie mich entdeckt hätten.«

»Jetzt fällt's mir wieder ein!« ruft Ben und beginnt nun auch zu lachen. »Du host's uns damals erzählt!«

Immer noch kichernd, sagt Beverly: »Sie hatten ihre Hosen runtergelassen und zündeten Furze an.«

Einen Augenblick herrscht Schweigen - und dann hallt die Bücherei vom allgemeinen schallenden Gelächter wider.

Nachdem sie sich beruhigt haben, überlegt Beverly wieder, wie sie ihnen am besten von Patrick Hockstetters Tod erzählen soll, und als erstes fällt ihr diesmal ein, daß sie auf dem Weg von der Kansas Street zur Müllhalde immer den Eindruck hatte, als würde sie in einen seltsamen Asteroidengürtel eintreten. Ein ausgefahrener Lehmweg (er hatte sogar einen Namen - Old Lyme Street) war die einzige Straße, die in die Barrens führte - die Müllwagen benutzten sie. Beverly war an jenem Tag jedoch nicht die Old Lyme Street hinabgegangen; seit Eddies Armbruch war sie - wie auch alle anderen Klubmitglieder - noch vorsichtiger geworden, besonders wenn sie allein war.

Sie hatte sich lieber einen Weg durchs dichte Unterholz gebahnt, war dem hier wachsenden giftigen Efeu mit seinen öligen rötlichen Blättern ausgewichen, hatte die Schreie der Möwen gehört und den Gestank der Müllhalde deutlich wahrgenommen. Hin und wieder hatte sie links von sich durch das Laubwerk hindurch die Old Lyme Street sehen können.

Alle Blicke sind ihr zugewandt; alle warten gespannt auf ihre Erzählung. Sie will nach einer Zigarette greifen, aber ihre Schachtel ist leer. Wortlos gibt Richie ihr eine von seinen.

Sie zündet sie an, wirft einen Blick in die Runde und beginnt: »Sich der Müllhalde von der Kansas Street her zu nähern war ein bißchen so, als...

2

würde man in einen seltsamen Asteroidengürtel eintreten. Zuerst durchquerte man nur Unterholz, das auf dem sumpfigen Boden gedieh; dann erblickte man den ersten Müllhalden-Asteroiden: eine rostige Konservendose von Del-Monte-Pfirsichen oder eine Flasche, in der Insekten herumkrochen, die von den klebrigen Resten von Saft oder Bier angezogen wurden. Wenig später sah man ein Stück Alufolie, das in einem Baum hing, in der Sonne funkeln. Wenn man nicht aufpaßte, konnte man leicht über eine Sprungfeder stolpern oder auf einen abgenagten Knochen treten.

Das Dumme an der Müllhalde war, daß sie sich so ausdehnte. Sie hatte wirklich Ähnlichkeit mit jenem Planeten - Saturn, soviel sie wußte -, der von einem Asteroidengürtel umgeben war.

Sie hörte einen Schrei von der Müllhalde, gefolgt von Gelächter. Sie grinste. Also waren ihre Freunde wirklich da, nicht im Klubhaus, sondern auf der Müllhalde, wo sie vermutlich Flaschen mit Steinen zerschlugen.

Sie ging etwas schneller; ihr aufgeschlagenes Knie hatte sie ganz vergessen, in ihrer Vorfreude, gleich ihre Freunde wiederzusehen, ihn wiederzusehen, Bill mit seinen roten Haaren, die ihren eigenen so sehr glichen, Bill mit seinem seltsam anziehenden schiefen Lächeln. Sie wußte, daß sie eigentlich viel zu jung war, um einen Jungen zu lieben, aber sie liebte Bill. Und deshalb beschleunigte sie ihre Schritte.

Sie wäre um ein Haar in die Gruppe hineingerannt, bevor sie bemerkte, daß es gar nicht ihre Freunde, sondern Bowers und seine Kumpel waren.

Sie trat aus dem Gebüsch heraus, und etwa 70 Yards vor ihr lag die steilste Seite der Müllhalde; der Abhang der ehemaligen Kiesgrube war mit Müll und Abfällen aller Art geradezu übersät. Hendy Fazios Bulldozer stand etwas links von ihr, und direkt vor ihr gab es jede Menge Autowracks. Dahinter mußten die Jungen sein, am Rand der eigentlichen Müllgrube. Von dorther drangen die Stimmen und das Gelächter zu ihr.

Als Beverly hinter dem letzten Auto hervortrat, einem Studebaker mit fehlender Motorhaube, blieb ihr das fröhliche >Hallo< im Halse stecken, und ihr erster verwirrter Gedanke war: O mein Gott, warum sind sie denn alle nackt?

Dann erst erkannte sie die Jungen und blieb wie angewurzelt stehen. Sie kauerten im Kreis, und wenn einer von ihnen in diesem Moment aufgeschaut hätte, bevor Bev in Deckung ging, hätte er sie sofort erblickt - ein mittelgroßes Mädchen mit Rollschuhen über der Schulter, mit blutigem Knie, weit offenem Mund und hochroten Wangen.

Bevor Bev hinter das Wrack des Studebakers in Deckung ging, registrierte sie noch, daß die Jungen doch nicht nackt waren; sie hatten Hemden an, und nur ihre Hosen und Unterhosen hatten sie heruntergelassen.

Bevs erster Gedanke war, möglichst rasch wieder von hier zu verschwinden. Sie hatte rasendes Herzklopfen. Aber als sie sich umschaute, fiel ihr etwas auf, worauf sie vorhin - als sie geglaubt hatte, hier ihre Freunde zu finden - überhaupt nicht geachtet hatte: Die Autowracks standen nicht etwa dicht gedrängt, sondern in ziemlich großen Abständen; und es war durchaus möglich, daß sie beim Rückzug nicht so viel Glück haben würde wie eben - daß die Jungen sie sehen würden.

Außerdem wurde sie auch von einer mit Scham vermischten Neugierde geplagt: Was in aller Welt mochten sie dort treiben?

Vorsichtig spähte sie um den Studebaker herum.

In der Nähe der Jungen lagen unordentlich auf dem Boden verstreut Hefte und Bücher herum - Schulbücher. Sie mußten also gerade aus der Sommerschule gekommen sein, die von den meisten Kindern als >Dum-menschule< oder >Hilfsschule< bezeichnet wurde. Und während Belch und Patrick ihr den Rücken zuwandten, hockten Henry und Victor mit dem Gesicht in ihre Richtung da, und sie konnte ihre Dinger sehen. Es waren die ersten Dinger, die sie in ihrem Leben sah, abgesehen von Bildern in einem schmutzigen Büchlein, die Brenda Arrowsmith ihr im Vorjahr einmal gezeigt hatte, auf denen man aber nicht viel erkennen konnte. Diese Dinger hingen den Jungen zwischen den Beinen herab; Henrys war klein und unbehaart, aber Victors Zipfel war ziemlich groß und von schwarzen Haaren umgeben.

Bill hat auch so ein Ding, dachte sie, und mit einemmal schien ihr ganzer Körper zu glühen - ihr wurde ganz schwach und schwindlig von dieser Hitzewelle, und sie hatte ein komisches Zwicken im Magen. In diesem Augenblick machte sie Bekanntschaft mit einem Gefühl ähnlich jenem, das Ben am letzten Schultag gehabt hatte, als er ihr Fußkettchen in der Sonne funkeln sah... nur war ihres mit einer Art Schrecken vermischt.

Sie warf wieder einen Blick nach hinten, und nun kam ihr die Strecke zwischen den Autowracks bis zum schützenden Gebüsch noch viel weiter vor. Sie hatte Angst, sich zu bewegen. Wenn die Jungen wüßten, daß sie ihre

Dinger gesehen hatte, würden sie sie vielleicht wirklich umbringen - sie umbringen oder ihr etwas anderes antun. Sie wußte nicht genau, was dieses andere war, aber sie assoziierte es irgendwie mit den Geräuschen, die sie oft aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern hörte.

Belch Huggins schrie plötzlich auf. Bev zuckte zusammen, und dann hörte sie Henry brüllen: »Drei Fuß! Ungelogen, Belch! Es waren drei Fuß! Stimmt's, Vic?«

Vic nickte, und alle brachen in schallendes Gelächter aus.

Bev spähte wieder um die Ecke des Studebakers, und ihre Augen wurden riesengroß.

Patrick Hockstetter hatte sich umgedreht und halb aufgerichtet, so daß sein Hintern fast an Henrys Gesicht stieß. Henry hatte einen silbrig funkelnden Gegenstand in der Hand, den Bev gleich darauf als Feuerzeug identifizierte.

»Du hast doch behauptet, gleich einen zu lassen«, sagte Henry.

»Tu ich auch«, erwiderte Patrick. »Ich sag dir, wenn's soweit ist. Achtung! ... Halt dich bereit!... Jetzt!«

Henry knipste das Feuerzeug an. Im selben Moment war das unverkennbare Geräusch eines lauten Furzes zu hören. Bruchteile von Sekunden später sah Bev etwas, das ihr den Unterkiefer herunterklappen ließ. Ein greller blauer Flammenstrahl, der sogar in der hellen Sonne deutlich sichtbar war, schien direkt aus Patricks Hintern herauszuschießen.

Wieder brachen die Jungen in ihr widerliches Gelächter aus, und Bev duckte sich noch mehr in ihrem Versteck und hielt sich die Hände vor den Mund, um ihr Kichern zu unterdrücken. Aber obwohl sie unwillkürlich lachen mußte, fühlte sie sich doch zutiefst abgestoßen und verstört. Sie konnte das, was sie soeben erlebt hatte, kaum verkraften. Es hatte etwas damit zu tun, daß sie die Dinger der Jungen gesehen hatte, aber das war bei weitem nicht das Schwerwiegendste. Schließlich hatte sie ja gewußt, daß Jungen solche Dinger hatten, ebenso wie sie wußte, daß Mädchen dafür etwas anderes hatten, und dies war nur so etwas wie Anschauungsunterricht gewesen. Aber der Rest war so sonderbar, so spaßig und gleichzeitig so furchtbar primitiv gewesen, wie irgendein von Wilden im Urwald ausgeführtes Ritual, daß sie sich trotz des Lachanfalls den Tränen nahe fühlte.

Hör auf, dachte sie verzweifelt, hör auf, sie werden dich noch hören, also hör jetzt sofort auf, Bevvie!

Aber das war unmöglich. Sie preßte ihre Hände fest auf den Mund; ihr Kopf lief rot an, und ihre Augen schwammen vor Tränen, während es sie vor mühsam unterdrücktem Lachen nur so schüttelte.

»Verfluchte Scheiße, das brenntl« brüllte Victor.

»Zwölf Fuß!« schrie Henry. »Ich schwor's, Vic, ganze zwölf Fuß! Ich schwor's beim Namen meiner Mutter!«

»Ist mir scheißegal, auch wenn's zwanzig Fuß wären - du hast mir den Arsch verbrannt!« heulte Victor, und wieder ertönte schallendes Gelächter. Im Schutz des Autowracks immer noch lautlos kichernd, dachte Beverly an einen Dschungelfilm mit Jon Hall, den sie im Fernsehen gesehen hatte. Er hatte von einem Dschungelstamm gehandelt, der ein Geheimritual vollzog, und wenn jemand dieses unbefugt beobachtete, wurde er den heidnischen

Göttern geopfert. Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lachen; nur bekam ihr hysterisches Kichern immer mehr Ähnlichkeit mit lautlosem Schreien. Ihr ganzer Bauch tat schon weh. Tränen liefen ihr über die Wangen.

3

Daß Henry, Victor, Belch und Patrick Hockstetter an diesem heißen Julinachmittag in der Müllhalde ihrer seltsamen Beschäftigung nachgingen, hing mit zwei voneinander völlig unabhängigen Tatsachen zusammen. Die eine bestand darin, daß Mr. Harrison, ein junger neuer Lehrer an Derrys Grundschule, mit seiner ausschließlich aus Jungen bestehenden Sommerschulklasse immer mehr Schwierigkeiten hatte. Die zweite Tatsache bestand darin, daß Henrys Vater, der verrückte Butch Bowers, eine Freundin hatte, die jeden Sonntagmorgen gebackene Bohnen zubereitete und jeden Sonntagabend riesige Mengen davon den Bowers brachte. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, obwohl Butch Rena Davenport einmal in betrunkenem Zustand eine Armenhaushure genannt hatte.

Mr. Harrison hatte sich bereit erklärt, in der Sommerschule zu unterrichten, weil er im Oktober heiraten wollte und hoffte, die Flitterwochen während der Weihnachtsferien in Key West mit den 900 Dollar finanzieren zu können, die er dafür erhalten würde. Ältere und erfahrenere Lehrer hatten ihn vor den damit verbundenen Problemen gewarnt; man würde vor der Tafel stehen und vor Hitze fast zerfließen, hatten sie gesagt. Und die Minuten würden dahinschleichen wie gelähmte Dickhäuter. Sie hatten ihm auch erklärt, daß die Schüler nicht nur dumm wären, sondern auch mürrisch, verstockt und zuweilen sogar aggressiv und aufsässig werden könnten. Man sei in einem fast leeren Gebäude mit einem Haufen Kinder eingesperrt, die nicht versetzt würden, wenn sie nicht den entsprechenden Sommerunterricht in bestimmten Fächern bekamen. Diese Kinder hörten ihre glücklicheren Freunde draußen herumtollen, Fahrrad fahren, Baseball spielen und lachen. Natürlich gefiel ihnen das nicht, und der Lehrer war für sie das deutlichste Symbol ihrer Gefangenschaft.

Weil Mr. Harrisons Klasse nur aus Jungen bestand, weil er in der besonders heißen dritten Juliwoche am Verzweifeln war, weil seine Schüler die Stunden völlig phlegmatisch absaßen, und weil gerade Gase behandelt wurden, hatte er ihnen eines Tages etwas erzählt, das er selbst im College während einer Männerrunde gehört hatte: Während die Gase menschlicher Blähungen hauptsächlich aus trägem Karbondioxyd bestünden, enthielten die meisten Furze genügend Methan, um angezündet werden zu können (und je mehr Methan, desto exquisiter der Geruch). Mr. Harrison hatte seinen Schülern erzählt, daß bei der Verbrennung des Methans eine bläuliche Flamme entstehe und der Gestank verschwinde.

Zunächst war er hocherfreut gewesen über die Reaktion der Klasse auf seine Ausführungen - zum erstenmal in diesen fast vier Wochen hatten die Jungen ein gewisses Interesse an den Tag gelegt. Bis dahin hatte er (wie er seiner Verlobten erzählte, deren Reaktion auf die Brennbarkeit von Furzen

sehr ähnlich ausfiel wie Beverlys - sie kicherte heftig, obwohl sie die Sache ziemlich unappetitlich fand) sich manchmal direkt gefragt, ob die Schüler in den hinteren Reihen nicht vielleicht tot seien, ob sie nicht vielleicht einfach von ihren Klassenkameraden hereingeschleppt und auf ihre Bänke gesetzt würden, kurz bevor er das Klassenzimmer betrat.

Am Spätnachmittag jedoch, als die scheinbar endlose Unterrichtstortur für jenen Tag hinter ihm lag, konnte er kaum noch glauben, daß er einer Klasse so etwas erzählt hatte - einer Klasse von Elf- bis Zwölfjährigen. In den nächsten Tagen hatte er ständig damit gerechnet, daß Ralph Gagnon ihn anrufen würde, der Schuldirektor, ein sehr strenger Vorgesetzter und Moralapostel. Als aber die Zeit verging und der Anruf ausblieb, begann er sich zu entspannen. Offensichtlich war die Tatsache, daß Furze angezündet werden konnten (und die kompromittierende Tatsache, daß er das seiner Klasse erzählt hatte - er, Peter Harrison, ein Lehrer, der sein erstes Schuljahr absolvierte und nur einen Probevertrag hatte), zusammen mit dem gesamten übrigen Lehrstoff dieses Sommers im Vakuum ihrer Gehirne völlig untergegangen.

Aber Henry Bowers hatte seine Ausführungen nicht vergessen, und er wußte insbesondere, welche Auswirkungen es hatte, wenn man große Mengen gebackener Bohnen aß. Sein Vater hatte ihm das schon erklärt, als er ein Dreikäsehoch gewesen war: Bohnen waren ein >musikalisches Ge-müse<; je mehr man davon aß, desto besser konnte man furzen, und je mehr man furzte, desto wohler fühlte man sich, und desto besser konnte man hinterher weiteressen.

Rena Davenport und sein Vater machten sich schon seit acht Jahren gegenseitig den Hof - wenn man es so vornehm ausdrücken wollte. Sie war vierzig, fett und meistens schmutzig. Henry war im Laufe der Zeit zu der Ansicht gelangt, daß sie nur drei Kleider besaß. Sie hatte einen so penetranten Körpergeruch, daß es einem fast den Atem verschlug, wenn man ihr zufällig zu nahe kam. Henry vermutete, daß Rena und sein Vater manchmal miteinander ins Bett gingen, obwohl er sich nicht vorzustellen vermochte, wie jemand seinen Körper gegen Renas pressen konnte. Sie wohnte in einer Bruchbude an der Back Stage Road, einem Lehmweg, der durch 30 Meilen Wald nach Haven führte. Der größte Teil ihrer Einzimmerwohnung wurde von alten Zeitungen und einem riesigen schwarzen Holzkohleofen ausgefüllt. Ein Aborthäuschen mit einer ausgesägten Mondsichel in der Tür stand 40 Fuß hinter dem Haus und verbreitete einen bestialischen Gestank. Henry hatte diesen Abort nur einmal benutzt, und ihm war es dabei fast schlecht geworden. Durch das runde Loch im Boden hatte er sehen können, wie unten einige Ratten um seinen Stuhl kämpften.

Renas Bohnen waren ihr ganzer Stolz. Sie weichte sie samstags abends ein und bereitete sie den ganzen Sonntag über auf schwachem Feuer zu. Sie schmeckten Henry nicht schlecht - zumindest war das ein Essen, das man so richtig in sich hineinschaufeln konnte -, aber nach acht Jahren verlor alles seinen Reiz.

Außerdem gab Rena sich mit kleinen Mengen Bohnen gar nicht erst ab. Wenn sie sonntags abends in ihrem uralten grünen DeSoto zu den Bowers fuhr (vom Rückspiegel baumelte eine nackte Babypuppe aus Gummi herab, die aussah wie das jüngste Opfer einer Lynchjustiz), hatte sie die den Bowers zugedachte Portion neben sich auf dem Beifahrersitz stehen. Sie aßen dann abends zu dritt davon (Rena verbreitete sich dabei ununterbrochen über ihre Kochkünste, der verrückte Butch Bowers grunzte und tunkte die Bohnensauce mit Brot auf oder befahl Rena einfach, den Mund zu halten, wenn im Radio ein Base- oder Footballspiel übertragen wurde; Henry aß schweigend, blickte aus dem Fenster und hing seinen eigenen Gedanken nach - beispielsweise war ihm sonntags abends beim Bohnenessen die Idee gekommen, Mike Hanions Hund Mr. Chips zu vergiften); am Montagabend gab es aufgewärmte Bohnen. Dienstags und mittwochs nahm Henry in einer Tupper-Schüssel Bohnen mit in die Schule. Donnerstags oder spätestens freitags brachten weder Henry noch sein Vater mehr Bohnen herunter. Trotz der geöffneten Fenster stank es in beiden Schlafzimmern nach Furzen. Butch vermischte die restlichen Bohnen mit anderen Abfällen und verfütterte sie an Bip und Bop, seine beiden Schweine. Am folgenden Sonntag tauchte Rena dann wieder mit einem dampfenden Kochtopf Bohnen auf, und der Kreislauf begann von neuem.

Nach Mr. Harrisons Ausführungen über die Brennbarkeit organisch erzeugter Methangase hatte Henry sofort beschlossen, die Sache auszuprobieren. Victor und Belch hatten begeistert zugestimmt. Patrick Hockstetter hatte wie immer nur sein etwas unheimliches Lächeln zur Schau getragen und genickt.

An diesem Morgen nun hatte Henry eine Riesenportion Bohnen mit in die Schule genommen, und sie hatten sie in der Mittagspause zu viert auf dem Spielplatz im Schatten einer großen alten Ulme vertilgt. Sie hatten gegessen, bis sie zu platzen glaubten.

Es war Patrick gewesen, der vorschlug, zur Müllhalde zu gehen, wo sich mitten am Nachmittag eines Werktags vermutlich kein Mensch aufhalten würde. Als sie dort ankamen, erfüllten die Bohnen ihren Zweck schon ganz ausgezeichnet.

4

Ganz allmählich bekam Beverly sich wieder unter Kontrolle und beschloß, doch lieber den Rückzug anzutreten. Die Jungen waren in ihre Beschäftigung vertieft, und selbst wenn sie sie sehen würden, hätte sie einen relativ großen Vorsprung - und im äußersten Notfall könnte sie sie höchstwahrscheinlich mit einigen Schleudergeschossen in Schach halten.

Sie wollte gerade zurückkriechen, als sie Victor sagen hörte: »Ich muß jetzt gehen, Henry. Mein Dad möchte, daß ich ihm heute nachmittag bei der Maisernte helfen.«

»Ach Scheiße«, sagte Henry. »Er wird's überleben.«

»Nein, er ist sowieso schon stinksauer auf mich. Wegen dem, was neulich passiert ist.«

»Verdammt, versteht der Mann denn keinen Spaß?«

Beverly hörte jetzt aufmerksamer zu, weil sie richtig vermutete, daß von der Rauferei die Rede war, die mit Eddies gebrochenem Arm geendet hatte.

»Nein, ich muß weg.«

»Ich glaube, ihm tut einfach der Arsch weh«, rief Patrick hinterhältig.

»Halt die Schnauze, du blödes Arschloch«, sagte Victor, »sonst kannste was erleben!«

»Ich muß auch weg«, sagte Belch.

»Mußt du etwa auch deinem Vater bei der Maisernte helfen?« fragte Henry wütend. Es war eine gemeine Frage, denn Belchs Vater war tot.

»Nein, aber ich hab' 'nen Job- ich trag' den >Weekly Shopper< aus, und das muß ich heute abend machen. Ich krieg' Geld dafür«, erklärte Belch mit schwerfälliger Geduld.

Henry stieß ein angewidertes Grunzen aus, und Beverly riskierte wieder einen flüchtigen Blick um die Ecke. Victor und Belch waren aufgestanden und schlössen gerade ihre Gürtelschnallen. Patrick und Henry saßen immer noch mit heruntergelassenen Hosen in der Hocke. Das Feuerzeug glitzerte in Henrys Hand.

»Du kneifst nicht, oder?« fragte Henry Patrick.

»Nee.«

»Du mußt nicht Mais ernten oder irgend 'nen beschissenen Job erledigen?«

»Nee.«

»Also dann«, sagte Belch unsicher, »bis bald, Henry.«

»Okay«, sagte Henry und spuckte Belch vor die Füße.

Vic und Belch machten sich auf den Weg und gingen auf die beiden Reihen von Autowracks zu... und auf den Studebaker, hinter dem Beverly kauerte. Einen Moment lang konnte sie sich nicht vom Fleck rühren wie ein zu Tode geängstigtes Kaninchen. Dann schlich sie mit lautem Herzklopfen auf die linke Seite des Studebakers und schlüpfte in die Lücke zwischen ihm und dem danebenstehenden türlosen Ford. Sie glitt in den Ford und machte sich auf der schmutzigen Fußmatte möglichst klein. Sie hörte Victor und Belch vorbeigehen und sich leise unterhalten. Dann waren sie verschwunden. Bev beschloß, in ihrem Versteck zu bleiben. Sie hoffte, daß es Henry und Patrick zu zweit langweilig werden würde, und daß sie auch bald aufbrechen würden.

Los, dachte sie. Los, beeilt euch, haut ab, haut ab, verschwindet, bitte!

»Zehn Fuß!« kicherte Patrick (allein schon dieses Kichern ließ Beverly angeekelt schaudern, so als wäre plötzlich ein Wurm aus ihrem Salat herausgekrochen). »Zehn Fuß, Henry! Von strahlendem Blau! Ich schwor's dir!«

»Gib mir das Feuerzeug«, knurrte Henry.

Los, los, ihr Blödhammel, verschwindet!

Als Patrick wieder etwas sagte, war seine Stimme so leise, daß Bev ihn nur verstehen konnte, weil es an diesem schwülen Nachmittag völlig windstill war.

»Soll ich dir mal was zeigen?« fragte Patrick.

»Was denn?«

»Etwas Schönes.« Nach kurzer Pause fügte Patrick hinzu: »Es tut gut.«

»Was?« fragte Henry wieder.

Dann trat Schweigen ein.

Ich will nicht hinschauen, ich will nicht sehen, was sie jetzt treiben, und außerdem könnten sie mich sehen, das ist sogar sehr wahrscheinlich, denn für heute hast du dein Glück wirklich schon überstrapaziert. Also bleib unten. Keinen Blick...

Aber ihre Neugierde war jetzt größer als ihr gesunder Menschenverstand. Diese Stille hatte etwas Merkwürdiges an sich, etwas Beängstigendes. Sie hob ganz langsam den Kopf, bis sie durch die schmutzige Windschutzscheibe schauen konnte. Ihre Angst, daß die Jungen sie entdecken würden, erwies sich als überflüssig. Sie konzentrierten sich völlig auf das, was Patrick machte. Beverly begriff nicht, was da vor sich ging, aber sie spürte, daß es häßlich war... etwas anderes hatte sie von Patrick, der so unheimlich war, aber auch gar nicht erwartet.

Er hatte eine Hand zwischen Henrys Beinen, die andere zwischen seinen eigenen. Mit einer Hand rieb er Henrys Ding, mit der anderen sein eigenes.

Was macht er nur? fragte sich Beverly.

Sie wußte es nicht, aber es stieß sie ab. Trotzdem konnte sie nicht wegschauen.

Sie sah, daß Patricks Ding ein bißchen länger geworden war, aber nicht viel; es baumelte immer noch zwischen seinen Beinen herab wie eine Schlange ohne Rückgrat. Henrys Ding hingegen war erstaunlich gewachsen. Es ragte steif und hart in die Höhe, fast bis zu seinem Bauchnabel. Patricks Hand fuhr auf und ab, drückte manchmal auch fester zu oder kitzelte den komischen schweren Sack unter Henrys Ding.

Das sind seine Eier, dachte Beverly. Müssen Jungs ständig damit rumlaufen? Mein Gott! Mich würde das verrückt machen!

Henry starrte wie hypnotisiert auf Patricks Hand. Sein Feuerzeug lag neben ihm im Kies und reflektierte die Sonnenstrahlen.

»Willst du, daß ich's in den Mund nehme?« fragte Patrick. Seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem selbstgefälligen Grinsen.

»Häh?« fragte Henry, als wäre er abrupt aus tiefem Schlaf gerissen worden.

»Ich werd's in den Mund nehmen und daran saugen, wenn du willst. Es macht mir nichts au...«

Henrys Hand schoß plötzlich vor, nicht ganz zur Faust geballt. Patrick flog zu Boden, und sein Kopf schlug auf dem Kies auf. Beverly duckte sich rasch wieder; ihr Herz hämmerte in der Brust und sie mußte fest die Zähne zusammenbeißen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Nachdem er Patrick niedergeschlagen hatte, hatte Henry den Kopf gedreht, und Bev hatte den Eindruck gehabt, als hätten sich seine und ihre Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen, bevor sie wieder untertauchte.

Bitte, lieber Gott, mach, daß die Sonne ihn geblendet hat, betete sie. Bitte, lieber Gott, laß ihn mich nicht gesehen haben. Es tut mir leid, daß ich hingeschaut habe. Bitte, lieber Gott, bitte.

Dann hörte sie Henrys Stimme und stellte mit wachsendem Entsetzen fest, daß er näher gekommen sein mußte. »Ich mache mir nichts aus solchem Quatsch.«

Aus weiterer Entfernung ertönte Patricks Antwort: »Es hat dir gefallen.« »Es hat mir nicht gefallen!« schrie Henry. »Und wenn du jemandem erzählst, es hätte mir Spaß gemacht, dann bring' ich dich um, du verfluchte kleine Drecksau!«

»Du hast 'nen Steifen bekommen«, sagte Patrick, und es hörte sich so an, als würde er lächeln. Das hätte Beverly gar nicht überrascht. Sie selbst hatte zwar Angst vor Henry, aber Patrick war verrückt - und Verrückte fürchten sich vor nichts. »Ich hab's genau gesehen.«

Knirschende Schritte auf dem Kies - sie kamen immer näher. Beverly blickte hoch; ihr Gesicht war bleich und verschwitzt und angstverzerrt, die Augen weit aufgerissen. Durch die Windschutzscheibe konnte sie jetzt Henrys Hinterkopf sehen. Noch schaute er in Patricks Richtung, aber wenn er sich umdrehte...

»Wenn du jemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verrätst, erzähl' ich überall herum, daß du ein verdammter Schwanzlutscher bist, und dann bring' ich dich um«, drohte Henry.

»Du kannst mir keine Angst einjagen, Henry«, kicherte Patrick. »Aber vielleicht halt' ich den Mund - wenn du mir 'nen Dollar gibst.«

Henry trat unruhig von einem Bein aufs andere und drehte sich etwas um; jetzt konnte Beverly ein Viertel seines Profils sehen.

Bitte, lieber Gott, bitte! betete sie inbrünstig, und plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, Wasser zu lassen.

»Wenn du was sagst«, hörte sie Henrys leise, aber überdeutliche und scharfe Stimme, »dann erzähl' ich, was du mit den Katzen und Hunden machst! Ich erzähl' ihnen von dem Kühlschrank. Und weißt du, was dann passiert, Hockstetter? Dann stecken sie dich in die Klapsmühle, darauf kannst du dich verlassen! Denk also daran, was ich gesagt habe! Und wenn du dich je wieder in meiner Nähe sehen läßt, schlag' ich dir die Fresse ein!«

Patrick schwieg jetzt.

Plötzlich drehte sich Henry vollends um. Beverly sah ihn neben dem Fahrersitz des Fords vorbeigehen. Wenn er auch nur etwas nach links geschaut hätte, hätte er sie unweigerlich gesehen. Aber er wandte den Kopf nicht nach links. Einen Augenblick später hörte sie, wie er sich auf demselben Weg, den auch Victor und Belch eingeschlagen hatten, entfernte.

Jetzt war nur noch Patrick übrig.

Beverly wartete, aber nichts geschah. Fünf Minuten verstrichen. Es war ein unangenehmes Gefühl, nicht genau zu wissen, wo Patrick war.

Sie spähte wieder durch die Windschutzscheibe und sah, daß Patrick neben seinen Schulbüchern saß. Victor, Henry und Belch hatten ihre Bücher mitgenommen, aber sein Feuerzeug hatte Henry vergessen. Patrick saß auf dem mit Abfällen übersäten Kies; seine Hose und Unterhose hingen immer noch um seine Knöchel herum, und er spielte hingebungsvoll mit dem Feuerzeug, knipste es immer wieder an und aus. Er schien wie hypnotisiert zu sein. Ein dünnes Blutrinnsal lief ihm aus dem Mundwinkel übers Kinn, und seine Lippen schwollen auf der rechten Seite an. Patrick schien das überhaupt nicht zu bemerken, und wieder fühlte sich Beverly von ihm furchtbar abgestoßen. Patrick war verrückt, das stand fest, und sie hatte noch nie im Leben so stark den Wunsch gehabt, von jemandem wegzukommen.

Sie kroch rückwärts aus dem Ford heraus, schlich hinter den Wagen und rannte geduckt den Weg zurück, den sie gekommen war. Erst im Schutz der Fichten riskierte sie einen Blick zurück. Niemand war zu sehen. Die Müllhalde und die Autowracks brüteten in der Sonne. Sie entspannte sich erleichtert, aber gleich darauf machte ihre Blase sich wieder schmerzhaft bemerkbar, und sie eilte ein Stück weit den Pfad entlang, schlug sich dann in die Büsche und öffnete schon unterwegs den Reißverschluß ihrer Shorts. Nach einem raschen Blick, ob hier kein giftiger Efeu wuchs, kauerte sie sich nieder und hielt sich dabei am Stamm eines kräftigen Busches fest.

Sie zog gerade wieder ihre Shorts hoch, als sie Schritte hörte, die sich von ,der Müllhalde her näherten. Zwischen den Büschen hindurch sah sie blauen Jeansstoff und die verwaschenen Karos eines Schulhemdes auftauchen. Es war Patrick Hockstetter. Sie setzte sich hin, um abzuwarten, bis er in Richtung Kansas Street verschwunden sein würde.

Aber Patrick ging nicht vorbei. Statt dessen blieb er auf dem Pfad stehen, fast direkt ihr gegenüber. Er betrachtete den rostigen ausrangierten Kühlschrank, der an der Rottanne auf der anderen Seite des Pfades lehnte. Dann begann er sich summend hin und her zu wiegen, und bei diesem Anblick überlief es Bev wieder kalt. Er glich einer Gestalt aus einem Horrorfilm, die versuchte, mit Beschwörungen eine Leiche aus einer Krypta herauszulok-ken.

Was treibt er da nur? Wenn Beverly das gewußt hätte, oder wenn sie gewußt hätte, was passieren würde, sobald Patrick sein privates Ritual beendet hatte und die rostige Tür des alten Kühlschranks öffnete, dann wäre sie weggerannt, so schnell sie nur konnte.

5

Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wie verrückt Patrick Hockstetter war. Er war zwölf Jahre alt, der Sohn eines Farbenverkäufers. Seine Mutter, eine fromme Katholikin, starb 1962 an Brustkrebs, vier Jahre, nachdem Patrick in der düsteren Unterwelt Derrys verschwunden war. Obwohl sein IQ zwar niedrig war, aber noch als normal eingestuft wurde, hatte Patrick schon zwei Klassen - die erste und die dritte - wiederholt, und in diesem Jahr besuchte er die Sommerschule, um nicht auch die fünfte wiederholen zu müssen. Seine Lehrer hielten ihn für einen apathischen Schüler (das schrieben sie auch auf seine Zeugnisse) und für einen ziemlich unheimlichen noch dazu (das stand allerdings nicht auf jenen sechs Zeilen, die für Bemerkungen des lehrers vorgesehen waren). Wäre Patrick Hockstetter zehn Jahre später geboren worden, so hätte ein Schulberater vielleicht bemerkt, daß er nicht normal war; möglicherweise wäre er zu einem Kinderpsychologen geschickt worden, und dieser hätte vermutlich die finsteren, beängstigenden Abgründe hinter diesem glatten, blassen Mondgesicht entdeckt (vielleicht aber auch nicht, denn Patrick war weitaus schlauer als sein niedriger IQ vermuten ließ).

Selbst in frühester Kindheit hatte er andere Menschen nicht für >real< gehalten. Er glaubte, nur er selbst existiere tatsächlich. Das Bewußtsein, anderen Lebewesen Schmerzen zuzufügen, ging ihm völlig ab, und auch sein eigenes Schmerzempfinden war sehr unterentwickelt (die Teilnahmslosigkeit, mit der er Henrys Schlag auf den Mund hingenommen hatte, war ein Beweis dafür). Die Realität außerhalb seiner eigenen Person war für ihn völ-

Hg bedeutungslos; die Bedeutung von >Regeln< und > Vorschriften begriff er allerdings durchaus. Und obwohl alle seine Lehrer ihn für einen höchst eigenartigen Jungen hielten (sowohl Mrs. Douglas als auch Mrs. Weems, die Patrick in der dritten Klasse unterrichtet hatte, wußten von dem Bleistiftkasten voller Fliegen; aber trotz gewisser Schlußfolgerungen, die sie daraus zogen, hatten sie mit den übrigen 20 bis 28 Schülern genügend andere Probleme), so bereitete er ihnen doch kaum Schwierigkeiten, was die Disziplin betraf. Er brachte es fertig, bei Klassenarbeiten ein völlig leeres Blatt abzugeben - oder ein leeres Blatt, das nur mit einem großen Fragezeichen geschmückt war -, und Mrs. Douglas wußte, daß man ihn möglichst von Mädchen fernhalten mußte, weil er seine Hände nicht bei sich behalten konnte. Aber er war sehr still, so still, daß man ihn manchmal für eine Lehmfigur hätte halten können. Es war leicht, den stillen Patrick einfach zu ignorieren, wenn man mit Jungen wie Henry Bowers und Victor Criss fertig werden mußte, die frech und aufsässig waren, das Milchgeld anderer Kinder stahlen oder absichtlich ihre Schulbücher zerrissen; oder wenn man es mit Mädchen wie der armen Edwina Taylor zu tun hatte, einer Epileptikerin, deren Gehirnzellen nur sporadisch arbeiteten, und die daran gehindert werden mußte, auf dem Spielplatz ihr Kleid hochzuziehen und ihr neues Unterhöschen vorzuführen. Kurz gesagt - die Grundschule von Derry war ein typisches Beispiel für den komplizierten Erziehungszirkus, einen Zirkus mit so vielen Arenen, daß vielleicht sogar Pennywise in höchsteigener Person nicht aufgefallen wäre. Und natürlich vermutete keiner von Patricks Lehrern auch nur im Traum, daß er im Alter von fünf Jahren sein kleines Brüderchen Adrian ermordet hatte.

Es hatte Patrick gar nicht gefallen, als seine Mutter mit Adrian aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Es war ihm egal, ob seine Eltern zwei Kinder hatten, fünf oder fünf Dutzend, solange dadurch sein eigenes Leben keine Veränderung erfuhr. Aber er stellte fest, daß das in hohem Maße der Fall war ..Das Essen kam zu spät auf den Tisch. Das Baby schrie nachts und weckte ihn auf. Wenn er versuche, die Aufmerksamkeit seiner Eltern auf sich zu lenken, gelang es ihm oft nicht. Er hatte das Gefühl, als beschäftigten sie sich nur noch mit dem Baby. Patrick bekam es mit der Angst zu tun, was bei ihm sehr selten war. Aber ihm kam zu Bewußtsein, daß - wenn seine Eltern ihn, Patrick, aus dem Krankenhaus mit nach Hause gebracht hatten und er >real< war- Adrian vielleicht auch >real< sein könnte. Und das könnte sogar dazu führen, daß seine Eltern beschließen würden, ihn, Patrick, ganz loszuwerden, sobald Adrian gehen und sprechen, seinem Vater die >Derry News< von der Treppe holen und seiner Mutter beim Brotbacken die Schüsseln reichen konnte. Er befürchtete nicht, daß seine Eltern Adrian mehr liebten als ihn; das stand für ihn ohnehin fest, aber es machte ihm nicht viel aus. Wovor er Angst hatte, war die Möglichkeit, daß sie ihn Adrian zuliebe ganz hinauswerfen würden.

Eines Nachmittags gegen halb drei, kurz nachdem er mit dem Schulbus vom Kindergarten zurückgekommen war, ging er in Adrians Zimmer. Es war Januar. Draußen schneite es, und ein heftiger Wind fegte über den McCarron-Park und rüttelte an den vereisten Fenstern im ersten Stock. Patricks Mutter war in ihrem Schlafzimmer eingeschlafen; Adrian war in der

Nacht sehr unruhig gewesen. Sein Vater war bei der Arbeit. Adrian schlief auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gewandt.

Mit völlig ausdruckslosem Mondgesicht drehte Patrick Adrians Kopf so, daß das Gesicht direkt ins Kissen gepreßt wurde. Adrian gab einen schnüffelnden Laut von sich und drehte den Kopf wieder zur Seite. Patrick beobachtete das und dachte darüber nach, während der Schnee an seinen gelben Stiefeln schmolz und auf dem Boden eine Pfütze bildete. Nach etwa fünf Minuten drückte er Adrians Gesicht wieder ins Kissen und hielt dabei seinen Kopf fest. Das Baby bewegte sich unter seiner Hand, sträubte sich aber nur schwach. Patrick ließ es los. Adrian drehte den Kopf wieder zur Seite, schnaufte ein wenig, stieß einen leisen Schrei aus und schlief weiter. Der Wind heulte und rüttelte an den Fenstern. Patrick lauschte, ob seine Mutter von dem Schrei aufgewacht war. Das war aber nicht der Fall.

Nun überkam Patrick eine wahnsinnige Erregung. Zum erstenmal in seinem Leben schien die Welt völlig klare Konturen anzunehmen. Seine emotionalen Kräfte waren sehr unterentwickelt, aber in diesen wenigen Augenblicken fühlte er sich wie ein völlig Farbenblinder, den irgendeine Spritze plötzlich in die Lage versetzen würde, für kurze Zeit Farben wahrzunehmen ... oder wie ein Drogensüchtiger zu Beginn seines Rauschzustands. Es war für Patrick eine ganz neue Erfahrung. Er hatte nicht gewußt, daß es so etwas gab.

Sehr behutsam preßte er Adrians Gesicht wieder ins Kissen. Als das Baby diesmal anfing, sich zu sträuben, ließ er nicht los, sondern drückte noch fester zu. Es weinte jetzt ins Kissen hinein, und Patrick wußte, daß es wach war. Er hatte die vage Idee, daß es ihn vielleicht bei seiner Mutter verpetzen könnte. Er hielt es fest. Das Baby zappelte, um sich zu befreien. Patrick ließ nicht los. Adrians Bewegungen wurden immer schwächer und hörten schließlich ganz auf. Patrick preßte sein Gesicht noch weitere fünf Minuten ins Kissen, bis sein Erregung langsam abflaute, bis die Welt wieder grau wurde.

Er ging nach unten, goß sich ein Glas Milch ein und aß dazu Kekse. Eine halbe Stunde später kam seine Mutter herunter und sagte, sie habe ihn nicht einmal nach Hause kommen hören, so müde sei sie gewesen. Das wirst du von nun an nicht mehr sein, Mom, dachte Patrick. Ich habe diese Sache in die Hand genommen. Sie setzte sich zu ihm, aß einen Keks und fragte ihn, wie es im Kindergarten gewesen sei. Er zeigte ihr seine Zeichnung von einem Haus und einem Baum. Das Papier war mit braunem und schwarzem Farbstift sinnlos bekritzelt. Seine Mutter sagte, es sei sehr hübsch. Patrick brachte jeden Tag solche braunschwarzen Kritzeleien - wilde, ineinander verschlungene Kreise und Spiralen - mit nach Hause. Manchmal sollten sie einen Truthahn darstellen, manchmal einen Weihnachtsbaum, manchmal einen Jungen. Seine Mutter sagte immer, die Zeichnung sei sehr schön... obwohl sie sich manchmal im tiefsten Innern ernste Sorgen machte. Diese großen wilden braunschwarzen Spiralen hatten in ihrer düsteren Eintönigkeit etwas Beunruhigendes an sich.

Sie entdeckte Adrians Tod erst kurz vor fünf; bis dahin hatte sie geglaubt, er schlafe einfach besonders lang. Um diese Zeit schaute Patrick sich im Fernsehen >Crusader Rabbü< an, und er blieb während des ganzen folgenden

Aufruhrs vor dem Fernseher sitzen. Der Arzt glaubte, Patrick hätte einen schweren Schock erlitten, und gab ihm eine Tablette, die er willig schluckte.

Als Todesursache wurde Ersticken im Schlaf festgestellt. Jahre später wären vielleicht Fragen aufgetaucht, hätte man vielleicht gewisse Abweichungen vom üblichen Kleinkindertod durch Ersticken bemerkt. Aber 1951 wurde einfach der Tod festgestellt und das Baby begraben. Patrick war heilfroh, daß das Essen wieder pünktlich auf den Tisch kam, nachdem der ganze Rummel erst einmal vorüber war.

An jenem schrecklichen Nachmittag und Abend kam nur Patricks Vater der Wahrheit sehr nahe. Etwa zwanzig Minuten, nachdem die Leiche weggebracht worden war, stand er vor der leeren Wiege und konnte immer noch nicht fassen, was passiert war. Zufällig sah er auf dem Holzboden zwei Fußspuren - die Spuren des geschmolzenen Schnees von Patricks gelben Gummistiefeln. Er starrte sie an, und ein fürchterlicher Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Er preßte sich eine Hand auf den Mund, und seine Augen wurden riesengroß. In seinem Gehirn begann sich ein Bild zu formen. Aber noch bevor es klare Konturen annehmen konnte, schob er es energisch beiseite, verließ das Zimmer und schlug hinter sich die Tür so heftig zu, daß der obere Rahmen zersplitterte.

Er stellte Patrick niemals irgendwelche Fragen.

Patrick hatte so etwas nie wieder getan - einfach weil er nie mehr eine Gelegenheit dazu gehabt hatte. Er hatte keine Schuldgefühle, keine schlechten Träume. Mit der Zeit wurde ihm allerdings bewußt, was passiert wäre, wenn man ihn erwischt hätte. Dabei spielte es keine Rolle, daß eigentlich nur er selbst >real< war; es konnte trotzdem unangenehme Folgen haben, wenn man die Regeln nicht beachtete... oder jedenfalls dann, wenn man sich dabei erwischen ließ. Man konnte eingesperrt werden oder auf dem elektrischen Stuhl landen.

Aber jener Erregungszustand - jenes überwältigende Gefühl von Farbigkeit und Realität - war einfach zu herrlich und zu übermächtig, als daß er ganz darauf verzichten konnte. Patrick tötete Fliegen. Zuerst erledigte er sie nur mit der Fliegenklatsche seiner Mutter; später stellte er fest, daß sein Plastiklineal sich ausgezeichnet dafür eignete. Er liebte es, die toten Fliegen aufzubewahren. Er entdeckte auch die Freuden von Fliegenpapier. Ein solcher langer klebriger Streifen kostete im Fairmount Market nur zwei Cent, und manchmal stand Patrick bis zu zwei Stunden in der Garage und sah zu, wie die Fliegen am Papier klebten und zappelten. Sein Mund war dabei etwas geöffnet, seine normalerweise trüben Augen leuchteten vor Erregung, und Schweiß lief ihm über das runde Gesicht. Er tötete auch Käfer. Manchmal stahl er eine lange Nadel aus dem Nähkasten seiner Mutter, spießte damit einen Käfer auf und beobachtete, wie er starb. Sein Gesichtsausdruck glich bei solchen Gelegenheiten dem eines Jungen, der ein besonders gutes, spannendes Buch liest. Einmal hatte er im Rinnstein der Lower Main Street eine überfahrene Katze entdeckt und sich danebengesetzt, bis eine alte Frau, die ihren Gehweg fegte, gesehen hatte, wie er das sterbende Tier mit den Füßen herumstieß. Die Frau hatte ihm mit ihrem Besen eins übergezogen und geschrien: Mach, daß du hier wegkommst! Bist du denn total verrückt? Patrick war nach Hause gegangen. Er war nicht böse auf die Alte gewesen. Er hatte sich beim Übertreten der Regeln erwischen lassen, das war alles.

Dann, Ende letzten Jahres (es hätte keines der Mitglieder des Klubs der Verlierer sich gewundert, daß es am selben Tag gewesen war, an dem George Denbrough ermordet wurde), hatte Patrick den rostigen Kühlschrank entdeckt, der auf dem Weg zur Müllhalde an der großen Rottanne lehnte.

In der Schule waren die Kinder davor gewarnt worden, in solche ausrangierten Gegenstände zu kriechen - etwa beim Versteckspielen -, weil die Tür zufallen könnte und sie dann ersticken würden. Patrick hatte lange vor dem Kühlschrank gestanden und mit den Münzen in seinen Hosentaschen gespielt. Ihn hatte wieder jene Erregung befallen, so stark, wie er sie seit Adrians Beseitigung nicht mehr verspürt hatte. Denn in den kalten, aber aufgewühlten Untiefen seines Gehirns hatte er plötzlich eine Idee gehabt.

Eine Woche später vermißten die Luces, die drei Häuser von den Hock-stetters entfernt wohnten, ihren Kater Bobby. Die Kinder der Luces suchten stundenlang in der ganzen Nachbarschaft nach ihm und gaben sogar in den >Derry News< von ihrem Taschengeld eine Suchanzeige auf. Es kam nichts dabei heraus. Und selbst wenn eines der Kinder Patrick an jenem Tag mit einem großen Pappkarton unter dem Arm gesehen hätte, so hätten sie darin keinen Zusammenhang mit dem Verschwinden ihres Katers vermutet.

Die Engstroms, deren Hinterhof an den von Hockstetters stieß, vermißten zehn Tage vor Thanksgiving ihren Cockerspanielwelpen. In den nächsten sechs bis acht Monaten verschwanden auch noch bei zahlreichen anderen Familien in der näheren Umgebung Hunde und Katzen, und natürlich hatte Patrick sie alle gefangen und dazu noch fast ein Dutzend aus dem Stadtviertel Hell's Half-Acre.

Er schloß die Tiere jeweils in den rostigen alten Kühlschrank in den Barrens ein. Jedesmal, wenn er wieder eins bei sich hatte und sich erregt der Müllhalde näherte, befürchtete er, daß Hendy Fazio die Klinke des Kühlschranks abmontiert oder mit seinem Schmiedehammer die Scharniere abgeschlagen haben könnte. Aber Hendy rührte den alten Kühlschrank nie an. Vielleicht bemerkte er ihn einfach nicht, vielleicht hielt Patrick ihn durch seine Willenskraft fern... oder es war eine andere Macht mit im Spiel.

Engstroms Cockerspaniel hielt am längsten durch. Trotz der grimmigen Kälte (kurz nach der Überschwemmung war es in jenem Herbst bitterkalt geworden) lebte er auch am dritten Tag noch, obwohl von seiner ursprünglichen Lebhaftigkeit nichts mehr übrig war (als Patrick ihn aus dem Karton geholt und in den Kühlschrank gesteckt hatte, hatte er mit dem Schwanz gewedelt und dem Jungen die Hände geleckt). Als Patrick am ersten Tag, nachdem er den Hund eingesperrt hatte, die Kühlschranktür etwas geöffnet hatte, war ihm der Spaniel entwischt, und er hatte ihn erst kurz vor der Müllhalde an einem Hinterbein packen können. Der Hund hatte mit seinen schürfen Zähnen nach ihm geschnappt, aber Patrick hatte ihn trotzdem zum Kühlschrank getragen und wieder eingeschlossen. Dabei hatte er -was ihm bei solchen Gelegenheiten häufig passierte - einen Steifen bekommen.

Am nächsten Tag hatte der Spaniel wieder versucht zu entkommen, aber seine Bewegungen waren schon zu langsam gewesen. Patrick hatte die Kühlschranktür vor seiner Nase zugeschlagen und sich dagegen gelehnt. Der Hund hatte an der Tür gekratzt und gewinselt. Mit geschlossenen Augen, vor Erregung schnaufend, hatte Patrick gemurmelt: »Braver Hund. Braver Hund.« Am dritten Tag hatte der Spaniel, als Patrick die Tür öffnete, nur noch mit den Augen gerollt und ganz flach geatmet. Und am vierten Tag war er tot dagelegen, mit gefrorenem Schaum vor dem Maul. Der Anblick hatte Patrick an Kokosnußflocken erinnert, und er hatte laut gelacht, während er den gefrorenen Kadaver in die Büsche warf.

In diesem Sommer war seine Ausbeute an Opfern ziemlich mager gewesen. Sein Selbsterhaltungstrieb war gut entwickelt, und er hatte eine ausgezeichnete Intuition. Er spürte, daß er verdächtigt wurde, obgleich er nicht sicher war, von wem. Von Mr. Engstrom? Vielleicht. Mr. Engstrom hatte sich eines Tages im Supermarkt nach ihm umgedreht und ihm einen langen, forschenden Blick zugeworfen. Oder von Mrs. Josephs, die manchmal mit einem Fernglas an ihrem Wohnzimmerfenster saß und von Mrs. Hockstetter als >Klatschbase< bezeichnet wurde? Oder von jemand anderem? Patrick war sich nicht sicher, aber er wußte intuitiv, daß er verdächtigt wurde, und er vertraute dieser Intuition. Er hatte ein paar streunende, mager oder krank aussehende Tiere aus der armseligen Siedlung Half-Acre mitgenommen, aber das war auch schon alles gewesen.

Er mußte jedoch feststellen, daß der Kühlschrank in der Nähe der Müllhalde ihn gewaltig in seinen Bann gezogen hatte. Er begann ihn im Unterricht zu zeichnen, wenn er sich langweilte. Manchmal träumte er nachts davon, und in seinen Träumen war der Kühlschrank etwa 70 Fuß groß, eine schwerfällige Krypta, von kaltem Mondlicht überflutet. In diesen Träumen schwang die riesige Tür auf, und er sah große Augen, die ihn aus dem Innern anstarrten. Er erwachte schweißgebadet aus solchen Träumen, und doch konnte er auf die Genüsse des Kühlschranks einfach nicht mehr verzichten.

An diesem Tag hatte er nun endlich erfahren, warum es ihm schon eine ganze Weile so vorgekommen war, als verdächtige man ihn. Zu wissen, daß Henry Bowers das Geheimnis des Kühlschranks kannte, hatte ihn einer Panik so nahe gebracht, wie ihm das überhaupt möglich war. Das war in Wirklichkeit nicht sehr nahe; aber immerhin fand er das Angstgefühl unangenehm und belastend. Henry wußte Bescheid. Er wußte, daß Patrick manchmal die Regeln übertrat.

Sein letztes Opfer war eine Taube gewesen, die er vor zwei Tagen auf der Jackson Street entdeckt hatte. Die Taube war von einem Auto angefahren worden und konnte nicht mehr fliegen. Er war nach Hause gegangen, hatte seinen Karton aus der Garage geholt und die Taube hineingelegt. Sie hatte ihm die Hand blutig gepickt, aber das hatte ihm nichts ausgemacht. Als er am nächsten Tag den Kühlschrank geöffnet hatte, war die Taube tot gewesen, doch Patrick hatte sie noch nicht weggeworfen. Nach Henrys Drohung, ihn zu verpetzen, beschloß er allerdings, daß es besser war, sie loszuwerden. Vielleicht sollte er auch einen Eimer Wasser und ein paar Lappen holen und den Kühlschrank innen auswaschen. Er roch nicht sehr gut. Wenn Henry es erzählte, und wenn Mr. Nell nachsehen kam, würde er vermutlich feststellen können, daß in dem Kühlschrank jemand gestorben war, und zwar nicht nur ein einziges Lebewesen.

Wenn er mich verpetzt, dachte Patrick, während er auf dem Pfad stand und den rostigen Kühlschrank anstarrte, werde ich verraten, daß er Eddie Kaspbraks Arm gebrochen hat. Vermutlich wußten sie das ohnehin, aber sie konnten ihm nichts beweisen, weil sie alle erklärt hatten, an jenem Tag draußen bei Henry gespielt zu haben, und weil Henrys verrückter Vater ihre Aussage bestätigt hatte. Aber wenn er mich verpetzt, verpetze ich ihn auch. Wie du mir, so ich dir.

Doch jetzt mußte er erst einmal den Vogel loswerden. Er würde die Kühlschranktür offenstehen lassen und dann mit dem Lappen und dem Eimer wiederkommen und gründlich saubermachen.

Patrick öffnete den Kühlschrank - die Tür zu seinem eigenen Tod.

Zuerst war er einfach total verwirrt, unfähig zu glauben, was er da sah. Es sagte ihm überhaupt nichts. Er stand einfach da, den Kopf zur Seite geneigt, und starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Kühlschrank hinein.

Von der Taube war nur noch das nackte Skelett übrig, und zerfetzte Federn lagen herum. Und überall an dem Skelett, an den Innenwänden des Kühlschranks, an der Unterseite des Gefrierfachs hingen Dutzende fleischfarbener Gegenstände, die wie dicke Makkaronistücke aussahen. Patrick bemerkte, daß sie sich leicht bewegten, als würden sie in einer Brise flattern. Aber es war völlig windstill. Er runzelte die Stirn.

Plötzlich breitete eins der Dinger insektenartige Flügel aus, und noch bevor Patrick irgendwie reagieren konnte, ließ es sich mit einem schmatzenden Laut auf seinem linken Arm nieder. Er spürte ein kurzes Brennen, dann fühlte sein Arm sich wie immer an... aber das weißlichgelbe Fleisch des seltsamen Lebewesens färbte sich erst rosa, dann rot.

Obwohl Patrick sich im eigentlichen Sinne kaum vor etwas fürchtete (es ist schwer, sich vor Dingen zu fürchten, die nicht >real< sind), so gab es doch etwas, vor dem ihm furchtbar ekelte. Mit sieben Jahren war er an einem warmen Augusttag aus dem Brewster-See gestiegen und hatte festgestellt, daß sich vier oder fünf Blutegel an seinem Bauch und seinen Beinen festgesaugt hatten. Er hatte sich heiser gebrüllt, während sein Vater sie entfernt hatte.

Und nun begriff er plötzlich, daß dies eine unheimliche fliegende Abart von Blutegeln sein mußte. Sie hatten seinen Kühlschrank heimgesucht.

Patrick begann zu schreien und nach dem Ding auf seinem Arm zu schlagen, das inzwischen fast zur Größe eines Tennisballs aufgequollen war. Beim dritten Schlag platzte es. Blut - sein Blut - spritzte über seinen Unterarm, aber der gallertartige augenlose Kopf steckte noch in seiner Haut. Dieser Kopf endete in einem schnabelartigen Gebilde, nur war es kein flacher, spitzer Vogelschnabel; er war vielmehr rund und abgestumpft wie ein Rüssel. Und dieser Rüssel hatte sich tief in Patricks Arm hineingebohrt.

Schreiend packte er das geplatzte Ding mit den Fingern und zog es mitsamt Rüssel heraus. Es hatte auf völlig schmerzlose Weise ein Loch von der Größe einer Zehncentmünze in seinen Arm gebohrt, aus dem jetzt eine Mischung von Blut und einer gelblichweißen eiterartigen Flüssigkeit sickerte.

Und obwohl dieses unheimliche Ding doch geplatzt war, wand es sich immer noch zwischen seinen Fingern.

Patrick warf es weg, drehte sich um, griff nach der Kühlschranktürklinke... und in diesem Moment flog der ganze Schwärm heraus und fiel über ihn her. Sie landeten auf seinen Händen, seinen Armen, seinem Hals. Eines ließ sich auf seiner Stirn, in der Nähe der rechten Schläfe, nieder. Als Patrick die Hand hob, um es zu erschlagen, sah er, daß an dieser Hand gleich vier der Dinger hingen und sich rosa und dann rot verfärbten.

Es tat nicht weh... aber er spürte ein gräßliches Saugen. Schreiend, herumspringend, mit blutegelübersäten Händen nach den Blutegeln auf Kopf und Nacken schlagend, jammerte Patrick Hockstetters Verstand: Das ist nicht real, es ist nur ein Alptraum, mach dir keine Sorgen, es ist nicht real, nichts ist real...

Doch das Blut, das aus den zerquetschten Egeln herausschoß, wirkte sehr real, das Surren ihrer Flügel wirkte sehr real... und ebenso sein eigenes Entsetzen.

Einer der fliegenden Blutegel fiel in sein Hemd und saugte sich an seiner Brust fest. Während er danach schlug und sah, wie sein Hemd sich an jener Stelle rot färbte, ließ ein anderer sich schon auf seinem Auge nieder. Patrick schloß es rasch, aber das nützte ihm auch nichts; er spürte das kurze Brennen, als der Rüssel sich durch sein Lid bohrte und begann, die Flüssigkeit auszusaugen. Patrick spürte, wie sein Auge in der Höhle in sich zusammenfiel, und er schrie noch lauter. Ein Egel flog ihm in den Mund und saugte sich an seiner Zunge fest.

Das alles war schmerzlos.

Patrick stolperte taumelnd den Pfad zurück, auf die Autowracks zu. Die Parasiten hingen jetzt an seinem ganzen Körper. Manche tranken über ihr Fassungsvermögen hinaus und platzten dann von selbst wie Luftballons. Er spürte, wie der Blutegel in seinem Mund immer mehr aufquoll, und er riß seinen Kiefer weit auf, weil der einzige klare Gedanke, der ihm geblieben war, ihm einsagte, das Ding dürfe nicht da drin platzen.

Aber es platzte doch, und Patrick spuckte eine Blutfontäne aus. Er fiel auf den schmutzigen Kies und wand sich schreiend hin und her. Allmählich drangen seine Schreie aber nur noch schwach an seine Ohren, und er begriff, daß er das Bewußtsein verlor.

Kurz vorher sah er jedoch noch eine Gestalt hinter dem letzten Autowrack hervorkommen. Zuerst dachte Patrick, es wäre ein Mann, vielleicht Hendy Fazio, und er wäre gerettet. Aber als die Gestalt näher kam, sah Patrick, daß das Gesicht wie Wachs ineinanderlief. Manchmal begann es sich zu verfestigen und wie etwas - oder jemand - auszusehen, aber dann zerfloß es wieder, so als könnte Es sich nicht für eine bestimmte Erscheinungsform entscheiden.

»Guten Tag und auf Wiedersehen«, sagte eine blubbernde gräßliche Stimme aus dem Innern des zerfließenden Talggesichts, und Patrick versuchte wieder zu schreien. Er wollte nicht sterben; als einzige >reale< Person durfte er nicht sterben. Wenn er starb, würde mit ihm die ganze Welt sterben.

Die gesichtslose Gestalt packte ihn an den blutegelübersäten Armen und begann ihn auf die Barrens zuzuschleppen.

Patrick verlor das Bewußtsein.

Er kam nur noch einmal zu sich: als in irgendeiner dunklen, stinkenden und tropfenden Höhle, in die kein Lichtstrahl drang, Es ihn anzufressen begann.

6

Beverly war sich nicht sicher, was sie gesehen hatte... oder ob sie überhaupt etwas gesehen hatte. Ein Teil von ihr neigte zu dem Glauben, daß Patrick sie entdeckt hatte, und daß alles weitere nur einer seiner grausamen Spaße gewesen war.

Aber... war nicht etwas aus dem Kühlschrank herausgeflogen und hatte sich auf seinen Arm gesetzt? Vielleicht - doch ganz sicher war sie sich nicht.

Sie stand auf, zog ihre Schleuder aus der Tasche und nahm zwei der Stahlkugeln in die andere Hand. Sie hörte Patrick ein Stück weiter unten auf dem Pfad schreien. Es ist ein Trick Er hat dich gesehen, und weil er weiß, daß er dich auf faire Weise nicht fangen kann, versucht er, dich aus deinem Versteck zu lok-ken. Geh nicht hin, Bevvie!

Aber eine andere innere Stimme sagte ihr, daß aus jenen Schreien zuviel Angst und Entsetzen herauszuhören war. Sie trat aus dem Gebüsch auf den Pfad, mit geschärften Sinnen, bereit loszurennen, sobald sie sah, daß Patrick ihr irgendwo auflauerte. Sie blickte auf den Pfad hinab und riß die Augen weit auf. Da war Blut, eine Menge Blut.

Unechtes Blut, beharrte ihr Verstand. Man kann bei Dahlie's eine Flasche davon für 49 Cent kaufen. Sei vorsichtig, Bevvie!

Sie kniete rasch nieder und berührte das Blut mit den Fingern, rieb sie aneinander, betrachtete sie aufmerksam. Es war echtes Blut, daran konnte gar kein Zweifel bestehen.

Sie spürte ein kurzes Brennen im linken Arm, dicht unterhalb des Ellbogens. Sie schaute hin und sah etwas, das soeben noch nicht dort gewesen war. Im ersten Moment hielt sie es für eine Art Klette. Dann stellte sie fest, daß es lebte, daß es sie biß. Sie schlug mit der rechten Handkante kräftig zu, und es flog weg, wobei einige Blutstropfen auf Bevs Arm fielen. Sie wich etwas zurück und spürte jetzt, nachdem es vorbei war, einen Schrei in ihrer Kehle aufsteigen... und dann sah sie, daß es noch nicht vorbei war. Der Kopf des Lebewesens steckte noch in ihrem Arm, der Rüssel hatte sich tief in ihr Fleisch hineingebohrt.

Mit einem schrillen Schrei zerrte sie angeekelt daran und sah den blutigen Rüssel aus ihrem Arm herauskommen wie einen kleinen Dolch. Jetzt verstand sie das Blut auf dem Pfad, o ja, und ihre Blicke schweiften ängstlich zum Kühlschrank.

Die Tür war wieder zugeschlagen, aber eine ganze Anzahl der Parasiten

kroch schwerfällig auf dem rostigweißen Emaille herum. Einer davon entfaltete seine fliegenartigen Membranflügel und kam surrend auf sie zugeflogen.

Ohne nachzudenken, legte Beverly eine der Stahlkugeln in die Schleuder ein und spannte das Gummiband. Dabei sah sie, daß aus dem Loch, das das Ding in ihren Arm gebohrt hatte, Blut hervorschoß. Sie achtete nicht darauf, zielte auf das fliegende Ding und ließ das Band los.

Ich hab's verfehlt, dachte sie, als die in der Sonne funkelnde kleine Kugel losflog. Und später erzählte sie den anderen, sie habe gewußt, daß sie es verfehlt hatte, so wie ein Kegler einen mißlungenen Wurf erkennt, sobald er die Kugel geworfen hat. Aber dann sah sie, wie die Kugel eine Kurve beschrieb. Im Bruchteil einer Sekunde war alles vorüber, doch der Eindruck war sehr klar, sehr scharf: Die Kugel hatte eine Kurve beschrieben. Sie traf das fliegende Lebewesen, und es zerplatzte in der Luft. Gelbliche Tropfen fielen auf den Pfad.

Zuerst machte Beverly einige taumelnde Schritte rückwärts. Ihre Augen waren riesig, ihre Lippen zitterten, ihr Gesicht war vor Schrecken aschfahl. Sie starrte auf den alten Kühlschrank und wartete, ob noch einer der Parasiten sie wittern würde. Aber die blutegelartigen Dinger krochen nur langsam hin und her, wie Herbstfliegen, die von der Kälte halb betäubt sind.

Schließlich drehte sie sich um und rannte los.

Sie fühlte, daß sie einer Panik nahe war, aber sie kämpfte erfolgreich dagegen an. Sie hielt die Schleuder in der linken Hand und warf von Zeit zu Zeit einen Blick über die Schulter. Der Pfad war immer noch mit Blut besprengt, und auch die Blätter mancher Büsche trugen Blutspuren, so als sei Patrick beim Laufen wie ein Betrunkener von einer Seite auf die andere getorkelt.

Beverly stürzte aus dem Wald heraus, auf das Gelände zu, wo die Autowracks herumstanden. Direkt vor ihr war eine größere Blutlache, die gerade in den Kies einzusickern begann. Der Boden sah aufgewühlt aus, so als hätte hier ein Kampf stattgefunden. Zwei Furchen, etwa zweieinhalb Fuß voneinander entfernt, gingen von dieser Stelle aus.

Beverly blieb keuchend stehen. Sie betrachtete ihren Arm und stellte fest, daß er kaum noch blutete, obwohl ihr ganzer Unterarm und ihre Handfläche mit Blut beschmiert waren. Jetzt hatte der Schmerz eingesetzt, ein leichtes Pochen. Es war ein ähnliches Gefühl wie nach einem Zahnarztbesuch, wenn die Wirkung der Betäubungsspritze allmählich nachließ.

Sie warf wieder einen Blick hinter sich, sah nichts Bedrohliches und betrachtete die Furchen, die von den Autowracks und der Müllhalde weg in die eigentlichen Barrens führten.

Es hat ihn geschnappt. Diese Biester waren im Kühlschrank. Sie müssen sich überall an ihm festgesaugt haben. Ja, so muß es gewesen sein, schau dir doch nur mal das viele Blut an. Er ist bis hierher gekommen, und dann ist etwas anderes passiert. Aber was?

Sie befürchtete, daß sie das nur allzugut wußte. Die Blutegel waren ein Teil von IHM, und sie hatten Patrick in einen anderen Teil von IHM hineingehetzt, so wie ein Ochse in den Schlachthof hineingetrieben wird.

Verschwinde von hier, Bevvie! Mach, daß du hier wegkommst!

Statt dessen folgte sie den Erdfurchen, ihre Schleuder mit der verschwitzten Hand fest umklammernd.

Hol wenigstens die anderen! Das werde ich auch tun... gleich.

Sie ging weiter. Die Spuren führten in dichtes Gebüsch. Irgendwo zirpte eine Grille, dann wurde es wieder ganz still. Moskitos wurden von dem Blut auf ihrem Arm angezogen. Sie verscheuchte sie. Ihre Zähne waren fest zusammengebissen.

Vor ihr lag etwas auf der Erde. Sie hob es auf und betrachtete es. Es war eine Brieftasche, wie Kinder sie manchmal im Werkunterricht anfertigen. Offensichtlich war dieses Kind jedoch nicht sehr geschickt gewesen: Die großen Stiche mit einem Plastikfaden lösten sich auf, und das Fach für Geldscheine klaffte weit auseinander. Im Kleingeldfach fand Bev eine Vierteldollarmünze.

Ansonsten enthielt die Brieftasche nur noch eine Büchereikarte, ausgestellt auf den Namen Patrick Hockstetter. Bev warf die Brieftasche samt Inhalt weg und wischte sich die Finger an ihren Shorts ab.

Etwa fünfzig Fuß weiter fand sie einen Turnschuh. Das Unterholz wurde so dicht, daß sie die Erdfurchen nicht mehr erkennen konnte, aber man brauchte kein Spurenleser zu sein, um den Blutstropfen auf den Büschen folgen zu können.

Die Spur führte jetzt steil bergab, und einmal rutschte Bev aus und riß sich an Dornen einen Oberschenkel blutig. Ihr Atem ging jetzt laut und schnell, und die Haare klebten ihr am Kopf.

Dann führten die Blutspuren auf einen der schmalen Pfade durch die Barrens. Der Kenduskeag war ganz in der Nähe.

Patricks zweiter Turnschuh lag blutgetränkt auf dem Pfad.

Sie näherte sich dem Fluß mit schußbereit gespannter Schleuder. Nun waren auch die Furchen wieder zu sehen - sie waren jetzt flacher als anfangs - bestimmt, weil er seine Turnschuhe verloren hat, dachte sie.

Sie bog um eine letzte Kurve, und vor ihr lag der Fluß. Die Spuren verschwanden an der Uferböschung. Sie trat an die Kante heran und blickte hinab.

Die Furchen endeten bei einem jener Betonzylinder - einer der Pumpstationen.

Der Metalldeckel des Zylinders stand einen Spalt breit auf.

Während sie noch dastand und nach unten starrte, ertönte aus dem Innern des Zylinders ein lautes grauenvolles Lachen.

Das war zuviel für Bev. Die Panik, die sie bisher niedergekämpft hatte, wurde jetzt übermächtig.

Sie drehte sich um und rannte fast blindlings in Richtung des Klubhauses; mit ihrem blutigen linken Arm schützte sie ihr Gesicht vor den peitschenden Zweigen.

Manchmal mache auch ich mir Sorgen, Daddy, dachte sie wild. Manchmal mache ich mir GROSSE Sorgen.

Vier Stunden später kauerten alle Klubmitglieder außer Eddie im Gebüsch, in der Nähe jener Stelle, von wo aus Bev beobachtet hatte, wie Patrick Hockstetter den Kühlschrank öffnete. Am Himmel zogen düstere Gewitterwolken auf, und ein Geruch nach Regen lag wieder in der Luft. Bill hielt das Ende einer langen Wäscheleine in beiden Händen. Die sechs Kinder hatten ihr Geld zusammengelegt und die Leine sowie einen Erste-Hil-fe-Kasten für Beverly gekauft. Bill hatte das blutverkrustete Loch in ihrem Arm behutsam verbunden.

»S-S-S-Sag deinen E-E-Eltern, d-du w-w-wärst beim R-R-R-Rollschuh-laufen gestürzt«, meinte Bill.

»Meine Rollschuhe!« schrie Bev erschrocken. Sie hatte sie total vergessen.

»Sind sie das nicht?« fragte Ben und deutete darauf. Sie lief rasch hin und holte sie, bevor einer der Jungen das tun würde. Sie erinnerte sich jetzt daran, daß sie sie beiseite gelegt hatte, bevor sie urinierte. Und sie wollte nicht, daß einer ihrer Freunde diese Stelle entdeckte.

Sie hatten sich vorsichtig dem Kühlschrank genähert, bereit, beim geringsten Anzeichen einer Bewegung wegzurennen. Bev hatte ihre Schleuder in der Hand gehalten, Mike sein Spielzeuggewehr. Aber nichts hatte sich bewegt. Obwohl der Pfad vor dem Kühlschrank mit Blut bespritzt war, waren die Parasiten verschwunden - vielleicht weggeflogen.

»Man könnte Mr. Borton und Mr. Nell und hundert andere Bullen herbringen, und es würde überhaupt nichts nützen«, hatte Stan bitter gesagt. »Sie würden nichts sehen.«

»Nicht das geringste«, hatte Richie zugestimmt. »Wie geht's deinem Arm, Bev?«

»Er brennt.« Sie hatte von Bill zu Richie und wieder zurück zu Bill geblickt. »Glaubt ihr, daß meine Eltern das Loch sehen könnten, das dieses Ding in meinen Arm gebohrt hat?«

»I-I-Ich g-glaube n-n-n-nicht.« Dann hatte Bill hinzugefügt: »M-M-Macht euch b-bereit zum R-R-Rennen. Ich b-b-b-befestige jetzt d-die L-L-Leine.«

Er hatte ein Ende der Leine um die rostige Chromklinke geschlungen und einen Großmutterknoten gemacht, mit der Vorsicht eines Mannes, der eine Bombe entschärft. Dann war er zurückgetreten, hatte die Wäscheleine ein Stückchen abgerollt und sich mühsam ein Lächeln abgerungen. »Puh!«

Jetzt, in - wie sie hofften - sicherer Entfernung vom Kühlschrank, sagte Bill ihnen wieder, sie sollten sich darauf einstellen, schnell wegrennen zu müssen. Direkt über ihren Köpfen donnerte es, und alle zuckten erschrok-ken zusammen. Die ersten kalten Regentropfen begannen zu fallen.

Bill zerrte mit aller Kraft an der Wäscheleine. Der Knoten löste sich, aber die Kühlschranktür ging von dem Ruck auf. Eine Lawine orangefarbener Pompons fiel heraus, und Stan stöhnte leise auf. Die anderen starrten nur wortlos, mit offenen Mündern.

Es regnete jetzt stärker. Donner krachte, und ein blauroter Blitz zuckte,

während die Kühlschranktür weit aufschwang. Richie sah es als erster und stieß einen hohen schrillen Schrei aus. Bill schrie zornig und zugleich angsterfüllt auf. Die anderen waren still.

Auf der Innenseite der Tür standen, mit noch nicht ganz trockenem Blut geschrieben, folgende Worte:

HÖRT AUF, BEVOR ICH EUCH ALLE UMBRINGE! ELN WEISER RAT VON

EUREM FREUND PENNYWISE!

In den Wolkenbruch mischten sich Hagelkörner. Die Kühlschranktür bewegte sich im aufkommenden heftigen Wind, die Buchstaben begannen zu zerlaufen und sahen aus, als stammten sie von einem Horrorfilmplakat.

Bev bemerkte gar nicht, daß Bill aufgestanden war, bis sie ihn auf den Kühlschrank zugehen sah. Er schüttelte die Fäuste. Wasser lief ihm übers Gesicht, und das Hemd klebte ihm am Rücken.

»W-W-Wir w-werden dich t-t-t-töten!« schrie Bill. Donner krachte. Ein greller Blitz schlug ganz in der Nähe in einen Baum ein.

»Bill, komm zurück!« brüllte Richie. »Komm zurück, Mann!« Er wolle aufspringen, aber Ben hielt ihn am Arm fest.

»D-Dw hast m-m-meinen B-Bruder George erm-m-m-mordet! Du H-H-Huren-sohnl Du B-B-B-Bastard! Du Drecksch-sch-schwein! Zeig dich doch! Z-Z-Z-Zeig dich jetzt!«

Der Hagel prasselte nur so nieder und traf sie trotz der Büsche. Beverly hielt ihren Arm hoch, um ihr Gesicht zu schützen. Sie konnte auf Bens dicken Backen rote Striemen sehen.

»Bill, komm zurück!« schrie sie verzweifelt, aber ihre Stimme wurde von einem heftigen Donnerschlag übertönt, der unter den tiefhängenden schwarzen Wolken über die Barrens hinwegrollte.

»Z-Z-Zeig dich k-k-k-komm heraus v-v-verfluchter Drecksk-k-kerl!«

Bill trat wild nach den Pompons, die aus dem Kühlschrank gerollt waren. Dann drehte er sich um und ging mit gesenktem Kopf auf die anderen zu. Er schien den Hagel überhaupt nicht zu spüren, der jetzt den Boden bedeckte wie Schnee.

Er stolperte wie ein Blinder ins Gebüsch hinein, und Stan mußte ihn am Arm packen, damit er nicht in ein Dornengestrüpp fiel. Beverly sah, daß er weinte.

»Ist schon gut, Bill«, sagte Ben und legte ihm ungeschickt einen Arm um die Schultern.

»Ja«, fiel Richie ein. »Mach dir keine Sorgen. Wir kneifen nicht. Wir lassen dich nicht im Stich.« Seine Augen funkelten wild, als er in die Runde blickte. »Oder will einer von euch kneifen?«

Alle schüttelten die Köpfe.

Bill blickte auf und wischte sich die Augen ab. Sie waren jetzt alle bis auf die Haut durchnäßt. »W-Wißt ihr«, sagte er, »Es h-hat A-A-Angst vor uns. Das sch-sch-spüre ich, ich sch-schwör's bei G-Gott.«

Ben nickte nüchtern. »Ich glaube, du hast recht.«

»H-H-H-Helft mir«, flüsterte Bill. »B-B-Bitte! H-Helft mir!«

»Das werden wir«, sagte Beverly und nahm ihn in die Arme. Sie hatte nicht gedacht, daß sie ihn so leicht umfangen konnte, daß er so mager

war. Sie fühlte, wie sein Herz unter seinem Hemd pochte; es war dem ihrigen ganz nahe. Keine Umarmung war ihr je so süß, so tröstlich vorgekommen.

Richie schlang seine Arme um die beiden und legte seinen Kopf auf Beverlys Schulter. Ben tat das gleiche von der anderen Seite her. Stan legte seine Arme um Richie und Ben. Mike zögerte etwas, dann schlang er einen Arm um Beverlys Taille, den anderen um Bills zitternde Schultern.

So standen sie aneinandergeschmiegt da, und der Hagel ging wieder in einen heftigen Wolkenbruch über. Blitze zuckten, Donner grollte. Niemand sprach.

Beverly hatte die Augen fest geschlossen. Sie standen da, umarmten einander und lauschten dem Regen, der auf die Büsche herniederprasselte. Daran erinnerte Beverly sich am besten: an das Prasseln des Regens, an das gemeinsame Schweigen und an ihr leises Bedauern, daß Eddie nicht bei ihnen sein konnte.

Sie erinnerte sich daran, daß sie sich sehr jung und sehr stark gefühlt hatte.

Achtzehntes Kapitel Die Schleuder 1

»Okay, Haystack«, sagt Richte. »Jetzt bist du an der Reihe. Der Rotschopf hier hat inzwischen auch meine Zigaretten fast aufgeraucht. Und es ist schon spät.«

Ben wirft einen Blick auf die Uhr. Ja, es ist spät; fast Mitternacht. Gerade noch Zeit für eine weitere Geschichte, denkt er. Noch eine Geschichte vor zwölf, um uns bei Laune zu halten. Welche? Aber er weiß genau, daß nur noch eine Geschichte aussteht, zumindest nur eine, an die er sich erinnert, und das ist die Geschichte der silbernen Schleuderkugeln - wie sie am Abend des 23. Juli in Zack Denbroughs Werkstatt gegossen wurden, während Bills Eltern -Zack und Sharon - im Kino waren, und wie diese Kugeln sich am 25. Juli tatsächlich bewährten.

»Ich habe auch eine Narbe«, sagt er. »Wißt ihr noch?«

Beverly und Eddie schütteln die Köpfe; Bill und Richie nicken. Mike sitzt ruhig da, aber seine Augen in dem erschöpften Gesicht sind hellwach.

Ben steht auf, knöpft sein Hemd auf und streift es zur Seite. Eine alte silberweiße Narbe führt von der Mitte seiner Brust zum Bauch. Beverly hält vor Schreck die Hand vor den Mund. »Der Werwolf! In jenem Haus! O Gott! O mein Gott!«

Und sie wirft einen Blick auf die Fenster, so als warte sie darauf den Werwolf draußen in der Dunkelheit lauern und geifern zu sehen.

»Ja«, sagt Mike, während Ben sein Hemd wieder zuknöpft. »Der Werwolf. Damals haben wir Es alle als Werwolf erlebt.«

»W-W-Weil R-Richie Es beim erstenmal als W-Werwolf gesehen hat«, murmelt Bill. »Das w-war doch der G-G-Grund, nicht wahr?«

»Ja«, sagt Mike.

»Wir müssen uns zu der Zeit sehr nahe gewesen sein«, wirft Bev mit leicht verwunderter Stimme ein. »So nahe, daß jeder von uns die Gedanken der anderen lesen konnte.«

»Jedenfalls war Es damals verdammt nahe daran, sich aus deinen Eingeweiden Sockenhalter zu machen, Haystack«, sagt Richie, aber er lächelt nicht dabei. Er schiebt seine alte Brille die Nase hoch, und sein Gesicht wirkt bleich, abgehärmt und gespensterhaft.

»Bill hat dich davor bewahrt«, sagt Eddie abrupt. »Ich meine - gerettet hat uns alle damals Beverly, aber wenn du vorher nicht gewesen wärst, Bill...«

»Ja«, stimmt Ben zu. »Du hast uns zusammengehalten. Ich war in jenem unheimlichen Haus einer Panik nahe.«

Bill deutet auf den leeren Stuhl. »Stan Uris hat mir g-g-geholfen. Und er h-hat dafür b-b-bezahlt. V-Vielleicht ist er letztlich s-sogar dafür gestorben.«

»Sag so was nicht, Bill«, flüstert Ben.

»Aber es sch-sch-stimmt. W-Wir alle sind vermutlich sch-schuld an seinem T-Tod, weil wir weitergemacht haben. Und ich w-w-wäre dann am m-meisten schuld daran, denn ich w-w-wollte, daß wir weitermachen. W-Wegen George.

Vielleicht sogar, weil ich dachte, w-wenn ich Georges M-M-Mörder tötete, müßten m-meine Eltern mich wieder l-l-l-l-l...«

»Lieben?« fragte Beverly sanft.

»Ja. Natürlich. Aber v-v-vielleicht war es doch nicht unsere Sch-Sch-Schuld. Vielleicht l-lag es einfach an Stans innerstem W-W-Wesen.«

»Er konnte damit einfach nicht fertig werden«, sagt Eddie. Er denkt dabei an Mr. Keenes Enthüllungen über seine Asthmamedizin, und wie er trotzdem nicht davon lassen konnte. Er denkt, daß er es vielleicht geschafft hätte, die Überzeugung, krank zu sein abzubauen; was er aber nicht geschafft hatte, was er einfach nicht verkraftet hätte, war, die Gewohnheit des Glaubens abzulegen. Vielleicht hatte ihm aber gerade das letztlich das Leben gerettet.

»Er war großartig«, sagt Ben. »Stan und seine Vögel.« Alle wenden ihre Blicke unwillkürlich dem Stuhl zu, wo Stan von Rechts wegen jetzt hätte sitzen müssen. Ich vermisse ihn, dachte Ben. Mein Gott, wie ich ihn vermisse!

»Erinnerst du dich noch an jenen Tag, Richie, als du Stan aufzogst, daß er Christus umgebracht hätte«, sagt er, »und wie er ganz trocken erwiderte: >Das muß mein Vater gewesen sein

»O ja, ich erinnere mich«, flüstert Richie kaum hörbar. Er zieht sein Taschentuch heraus, nimmt seine Brille ab, wischt sich die Augen ab und setzt seine Brille wieder auf. Er schiebt das Taschentuch in seine Gesäßtasche, und ohne hochzublik-ken, sagt er: »Warum erzählst du's uns nicht einfach, Ben?«

»Es tut weh, nicht wahr?«

»O ja«, sagt Richie mit belegter Stimme. »Natürlkh tut es weh.«

Ben wirft einen Blick in die Runde, dann nickt er. »Also gut. Noch eine Geschichte vor zwölf. Um uns bei Laune zu halten. Es war Bills und Richies gemeinsame Idee, Pistolenkugeln...«

»Nein«, widerspricht Richie. »Es war Bills Idee, und Bill wurde später auch als erster nervös...«

»Ich w-w-war einfach b-besorgt...«

»Na ja, das ist auch nicht weiter wichtig«, sagt Ben. »Jedenfalls verbrachten wir im Juli ganz schön viel Zeit in der Bücherei. Wir versuchten herauszufinden, wie man silberne Pistolenkugeln herstellt. Das nötige Silber hatte ich: vier Silberdollarmünzen, die meinem Vater gehört hatten. Dann wurde Bill nervös, weil er sich vorstellte, in welch katastrophale Lage wir geraten würden, wenn die Geschütze versagten, während irgendein Monster sich auf uns stürzte. Und als wir dann sahen, wie toll Beverly mit Bills Schleuder umgehen konnte, beschlossen wir, aus meinem Silberdollar lieber Schleudergeschosse zu machen. Wir besorgten alles Notwendige, und dann haben wir uns bei Bill getroffen. Eddie, du warst doch auch wieder mit von der Partie...«

»Ja, ich hatte meiner Mutter erzählt, wir würden Monopoly spielen. Mein Arm tat ziemlich weh, und jedesmal, wenn ich hinter mir auf dem Trottoir Schritte hörte, drehte ich mich ängstlich um, weil ich dachte, es wäre Henry Bowers. Das trug nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei.«

Bill grinst. »Und dann standen wir alle nur herum und sahen zu, wie Ben die Munition herstellte. Ich glaube, er hätte tatsächlich auch die Pistolenkugeln zustande gebracht.«

»Oh, dessen bin ich mir nicht so sicher«, widerspricht Ben wider besseres Wissen. Er erinnert sich daran, wie draußen die Abenddämmerung hereinbrach (Mr.

Denbrough hatte versprochen, sie alle heimzufahren, deshalb war die Dunkelheit kein Problem), wie die Grillen im Gras zirpten, wie die ersten Glühwürmchen in der Luft flimmterten. Bill hatte im Eßzimmer das Monopoly-Brett aufgebaut und so hergerichtet, daß es aussah, als wäre das Spiel seit mindestens einer Stunde im Gange.

Er erinnert sich auch an den hellen gelben Lichtschein, der auf Zacks Werkbank fiel. Er erinnert sich an Bills Warnung: »W-W-Wir m-müssen v-v-v-v-

2

vorsichtig sein. Ich w-will h-h-hier keine Unordnung hinterlassen. S-S-Sonst wird mein D-Dad sch-sch...« Nach mehreren Anläufen brachte er schließlich >stinksauer< heraus.

»He!« rief Richie und wischte sich übertrieben an der Wange herum. »Stellst du für deine Speichelduschen wenigstens Handtücher zur Verfügung, Stotter-Bill?«

Bill tat so, als wollte er nach ihm schlagen, und Richie duckte sich und kreischte mit seiner Negermädchen-Stimme.

Ben beachtete ihr Geplänkel kaum. Er verfolgte aufmerksam, wie Bill die nötigen Werkzeuge bereitlegte. Er wünschte sich, eines Tages selbst eine so gut ausgestattete Werkstatt zu besitzen. Hauptsächlich konzentrierte er sich aber auf die bevorstehende Aufgabe. Sie war zwar bei weitem nicht so kompliziert, wie wenn es darum gegangen wäre, Pistolengeschosse herzustellen, aber er wollte trotzdem mit aller Gewissenhaftigkeit vorgehen. Schlampige Arbeit war etwas Unverzeihliches; das wußte er, ohne daß jemand es ihm beigebracht hatte.

Bill hatte darauf bestanden, daß Ben die Schleuderkugeln herstellt, ebenso wie er darauf bestand, daß Beverly die Schleuder benutzen sollte, wenn sie dem Haus an der Neibolt Street einen Besuch abstatten würden. Über diese Dinge war diskutiert worden; aber erst 27 Jahre später, als Ben seine Geschichte erzählte, kam ihm zu Bewußtsein, daß niemand von ihnen auch nur im geringsten daran gezweifelt hatte, daß eine Silberkugel - ob sie nun als Munition für eine Pistole oder eine Schleuder diente - ein Monster zur Strecke bringen konnte - schließlich legten davon unzählige Horrorfilme Zeugnis ab.

»Okay«, sagte Ben. Er knackte mit den Knöcheln, dann schaute er Bill an. »Hast du die Gußformen?«

»Oh!« Bill zuckte zusammen. »H-hier.« Er griff in seine Hosentasche und zog sein Taschentuch heraus. Er legte es auf die Werkbank und entfaltete es. Zwei Stahlbälle kamen zum Vorschein; jedes hatte ein kleines Loch. Es waren Gußformen für Lagerkugeln.

Nachdem beschlossen worden war, Schleudergeschosse statt Pistolenkugeln zu machen, hatten Bill und Richie in der Bücherei nachgeforscht, wie Kugellager hergestellt wurden. »Ihr Jungs seid aber fleißig!« hatte Mrs. Starrett gesagt. »Und das in den Sommerferien.«

»Wir wollen verhindern, daß unser Gehirn einrostet«, hatte Richie erwidert. »Stimmt's, Bill?«

»Sch-sch-stimmt genau.«

Sie hatten herausgefunden, daß die Herstellung von Kugellagern nicht weiter schwierig war, wenn man über die nötigen Gußformen verfügte. Eine vorsichtige Befragung Zack Denbroughs hatte ergeben, daß solche Gußformen in Derry nur bei Kitchner Precision Tool & Die erhältlich waren.

Der Inhaber dieser Maschinenfabrik mit zugehörigem Laden war ein Ur-urgroßneffe der Gebrüder Kitchner, denen auch die Eisenhütte gehört hatte.

Bill und Richie waren mit der gesamten Barschaft hingegangen, die alle Klubmitglieder mit vereinten Kräften aufgebracht hatten - genau 10 Dollar und 59 Cent hatte Bill in der Tasche gehabt. Als er fragte, wieviel eine Zwei-Zoll-Gußf orm kostete, erkundigte sich Carl Kitchner - der aussah wie ein alter Säufer und wie eine alte Pferdedecke roch -, wozu Kinder wie sie so etwas denn benötigten.

Richie ließ Bill reden, denn er wußte aus Erfahrung, daß sie ihre Gußformen dann leichter bekommen würden - Kinder machten sich über Bills Stottern lustig; Erwachsene hingegen reagierten darauf meistens ziemlich verlegen.

Manchmal konnte das sehr hilfreich sein.

Bill war erst in der Mitte der Erklärung angelangt, die er und Richie sich unterwegs ausgedacht hatten - es ging dabei um ein Windmühlenmodell für das wissenschaftliche Projekt des nächsten Schuljahres -, als Kitchner auch schon abwinkte und sagte, daß eine Gußform 50 Cent koste.

Vor Freude über den niedrigen Preis ganz fassungslos, schob Bill Mr. Kitchner einen Dollarschein hin.

»Ihr werdet wohl nicht erwarten, daß ich euch eine Tüte dafür gebe«, sagte Carl Kitchner und betrachtete sie mit der Herablassung eines Mannes, der alles schon kennt, was die Welt zu bieten hat. »Tüten gibt's erst ab einer Kaufsumme von 5 Dollar.«

»Es g-g-geht g-gut auch s-so, S-S-Sir«, sagte Bill.

»Und lungert mir ja nicht draußen vor dem Laden herum«, sagte Kitchner.

»Ihr müßtet beide mal dringend zum Friseur.«

»I-I-Ist dir auch sch-sch-schon aufgefallen, R-R-Richie«, sagte Bill draußen, »daß Erwachsene einem abgesehen v-von S-S-Süßigkeiten oder Comics oder K-K-Kinokarten n-nichts verkaufen, ohne erst zu f-f-fragen, wozu man es h-haben will?«

»Ja.«

»W-Warum? Warum ist d-das nur so?«

»Weil sie uns für gefährlich halten.«

»Ja? G-G-Glaubst du?«

»Ja«, sagte Richie und kicherte. »Sollen wir nicht hier draußen herumlungern? Wir könnten unsere Kragen hochstellen und Leute verspotten und unsere Haare noch länger wachsen lassen.«

»Blödhammel!« rief Bill. »K-K-Komm, m-machen wir lieber ein W-W-Wettrennen bis vorne zur Ecke.«

Bill besiegte Richie mit Leichtigkeit.

»Okay«, sagte Ben, nachdem er die Gußformen genau betrachtet und auf die Werkbank gelegt hatte. »Gut. Und jetzt...«

Die anderen traten etwas zur Seite, damit er mehr Platz hatte, und sahen ihn hoffnungsvoll an, so wie ein Mann, der keine Ahnung von Autos hat, einen Mechaniker anschaut, der sich das eigenartige Klopfen des Motors anhört. Ben achtete nicht auf ihre Gesichter. Er konzentrierte sich völlig auf seine Arbeit.

»Gebt mir mal die Hülse und die Lötlampe«, sagte er.

Bill reichte ihm eine Granatwerferhülse. Es handelte sich um ein Kriegssouvenir, das Zack gefunden und aufgehoben hatte, fünf Tage, nachdem er mit General Pattons Armee den Fluß überquert und in Deutschland einmarschiert war. Als Bill ein kleiner Junge gewesen war - George hatte noch in den Windeln gelegen -, hatte sein Vater die Hülse als Aschenbecher benutzt. Später hatte Zack dann das Rauchen aufgegeben, und die Hülse war verschwunden. Zufällig hatte Bill sie vor einer Woche hinten in der Garage entdeckt.

Ben schraubte die Hülse in Zacks Schraubstock ein, dann nahm er die Lötlampe zur Hand, die Beverly ihm hinhielt. Er griff in seine Tasche, holte einen Silberdollar heraus und legte ihn in den behelfsmäßigen Schmelztiegel.

»Dein Vater hat dir diese Silbermünzen geschenkt, nicht wahr?« fragte Beverly.

»Ja«, antwortete Ben. »Aber ich erinnere mich kaum noch an ihn.«

»Bist du sicher, daß du das tun willst?«

»Ganz sicher.« Er lächelte ihr zu.

Sie erwiderte sein Lächeln. Das war für Ben Belohnung genug, und für ein zweites Lächeln von ihr hätte er mit Freuden soviel Silberkugeln hergestellt, daß sie für eine ganze Kompanie Werwölfe ausgereicht hätten. Hastig wandte er seinen Blick wieder von ihr ab. »Okay. Jetzt geht's los. Kein Problem. Die Sache ist kinderleicht, stimmt's?«

Die anderen nickten zögernd.

Als Ben Jahre später in der Bücherei seine Geschichte erzählte, dachte er: Heutzutage könnte ein Kind mit Leichtigkeit überall eine Propan-Lötlampe kaufen... oder sein Vater hätte eine in der Werkstatt.

Aber im Jahre 1958 hatte es so etwas noch nicht gegeben; Zack Den-broughs Lötlampe arbeitete mit Benzin, und das machte Beverly nervös. Ben spürte es deutlich, wollte sie beruhigen, hatte aber Angst, daß seine Stimme dabei zittern könnte.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte er deshalb zu Stan, der neben Bev stand.

»Häh?« machte Stan und warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, wiederholte Ben.

»Tu' ich doch gar nicht!«

»Na, nichts für ungut. Ich wollte dich nur beruhigen, die Sache ist völlig ungefährlich. Für den Fall, daß du dir doch Sorgen gemacht hättest, meine ich.«

»Ist mit dir alles in Ordnung, Ben?«

»In bester Ordnung«, murmelte Ben. »Gib mir die Streichhölzer, Richie.«

Richie reichte ihm ein Streichholzheftchen. Ben drehte am Ventil des Benzintanks und hielt ein brennendes Streichholz an die Düse der Lötlampe. Dann regulierte er die Flamme, bis sie blauweiß war, und begann den Boden der Granatwerferhülse zu erhitzen.

»Hast du den Trichter?« fragte er Bill.

»Hier.« Bill zeigte ihm den Trichter, den Ben vor einigen Tagen selbst angefertigt hatte. Er paßte genau in das kleine Loch der Gußformen, obwohl Ben nur nach Augenmaß gearbeitet hatte. Bill war darüber völlig verblüfft gewesen, hatte aber nichts gesagt, weil Ben verlegen wurde, wenn man ihn lobte.

Nun, da er von seiner Beschäftigung völlig in Anspruch genommen war, brachte Ben es fertig, mit Beverly zu reden - ganz trocken und sachlich, wie ein Chirurg, der einer Krankenschwester Anweisungen gibt.

»Bev, du hast die ruhigste Hand. Steck den Trichter ins Loch. Zieh einen Handschuh an, damit du dich nicht verbrennst, wenn du ihn festhältst.«

Bill gab ihr einen Arbeitshandschuh seines Vaters. Beverly schob den kleinen Trichter in die Gußform. Alle schwiegen. Das Zischen der Lötlampe kam ihnen sehr laut vor. Sie kniffen die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und blickten auf die Flamme.

»W-W-Warte«, rief Bill plötzlich und rannte ins Haus. Gleich darauf kam er mit einer billigen Sonnenbrille zurück, die seit über einem Jahr unbenutzt in einer Küchenschublade herumgelegen hatte. »S-S-Setz sie 1-lieber auf, H-H-Hay Stack.«

Ben befolgte grinsend seinen Rat.

Wenige Minuten später übergab er die Lötlampe Eddie, der sie behutsam mit der gesunden Hand festhielt. »Das Silber ist geschmolzen«, sagte Ben zu Bill. »Gib mir den anderen Handschuh. Schnell! Schnell!«

Bill gab ihn ihm. Ben zog ihn an, hielt die Hülse mit der behandschuhten Hand fest und drehte mit der anderen am Schraubstock.

»Nicht wackeln, Bev!«

»Keine Sorge, ich bin bereit«, erwiderte sie.

Ben neigte die Hülse vorsichtig über den Trichter. Die anderen beobachteten fasziniert den dünnen Strahl geschmolzenen Silbers. Ben verschüttete keinen einzigen Tropfen. Und einen Augenblick lang fühlte er sich wie elektrisiert. Er war nicht mehr der fette Ben Hanscom, der Sweatshirts trug, um seinen dicken Bauch und seine Brust zu verbergen; er war Thor, der in der Schmiede der Götter Donner und Blitz erzeugte.

Dann verging dieses Gefühl wieder.

»Okay«, sagte er. »Ich muß das Silber noch einmal erhitzen. Steckt mal einen Nagel oder so was Ähnliches in das Trichterröhrchen, bevor das Zeug hart wird.«

Stan tat es rasch.

Ben schraubte die Hülse wieder fest und nahm Eddie die Lötlampe ab.

»Okay«, sagte er. »Und jetzt Nummer zwei.«

Er machte sich erneut an die Arbeit.

Zehn Minuten später war er fertig.

»Und was jetzt?« fragte Mike.

»Jetzt spielen wir eine Stunde Monopoly«, antwortete Ben. »Das Silber muß erst mal in den Formen abkühlen und hart werden. Dann öffne ich sie mit einem Meißel entlang der Schnittlinien, und das war's dann schon.«

Richie warf einen besorgten Blick auf seine Timex, die schon viele Prügeleien heil überstanden hatte, obwohl das Glas gesprungen war. »Wann kommen deine Leute zurück, Bill?«

»N-N-Nicht vor z-zehn oder h-h-halb elf«, sagte Bill. »Es ist eine D-D-Doppelvorstellung im A-A-A-A...«

»Aladdin«, sprang Stan hilfreich ein.

»Ja. Und h-h-hinterher essen sie m-meistens noch 'ne P-P-P-Pizza.«

»Wir haben also genügend Zeit«, stellte Ben fest.

Bill nickte.

»Kommt, gehen wir rein«, sagte Bev. »Ich möchte bei mir daheim anrufen. Das hab' ich versprochen. Und seid bitte alle mucksmäuschenstill. Mein Vater glaubt, ich wäre im Jugendzentrum und würde von dort nach Hause gefahren werden.«

»Und was ist, wenn er auf die Idee kommt, dich selbst abzuholen?« fragte Mike.

»Dann bekomme ich jede Menge Ärger.«

Ich würde dich beschützen, Beverly, dachte Ben. Vor seinem geistigen Auge rollte ein kurzer Wachtraum ab, der so herrlich endete, daß ihn ein süßer Schauder überlief. Bevs Vater begann ihr das Leben schwerzumachen, sie anzuschnauzen, abzukanzeln und dergleichen (nicht einmal in seinem Wachtraum wäre Ben auf die Idee gekommen, daß AI Marsh eine sehr lok-kere Hand hatte und seine Tochter oft schlug). Ben stellte sich schützend vor sie und erklärte Marsh, er solle sie in Ruhe lassen.

Wenn du Ärger willst, Fettkloß, brauchst du nur weiterhin meine Tochter in Schutz zu nehmen.

Hanscom, für gewöhnlich ein stiller Bücherwurm, kann zum wilden Tiger werden, wenn man ihn reizt. Ganz gelassen sagt er zu AI Marsh: Wenn Sie ihr etwas zuleide tun wollen, dann nur über meine Leiche.

Marsh macht einen Schritt vorwärts... sieht den stählernen Glanz in Hanscoms Augen und bleibt stehen.

Das wird dir noch leid tun, murmelt er, aber ganz offenkundig ist ihm die Lust zum Kämpfen gründlich vergangen. Er ist eben doch nur ein Papiertiger.

Das bezweifle ich, sagt Hanscom mit einem knappen Gary-Cooper-Lä-cheln, und Beverlys Vater schleicht von dannen.

Was war nur los mit dir, Ben? ruft Bev, aber ihre Augen strahlen und funkeln wie Sterne. Du hast ausgesehen, als wolltest du ihn umbringen!

Ihn umbringen? sagt Hanscom, und jenes leichte Gary-Cooper-Lächeln spielt immer noch um seine Lippen. Keineswegs, Baby. Er mag zwar ein Dreckskerl sein, aber immerhin ist er dein Vater. Vielleicht hätte ich ihn ein biß-

chen verdroschen, aber nur, weil mir das Blut zu Kopf steigt, wenn jemand dich dumm anredet, weißt du?

Sie wirft ihre Arme um seinen Hals und küßt ihn (auf den Mund! auf den mund! Ich liebe dich, Ben! schluchzt sie. Er spürt, wie ihre kleinen Brüste sich fest an seine Brust pressen und...

Er schüttelte dieses herrliche Fantasiegespinst mühsam ab, als Richie ihn von der Türschwelle aus fragte, ob er nun endlich käme. Er stellte fest, daß er allein in der Werkstatt war.

»Ja«, antwortete er. »Klar.«

»Du wirst allmählich senil, Haystack«, sagte Richie, als Ben über die Schwelle trat, aber er klopfte ihm dabei auf die Schulter. Ben grinste und schlang kurz einen Arm um Richies Nacken.

5

Es gab keine Probleme mit Bevs Vater. Er war erst spät von der Arbeit nach Hause gekommen, war vor dem Fernseher eingeschlafen, kurz aufgewacht and sofort zu Bett gegangen, erzählte Bevs Mutter ihr am Telefon.

»Fährt dich jemand nach Hause, Bevvie?«

»Ja, Mom. Bill Denbroughs Vater - er nimmt gleich mehrere von uns

mit.

Mrs. Marsh hörte sich ziemlich besorgt an. »Du hast doch nicht etwa ein

Rendezvous, oder?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Bev und schaute vom halbdunklen Flur, wo das Telefon stand, ins Eßzimmer der Denbroughs, wo die anderen sich gerade ans Monopoly-Brett setzten. Aber ich wünschte, ich hätte eins, Ma. »Sie haben hier so 'ne Liste aushängen, und jeden Abend fährt ein anderer Vater oder eine Mutter die Kinder nach Hause.« Zumindest das entsprach der Wahrheit. Der Rest war eine so freche Lüge, daß sie fühlte, wie sie im Dunkeln errötete.

»Okay«, sagte ihre Mutter. »Ich wollte nur ganz sicher sein. Du weiß ja, wenn dein Vater je erfahren würde, daß du in deinem Alter ein Rendezvous mit einem Jungen hast, würde er außer sich sein.« Dann fügte sie rasch hinzu: »Und ich natürlich auch.«

»Ja, ich weiß«, sagte Bev und blickte immer noch zu den anderen hinüber. Sie war nicht nur mit einem Jungen zusammen, sondern gleich mit sechs; und es waren keine Erwachsenen im Haus. Ben schaute besorgt zu ihr herüber, und sie lächelte ihm zu und winkte mit dem rechten Zeigefinger. Er errötete heftig und erwiderte ihren Gruß. »Das weiß ich, Ma.«

»Sind auch irgendwelche von deinen Freundinnen da, Bevvie?«

Welche Freundinnen?

»Patty O'Hara ist da. Und Ellie Geiger. Sie spielt unten Billard, glaube ich.« Die Lügen kamen ihr so leicht über die Lippen, daß sie sich schämte. Sie wünschte, ihr Vater wäre am Telefon; dann hätte sie zwar viel mehr Angst, aber sie würde sich weniger schämen.

»Ich liebe dich, Mommy«, sagte sie.

»Ich dich auch, Bevvie«, sagte ihre Mutter und fuhr nach kurzem Schweigen fort: »Sei vorsichtig. In den Zeitungen steht was von einem weiteren Vermißten. Einem Jungen namens Patrick Hockstetter. Er ist verschwunden. Hast du ihn gekannt, Bev?«

Sie schloß kurz die Augen. »Nein, Mom.«

»Na ja... also dann, Wiedersehn.«

»Wiedersehn.«

Sie setzte sich zu den anderen, und sie spielten eine Stunde lang Monopoly. Stan war der große Gewinner.

»Juden sind eben gut im Geldverdienen«, erklärte Stan, während er ein weiteres Hotel auf die Atlantic Avenue und zwei weitere grüne Häuser auf die Ventnor Avenue stellte. »Das weiß doch jeder.«

»Dann mach mich zu 'nem Juden!« rief Ben prompt, und alle lachten. Ben war fast pleite.

Beverly warf von Zeit zu Zeit über den Tisch hinweg verstohlene Blicke auf Bill und registrierte genau seine sauberen Hände, seine blauen Augen, seine feinen roten Haare. Während er den kleinen Silberschuh, der ihm als Spielstein diente, über das Brett bewegte, dachte sie: Wenn er meine Hand hielte, würde ich vor Glück sterben, glaube ich. Es war ihr, als strahlte in ihrer Brust ein warmes Licht, und sie legte kurz die Hand auf ihren Sweater, so als könnten die anderen sonst dieses Licht sehen.

6

Es ging fast ernüchternd schnell. Ben nahm einen von Zacks Meißeln vom Regal, setzte ihn an den Schnittlinien der Gußformen an und schlug mit einem Hammer auf den Meißel. Die Formen ließen sich leicht öffnen. Zwei kleine Silberkugeln fielen heraus. Alle Klubmitglieder starrten wortlos darauf; dann nahm Stan eine davon in die Hand.

»Ziemlich klein«, meinte er.

»Das war auch der Stein in Davids Schleuder, als er damit gegen Goliath antrat«, widersprach Mike. »Ich finde, sie sehen sehr wirkungsvoll aus.«

Ben nickte. Er war derselben Meinung.

»S-S-Sind wir f-fertig?« fragte Bill ungläubig.

»Ja«, sagte Ben. »Hier.« Er warf die zweite Kugel Bill zu, der sie vor Überraschung um ein Haar nicht aufgefangen hätte.

Die Kugeln machten die Runde und wurden von allen ehrfürchtig bestaunt. Als sie wieder zu Ben zurückkamen, blickte er Bill an. »Und was machen wir jetzt damit?«

»G-G-Gib sie B-Beverly.«

»Nein!«

Er sah sie freundlich, aber zugleich auch streng an. »B-Bev, wir h-h-ha-ben das doch sch-schon zur G-G-Genüge diskutiert und...«

»Ich tu's ja auch«, entgegnete sie. »Ich werde mit diesen verdammten Dingern schießen, wenn's soweit ist. Falls es überhaupt dazu kommen sollte. Ich werde schießen - obwohl ich höchstwahrscheinlich danebenschießen werde und das unser Tod sein wird. Aber ich will sie nicht mit nach Hause nehmen. Meine Eltern könnten sie finden, und dann komm' ich in Teufels Küche.«

»Hast du denn kein Geheimversteck?« fragte Richie. »Das ist ja direkt kriminell - ich hab' vier oder fünf.«

»Ich hab' eins«, sagte Beverly. Der Bettkasten unter ihrer Matratze hatte einen schmalen Spalt, und dort versteckte sie manchmal Zigaretten, Comics und - in letzter Zeit - Film- und Modezeitschriften. »Aber es ist nicht so hundertprozentig sicher, daß ich so was wie die Kugeln reintun könnte. Bewahr du sie lieber auf, Bill, bis es soweit ist.«

»Okay«, sagte Bill, und in diesem Augenblick erhellten Autoscheinwerfer die Auffahrt.

»V-V-Verdammt, s-sie sind heute f-f-früh dran. Machen w-wir, daß wir h-h-hier rauskommen.«

Sie hatten sich gerade wieder an den Tisch gesetzt, als Sharon Denbrough die Küchentür öffnete.

Richie rollte mit den Augen und tat so, als müßte er sich Schweiß von der Stirn wischen. Die anderen lachten herzhaft.

Gleich darauf trat Bills Mutter ins Zimmer. »Dein Vater wartet im Auto auf deine Freunde, Bill.«

»O-O-Okay, M-Mom«, sagte Bill. »W-Wir waren s-s-sowieso gerade f-f-f-fertig.«

»Wer hat gewonnen?« fragte Sharon und lächelte Bills Freunden zu. Das Mädchen ist sehr hübsch, dachte sie. Vermutlich würde man in zwei-drei Jahren die Kinder im Auge behalten müssen, wenn auch dann Mädchen mit von der Partie sein würden. Aber mit zehn waren sie bestimmt noch zu jung, um an Sex auch nur zu denken.

»S-S-Stan hat g-g-gewonnen«, sagte Bill. Mit ernster Miene, aber einem verschmitzten Funkeln in den blauen Augen fügte er hinzu: »}-J-Juden s-sind eben gut im G-G-G-Geldverdienen.«

»Bill!« schrie sie entsetzt und errötete... und dann schaute sie ganz verdutzt drein, weil sie alle schallend lachten. Ihre Verwunderung verwandelte sich in eine Art Angst (obwohl sie davon ihrem Mann später im Bett nichts erzählte). Irgend etwas lag in der Luft wie statische Elektrizität, nur irgendwie mächtiger, viel beunruhigender. Wenn sie eins der Kinder jetzt berühren würde, sogar ihren eigenen Sohn, dann würde sie einen kräftigen Schlag bekommen, glaubte sie.

Was ist nur mit ihnen geschehen? dachte sie erschrocken und öffnete sogar schon den Mund, um sie danach zu fragen. Doch dann sagte Bill, es täte ihm leid (aber immer noch mit diesem teuflischen Funkeln in den Augen), und Stan meinte, es sei alles in Ordnung, es sei nur ein Scherz, mit dem sie ihn ab und zu neckten; und sie war viel zu verwirrt, um noch etwas zu sagen.

Aber sie war erleichtert, als die Kinder gegangen waren, und als auch ihr eigener komplizierter, stotternder Sohn in seinem Zimmer das Licht ausgeschaltet hatte.

Es war der 25. Juli 1958, an dem der Klub der Verlierer Es schließlich zu einem Nahkampf herausforderte, an dem Es sich aus Bens Eingeweiden fast Sockenhalter hätte machen können. Es war ein heißer, brütend schwüler Tag. Ben erinnerte sich noch genau an das Wetter, weil es der letzte Tag der Hitzewelle gewesen war. Danach war es lange regnerisch und kühl.

Sie kamen um zehn Uhr morgens in der Neibolt Street Nr. 29 an, Richie wieder einmal auf Silvers Gepäckträger, Ben auf seinem Raleigh, über dessen geplagten Sattel sein Hintern auf beiden Seiten weit herausragte. Beverly kam auf ihrem Mädchenrad Marke Schwinn; ihre roten Haare wurden mit einem grünen Band aus der Stirn gehalten und fielen ihr offen über Schultern und Rücken. Dann traf Mike ein, und etwa fünf Minuten später auch Stan und Eddie, die wegen Eddies gebrochenem Arm zu Fuß gegangen waren.

»W-W-Wie geht's d-deinem Arm, E-E-Eddie?«

Eddie nickte Bill zu. »Ganz gut. Es tut nur morgens ein bißchen weh, wenn ich mich nachts im Schlaf auf diese Seite gelegt habe. Hast du das Zeug mitgebracht?«

In Silvers Drahtkorb lag ein in Segeltuch eingepacktes Bündel. Bill nahm es heraus und wickelte es aus. Er überreichte die Schleuder Beverly, die sie mit einer kleinen Grimasse, aber widerspruchslos entgegennahm. Das Bündel enthielt auch eine Blechdose. Bill öffnete sie und zeigte ihnen die beiden Silberkugeln, und alle betrachteten sie sie schweigend. Sie standen dicht beieinander auf dem unkrautüberwucherten Rasen des Hauses Nr. 29. Bill, Richie und Eddie waren schon hier gewesen; die anderen aber noch nicht, und sie schauten sich neugierig um.

Die Fenster sehen wie Augen aus, dachte Stan und berührte das Taschenbuch in seiner Gesäßtasche, als wäre es ein Glücksbringer. Er trug das Buch fast immer mit sich herum - es war M. K. Handeys >Guide to North American Birds<. Sie sehen wie schmutzige blinde Augen aus.

Hier stinkt's, dachte Beverly. Ich kann es riechen - aber nicht mit meiner Nase.

Mike dachte: Es ist so wie damals, als ich auf dem Gelände der Eisenhütte war. Es ist die gleiche Atmosphäre... als fordere das Haus uns auf einzutreten.

Dies ist also einer seiner Plätze, dachte Ben. Einer jener Orte, aus denen Es auftaucht. Und Es weiß, daß wir hier draußen sind, und Es wartet nur darauf daß wir hineingehen.

»W-W-W-Wollt ihr immer n-noch alle m-m-m-mitkommen?« fragte Bill.

Sie sahen ihn bleich und ernst an. Niemand verneinte. Eddie holte seinen Aspirator aus der Tasche und inhalierte tief.

»Gib mir mal dieses Ding«, sagte Richie.

Eddie sah ihn erstaunt an und wartete auf die Pointe.

Richie streckte die Hand aus. »Ich will dich nicht veräppeln. Kann ich ihn mal haben?«

Eddie zuckte mit der Schulter seines unverletzten Armes und gab ihm den Aspirator. Richie inhalierte tief. »Ich hab' das gebraucht«, sagte er und gab ihn Eddie zurück. Er hustete ein bißchen, wirkte jetzt aber ruhiger.

»Ich auch«, sagte Stan. »Okay?«

Nacheinander benutzten alle Eddies Aspirator; dann schob er ihn in seine Tasche. Sie betrachteten wieder das Haus.

»Wohnt irgend jemand in dieser Straße?« fragte Beverly leise. Unwillkürlich hatten alle die Stimmen gesenkt.

»An diesem Ende nicht«, sagte Mike. »Heute nicht mehr. Aber ich nehme an, daß manchmal Landstreicher da sind. Vagabunden, die hier von den Güterzügen abspringen.«

»Die würden sowieso nichts sehen«, sagte Stan. »Ihnen dürfte hier nichts passieren. Jedenfalls den meisten.« Er sah Bill an. »Was glaubst du, Bill -können überhaupt irgendwelche Erwachsene Es sehen?«

»Ich w-w-weiß n-nicht«, antwortete Bill. »Ein p-p-paar m-muß es w-wohl geben.«

»Ich wünschte, wir würden einem von ihnen begegnen«, sagte Richie mürrisch. »Dies hier ist wirklich keine Aufgabe für Kinder, wenn ihr versteht, was ich meine. Es müßte ein Erwachsener hier sein.«

Bill wußte genau, was er meinte. Jedesmal, wenn die Hardy-Jungs in Schwierigkeiten gerieten, war ihr Vater, Fenton Hardy, zur Stelle, um ihnen beizustehen. Und ebenso Rick Brants Vater in den >Rick Brant Science Adventures<. Scheiße, sogar Nancy Drew hatte einen Vater, der in letzter Minute auftauchte, wenn die Bösewichter sie gefesselt und in einen Minenschacht geworfen hatten oder dergleichen.

»Ein Erwachsener müßte hier sein«, wiederholte Richie seufzend, während er das verschlossene Haus mit dem abbröckelnden Verputz, den schmutzigen Fenstern und der schattigen Veranda betrachtete. Ben spürte, daß ihrer aller Entschlossenheit für einen Moment ins Wanken geriet.

Dann sagte Bill: »K-K-Kommt mal h-her und sch-sch-schaut euch d-das an.«

Sie gingen zur linken Seite der Veranda, wo das Schutzgitter abgerissen war. Die verwilderten Rosen waren noch da... und jene, die der Aussätzige/Werwolf/Clown berührt hatte, als er rausgeklettert war, waren immer noch schwarz und verdorrt.

»Es hat sie nur berührt, und das ist passiert?« fragte Bev erschrocken.

Bill nickte. »S-S-Seid ihr euch immer n-noch ganz s-s-sicher?«

Einen Moment lang schwiegen alle. Sie waren sich nicht sicher; obwohl sie an Bills Gesicht ablesen konnten, daß er sein Vorhaben nicht aufgeben, daß er auch ohne sie dieses Haus betreten würde, waren sie sich nicht sicher. Neben der Entschlossenheit stand in Bills Gesicht auch so etwas wie Schuldbewußtsein geschrieben. Wie er ihnen schon früher einmal gesagt hatte - George war nicht ihr Bruder gewesen.

Aber all die anderen Kinder, dachte Ben. Betty Ripsom, Cheryl Lamonica, der Clements-Junge, Eddie Corcoran (vielleicht), Ronnie Grogan... ja, sogar Patrick Hockstetter. Es tötet Kinder, verdammt noch mal, Kinder!

»Ich komme mit, Big Bill«, sagte er.

»Ich auch«, sagte Bev.

»Na klar«, sagte Richie. »Glaubst du, wir überlassen den ganzen Spaß dir allein?«

Bill sah sie an, schluckte und nickte dann. Er reichte Beverly die Blechdose.

»Bist du sicher, Bill?«

»G-G-Ganz sicher.«

Sie nickte, und trotz ihrer Angst vor der Verantwortung fühlte sie sich durch sein Vertrauen geschmeichelt. Sie schob eine der beiden Kugeln in die rechte Vordertasche ihrer Jeans. Die andere legte sie in die Gummimulde für die Munition ein; dann schloß sie ihre Faust fest um die Gummischlaufe und entschied sich, die Schleuder so zu tragen.

»Gehen wir«, sagte sie mit einer leicht schwankenden Stimme. »Los, gehen wir, bevor ich Feigling doch noch kneife.«

Bill nickte, dann sah er Eddie forschend an. »Sch-Sch-Schaffst du's, Eddie?«

Eddie nickte. »Na klar. Letztes Mal war ich allein. Diesmal sind meine Freunde bei mir. Stimmt's?« Er schaute in die Runde und lächelte ein wenig.

Richie klopfte ihm auf den Rücken. »Stimmt genau, Senhor. Wenn jemand versuchen sollte, deinen Aspirator zu stehlen, bringen wir ihn um. Aber wir bringen ihn hübsch langsam um.«

»Das hört sich ja schrecklich an, Richie«, kicherte Bev.

»Z-Zuerst unter die V-Veranda«, sagte Bill. »Ihr b-b-bleibt alle h-hinter mir. Dann in den K-K-K-Keller.«

»Und was soll ich tun, wenn du vorangehst und ein Monster dich anspringt?« fragte Beverly. »Durch dich hindurchschießen?«

»W-W-Wenn's gar nicht anders g-g-geht«, sagte Bill. »Aber ich w-würde vorschlagen, d-daß du zuerst v-v-versuchst, an mir vorbei zu schießen.«

Richie wieherte vor Lachen.

»W-W-Wir werden d-durchs ganze H-H-Haus gehen, wenn's sein m-muß.« Er zuckte die Achseln. »V-V-Vielleicht wird gar n-nichts p-p-passie-ren.«

»Hältst du das für möglich?« fragte Mike.

»N-Nein«, gab Bill zu. Es ist h-h-hier.«

Ben glaubte, daß er recht hatte. Das Haus Nr. 29 in der Neibolt Street schien in einer Art giftigem Umschlag zu stecken. Er war nicht zu sehen... aber zu spüren. Ben fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»S-S-Seid ihr b-bereit?« fragte Bill.

Alle erwiderten seinen Blick. »Bereit, Bill«, sagte Richie.

»Dann k-k-kommt!« sagte Bill. »Bleib dicht hinter mir, Beverly.« Er ließ sich auf die Knie nieder und kroch unter die Veranda.

8

Die anderen folgten Bill: als erste Bev, dann Ben, Eddie, Richie, Stan und Mike. Die Blätter unter der Veranda knisterten und verbreiteten einen säuerlichen alten Gestank. Ben rümpfte die Nase uund dachte, daß er an welkem Laub noch nie einen solchen Geruch wahrgenommen hatte... und dann fiel ihm plötzlich eine beängstigende Assoziation ein: sie rochen so, wie er sich vorstellte, daß eine Mumie direkt nach der Öffnung des Sarges riechen würde.

Bill hatte inzwischen das zerbrochene Kellerfenster erreicht und blickte in den Keller hinunter. Sein Finger lag jetzt auf dem Abzug der Pistole.

Ben kroch neben ihn: »Siehst du was?«

Bill schüttelte den Kopf. »A-A-Aber das h-hat n-n-n-nichts zu s-s-sagen. Sch-Schau mal; da ist der K-K-Kohlehaufen, der R-Richie und mir erm-m-m-möglicht hat zu f-f-fliehen.«

Auch Ben, der zwischen ihnen hindurchschaute, sah ihn, und langsam überkam ihn trotz seiner Angst ein Gefühl der Erregung. Er begrüßte das, weil er wußte, daß diese Erregung eine Waffe sein konnte. Den Kohlehaufen zu sehen, war so ähnlich wie endlich ein berühmtes Wahrzeichen mit eigenen Augen zu sehen, von dem man bisher nur gelesen oder von anderen gehört hatte.

Bill drehte sich um und glitt gelenkig durchs Fenster. Beverly drückte Ben die Schleuder in die Hand, wobei sie darauf achtete, daß seine Finger sich fest um die Mulde mit der Kugel schlössen. »Gib sie mir, sobald ich unten bin«, sagte sie. »In derselben Sekunde*.«

»Verstanden.«

Sie ließ sich ebenso gelenkig wie Bill hinabgleiten. Dabei rutschte ihre Bluse aus den Jeans heraus, und einen atemberaubenden Augenblick lang konnte Ben ihren flachen weißen Bauch sehen. Gleich darauf reichte er ihr die Schleuder, und bei der Begrüßung ihrer Hände überlief ihn ein süßer Schauder.

»Okay, ich hab' sie. Komm runter«, sagte Bev.

Ben drehte sich um und begann sich durchs Fenster zu zwängen. Einen schrecklichen demütigenden Moment lang war er ganz sicher, daß er stek-kenbleiben würde - sein Gesäß hing im Fensterrahmen fest, und er kam einfach nicht weiter. Und erschrocken erkannte er, daß er zwar wieder herauskommen könnte, daß er sich dabei aber vermutlich die Hose zerreißen würde - und die Unterhose vielleicht auch noch. Und Beverly sah ihm zu!

»Beeil dich!« zischte Eddie.

Ben stemmte sich mit aller Kraft nach hinten, und endlich ging sein Gesäß durchs Fenster. Sein Hemd rutschte aus der Hose bis zu den Achseln hoch, die Bluejeans preßten seine Hoden schmerzhaft ein. Seine Beine baumelten nach unten, aber dafür saß er jetzt mit dem Bauch fest.

»Zieh ihn ein, Haystack«, kicherte Richie hysterisch. »Zieh ihn lieber ein, sonst müssen wir noch 'nen Kran organisieren, um dich wieder rauszuholen.«

»Piep-piep, Richie«, keuchte Ben mit zusammengebissenen Zähnen. Er zog seinen Bauch ein, bis er fast erstickte. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie riesig sein blöder Bauch war. Er versuchte sich zu bewegen, kam aber nicht weiter.

Er mußte gegen eine panische Klaustrophobie ankämpfen. Sein Gesicht war hochrot und schweißüberströmt. Der säuerliche Geruch der Blätter stieg ihm in die Nase, daß ihm fast übel wurde. Er drehte den Kopf, soweit er konnte, und rief: »Kannst du mal ziehen, Bill?«

Er spürte, wie Bill und Beverly ihn an den Knöcheln packten, und wieder zog er seinen Bauch ein. Im nächsten Moment rutschte er nach unten.

Bill fing ihn auf, wobei sie beide fast hinfielen. Ben traute sich nicht, Beverly anzusehen. Er war noch nie im Leben so verlegen gewesen.

»A-Alles okay, M-M-Mann?« fragte Bill.

»Ja.« Sie schauten einander an, und dann lachte Bill etwas zittrig. Bev stimmte in sein Lachen ein, und mühsam brachte nun auch Ben ein Lachen zustande, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war.

»He!« rief Richie. »Eddie braucht Hilfe, okay?«

»O-Okay«, sagte Bill.

Ben und er nahmen Aufstellung unter dem Fenster. Eddie rutschte auf dem Rücken ein Stück hinein. Bill packte seine Beine oberhalb der Knie.

»Paß auf«, rief Eddie nervös. »Ich bin kitzlig.«

Ben legte seine Hände um Eddies Taille, und gemeinsam hievten er und Bill den schmächtigen Jungen wie eine Leiche nach unten, wobei er einmal vor Schmerz aufschrie, weil sein gebrochener Arm irgendwo angestoßen war.

»Alles o-o-okay?« fragte Bill auch ihn.

»Ja«, sagte Eddie tapfer, aber auf seiner Stirn standen große Schweißperlen, und sein Atem ging sehr schnell. Er schaute sich nervös im Keller um.

Bill trat etwas zurück. Beverly stellte sich neben ihn, die Schleuder schußbereit am Griff und an der Gummimulde haltend, während Richie, Stan und Mike sich ohne jede Hilfestellung geschickt herunterließen, worum Ben sie glühend beneidete.

Dann schauten sich alle im Keller um, wo Bill und Richie Es vor einem Monat gesehen hatten.

Durch die Fenster fiel mattes Licht ein, das helle Flecken auf den schmutzigen Boden zauberte. Ben kam der Keller sehr groß vor, viel zu groß, so als müsse irgendeine optische Täuschung vorliegen. Unter der Decke eine Menge staubiger Rohre.

Die dicken Heizungsrohre waren rostig, und von den Wasserrohren hingen schmutzige weiße Stoffetzen herab. Auch hier unten stank es, ähnlich wie unter der Veranda, nur noch stärker. Ein übler Geruch, dachte Ben. Ein irgendwie bösartiger Geruch. Es ist hier, o ja.

Bill ging auf die Treppe zu, und die anderen folgten ihm. Er spähte unter die Stufen und angelte mit dem Fuß etwas hervor. Sie starrten es wortlos an. Es war ein großer weißer Clownhandschuh, verstaubt und schmutzig.

»G-G-Gehen wir r-rauf«, sagte Bill.

In der alten Reihenfolge stiegen sie die Treppe hinauf und kamen in eine schmutzige Küche. Ein einfacher Stuhl mit gerader Lehne stand einsam mitten auf dem welligen, rissigen Linoleum. In einer Ecke lagen leere, teilweise zerschlagene Flaschen. Weitere konnte Ben in der Speisekammer sehen. Es stank nach Fusel und abgestandenem Zigarettenrauch. Diese Gerüche herrschten vor, aber auch jener andere Geruch war da. Er wurde sogar immer stärker.

Beverly ging zu den Küchenschränken und öffnete einen davon. Sie schrie laut auf, als eine schwarzbraune Ratte heraussprang, ihr fast ins Gesicht. Die Ratte schlug auf dem Boden auf. Immer noch schreiend, hob Beverly die Schleuder und spannte sie.

»nein!« schrie Bill.

Sie drehte sich mit bleichem, entsetztem Gesicht nach ihm um. Dann nickte sie und ließ die Arme wieder sinken. Sie wich langsam zurück, stieß gegen Ben und zuckte erschrocken zusammen. Er legte fest den Arm um sie.

Die Ratte schaute sich mit ihren schwarzen Augen um, rannte in die Speisekammer und war verschwunden.

»Es wollte, daß ich auf die Ratte schieße«, murmelte Beverly mit schwacher Stimme. »Daß ich die Hälfte unserer Munition verbrauche. Ich schaff das nicht, Bill. Ich werde alles vermasseln. Hier. Nimm du sie lieber.« Sie streckte ihm die Schleuder hin, aber Bill schüttelte den Kopf.

»Du m-m-mußt, B-Beverly.«

Aus einem anderen Schrank war Piepsen zu hören.

Richie ging darauf zu.

»Geh nicht zu nahe ran!« schrie Stan. »Es könnte...«

Richie warf einen Blick hinein, und ein Ausdruck tiefsten Ekels überzog sein Gesicht. Er schlug die Tür so heftig zu, daß es im ganzen Hause gespenstisch widerhallte.

»Ein Wurf Junge«, berichtete Richie mit gepreßter Stimme. »Der größte Wurf, den ich je sah... den überhaupt jemand je sah.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Mein Gott, da drin sind Hunderte davon.« Er sah sie mit zuckendem Mundwinkel an. »Ihre Schwänze... sie waren alle ineinander verknotet. Zusammengeknotet.« Er schnitt eine Grimasse. »Wie Schlangen. Sich windende Schlangen.«

»O Gott, das ist ja schrecklich«, flüsterte Beverly.

Sie starrten alle auf die Schranktür. Das Piepsen war jetzt leiser, aber immer noch deutlich zu hören. Ratten, dachte Ben, als er Bills weißes Gesicht und dahinter Mikes aschgraues sah. Jeder hat Angst vor Ratten. Und das weiß Es.

»K-Kommt«, sagte Bill.

Sie gingen den Flur entlang. Hier stank es nach Feuchtigkeit, Schimmel und Urin. Sie konnten durch die schmutzigen bleiverglasten Fenster die Neibolt Street und ihre abgestellten Räder sehen. Ben hatte den Eindruck, als seien die Räder tausend Meilen weit entfernt, als schaue er durch das falsche Ende eines Fernglases. Die menschenleere Straße mit den großen Löchern im Asphalt, der bleiche Himmel, das stetige Ding-ding-ding einer Lokomotive auf einem Nebengleis... das alles kam ihm wie ein Traum vor, wie eine Halluzination. Real war nur noch dieser schmutzige Flur mit seinem Gestank und seinen dunklen Ecken.

Bill stieß eine Tür auf der linken Seite auf, und sie folgten ihm in einen feuchten gruftartigen Raum, der vielleicht früher einmal das Wohnzimmer gewesen war. Eine zerknitterte grüne Hose hing an den Stromkabeln, die aus der Decke ragten. Wie der Keller, so kam auch dieser Raum Ben viel zu groß vor; fast so lang wie ein Güterwagen. Viel zu lang für ein Haus, das von draußen so klein ausgesehen hatte...

Oh, aber das war draußen, sagte ihm eine innere Stimme. Es war eine spaßige, quiekende Stimme, und Ben wußte plötzlich mit niederschmetternder Gewißheit, daß er die Stimme von Pennywise höchstpersönlich hörte; Pennywise hatte zu ihm eine Art geistigen Funkkontakt. Von draußen sieht alles immer viel kleiner aus als in Wirklichkeit, nicht wahr, Ben?

»Geh weg!« flüsterte er.

Richie drehte sich nach ihm um, immer noch bleich und verstört. »Hast du etwas gesagt, Ben?«

Ben schüttelte den Kopf. Die Stimme war weg. Das war wichtig und gut. Aber

(von draußen)

er hatte verstanden. Dieses Haus war ein besonderer Ort, eine Art Station - es war einer jener Plätze in Derry, vielleicht einer von sehr vielen, wo seine Welt sich mit der ihrigen kreuzte; einer der Plätze, wo Es sich einen Weg in die Welt des Lichtes zu bahnen vermochte. Dieses stinkende, verkommene Haus. Und es war... irgendwie war es überhaupt kein gewöhnliches Haus. Es war so, als stimme

(sieht alles immer viel kleiner aus als in Wirklichkeit)

hier irgendwie nichts. Nicht nur, daß das Haus viel zu groß war: Die Winkel stimmten nicht, die Perspektiven widersprachen jeder Vernunft. Er war dicht bei der Türschwelle des Wohnzimmers stehengeblieben, und die anderen entfernten sich von ihm, und der Abstand zu ihnen kam ihm jetzt fast so groß vor wie der ganze Memorial Park... aber während sie sich von ihm entfernten, schienen sie immer größer statt kleiner zu werden. Der Fußboden schien sich zu neigen, und...

Mike drehte sich um. »Ben!« rief er angstvoll. »Komm! Wir verlieren dich sonst noch!« Ben konnte die letzten Worte kaum verstehen; sie verwehten, als würden die anderen von einem Schnellzug davongetragen.

Erschrocken rannte er los. Hinter ihm schlug die Tür zu. Er schrie... und dicht hinter ihm schien etwas durch die Luft zu sausen. Er drehte sich um, aber nichts war zu sehen. Trotzdem war er überzeugt davon, daß etwas ihn fast gepackt hatte.

Er rannte quer durch den Raum und holte schließlich die anderen ein. Er keuchte und war völlig außer Atem. Er hätte schwören können, mindestens eine halbe Meile gerannt zu sein, vielleicht auch mehr; aber als er zurückblickte, war die Tür nicht einmal zehn Fuß entfernt.

Mike packte ihn so fest an der Schulter, daß es weh tat.

»Du hast mir einen Mordsschreck eingejagt«, sagte er mit schwankender Stimme. Richie, Stan und Eddie schauten ihn fragend an. »Er sah ganz klein aus«, erklärte Mike. »So als wäre er eine Meile entfernt.«

»Bill!« rief Ben eindringlich.

Bill, der gerade die geschlossene Tür am anderen Ende des Wohnzimmers betrachtet hatte, drehte sich um.

»Wir müssen dicht beieinanderbleiben«, keuchte Ben. »Dieses Haus... hier stimmt nichts. Es ist wie ein Spiegelkabinett beim Jahrmarkt oder wie ein Labyrinth oder was weiß ich. Jedenfalls ist es kein normales Haus. Wir werden einander verlieren, wenn wir nicht aufpassen. Und ich glaube... ich glaube, Es will, daß wir voneinander getrennt werden.«

Bill sah ihn einen Augenblick lang mit blassem Gesicht und schmalen Lippen an. »In Ordnung«, sagte er. »Alle d-d-dicht b-b-beisammenb-b-b-bleiben! K-Keine Alleing-g-gänge!«

Alle nickten ängstlich und scharten sich um die geschlossene Tür. Stan tastete nach dem Vogelbuch in seiner Gesäßtasche. Eddie hielt den Aspirator in einer Hand, preßte ihn zusammen, lockerte seinen Griff und preßte ihn wieder zusammen, wie ein 98 Pfund wiegender Schwächling, der versucht, seine Muskeln mit einem Tennisball zu trainieren.

Bill öffnete die Tür. Sie betraten einen viel schmaleren Gang. Die Tapete, auf der Rosenranken und Elfen mit grünen Käppchen zu sehen waren, lösten sich in großen schmutzigen Streifen vom schimmligen Verputz ab. Gelbe Wasserflecken verunstalteten die Decke. Trübes Licht fiel durch ein schmutzverkrustetes Fenster am Ende des Ganges ein.

Plötzlich schien der Gang sich auszudehnen. Die Decke hob sich und stieg in die Höhe wie eine unheimliche Rakete. Die Türen wuchsen mit der Decke, wurden gestreckt wie ein Rahmbonbon. Die Gesichter der Elfen wurden lang und schmal und verzerrten sich. Ihre Augen waren jetzt blutende schwarze Löcher.

Stan schrie auf und schlug sich die Hände vors Gesicht.

»Es ist n-n-nicht r-r-r-r-REAi.!« schrie Bill.

»Doch!« schrie Stan zurück. Er hatte sich die weißen geballten Fäuste in die Augen gebohrt. »Es ist real, das weißt du selbst, o Gott, ich werde verrückt, das ist verrückt...«

»S-S-SEHT h-her!« brüllte Bill nicht nur Stan, sondern sie alle an, und Ben, dem ganz schwindlig war, beobachtete, wie Bill sich hinabbeugte, alle Muskeln anspannte und dann nach oben schnellte. Seine geballte linke Faust schien ins Leere zu stoßen... aber ein lautes Wwumml ertönte. Verputz rieselte herab, obwohl doch keine Decke mehr da war... und dann war sie plötzlich wieder an der ursprünglichen Stelle. Der Gang war wieder nichts weiter als ein schmaler, niedriger, schmutziger stinkender Gang. Bill stand mit flammenden Augen da und saugte an seiner blutenden Faust, die weiß vom Verputz war. Sie hatte in der Decke einen deutlich sichtbaren Abdruck hinterlassen.

»N-N-Nicht r-r-r-r-real«, sagte er, an Stan und alle anderen gewandt. »N-Nur ein T-T-Trugbild. S-So was wie eine H-H-Halloween-Maske.«

»Für dich vielleicht«, murmelte Stan tonlos, mit schreckensbleichem Gesicht. Er schaute um sich, als wüßte er nicht mehr genau, wo er war. Bens Freude über Bills Sieg verflog schlagartig, als er sah, in welchem Zustand Stan war, als er den Angstschweiß roch, der Stan aus allen Poren drang. Stan war einem Nervenzusammenbruch nahe. Bald würde er hysterisch werden, vielleicht einen Schreikrampf bekommen - und was würde dann mit ihnen allen geschehen?

»Für dich«, wiederholte Stan. »Aber wenn ich das gleiche versucht hätte, wäre die Wirkung gleich Null gewesen. Denn... du hast deinen Bruder, Bill, aber ich habe nichts.« Er blickte zurück ins Wohnzimmer, das jetzt in dunkelbraunen Rauch oder Nebel gehüllt zu sein schien, der so dicht war, daß die Tür, durch die sie es betreten hatten, kaum noch zu erkennen war; dann betrachtete er den schmutzigen Gang, in dem sie standen, und der trotz des einfallenden Lichts düster und unheimlich wirkte. Auf der schimmligen Tapete tanzten die Elfen unter Rosenranken herum. Durch die schmutzigen Scheiben am Ende des Ganges fiel etwas Sonne ein, und Ben wußte, wenn sie dorthin gingen, würden sie tote Fliegen sehen... vielleicht weitere Flaschenscherben... und was dann? Würde sich unter ihren

Füßen der Boden auftun und sie verschlingen, würden sie in eine tödliche Finsternis stürzen, wo gierige Finger nach ihnen greifen würden? Stan hatte völlig recht. O Gott, warum waren sie nur in seine Behausung gekommen, mit nichts weiter als zwei albernen Silberkugeln und einer Schleuder?

Ben sah, wie Stans Panik alle ansteckte, wie sie sich ausbreitete wie ein Grasfeuer bei starkem Wind; sie ließ Eddies Augen fast aus den Höhlen treten; sie riß Bevs Mund zu einem lautlosen Schrei auf; sie ließ Richie seine Brille mit beiden Händen hochschieben und um sich starren, als säße ihm der Teufel im Nacken.

Sie waren jetzt nahe daran, die Flucht zu ergreifen; Bills Warnung, unbedingt zusammenzubleiben, hatten sie fast vergessen. Sie lauschten nur noch den stürmischen Winden der Panik, die ihnen um die Ohren heulten. Und wie im Traum hörte Ben Miß Davis, die junge Bibliothekarin, den kleinen Kindern vorlesen: Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke? Und er sah sie, die Kleinen, wie sie sich gespannt vorbeugten, mit gesammelten, ernsten Gesichtern, wie ihre Augen die ewige Faszination des Märchens widerspiegelten: Wird das Ungeheuer besiegt werden... oder wird Es die Guten auffressen?

»Ich habe nichtsl« schrie Stan, und er sah sehr klein aus, fast klein genug, um durch einen der Risse im Holzboden zu verschwinden. »Du hast deinen Bruder; ich aber habe gar nichts.'.«

»D-D-Doch«! schrie Bill zurück. Er packte Stan, und Ben glaubte einen Moment lang, er wollte ihm eine Ohrfeige geben, und er stöhnte in Gedanken: Nein, Bill, bitte, das ist Henrys Methode, wenn du das tust, wird Es uns alle auf der Stelle umbringen...

Aber Bill schlug Stan nicht. Er drehte ihn nur grob herum und riß das dicke Taschenbuch aus der Gesäßtasche von Stans Jeans.

»Gib es her!« schrie Stan und brach in Tränen aus. Die anderen wichen etwas vor Bill zurück, dessen Augen jetzt Blitze schleuderten. Seine Stirn glühte, und er hielt Stan das Buch hin wie ein Priester das Kreuz.

»Du h-h-h-hast d-d-deine V-V-V-Vö-Vö-Vö...«

Er hob den Kopf; seine Halsmuskeln traten hervor wie dicke Taue; sein Adamsapfel bewegte sich krampfhaft auf und ab. Ben hatte Mitleid mit seinem Freund Bill Denbrough, er hatte Angst um ihn; aber gleichzeitig fühlte er sich wunderbar erleichtert. Hatte er an Bill gezweifelt? Und die anderen?

O Bill, sag's, bitte, kannst du es nicht sagen?

Und irgendwie brachte Bill es fertig. »Deine V-V-V-VöGEL!« brüllte er so laut, daß das ganze Haus zu erbeben schien. »Deine V-V-VöGEi! Du hast deine VÖGEL!«

Er warf Stan das Buch zu. Stan fing es auf und sah Bill stumm an. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er umklammerte das Buch so fest, daß seine Finger weiß wurden. Bill sah erst ihn, dann die anderen ernst an.

»K-K-Kommt«, sagte er.

»Werden die Vögel mir beistehen?« fragte Stan mit leiser heiserer Stimme.

»Im Wasserturm haben sie dir doch auch geholfen, oder?« erwiderte Beverly ernst.

Stan sah sie unsicher an.

Richie klopfte ihm auf die Schulter. »Komm, Stan«, sagte er. »Bist du ein Mann oder eine Maus?«

»Ich muß wohl ein Mann sein«, antwortete Stan und wischte sich mit der linken Hand die Tränen vom Gesicht. »Soviel ich weiß, scheißen sich Mäuse nicht in die Hosen.«

Darüber mußten alle lachen, und Ben hätte schwören können, daß er spürte, wie das Haus vor ihnen - vor diesem gemeinsamen Lachen - zurückwich.

Es war Mike, der als erster zu lachen aufhörte und rief: »Das große Zimmer, durch das wir vorhin gegangen sind. Seht doch nur!«

Alle schauten hin. Das Wohnzimmer war jetzt fast schwarz. Es war kein Rauch, kein Nebel, kein Gas; es war einfach Schwärze, eine fast kompakte Schwärze. Die Luft war ihres Lichts beraubt worden. Diese Schwärze schien sich vor ihren Augen zu bewegen, schien so etwas wie Gesichter anzunehmen.

»K-K-Kommt!« wiederholte Bill.

Sie ließen die Schwärze hinter sich und liefen den Gang entlang. Drei Türen gingen von ihm ab, zwei mit schmutzigen weißen Porzellanknöpfen, die dritte mit einem Loch an der Stelle, wo einmal der Knopf gewesen war. Bill drehte am ersten Knopf und stieß die Tür auf. Bev stand mit gespannter Schleuder neben ihm.

Ben wich zurück und bemerkte, daß die anderen das gleiche taten; alle drängten sich hinter Bill zusammen wie eine verängstigte Hühnerschar. Es war ein Schlafzimmer, leer bis auf eine alte, fleckige Matratze. Vor dem einzigen Fenster waren Sonnenblumen zu sehen.

»H-Hier ist n-n-nichts...«, begann Bill, und plötzlich wölbte sich die Matratze und riß in der Mitte von oben bis unten auf; eine schwarze dicke Flüssigkeit schoß hervor, färbte sie schwarz und floß dann langsam über den Boden, auf die Türschwelle zu.

»Zumachen, Bill« schrie Richie.

Bill schlug die Tür zu, blickte in die Runde und nickte. »Kommt.« Er hatte den Knopf der zweiten Tür - auf der anderen Seite des schmalen Ganges -kaum berührt, als hinter dem dünnen Holz ein lautes Summen anhob.

9

Sogar Bill wich vor diesem anschwellenden unmenschlichen Laut zurück. Ben wurde vor Angst fast wahnsinnig; hinter der Tür mußte eine riesige Grille sitzen - er hatte Filme gesehen, wo alle Insekten durch Strahlung riesengroß wurden, Filme wie >The Beginning of the End< oder >The Black Scor-pion< oder >Them!< Er war wie gelähmt und wußte, daß er sich nicht einmal dann von der Stelle rühren könnte, wenn die Tür von diesem summenden, zirpenden Schreckenswesen zersplittert würde und die langen haarigen Beine nach ihm greifen würden. Er nahm verschwommen wahr, daß Eddie neben ihm keuchend und röchelnd nach Atem rang.

Der Schrei wurde noch höher und schriller, ohne den insektenartigen Charakter zu verlieren. Bill wich einen weiteren Schritt zurück, mit blutlee-

rem Gesicht und schreckensweit aufgerissenen Augen, die Lippen fest zusammengepreßt.

»Schieß!« hörte Ben sich schreien. »Schieß durch die Tür, Beverly, erschieß es, bevor es uns erwischt!«

Bev hob die Schleuder wie im Traum, während der summende Schrei immer noch lauter und lauter und lauter wurde.

Aber noch bevor sie das Gummi spannen konnte, schrie Mike Hanion: »Nein! Nein! Nicht, Bev! Nicht schießen!«

Es kam den anderen völlig unglaublich vor - aber Mike lachte. Er trat vor, packte den Türknopf, drehte ihn und stieß die Tür auf. »Es ist nur ein Vogelschreck!« Mike lachte hysterisch. »Nur ein Vogelschreck, weiter nichts! Man verscheucht damit Krähen!«

Das Zimmer war quadratisch und völlig leer. Auf dem Boden lag eine Konservendose, deren Deckel und Boden fehlten. Rechts und links war etwa auf halber Höhe je ein Loch in die Dose gebohrt, und durch diese Löcher war eine sehr straff gespannte eingewachste Schnur gezogen und auf den Außenseiten verknotet worden. Obwohl es im Zimmer völlig windstill war - das einzige Fenster war geschlossen und nachlässig mit Brettern vernagelt, so daß nur schmale Lichtstreifen einfielen -, kam das schreckliche Summen ohne jeden Zweifel von dieser Dose.

Mike ging hin und versetzte ihr einen kräftigen Fußtritt. Das Summen hörte abrupt auf, als die Dose in die Ecke rollte.

»Nur ein Vogelschreck«, erklärte er den anderen fast entschuldigend. »Wir hängen sie an die Vogelscheuchen. Nichts weiter als ein ganz billiger Trick.« Er sah Bill an. »Es hat wirklich Angst vor uns, ebenso wie wir vor ihm. Ich glaube sogar Es hat mächtig Angst.«

Bill nickte. »Das g-g-glaube ich auch«, sagte er.

Sie gingen zur Tür am Ende des Ganges, und während Ben beobachtete, wie Bill seinen Finger durch das Loch schob, wo einmal der Türknopf gewesen war, erkannte er, daß sie am Ziel angelangt waren; hinter dieser Tür würde sie nicht nur ein billiger Trick erwarten. Der Gestank war jetzt noch stärker, und er spürte sehr intensiv die Anwesenheit zweier widerstreitender Mächte. Er warf einen Blick auf Eddie mit dem Arm in der Schlinge und dem Aspirator in der anderen Hand. Er sah Bev neben sich und dachte: Wenn wir die Flucht ergreifen müssen, werde ich versuchen, dich zu beschützen, Beverly, das schwöre ich.

Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, wandte sie sich ihm zu und lächelte mühsam. Ben erwiderte ihr Lächeln.

Bill zog die quietschende Tür auf. Es war ein Badezimmer... aber etwas stimmte nicht damit. Jemand hat hier etwas zerbrochen, das war im ersten Moment alles, was Ben erkennen konnte. Keine Bierflaschen... aber was?

Weiße schimmernde Scherben und Splitter lagen überall herum. Dann sah Ben es und begriff. Es war in gewisser Weise die Krönung des ganzen Wahnsinns. Er lachte, und Richie stimmte ein.

»Jemand muß hier den Großvater alle Fürze gelassen haben!« sagte Richie, und Mike begann zu kichern und zustimmend zu nicken. Stan lächelte ein wenig; Eddies Mundwinkel zuckten. Nur Bill und Beverly blieben ernst.

Die Kloschüssel war explodiert, und die weißen Splitter auf dem Boden waren aus Porzellan. Der Wasserkasten stand in einer Pfütze auf einer Kante und war nur deshalb nicht umgefallen, weil die Toilette in einer Ecke des Raums installiert gewesen und der Wasserkasten gegen eine der Wände gefallen war.

Sie scharten sich hinter Bill und Beverly zusammen; unter ihren Füßen knirschten die Porzellanscherben. Ben konnte sich nur vorstellen, daß jemand zwei oder drei Dynamitstäbe in die Kloschüssel geworfen, den Dek-kel zugeschlagen und dann schnell das Weite gesucht hatte. Was für eine andere Erklärung könnte es für diese phänomenale Wucht der Zerstörung geben? Ein paar große Porzellanstücke gab es zwar, aber verdammt wenige; die meisten waren nur gefährlich aussehende Splitter, wie Blasrohrgeschosse. Die Tapete (Rosenranken und Elfen wie im Gang) war mit Löchern übersät. Es sah wie ein Schrotflintenmuster aus, aber Ben wußte, daß es Porzellansplitter waren, die durch die Wucht der Explosion tief in die Wände eingedrungen waren.

Eine Wanne mit schmierigen Füßen stand im Bad. Ben warf einen Blick hinein und sah auf dem Boden eine dünne Schlammschicht. Es gab auch eine rostige Dusche über der Wanne. Daneben war ein Waschbecken, über dem ein offenstehendes leeres Arzneimittelschränkchen hing. Kleine Rostringe zeigten, wo früher einmal die Medizinfläschchen gestanden hatten.

»Ich würde nicht zu nahe rangehen, Bill!« rief Richie scharf, und Ben drehte sich um.

Bill hatte sich dem Abflußloch im Boden genähert, über dem einst die Kloschüssel montiert gewesen war. Er beugte sich etwas vor... dann wandte er sich wieder den anderen zu.

»Ich k-k-k-kann die P-P-Pumpe hören... w-wie in den B-B-Barrens.«

Bev trat zu ihm. Ben folgte ihr, und nun konnte auch er es hören - ein stetiges dumpfes Summen. Nur hörte es sich jetzt, wie es so in den Rohren widerhallte, überhaupt nicht nach einer Maschine an. Es klang irgenwie lebendig.

»H-H-Hier ist Es h-hergekommen«, sagte Bill zu Richie. Sein Gesicht war immer noch leichenblaß, aber seine Augen glühten vor Erregung. »V-V-Von h-hier ist Es an jenem T-T-Tag gek-kommen, und h-h-hier k-kommt Es immer her! Aus den Abflußr-r-rohren!«

Richie nickte. »Wir waren unten im Keller, aber Es kam von hier oben. Denn hier konnte Es hinausgelangen.«

»Und Es hat das alles angerichtet?« fragte Beverly und betrachtete die Scherben.

»Es war w-w-wohl s-sehr in Eile«, sagte Bill ernst.

Ben spähte ins Rohr hinab. Es hatte einen Durchmesser von etwa drei Fuß und war dunkel wie ein Minenschacht. Die innere Keramikoberfläche des Rohrs war dick verkrustet - womit, daran wollte Ben lieber nicht denken. Jenes Summen drang hypnotisch an seine Ohren... und plötzlich sah er etwas. Er sah es zuerst nicht mit seinen physischen Augen, sondern nur mit dem geistigen Auge.

Es kam mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu, füllte dieses dunkle Rohr ganz aus; Es hatte jetzt SEINE eigene Gestalt, was immer das auch sein mochte; erst wenn Es hier war, würde Es irgendeine Gestalt annehmen, die den tiefsten Ängsten der

Kinder entsprang. Es kam, Es stieg empor aus SEINEN tiefen Tunneln, die irgendwie mit dem Kanalisationssystem von Derry in Verbindung standen. Es stieg empor aus SEINEN eigenen verruchten Wegen und schwarzen Katakomben unter der Erde; SEINE gelblichgrünen Augen glühten wild; Es kam näher und näher; Es KAM.

Und dann sah Ben seine Augen dort unten in der Finsternis. Zuerst waren es nur Funken; dann wurden sie deutlich sichtbar - glühende bösartige Augen. Durch das Summen des Pumpwerks konnte Ben jetzt ein neues Geräusch hören - Huuuuuuu-huuuuuuu... Ein betäubender Gestank schlug ihm plötzlich aus dem Rohr entgegen, und er wich hustend und würgend zurück.

»Es kommt!« schrie er. »Bill, ich habe Es gesehen! Es kommt!«

Beverly hob die Schleuder. »Gut. Ich bin bereit«, sagte sie.

etwas kam aus dem Abflußrohr hervorgeschossen. Als Ben später versuchte, sich diesen allerersten Moment noch einmal zu vergegenwärtigen, konnte er sich nur an einen weißlichen wirbelnden Umriß erinnern, der nicht geisterhaft, sondern physisch war, und hinter dem er irgendeine andere Gestalt, eine reale, endgültige Gestalt spürte... aber seine Augen konnten nicht genau erfassen, was er sah.

Dann stolperte Richie rückwärts und schrie mit einem Gesicht, das eine einzige Maske des Schreckens war, immer und immer wieder: »Der Werwolf! Bill! Der Teenage-Werwolf! Der Werwolf!« Und plötzlich nahm das bisher umrißhafte Es diese Gestalt an, für Ben, für sie alle. Richies Es war auch ihr Es geworden.

Der Werwolf stand über dem Abflußrohr, eine behaarte Pfote links davon, die andere rechts. seine grünen Augen stierten sie aus seinem wilden Gesicht an. Gelblichweißer Schaum sickerte durch seine gebleckten Zähne. es/er stieß ein ohrenbetäubendes Knurren aus. seine Arme schössen auf Beverly zu, wobei die Säume seines High-School-Jacketts etwas hochrutschten und ein Stück Fell enthüllten. sein Hecheln war heiß und klang mordlustig.

Beverly schrie. Ben packte sie am Rücken ihrer Bluse und riß sie so hefig zurück, daß die Nähte unter den Achseln platzten. Eine große Pranke mit langen Krallen durchschnitt die Luft, wo Bev soeben noch gestanden war. Beverly prallte gegen die Wand. Die Silberkugel flog aus der Gummimulde der Schleuder heraus. Sie funkelte einen Moment lang in der Luft, dann fing Mike sie geschickt auf und gab sie Beverly zurück.

»Schieß, Baby«, sagte er. Seine Stimme klang ganz ruhig, fast heiter. »Schieß!«

Der Werwolf brüllte wieder laut; dann hob er den Kopf zur Decke und stieß ein entsetzliches Geheul aus, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Und das Heulen verwandelte sich in Gelächter. Der Werwolf sprang Bill an, während dieser sich nach Beverly umdrehte. Ben versetzte ihm rasch einen heftigen Stoß, und Bill fiel hin.

»Schieß, Bev!« schrie Richie. »Um Gottes willen, erschieß Es!«

Der Werwolf machte einen Satz vorwärts; Ben zweifelte weder damals noch später daran, daß er genau wußte, wer ihr Anführer war. er hatte es in erster Linie auf Bill abgesehen. Beverly spannte die Schleuder und schoß.

Wie einige Tage zuvor in den Barrens, so wußte sie auch jetzt sofort, daß sie schlecht gezielt hatte. Aber diesmal beschrieb die Kugel keine rettende Kurve. Sie verfehlte das Monster um mehr als einen Fuß und schlug ein Loch in die Tapete über der Badewanne. Bill, dessen Arme an zahlreichen Stellen bluteten, weil Porzellansplitter ihm die Haut aufgerissen hatten, stieß einen lauten Fluch aus.

Der Werwolf wirbelte herum und starrte Beverly mit seinen glühenden grüngelben Augen an. Ohne zu überlegen, stellte Ben sich schützend vor sie, während sie in ihrer Tasche nach der zweiten Silberkugel tastete. Ihre Jeans waren viel zu eng, weil sie - ebenso wie die Shorts, die sie am Tag vor Patrick Hockstetters Tod getragen hatte - noch vom Vorjahr stammten. Endlich schlössen ihre Finger sich um die Kugel. Sie zog kräftig und krempelte dabei die Tasche nach außen. Vierzehn Cent, zwei alte Kinokarten sowie Baumwollflusen fielen auf den Boden.

Der Werwolf sprang Ben mit gefletschten Zähnen an. Ben packte blindlings zu. In seinen Reaktionen war jetzt kein Raum für Angst - statt dessen spürte er eine Art Zorn, vermischt mit Verwirrung und dem Gefühl, daß die Zeit plötzlich zum Stillstand gekommen war. Er grub seine Hände in rauhes, struppiges Haar - das Fell, dachte er, ich habe ihn am Fell gepackt! - und darunter spürte er seine schweren Schädelknochen. Er stieß mit all seiner Kraft nach diesem Wolfskopf, doch obwohl er ein großer, starker Junge war, blieb das völlig wirkungslos. Wenn er nicht im letzten Moment bis zur Wand zurückgewichen wäre, hätte der Werwolf ihm mit seinen Zähnen die Kehle aufgeschlitzt.

Mit wild funkelnden Augen verfolgte er Ben. er knurrte bei jedem Atemzug. er stank entsetzlich nach Unrat, aber da war auch noch ein anderer, ebenso unangenehmer Geruch - wie nach verschimmelten Haselnüssen. er hob eine seiner schweren Pranken, Krallen rissen dicht neben ihm blutlose Wunden in die Tapete und den Verputz. Er hörte verschwommen Richie etwas brüllen, Eddie heulen, Bev sollte ihn doch erschießen. Aber Beverly schoß nicht. Sie hatte nur noch eine einzige Chance. Das beunruhigte sie aber nicht; sie war plötzlich überzeugt, daß sie beim nächsten Schuß treffen würde. Sie sah alles mit überwältigender Schärfe. Die dreidimensionale Wirklichkeit trat für sie in diesem Moment so deutlich zutage, wie sie es später nie mehr erleben sollte. Jede Angst fiel von ihr ab und wurde vom Hochgefühl eines Jägers abgelöst, der sich seiner Beute sicher ist. Ihr Puls verlangsamte sich. Bisher hatte sie die Schleuder mit zitternder Hand krampfhaft umklammert; nun aber entspannte sie sich. Sie holte ganz tief Luft, nahm vage leises Klirren wahr, kümmerte sich aber nicht darum. Sie machte einen Schritt nach links und wartete auf den Moment, wo der Kopf des Werwolfs sich genau in der Mitte hinter den V-förmigen Bügeln befinden würde.

Wieder sausten die Pranken des Werwolfs herab, und Ben versuchte sich zu ducken... doch plötzlich war er in seinem Griff, er riß Ben an sich, als wäre er eine Stoffpuppe. sein Maul öffnete sich.

»Bastard...«

Ben bohrte einen Daumen in eins seiner Augen. Der Werwolf heulte vor Schmerz auf, und seine Pranke zerfetzte Bens Hemd. Er zog seinen Bauch ein, aber zwei seiner Krallen rissen ihm die Haut vom Brustkorb bis zum Bauch auf. Blut spritzte hervor und rann auf seine Hose, seine Schuhe, auf den Boden. Der Werwolf schleuderte ihn beiseite. Bens Kniekehlen prallten gegen den Rand der Badewanne, und er fiel hinein; nur seine Waden und Füße hingen heraus. Er warf einen Blick auf seinen Schoß und sah, daß er blutüberströmt war.

Der Werwolf wirbelte herum. Ben registrierte mit aberwitziger Klarheit, daß er ausgeblichene Levis-Jeans trug. Die Saumnähte waren aufgegangen. Auf dem Rücken seines silber- und orangenfarbenen High-School-Jacketts stand mit schwarzen Buchstaben: derry high school mordteam. Darunter der Name pennywise. Und in der Mitte eine Nummer: 13.

er griff jetzt wieder Bill an, der inzwischen auf die Beine gekommen war, mit dem Rücken an der Wand lehnte und das Monster nicht aus den Augen ließ.

»Schieß, Beverly!« schrie Richie wieder.

»Piep-piep, Richie«, hörte sie sich selbst wie aus weiter Ferne erwidern. Ein Auge des Werwolfs war jetzt genau zwischen den Bügeln der Schleuder. Mit sicherer Hand spannte sie das Gummi und schoß so gelassen wie an jenem Tag, als sie auf der Müllhalde zur Probe auf Dosen gezielt hatten.

Ben dachte verzweifelt: O Beverly, wenn du auch diesmal danebenschießt, sind wir alle verloren, und ich will nicht in dieser schmutzigen Badewanne sterben, aber ich komme hier allein nicht heraus. Doch Beverly schoß nicht daneben. Ein rundes Auge - nicht grüngelb, sondern schwarz - tauchte plötzlich hoch oben in der Mitte seiner Schnauze auf: Sie hatte auf das rechte Auge gezielt und es um weniger als einen halben Zoll verfehlt.

Der Werwolf stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus - einen fast menschlichen Schrei von Angst, Schmerz und Wut. Aus dem runden Loch in seiner Schnauze spritzte das Blut wie eine Fontäne hervor und benetzte Bills Gesicht und Haare. Das macht nichts, dachte Ben hysterisch. Mach dir keine Sorgen, Bill. Niemand wird dieses Blut sehen können, wenn wir erst einmal draußen sind. Wenn wir jemals hier herauskommen.

Bill und Beverly verfolgten den Werwolf, und hinter ihnen rief Richie: »Schieß noch einmal, Bev! Erschieß ihn! Erschieß Es!«

»Erschieß Es!« schrie Mike.

»Ja, erschieß Es!« keuchte Eddie.

»Laß Es nicht lebend davonkommen!« brüllte Stan.

»Bring Es um!« schrie Bill mit zitternden Lippen. In seinen Haaren hing weißgelber Verputzstaub. »Bring Es um, Bev, mach ihm den Garaus!«

Keine Munition mehr, keine Silberkugeln mehr da, dachte Ben. Wovon redet ihr? Wie soll Bev Es töten? Aber er wußte es: sie versuchten zu bluffen. Er sah Beverly an, und wenn sein Herz nicht ohnehin schon ihr gehört hätte, wäre es ihr in diesem Augenblick zugeflogen. Sie hatte sie Schleuder wieder gespannt und verdeckte mit ihren Fingern die leere Kugelmulde.

»Töte Es!« brüllte er und bemühte sich, aus der Badewanne herauszukommen. Seine Jeans und Unterhose klebten vom Blut an seiner Haut. Er hatte keine Ahnung, ob er schwer verletzt war oder nicht. Es war schrecklich viel Blut.

Die grünlichen Augen des Werwolfs glitten von einem zum anderen, flackerten unruhig. Blut durchtränkte sein Jackett.

Bill Denbrough lächelte.

Es war ein sanftes, direkt liebliches Lächeln... aber seine Augen blieben hart und kalt. »Du hättest meinen B-B-Bruder in R-Ruhe lassen sollen«, sagte er. »Leg diesen verdammten Dreckskerl um, Bev.«

Die Unsicherheit verschwand aus den Augen des Wehrwolfs - er glaubte ihnen. Geschmeidig wirbelte er herum und sprang in die Senkgrube. Und während er dort verschwand, veränderte er sich. Das HighSchool-Jackett löste sich auf, und auch das Fell verlor seine Farbe. Der Schädel wurde länger, so als sei er aus Wachs, das sich jetzt verflüssigte und zerschmolz. seine Gestalt veränderte sich, und wieder glaubte Ben, seine wahre Gestalt fast erkannt zu haben, und sein Herz gefror zu einem eiskalten Klumpen, und er schnappte entsetzt nach Luft.

»Ich bring' euch alle um!« dröhnte eine Stimme aus dem Abflußrohr. Es war eine wilde Stimme, die nichts Menschliches an sich hatte. »Bring' euch alle um... bring' euch alle um... bring' euch alle um...« Die Worte wurden immer leiser, immer undeutlicher... bis sie zuletzt im Summen der Pumpe untergingen.

Es war, als ob sich das Haus mit einem dumpfen Dröhnen zu senken begann. Aber es senkte sich nicht, erkannte Ben, sondern es schrumpfte auf geheimnisvolle Weise zu seiner normalen Größe zusammen. Welche magische Kraft Es auch ausgeübt haben mochte, um das Haus Nr. 29 in der Neibolt Street größer erscheinen zu lassen - diese Kraft war jetzt nicht mehr wirksam. Es war jetzt nur noch ein altes Haus, in dem es nach Feuchtigkeit und Moder roch, ein leerstehendes Haus, in dem sich manchmal Vagabunden und Landstreicher aufhielten, tranken und miteinander redeten.

Es war verschwunden.

Und die Stille nach seiner Flucht schien sehr laut zu sein.

10

»W-W-Wir m-müssen so sch-schnell wie m-m-m-möglich hier raus«, sagte Bill und ging auf die Badewanne zu, in der Ben festsaß wie ein Korken in der Flasche. Beverly stand in der Nähe der Senkgrube. Sie blickte an sich herab, und jene Kaltblütigkeit verflog mit einem Schlag. Sie bekam einen hochroten Kopf - sie mußte vorhin wirklich sehr tief Luft geholt haben: das leise Klirren auf dem Fußboden hatte von ihren Blusenknöpfen hergerührt, die alle abgesprungen waren. Die Bluse hing offen herunter und entblößte ihre kleinen Brüste. Sie zog sie rasch zusammen.

»R-R-Richie«, rief Bill. »H-Hilf mir, B-B-Ben r-rauszuziehen!«

Aber auch zu zweit schafften sie es nicht. Erst als Stan und Mike auch noch zupackten, gelang es ihnen mit vereinten Kräften, Ben aus der Wanne zu befreien. Eddie war währenddessen zu Beverly gegangen und hatte ihr unbeholfen seinen gesunden Arm um die Schultern gelegt.

Ben machte zwei große unsichere Schritte und lehnte sich rasch an die

Wand, um nicht umzukippen. Sein Kopf war merkwürdig leicht. Die Welt hatte keine Farben. Ihm war übel.

Dann spürte er Bills kräftigen Arm, der ihn stützte - ein tröstliches Gefühl.

»W-Wie sch-sch-schlimm ist es, H-Haystack?«

Ben zwang sich, seinen Bauch anzuschauen. Er stellte fest, daß diese beiden einfachen Handlungen - den Kopf zu senken und sein zerrissenes Hemd beiseite zu schieben - mehr Mut erforderten als der Einstieg ins Haus. Er erwartete, daß seine Eingeweide heraushängen würden wie groteske Euter. Statt dessen sah er, daß die Blutung nachgelassen hatte, daß nur noch wenig Blut aus der Wunde sickerte. Der Werwolf hatte ihn offensichtlich doch nicht tödlich verletzt.

Richie trat zu ihnen und betrachtete die lange, ziemlich tiefe Wunde, die von Bens Brust bis etwa zum Punkt der stärksten Bauchwölbung führte. Dann blickte er Ben ernst an. »Es war verdammt nahe dran, sich aus deinen Eingeweiden Sockenhalter machen zu können, Haystack. Weißt du das?«

»Was du nicht sagst, du Spaßvogel!« erwiderte Ben. Sie tauschten einen langen, nachdenklichen Blick, und dann brachen sie gleichzeitig in hysterisches Gelächter aus. Richie nahm Ben in die Arme und klopfte ihm auf den Rücken. »Wir haben Es geschlagen, Haystack! Wir haben Es besiegt!«

»W-W-Wir h-haben Es nicht gesch-sch-schlagen«, widersprach Bill grimmig. »Nur überlistet. V-V-Verschwinden wir, b-b-bevor Es b-beschließt zurückzukommen .«

»Und wohin?« fragte Mike.

»In die B-B-B-Barrens.«

Beverly trat zu ihnen. Ihre Wangen glühten. Mit einer Hand hielt sie immer noch ihre Bluse zusammen. »Ins Klubhaus?« fragte sie.

Bill nickte.

»Könnte mir jemand von euch sein Hemd geben?« fragte Beverly und errötete noch mehr. Bill warf ihr einen Blick zu, und auch ihm schoß plötzlich das Blut in die Wangen. Er wandte rasch die Augen ab, aber der kurze Moment hatte genügt, um Ben erkennen zu lassen, daß Bill Beverly plötzlich auf eine Weise wahrgenommen hatte wie bisher nur er selbst.

Auch die anderen hatten hingesehen und ihre Blicke sofort wieder verlegen abgewandt. Richie hüstelte hinter vorgehaltener Hand. Stan errötete. Und Mike Hanion trat einen Schritt zurück, so als fürchtete er sich vor dem Anblick ihrer weißen Haut und der kleinen Brust, die zwischen den Fetzen ihrer Bluse zum Vorschein kam.

Beverly warf den Kopf zurück und schüttelte ihre Haarmähne. Sie hatte immer noch hochrote Wangen, aber ihr liebliches Gesicht drückte jetzt Stärke aus.

»Ich kann nichts dafür, daß ich ein Mädchen bin«, sagte sie, »oder daß ich oben herum allmählich erwachsen werde... könnte ich jetzt vielleicht irgendein Hemd haben?«

»K-K-Klar«, sagte Bill und zog sein weißes T-Shirt aus, unter dem sein schmaler Brustkorb, die einzelnen Rippen und die braungebrannten sommersprossigen Schultern zum Vorschein kamen. »H-H-Hier.«

»Danke, Bill«, sagte sie, und für einen Moment blickten sie einander tief in die Augen. Diesmal schaute Bill nicht weg. Sein Blick war fest, erwachsen. »K-K-Keine Ursache.«

Viel Glück, Big Bill, dachte Ben und wandte sich von diesem Blick ab, der ihm weh tat, der ihn tiefer verletzte als irgendein Vampir oder Werwolf das jemals vermocht hätte. Wenn es nun mal so sein soll. Aber du wirst sie nie so innig lieben wie ich. Niemals.

Beverly wandte sich von ihnen ab und zog ihre Bluse aus. Ben erlaubte sich einen schmerzlich süßen Blick auf ihren nackten Rücken, auf die glatte weiße Haut, unter der die Wirbelsäule durchschimmerte, dann schaute er rasch weg. Als er wieder hinsah, stand sie in Bills T-Shirt da, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Ihre zerrissene Bluse hielt sie in der Hand. Hoffentlich schaut niemand sie auf dem Heimweg genau an, dachte Ben zerstreut. In diesem Aufzug erregt sie sonst bestimmt Aufsehen.

»G-G-Gehen w-wir«, sagte Bill. »F-Für heute habe ich w-w-wirklich genug.«

Alle waren völlig seiner Meinung.

11

Eine Stunde später saßen sie alle in ihrem Klubhaus. Falltür und Fenster waren geöffnet. Es war kühl da unten, und in den Barrens herrschte an diesem Tag wunderbare Stille. Sie redeten nicht viel. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Richie und Bev zogen abwechselnd an einer 25-garette. Eddie benutzte einmal kurz seinen Aspirator. Mike nieste mehrmals und entschuldigte sich. Er sagte, er habe sich erkältet.

Ben wartete ständig darauf, daß das verrückte Erlebnis im Haus auf der Neibolt Street die typischen Merkmale eines Traumes zeigen würde.

Es wird nach und nach zurückweichen und auseinanderfallen, dachte er, so wie böse Träume es immer tun. Man wacht keuchend und in Schweiß gebadet auf, aber eine Viertelstunde später kann man sich schon nicht mehr an den Inhalt des Traums erinnern. Doch das geschah nicht. Alles was passiert war, angefangen mit seinem mühsamen Einstieg in den Keller bis hin zu jenem Moment, als Bill mit dem Küchenstuhl ein Fenster eingeschlagen hatte, damit sie gleich im Erdgeschoß aus dem Haus gelangen konnten, blieb in seinem Gedächtnis ganz klar und deutlich eingeprägt. Es war eben kein Traum gewesen. Die blutverkrustete Wunde auf seiner Brust und seinem Bauch war kein Traum, auch wenn seine Mutter sie nicht würde sehen können.

Schließlich stand Beverly auf. »Ich muß nach Hause«, sagte sie. »Ich möchte mich umziehen, bevor meine Mutter heimkommt. Wenn sie mich in einem Jungenhemd sieht, bringt sie mich um.«

»Bringt sie Sie um, Senhorita«, stimmte Richie zu.

»Piep-piep, Richie.«

Bill sah sie ernst an.

»Ich bring' dein T-Shirt wieder mit, Bill.«

Er winkte ab, um zu zeigen, daß das nicht so wichtig war.

»Bekommst du Ärger, wenn du ohne Hemd heimkommst?«

»N-Nein«, sagte Bill. »S-Sie n-n-nehmen s-s-s-sowieso kaum N-N-Notiz von m-mir.«

Sie nickte und biß sich auf die volle Unterlippe, ein zehnjähriges Mächen, das für sein Alter ziemlich groß und einfach wunderhübsch war.

»Was geschieht als nächstes, Bill?«

»Ich w-w-weiß nicht«, gab Bill zu.

»Vorbei ist es doch nicht, oder?«

Bill schüttelte den Kopf.

»Ich glaube«, sagte Ben, »daß Es es von jetzt an noch mehr auf uns abgesehen haben wird.«

»Also weitere Silberkugeln?« fragte sie ihn. Er konnte es kaum ertragen, ihrem Blick zu begegnen. Ich liebe dich, Beverly... laß mir nur dieses eine. Du kannst Bill haben oder die ganze Welt oder was immer du brauchst. Nur laß mir dieses eine, und es wird mir genügen, glaube ich.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Wir könnten wieder welche machen, aber...«

Er zuckte die Achseln, ohne seinen Satz zu beenden. Er konnte seine Gedanken und Gefühle nicht ausdrücken, nicht in Worte fassen - daß das, was sie erlebten, Ähnlichkeit mit einem Monsterfilm hatte, aber doch keiner war. Die Mumie hatte irgendwie anders ausgesehen als im Film... wesentlich realer. Und dasselbe traf auch auf den Werwolf zu - das konnte er bezeugen, denn er hatte das Ungeheuer aus einer so lähmenden Nähe gesehen, wie das in keinem Film möglich war, er hatte seine Hände in sein struppiges, verfilztes Fell gegraben, er hatte in einem seiner grünlichgelben Augen einen kleinen unheilvollen orangefarbenen Feuerkreis gesehen (wie einen Pompon!). Diese Dinge waren... sie waren real gewordene Träume. Und sobald sie real wurden, hatte der Träumer keine Macht mehr über sie, sie verselbständigten sich und wurden zu tödlichen Wesen, die zu unabhängigem Handeln fähig waren. Die Silberkugeln hatten gewirkt, weil sie alle sieben geglaubt hatten, daß sie wirken würden. Sie hatten auch gewirkt... aber sie hatten Es nicht getötet. Und beim nächsten Mal könnte Es in einer neuen Gestalt zu ihnen kommen, in einer Gestalt, gegen die die Silberkugeln nichts ausrichten können, über die sie keine Macht haben.

Macht, Macht, dachte Ben, während er Beverly betrachtete. Das konnte er im Moment ungehemmt tun, denn sie und Bill sahen einander gerade wieder an und waren ganz versunken. Es war nur ein kurzer Augenblick, aber Ben kam er sehr lang vor. Es läuft immer auf Macht hinaus. Ich liebe Beverly Marsh, und deshalb hat sie Macht über mich. Sie liebt Bill Denbrough, und deshalb hat er Macht über sie. Aber ich glaube, er fängt jetzt auch an, sie zu lieben. Vielleicht war es der flüchtige Blick auf ihre Brust oder ihren nackten Rücken. Vielleicht auch einfach die Art und Weise, wie sie manchmal aussieht, bei einem bestimmten Licht; vielleicht sind es auch ihre Augen. Spielt keine Rolle. Jedenfalls, wenn er anfängt, sie zu lieben, so wird sie Macht über ihn gewinnen. Superman hat Macht, außer wenn irgendwo in seiner Nähe Krypton ist. Batman hat Macht, obwohl er weder fliegen noch durch Wände hindurch sehen kann. Meine Mutter hat Macht über mich, und ihr Chef in der Fabrik hat Macht über sie. Jeder hat in irgendeiner Weise Macht... vielleicht mit Ausnahme kleiner Kinder und Babys.

Dann fiel ihm ein, daß sogar kleine Kinder und Babys eine gewisse

Macht hatten: Sie konnten schreien, bis man etwas unternehmen mußte, um sie zur Ruhe zu bringen.

»Ben?« fragte Beverly und wandte sich wieder ihm zu. »Hast du deine Zunge verschluckt?«

»Was? Nein. Ich habe über Macht nachgedacht. Über die Macht der Silberkugeln.«

Bill sah ihn aufmerksam an.

»Ich habe mich gefragt, woher diese Macht kam.«

»I-I-Ich...«, begann Bill und verstummte. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht.

»Ich muß jetzt wirklich gehen«, sagte Beverly. »Ich seh' euch doch bald, oder?«

»Na klar, komm morgen wieder her«, sagte Stan. »Wir werden Eddies zweiten Arm brechen«.

Alle lachten. Eddie tat so, als wollte er Stan seinen Aspirator an den Kopf werfen.

»Also, bis dann«, sagte Beverly und kletterte aus dem Klubhaus heraus.

Ben sah Bill an und stellte fest, daß er nicht in das Lachen eingestimmt hatte. Sein Gesicht hatte immer noch jenen nachdenklichen Ausdruck, und Ben wußte genau, daß man zwei- oder dreimal laut seinen Namen rufen müßte, bevor er reagieren würde. Und er wußte, worüber Bill nachgrübelte; auch ihn selbst beschäftigte diese Frage in der nächsten Zeit immer wieder. Natürlich nicht ständig. Er hängte für seine Mutter Wäsche auf, er spielte mit den anderen in den Barrens, und als es in den ersten vier Augusttagen sehr viel regnete, spielten sie bei Richie zu siebt stundenlang hingebungsvoll Parcheesi. Seine Mutter erzählte ihm, sie halte Pat Nixon für die hübscheste Frau Amerikas, und sie war entsetzt, als Ben sich für Marilyn Monroe aussprach (abgesehen von der Haarfarbe hatte Bev seiner Meinung nach Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe). Er hatte Zeit, um soviel Süßigkeiten zu essen, wie ihm nur unter die Hände kamen, und er hatte Zeit, um auf der hinteren Veranda zu sitzen und >Lucky Star and the Moons ofMercury< zu lesen. Für all das hatte er Zeit, während die Wunde, die der Werwolf ihm zugefügt hatte, allmählich verheilte, denn das Leben ging weiter, und mit zehn Jahren hatte man, so intelligent man auch sein mochte, noch keinen richtigen Sinn für Zukunftsperspektiven. Er konnte mit dem, was in der Neibolt Street passiert war, durchaus leben. Schließlich war die ganze Welt voller Wunder.

Doch ab und zu beschäftigte ihn die Frage: Die Macht der Kugeln - woher kommt diese Macht? Woher kommt jede Form von Macht überhaupt? Wie kann man Macht erlangen? Und wie setzt man sie ein?

Er hatte das Gefühl, daß ihr Leben von diesen Fragen abhängen könnte. Und dann kam ihm eines Abends im Bett, während der Regen einschläfernd auf das Dach und an die Fensterscheiben trommelte, die Erkenntnis, daß es noch eine andere Frage gab, eine vielleicht noch wichtigere. Es hatte irgendeine wirkliche Gestalt, die er fast gesehen hatte. Die wahre Gestalt zu sehen bedeutete, das Geheimnis zu kennen. Traf das auch auf Macht zu? Vielleicht. Denn wechselte Macht nicht ebenfalls - so wie Es - ständig die Gestalt? Macht - das konnte ein Baby sein, das mitten in der Nacht schrie;

das konnte eine Atombombe oder auch eine silberne Schleuderkugel sein; das war aber ebenso auch die Art und Weise, wie Beverly Bill anschaute -und er sie.

Was war demnach Macht?

12

In den nachfolgenden zwei Wochen ereignete sich nichts von Bedeutung.

Derry: Viertes Zwischenspiel

»You got to lose

You can't win all time.

You got to lose You can't win all time, what'd I say? I know, pretty baby,

I see trouble coming down the line.«

John Lee Hooker »You Got to Lose«

6. April 1985

Es kommt mir fast so vor, als hätte ich tatsächlich begonnen, die Geschichte der Stadt Derry zu schreiben - wovor Albert Carson mich gewarnt hat -, obwohl ich doch nur Fakten zusammentrage, Nachforschungen anstelle und mündliche Erzählungen von Zeugen der Zeit zu Papier bringe.

Wenn ich je beschließen sollte, all diese Geschichten chronologisch zu ordnen und stilistisch zu überarbeiten, mit anderen Worten, sie zu veröffentlichen, so würde ich natürlich - und das ist mir völlig bewußt - gebeten werden, meinen Schreibtisch hier in der Bücherei zu räumen und meine Schlüssel abzugeben, und zwar vermutlich schon eine halbe Stunde, nachdem die ersten Exemplare in den Buchhandlungen der Innenstadt ausliegen würden. Denn weder für mich noch für jemand anderen in Derry ist es ein Geheimnis, daß die Bücherei den Nachkommen der Holzbarone gehört, die sie mit den durch Raubbau am Wald erworbenen Geldern finanziert hatten. Von den elf Mitgliedern des Büchereiausschusses, zu denen auch ich gehöre, sind acht Nachkommen jener ausbeuterischen Holzbarone. Sie repräsentieren Derrys alte Geldaristokratie, die Bücherei ist ihre milde Gabe, und sie haben ein wachsames Auge darauf, auch wenn es nach außen hin so scheint, als hielten sie sich im Hintergrund.

Ihre Großväter und Urgroßväter haben hier sehr gewinnbringende Geschäfte abgewickelt. Sie haben das Land um Derry herum abgeholzt - sie haben damit Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, als Grover Cleveland Präsident war, und sie waren so ziemlich damit fertig, als Woodrow Wilson seinen Schlaganfall erlitt. Sie verwandelten das verschlafene kleine

Schiffsbaustädtchen Derry in eine einzige große, gut florierende Spelunke, wo die Saloons durchgehend geöffnet hatten, und wo die Dirnen die ganze Nacht hindurch im Einsatz waren.

Dieser Boom in Derry hielt bis in die 2oer Jahre unseres Jahrhunderts an; von der Eisschmelze im April bis zum Einsetzen der Fröste im November war das Wasser des Penobscots und des Kenduskeags wegen der Menge der Baumstämme kaum zu sehen, die flußabwärts trieben. Das Geschäft begann in den 2oer Jahren abzuflauen - nach der Hochkonjunktur des Ersten Weltkriegs - und kam während der großen Depression völlig zum Erliegen. Die Holzbarone brachten ihr Geld seelenruhig auf jene der New Yorker und Bostoner Banken, die den großen Bankenkrach von 1929 überlebt hatten, und von nun an kümmerten sie sich nicht mehr um Derrys Handel und Wirtschaft. Sie zogen sich in ihre prachtvollen Häuser am West Broadway und in der Clearview Street zurück, schickten ihre Kinder auf Privatschulen in New Hampshire, Massachusetts und New York und warteten einfach auf eine Wiederbelebung des Holzgeschäfts, die sich schließlich auch einstellte.

Was heute von ihrem Regiment übriggeblieben ist, sind statt richtiger Wälder nutzlose Baumtrümmer und Unterholz, sind die großen viktorianischen Häuser... und meine Bücherei. Nur würden diese braven Leute vom West Broadway mir >meine Bücherei< in Null Komma nichts wegnehmen, wenn ich irgendwas über die Legion of White Decency, über das Feuer im >Black Spot<, über die Exekution der Brady-Bande... oder über die Sache mit Claude Heroux und den >Silver Dollar< veröffentlichen würde. Der >Sil-ver Dollar< war eine Bierkneipe, und dort fand im September 1902 ein Ereignis statt, das gut und gern der sonderbarste Massenmord in der Geschichte Amerikas gewesen sein könnte. Es gibt noch ein paar alte Einheimische, die sich daran zu erinnern behaupten, aber den einzigen wirklich vertrauenswürdigen Bericht darüber erhielt ich von Egbert Thoroughgood, der damals sechzehn war.

Obwohl ich die Kassettenaufnahmen mit seiner Erzählung transkribiert habe, werde ich sie hier nicht in dieser Form wiedergeben. Der inzwischen fast hundertjährige Thoroughgood, der jetzt in einem Pflegeheim lebt, ist zahnlos und spricht zudem so starken Dialekt, daß vermutlich nur alte Mai-ner alles verstehen würden.

Claude Heroux - ein Frankokanadier - war, wie Thoroughgood sich ausdrückte, »ein ganz verdammter Hurensohn«. Thoroughgood sagte, er selbst-und alle anderen, die mit Heroux zusammengearbeitet hatten- hätten den Mann für sehr schlau, falsch und gerissen gehalten... was seine Beilschlächterei im >Silver Dollar< nur noch unbegreiflicher erscheinen läßt. Sie paßte eigentlich überhaupt nicht zu seinem Charakter. Bis dahin hatten die Holzfäller in Derry geglaubt, seine Spezialität wären vornehmlich Brandstiftungen in den umliegenden Wäldern.

Der Sommer 1902 war lang und heiß, und es hatte sehr viele Waldbrände gegeben. Der größte, den Heroux - wie er später zugab - gelegt hatte, indem er einfach eine brennende Kerze zwischen einen Haufen Holzspäne und Brennholz stellte, ereignete sich bei Lydeville. 20000 Acker erstklassiges Hartholz brannten ab, und man konnte den Rauch noch 35 Meilen entfernt in den Pferdebahnen riechen, die den Up-Mile Hill in Derry hinauffuhren.

Im Frühling jenes Jahres war eine Zeitlang über die Gründung einer Gewerkschaft geredet worden. An der Organisation hatten sich vier Holzfäller beteiligt (nicht daß es viel zu organisieren gegeben hätte - die Arbeiter in Maine waren damals gewerkschaftsfeindlich eingestellt, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert), und einer davon war Claude Heroux, der in seinen Aktivitäten vermutlich hauptsächlich eine Möglichkeit sah, große Reden zu führen und eine Menge zu trinken. Heroux und die anderen drei Männer nannten sich >Organisatoren<; von den Holzbaronen wurden sie als >Bandenführer< bezeichnet. Eine Bekanntmachung, die in den Eßbarak-ken sämtlicher Holzfällerlager aushing, von Monroe bis Lydeville, Sumner Plantation, Newport und Dover-Foxcroft, informierte sie darüber, daß jeder, der sich für eine Gewerkschaft engagierte, fristlos entlassen würde.

Im Mai jenes Jahres gab es einen Streik in der Nähe von Trapham Notch, und obgleich sowohl Streikbrecher als auch beilschwingende >Stadtpolizi-sten< für ein rasches Ende dieses Streiks sorgten (das plötzliche Auftauchen dieser beilschwingenden >Stadtpolizisten< war schon ziemlich merkwürdig; es waren an die 30 Mann - vor jenem Maitag hatte es in Trapham Notch indessen keinen einzigen Stadtpolizisten gegeben - bei der Volkszählung von 1900 hatte der Ort auch ganze 79 Einwohner gehabt), betrachteten Heroux und seine Freunde ihn doch als großen Sieg für ihre Sache. Folglich kamen sie nach Derry, um sich zu betrinken und weiter zu organisieren. Sie besuchten die meisten Kneipen in Hell's Half-Acre und landeten schließlich im >Sleepy Silver Dollar<; sie waren stockbesoffen, hatten sich gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt und gröhlten abwechselnd Gewerkschaftslieder und sentimentale Schnulzen.

Nach Aussage von Thoroughgood konnte man sich überhaupt nur einen einzigen Grund für Heroux' Beteiligung an den gewerkschaftlichen Aktivitäten vorstellen: Dave O'Harrah war der eigentliche >Organisator< - oder >Bandenführer< - und Heroux liebte ihn. Er folgte O'Harrah in die Organisationsarbeit, wie er ihm überallhin gefolgt wäre, ganz egal, welche verrückten Pläne O'Harrah auch im Sinn gehabt hätte. Heroux war gerissen und schlecht, und in einem Roman hätte man ihm wahrscheinlich überhaupt keine positiven Eigenschaften zugestanden. Aber wenn ein Mann sein Leben lang nur Mißtrauen kennengelernt hat und zum einsamen Einzelgänger geworden ist, sowohl durch eigenen Entschluß als auch durch die Einstellung der Gesellschaft ihm gegenüber, und dann plötzlich einen Freund oder Liebespartner findet, wird er manchmal nur noch für diesen einen Menschen leben, so wie ein Hund für seinen Herrn lebt. Das scheint bei Heroux und O'Harrah der Fall gewesen zu sein.

Die vier Männer wollten jene Nacht im Brentwood Arms Hotel verbringen, das unter den Holzfällern damals bekannter war unter dem Namen >The Floating Dog< (an den Grund konnte sich nicht einmal Egbert Thoroughgood erinnern). Die vier Männer stiegen in dem Hotel ab, und drei von ihnen wurden danach nicht mehr lebend gesehen. Einer - Andy Deles-seps - verschwand spurlos; es gab Gerüchte, daß er den Rest seines Lebens als reicher Mann in Portsmouth verbracht haben soll. Aber irgendwie zweifle ich daran. Zwei weitere >Bandenführer< trieben mit den Bäuchen nach unten im Kenduskeag: Amsel Bickford hatte keinen Kopf mehr - jemand hatte ihn mit einer schweren Holzfälleraxt abgeschlagen. Dave O'Harrah fehlten beide Beine, und jene, die ihn gefunden hatten, schworen, sie hätten auf einem menschlichen Gesicht nie einen solchen Ausdruck von Schmerz und Entsetzen gesehen. Er hatte irgend etwas im Mund, und als man ihn umdrehte, fielen sieben seiner Zehen heraus. Manche glaubten, die restlichen drei hätte er irgendwann beim Holzfällen verloren; andere vertraten die Ansicht, man hätte ihm die Zehen in den Mund gestopft, als er noch lebte, und er hätte sie verschluckt.

An die Hemdrücken beider Männer war ein Blatt Papier mit der Aufschrift GEWERKSCHAFTSMANN geheftet.

Claude Heroux konnte für das, was am Abend des 9. September geschah, nie vor Gericht gestellt werden, und deshalb weiß niemand genau, auf welche Weise er dem Schicksal der anderen in jener Mainacht entging. Wir können nur Vermutungen anstellen; er war lange völlig auf sich allein gestellt gewesen, hatte gelernt, rasch zu reagieren, hatte vielleicht auch den Spürsinn mancher Straßenköter entwickelt, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Aber warum hat er dann O'Harrah nicht mitgenommen? Oder war er zusammen mit den anderen >Agitatoren< in die Wälder geschleppt worden? Vielleicht hatten die Mörder ihn sich für zuletzt aufgespart, und er hatte entkommen können, während O'Har-rahs Schreie durch die Dunkelheit gellten und Vögel aus ihren Nestern aufscheuchten. Es läßt sich nicht mehr feststellen, aber intuitiv glaube ich, daß die letztgenannte Variante der Wahrheit entspricht.

Claude Heroux führte von nun an eine Art Schattendasein. Er tauchte beispielsweise in einem Holzfällerlager im St. John Valley auf, stellte sich mit den anderen zur Essensausgabe an, bekam seinen Teller Schmorfleisch, aß es und verschwand, bevor jemandem auffiel, daß er gar nicht dazugehörte. Wochen später kam er dann etwa in eine Bierkneipe in Winterport, führte pro-gewerkschaftliche Reden und schwor, er werde sich an den Männern rächen, die seine Freunde ermordet hatten - am häufigsten erwähnte er die Namen Hamilton Tracker, William Mueller und Richard Bowie. Sie alle lebten in Derry, und ihre Häuser mit den Giebeln, Erkern und Türmchen stehen bis heute am West Broadway. Jahre später setzten sie oder ihre Nachkommen das >Black Spot< in Brand.

Daß es Leute gab, die Claude Heroux gern aus dem Weg geräumt hätten, besonders nach den Waldbränden, die im Juni begonnen hatten, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber obwohl Heroux am häufigsten in Derry und Umgebung gesehen wurde, so war er doch sehr schnell und hatte bei drohenden Gefahren den Instinkt eines Raubtiers. Soviel ich herausbringen konnte, wurde nie ein offizieller Haftbefehl gegen ihn ausgestellt, und die Polizei unternahm nie etwas. Vielleicht hatten gewisse Leute Angst vor dem, was Heroux aussagen könnte, wenn man ihn wegen Brandstiftung vor Gericht stellte.

Jedenfalls brannten in jenem heißen Sommer die Wälder in Derrys Umgebung. Kinder verschwanden, es gab mehr heftige tätliche Auseinandersetzungen und mehr Morde als in anderen Jahren, und Angst lag in der Luft - Angst, die ebenso wahrnehmbar war wie der Rauch.

Am i. September regnete es dann endlich, und der Regen hielt eine ganze Woche lang an. Die Innenstadt von Derry wurde überflutet, was nicht ungewöhnlich war, aber die vornehmen Häuser am West Broadway standen viel höher als die in der Innenstadt, und in einigen dieser Häuser konnte man bestimmt erleichterte Seufzer hören. >Soll der verrückte Frankokanadier sich ruhig den ganzen Winter über in den Wäldern verstecken, wenn er will<, mögen sie gesagt haben. >In diesem Sommer wird er keine Brände mehr legen können, und irgendwann kriegen wir ihn schon noch.<

Und dann kam der 9. September. Ich habe keine Erklärung für das, was passierte; auch Thoroughgood hatte keine; soviel ich weiß, hatte niemand eine. Ich kann nur die Ereignisse zu Papier bringen.

Der >Silver Dollar< war voll mit biertrinkenden Holzfällern. Draußen brach an diesem regnerischen Tag die Abenddämmerung herein. Der Kenduskeag führte sehr viel Wasser und war trübe, und ein starker herbstlicher Wind wehte - »die Art Wind, die jedes Loch in der Hose findet und einem direkt in den Arsch bläst«, um mit Thoroughgood zu reden. Die Straßen waren morastig. An einem der Tische im Hintergrund der Kneipe war ein Kartenspiel im Gange. Das waren William Muellers Männer. Mueller war Teilhaber der GS & WM-Eisenbahnlinie, und außerdem gehörten ihm Millionen Acker erstklassigen Waldbestands, und die Männer, die an jenem Abend im >Silver Dollar< Karten spielten, arbeiteten teils als Holzfäller, teils bei der Eisenbahn und waren allesamt üble Unruhestifter. Zwei von ihnen, Tinker McCutcheon und George Calderwood, hatten schon im Gefängnis gesessen. Die anderen waren Lathrop Rounds (der den Spitznamen El Ka-took hatte), David >Stugley< Grenier und Eddie King, ein dicker, bärtiger Mann, der nur noch ein halbes Dutzend Zähne im Mund hatte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie zu den Männern gehörten, die in den vorangegangenen zweieinhalb Monaten nach Claude Heroux Ausschau gehalten hatten. Und ebenso wahrscheinlich ist es - obwohl es keinen Beweis dafür gibt -, daß sie bei der kleinen Mörderparty im Mai mitgewirkt hatten, bei der O'Harrah und Amsel Bickford ums Leben gekommen waren.

Die Kneipe war überfüllt; mehrere Dutzend Männer drängten sich dort, tranken Bier, aßen eine Kleinigkeit an der Bar und spuckten auf den mit Holzspänen bestreuten Holzboden.

Die Tür öffnete sich, und Claude Heroux kam herein. Er hatte eine Holzfälleraxt mit zwei Schneiden, von den Holzfällern >Zweihänder< genannt, in der Hand. Er ging an die Bar und verschaffte sich mit den Ellbogen Platz. Egbert Thoroughgood stand links von ihm, Schulter an Schulter. Der Barkeeper brachte Heroux einen Humpen Bier, zwei hartgekochte Eier in einer Schüssel und einen Salzstreuer. Heroux bezahlte mit einem Zwei-Dollar-Schein und schob das Wechselgeld in eine der Taschen seiner Holzfällerjacke. Er salzte seine Eier und aß sie. Er salzte sein Bier, trank es aus und rülpste.

»Gut gemacht, Claude, hier draußen ist mehr Platz als da drin«, sagte Thoroughgood, so als hätten nicht den ganzen Sommer über gewisse Leute fieberhaft nach Heroux gesucht.

»Weißt du, das stimmt haargenau«, sagte Heroux.

Er bestellte sich noch einen Humpen Bier und zwei weitere Eier. Er salzte die Eier, aß sie, salzte sein Bier, trank es aus und rülpste wieder. Die Unterhaltung an der Bar ging weiter; nicht wie in den Wildwestfilmen, wo sich beredtes Schweigen ausbreitet, sobald der Held oder der Bösewicht die Tür aufreißt und langsam und unheilverkündend zur Bar schlendert. Zahlreiche Leute begrüßten Claude mit lautem Hallo. Er nickte und winkte ihnen zu, aber er lächelte nicht, und Thoroughgood sagte, Heroux hätte auf ihn den Eindruck gemacht, als träume er halb. An dem Tisch ganz im Hintergrund der Kneipe, dort wo an Samstagabenden manchmal eine Country-Band spielte, ging das Kartenspiel weiter. El Katook teilte gerade aus. Niemand machte sich die Mühe, den Spielern zu sagen, daß Claude Heroux an der Bar trank... obwohl es schier unverständlich ist, wie sie seine Anwesenheit nicht bemerken konnten, nachdem zahlreiche Leute, die ihn kannten und mit ihm zusammengearbeitet hatten, ihn doch lautstark begrüßten, wobei auch sein Name mehrmals fiel. Aber es war nun mal so - sie spielten seelenruhig Karten.

Nachdem Heroux sein zweites Bier ausgetrunken hatte, entschuldigte er sich bei Thoroughgood, hob seine Axt auf, ging zu dem Tisch, an dem Muellers Männer Karten spielten und begann sein blutiges Werk.

George Calderwood hatte sich gerade ein Glas Whisky eingegossen und stellte die Flasche auf den Tisch, als Heroux am Tisch ankam. Heroux ließ seine Axt niedersausen und traf Calderwood genau am Handgelenk. Calderwood schaute auf seine Hand und schrie; sie hielt noch die Flasche fest, aber sie selbst hatte nirgends mehr Halt. Einen Moment lang umklammerte sie die Flasche sogar noch fester, dann fiel sie auf den Tisch wie eine tote Spinne. Aus Calderwoods Handgelenk schoß Blut hervor.

An der Bar rief einer der Männer nach Bier, und ein anderer fragte den Barkeeper, der Jonsey hieß, ob er immer noch sein Haar färbe. »Hab' ich nie nötig gehabt«, erwiderte Jonsey mißmutig, denn er war auf seine Haare sehr stolz.

»Ne Hure drüben bei Ma Courtney hat mir aber gesagt, was um deinen Schwanz rum wächst, war schneeweiß«, ärgerte der Kerl ihn weiter.

»Sie lügt«, rief Jonsey.

»Laß mal die Hosen runter und zeig's uns«, sagte ein Holzfäller namens Falkland, mit dem Thoroughgood vor Heroux' Ankunft um die Wette getrunken hatte. Dies rief allgemeines schallendes Gelächter hervor.

Hinter ihnen hatte George Calderwood einen regelrechten Schreikrampf. Einige der Männer an der Bar drehten sich um, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Claude Heroux mit Schaum vor dem Mund seine Axt in Tinker McCutcheons Kopf trieb. Tinker war ein großer Kerl mit einem schwarzen Bart, der allmählich grau wurde. Er wollte aufstehen, ließ sich aber gleich wieder auf den Stuhl fallen. Heroux zog die Axt aus seinem Kopf. Tinker versuchte wieder aufzustehen, und Heroux holte seitlich aus und grub die Axt in seinen Rücken. Es hätte sich so angehört, als würde ein schweres Buch auf einen Teppich fallen, erzählte Thoroughgood. Tinker fiel über den Tisch, und seine Karten flatterten ihm aus der Hand.

Die anderen schrien und heulten. Calderwood versuchte, seine rechte

Hand mit der linken aufzuheben, während ihm der Lebenssaft aus dem Handgelenk rann. Stugley Grenier hatte eine Pistole in einem Schulterhalfter versteckt und bemühte sich erfolglos, sie herauszuholen. Eddie King wollte aufstehen und fiel direkt vom Stuhl auf den Rücken. Bevor er aufstehen konnte, stand Heroux mit gespreizten Beinen über ihm und holte mit seiner Axt weit aus. King schrie und hielt abwehrend beide Hände hoch.

»Bitte, Claude, ich habe erst letzten Monat geheiratet«, schrie King, und dann sauste die Axt herunter und bohrte sich tief in Kings stattlichen Bauch. Blut spritzte nach allen Richtungen. Eddie brüllte und wand sich auf dem Boden. Claude zog seine Axt aus Eddies Eingeweiden heraus, so wie ein guter Holzfäller seine Axt aus einem weichen Baumstamm herauszieht - sie vorsichtig hin- und herbewegend, um sie vom klebrigen Holz zu befreien. Er brachte sie heraus und holte mit dem bluttriefenden Werkzeug wieder weit aus. Nach dem nächsten Hieb schrie Eddie King nicht mehr. Aber Claude Heroux war noch nicht mit ihm fertig - er schien richtig Kleinholz aus ihm machen zu wollen.

An der Bar unterhielt man sich inzwischen über den bevorstehenden Winter. Vernon Stanchfield, ein Farmer aus Palmyra, sagte einen milden Winter voraus - Herbstregen braucht den Schnee auf, behauptete er. Alfie Naugler, der eine Farm in Derry hatte, war hingegen der Meinung, es würde ein bitterkalter Winter werden. Er hätte auf einigen Raupen die unerhörte Zahl von acht Ringen entdeckt. Ein dritter sagte viel Matsch voraus, ein vierter prophezeite viel Schnee. Natürlich kam auch der Schneesturm von 1904 wieder aufs Tapet. Jonsey ließ Bierhumpen und Schüsseln mit Eiern über die Theke schlittern. Hinter ihnen hörten die Schreie nicht auf, und Ströme von Blut flössen.

An dieser Stelle schaltete ich meinen Kassettenrecorder ab und fragte Egbert Thoroughgood: »Wie war so etwas möglich? Wollen Sie sagen, Sie hätten nicht gewußt, was da vorging, oder daß Sie es wußten, sich aber nicht darum kümmerten, oder was sonst?«

Thoroughgoods Kinn sank auf den obersten Knopf seines fleckigen Hemdes. Er zog die Augenbrauen zusammen. Lange Zeit schwieg er. Es war Winter, und ich konnte - wenn auch sehr schwach - das Lachen und Rufen der Kinder hören, die auf dem großen Hügel im McCarron-Park Schlitten fuhren. Die Stille in Thoroughgoods Zimmer, das klein und mit Möbeln vollgestopft war und nach Medikamenten roch, hielt so lange an, daß ich meine Frage gerade wiederholen wollte, als er erwiderte: »Wir wußten, was da vorging. Aber es schien uns nichts anzugehen. Es war so, als würde es ganz woanders passieren. In gewisser Weise war's so ähnlich wie mit der Politik. Ja, so ähnlich. Oder wie mit Geschäften. Am besten sollen sich nur die Leute um Geschäfte kümmern, die was davon verstehen. Mit Rechtsstreitigkeiten ist's dasselbe. Einfache Leute, Arbeiter, halten sich da am besten raus.«

»Sprechen Sie etwa in diesem Zusammenhang von Schicksal?« fragte ich ungläubig.

Die Frage rutschte mir einfach so heraus - eigentlich war sie mehr an mich selbst gerichtet als an Thoroughgood, der alt und schwerfällig und ungebildet war. Ich erwartete von ihm eigentlich gar keine Antwort - aber er gab sie mir.

»Jaaa«, sagte er. »Vielleicht tu' ich das.«

Während die Männer an der Bar sich über das Wetter unterhielten, fuhr Heroux mit seinem blutigen Handwerk fort. Stugley Grenier war es endlich gelungen, seine Pistole herauszuholen. Er zielte auf Claudes Gesicht und drückte ab. Aber gerade in diesem Moment sauste die Axt wieder auf Eddie King hernieder, der schon regelrecht in Stücke geschlagen war. Die Kugel prallte von der Axt ab.

El Katook kam irgendwie auf die Beine und versuchte sich davonzuschleichen. Er hielt immer noch die Karten in der Hand, die er nicht mehr hatte austeilen können; einzelne Karten flatterten zu Boden. Er sah aus wie ein Zauberkünstler, der ein einfaches Kunststück verpatzt hat. Claude verfolgte ihn. El Katook hob beschwörend die Hände. Stugley Grenier schoß wieder, verfehlte Heroux aber um gute zehn Fuß.

»Nicht doch, Claude!« rief El Katook, und es hörte sich an, als versuche er zu lächeln. »Ich war nicht dabei. Ich hatte mit der Sache nichts zu tun.«

Heroux knurrte nur.

»Ich war in Millinockett«, kreischte El Katook. »Ich war in Millinockett, ich schwor's beim Namen meiner Mutter! Frag jemanden, wenn du mir nicht gl. ..«

Claude hob die bluttriefende Axt, und El Katook warf ihm die restlichen Karten ins Gesicht. Die Axt pfiff durch die Luft. El Katook wich aus, und sie bohrte sich in die Holzwand der Kneipe. El Katook versuchte wegzurennen. Claude zog die Axt aus der Wand und schlug El Katook damit gegen die Fußknöchel. Inzwischen schoß Stugley wieder, und diesmal hatte er mehr Glück. Er hatte auf den Kopf des wahnsinnig gewordenen Holzfällers gezielt; aber es reichte nur zu einer Fleischwunde in Heroux' Oberschenkel.

El Katook kroch auf die Tür zu. Seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Claude schwang brüllend wieder seine Axt, und einen Augenblick später rollte El Katooks Kopf über den mit Sägespänen bestreuten Boden. Seine Zunge hing zwischen den Zähnen heraus. Der Kopf landete neben dem Stiefel eines Holzfällers namens Varney, der fast den ganzen Tag in der Kneipe verbracht hatte und inzwischen so betrunken war, daß er nicht mehr wußte, ob er an Land oder auf hoher See war. Er stieß den Kopf mit dem Fuß beiseite, ohne überhaupt hinzusehen, was es war, und dann brüllte er nach einem neuen Bier.

Katook kroch noch drei Fuß weiter, während ihm das Blut wie eine Fontäne aus der Halsschlagader schoß, bevor er zusammenbrach. Nun war nur noch Stugley übrig. Heroux wollte sich auf ihn stürzen, aber Stugley konnte noch aufs Klo rennen und die Tür verriegeln.

Heroux brach brüllend und tobend und geifernd die Tür auf, aber als er ins Klo stürzte, war Stugley verschwunden, obwohl der kalte, zugige kleine Raum kein Fenster hatte. Einen Moment lang stand er mit gesenktem Kopf da, die muskulösen Arme mit Blut beschmiert, und dann riß er den Klodek-kel auf. Er sah gerade noch, wie Stugleys Stiefel unter der vermoderten Bretterkante der äußeren Scheißhauswand verschwanden. Stugley Grenier rannte im Regen schreiend die Exchange Street hinunter, von Kopf bis Fuß braun und stinkend; er brüllte, er würde ermordet. Er überlebte als einziger die Metzelei im >Silver Dollar<, aber nachdem er sich drei Monate lang die Witze über seine Fluchtmethode angehört hatte, verschwand er für immer aus Derry und Umgebung.

Heroux kam aus dem Klo heraus und blieb mit gesenktem Kopf davor stehen; seine Axt hielt er immer noch mit beiden Händen fest. Er keuchte und war über und über mit Blut bespritzt.

»Mach die Tür zu, Claude, das stinkt ja bestialisch!« rief Thoroughgood. Claude ließ seine Axt fallen und tat, wie ihm geheißen. Er ging auf den Tisch zu, wo seine Opfer gesessen hatten, und kickte dabei eins von Ed Kings abgeschlagenen Beinen aus dem Weg. Dann saß er einfach da, den Kopf auf die Arme gelegt. Das Trinken und die Unterhaltungen in der Bar gingen weiter. Fünf Minuten später kamen Männer in die Kneipe gerannt, darunter auch drei oder vier Hilfssheriffs (einer von ihnen war Lal Dakins Vater, und als er das Blutbad sah, bekam er einen Herzanfall und mußte in Dr. Shratts Praxis gebracht werden). Claude Heroux wurde abgeführt.

In jener Nacht war das Gemetzel in allen Kneipen auf der Exchange Street und der Baker Street natürlich das einzige Gesprächsthema. Die Männer betranken sich und steigerten sich immer mehr in Wut hinein, und als die Kneipen schlössen, stürmten mehr als 70 Mann in Richtung Innenstadt und Gerichtsgebäude. Sie hatten Fackeln und Laternen bei sich, Gewehre, Äxte und Heugabeln.

Der Kreissheriff wurde erst am nächsten Tag aus Bangor erwartet, und Goose Dakin, sein erster Stellvertreter, lag mit seinem Herzanfall in Dr. Shratts Praxis. Die beiden Hilfssheriffs, die in Dakins Büro saßen und Cribbage spielten, hörten den Mob kommen und machten sich rasch aus dem Staub. Der Mob stürzte herein und zerrte Claude Heroux aus seiner Zelle. Er protestierte kaum; er wirkte wie betäubt.

Sie trugen ihn auf den Schultern wie einen Footballstar; zur Canal Street trugen sie ihn, und dort knüpften sie ihn an einer großen alten Ulme am Kanal auf. »Er war so weggetreten, daß er nur zweimal mit dem Fuß zuckte«, sagte Egbert Thoroughgood. Eigentlich überflüssig, es zu erwähnen - natürlich stand nichts darüber in den >Derry News<. Viele von denen, die unbeteiligt weitergetrunken hatten, während Heroux im >Silver Dollar< herumwütete, gehörten zu dem Mob, der ihm eine Schlinge um den Hals legte und ihn aufknüpfte. Mochten sie am frühen Abend noch so unbeteiligt gewesen sein - bis Mitternacht hatte ihre Stimmung total umgeschlagen.

Ich stellte Thoroughgood meine letzte Frage: Hatte er während der Gewalttätigkeiten jenes Tages jemanden gesehen, den er nicht kannte? Jemanden, der ihm sonderbar, fehl am Platze, komisch oder sogar clownartig vorgekommen war? Jemanden, der vielleicht im >Silver Dollar< an der Bar stand und der dann, zu vorgerückter Stunde, als alle schon betrunken waren und anfingen, vom Lynchen zu reden, sie noch mehr aufhetzte?

»Vielleicht habe ich so was gesehen«, antwortete Thoroughgood. Er war inzwischen schon sehr müde und reif für sein Nachmittagsschläfchen. »Es ist lange her, Mister. Lange, sehr lange ist es her.«

»Aber Sie erinnern sich doch an etwas?« fragte ich.

»Ich erinnere mich, gedacht zu haben, daß irgendwo auf dem Weg nach

Bangor ein Jahrmarkt sein muß«, sagte Thoroughgood. »Ich habe an jenem Abend im >Bloody Bucket< weitergetrunken, einer Bierkneipe, die so etwa sechs Türen vom >Silver Dollar< entfernt war. Da drin war so'n Kerl... 'n komischer Bursche war das... machte Luftsprünge und schlug Purzelbäume ... führte Kunststückchen vor... jonglierte mit Gläsern... legte sich Münzen auf die Stirn, und sie blieben dort haften... komischer Kerl, wissen Sie...«

Sein knochiges Kinn sank wieder auf die Brust. Er war am Einschlafen. Speichel begann ihm aus den Winkeln seines zahnlosen, faltigen Mundes zu fließen.

»Habe ihn seitdem ein paarmal wiedergesehen«, murmelte er. »Vielleicht hat er sich an jenem Abend so gut amüsiert, daß er beschlossen hat, sich in der Nähe niederzulassen.«

»Er ist schon sehr lange hier«, sagte ich.

Als einzige Antwort hörte ich leises Schnarchen. Thoroughgood war in seinem Stuhl am Fenster eingeschlafen. Seine ganzen Arzneien standen neben ihm auf dem Sims, in Reih und Glied wie paradierende Soldaten - Tabletten und Tropfen und ein billiges Wasserglas, in dem ein Löffel stand.

Ich stellte meinen Kassettenrecorder ab, blieb eine Weile einfach sitzen und betrachtete diesen seltsamen Zeit-Reisenden, der noch eine Ära ohne Autos, ohne elektrisches Licht, ohne Flugzeuge, ohne den Staat Arizona erlebt hatte. Ich konnte immer noch aus der Ferne das fröhliche Geschrei der Kinder hören, und meine Haut war so kalt wie der Schnee, auf dem sie Schlitten fuhren. Thoroughgood hatte mir mehr bestätigen können, als ich erwartet hatte. Pennywise war dort gewesen, hatte mit Biergläsern jongliert, Münzen auf seiner Stirn balanciert, vermutlich die Stimmung des Mobs angeheizt und nach seinen Willen gelenkt. Pennywise hatte sie auf den Pfad eines weiteren Menschenopfers geführt - eines kleines Gliedes in der langen, langen Kette von Opfern in der Geschichte Derrys. Jenes Ereignis vom September 1908 leitete eine Periode noch größeren Schreckens ein, der schließlich in der Explosion der Eisenhütte zu Ostern des folgenden Jahres seinen Höhepunkt fand.

Das alles wirft Fragen auf, die lebenswichtig sein dürften - was ißt Es beispielsweise wirklich? Ich weiß, daß einige Kinder teilweise aufgefressen waren oder zumindest Bißwunden zeigten, aber vielleicht sind wir es, die Es anstiften. Uns allen wurde seit frühester Kindheit beigebracht, daß das Monster einen auffrißt, wenn Es einen im finstern Wald fängt. Vielleicht ist das einfach das Schlimmste, was wir uns vorstellen können. Aber zumindest in den Geschichten ist es eigentlich der Glaube, von dem die Monster leben. Der Glaube von Kindern. Diese Schlußfolgerung drängt sich mir unweigerlich auf: Essen mag lebensnotwendig sein, aber die eigentliche Quelle der Macht ist nicht das Essen, sondern der Glaube. Und wer ist zu einem totalen Glaubensakt befähigter als ein Kind?

Und genau da liegt natürlich das Problem. Kinder werden größer, werden erwachsen. In der Kirche wird Macht durch regelmäßig wiederholte Kulthandlungen verewigt. In Derry scheint die Macht ebenfalls durch regelmäßig wiederholte Kulthandlungen verewigt zu werden. Kann es vielleicht sein, daß dieses Es, das manchmal in das Kostüm von Pennywise schlüpft, SICH verewigt, indem Es in den Kindern einen Glauben an finstere Mächte weckt, und daß Es durch eine ganz einfache Tatsache geschützt ist: wenn die Kinder erwachsen werden und rationales Denken lernen, das ihm eventuell gefährlich werden könnte, dann vergessen sie?

Ja, ich glaube, hierin besteht das eigentliche Geheimnis. Und wenn ich meine alten Freunde anrufe - woran werden sie sich noch erinnern können? Werden sie sich an genug erinnern können, um diesem Schrecken ein für allemal ein Ende zu setzen? Oder werden ihre Erinnerungen lückenhaft bleiben, und alles wird nur zu ihrer Ermordung führen? Diese Fragen lasten so schwer auf mir, daß sie fast schon zu fixen Ideen werden. Meine Freunde werden herbeigerufen - soviel steht für mich fest. Jeder dieser neuen Morde war ein Ruf. Wir haben Es zweimal fast getötet, einmal im Haus auf der Nei-bolt Street und dann vierzehn Tage später, am 10. August. Wir haben ihm Angst eingejagt - Es hat sich tief in seine Wohnstätten aus Tunnels und stinkenden Räumen unterhalb der Stadt verkrochen. Aber ich glaube, Es kannte das Geheimnis: Es selbst mag unsterblich - oder fast unsterblich -sein, aber wir sind es nicht. Es brauchte nur abzuwarten, bis der totale Glaubensakt, der uns als Kinder ebenso zu potentiellen Monster-Killern wie zu potentiellen Opfern machte, für uns unmöglich würde. 27 Jahre. Vielleicht ein Zeitabschnitt des Schlafes für Es, so kurz und erfrischend wie für uns ein Nachmittagsschläfchen. Und wenn Es aufwacht, ist Es unverändert, für uns aber ist ein Drittel unseres Lebens vergangen. Unsere Perspektiven haben sich verengt; unser Glaube an die Magie, der Magie erst ermöglicht, ist verblaßt wie der Glanz von neuen Schuhen nach einer anstrengenden Tageswanderung.

Aber weshalb ruft Es uns zurück? Warum läßt es uns nicht einfach eines natürlichen Todes sterben (unsere Lebensspannen müssen ihm doch so kurz vorkommen wie uns jene Eintagsfliegen)? Weil wir Es verletzt haben, weil wir Es fast getötet haben, weil wir seinen letzten Zyklus von Mord und Schrecken vorzeitig beendet haben, bevor Es bereit war, wieder einzuschlafen. Weil Es sich an uns rächen will.

Und jetzt, da wir nicht mehr an den Weihnachtsmann, ans Sandmännchen und an Hansel und Gretel glauben, jetzt wartet Es auf uns. Komml zurück, sagt Es. Kommt zurück, und wir werden die Sache in Derry zu Ende führen. Bringt eure Schachtelmännchen und eure Murmeln und eure Yo-Yos mit... und wir werden spielen. Kommt zurück dann werden wir sehen, ob ihr euch an das Allereinfachste erinnert: wie es ist, ein Kind zu sein... und sich vor dem Dunkeln zu fürchten.

Zumindest diese letzte Forderung erfülle ich tausendprozentig: ich fürchte mich. Ich habe irrsinnige Angst.

Загрузка...