17 Rosafarbene Schleifen

Kalte Windböen wehten über den Mol Hara, hoben Mats Umhang und drohten den an seiner Kleidung klebenden Schlamm zu gefrieren, als Noal und er aus der Gasse eilten. Die Sonne hing zur Hälfte verborgen hinter den Dachrändern und die Schatten wurden zusehends länger. Mat musste den Umhang gewähren lassen, denn mit der einen Hand hielt er den Stab und mit der anderen in der Manteltasche die zerrissene Schnur des Fuchskopfes, dazu bereit, sie herauszureißen, falls es erforderlich war. Sein Körper schmerzte von Kopf bis Fuß, die klappernden Würfel in seinem Kopf verkündeten ihre Warnung, doch er nahm beides kaum wahr. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, alle Richtungen auf einmal im Auge zu behalten und sich dabei zu fragen, durch ein wie kleines Loch sich das Ding wohl zwängen konnte. Er ertappte sich dabei, wie er die Spalten zwischen den Pflastersteinen des Platzes voller Unbehagen betrachtete. Allerdings erschien es doch eher unwahrscheinlich, dass ihn das Ungeheuer in aller Öffentlichkeit angriff.

Von den umgebenden Straßen drang ein beständiger Lärm heran, aber hier rannte bloß ein Hund mit hervortretenden Rippen an dem Brunnen mit der Statue der vor langer Zeit verstorbenen Königin Nariene vorbei. Manche behaupteten, ihre ausgestreckte Hand zeige auf die Beute des Ozeans, die Ebou Dar reich gemacht hatte, während andere es als Warnung vor kommenden Gefahren interpretierten. Es gab auch Leute, die behaupteten, ihre Nachfolgerin hätte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken wollen, dass lediglich eine Brust der Statue unbedeckt war und damit öffentlich verkündet wurde, dass Nariene nur leidlich ehrlich gewesen war.

Zu einer anderen Zeit wäre der Mol Hara im Winter selbst zu dieser Stunde voller spazierender Liebespärchen und Straßenhändler und von Hoffnung erfüllter Bettler gewesen, aber die Bettler hatten seit der Ankunft der Seanchaner erleben müssen, dass man sie auf den Straßen einsammelte und ihnen eine Arbeit zuteilte, und der Rest blieb selbst im Tageslicht fort. Der Grund dafür war der Tarasin-Palast, jener große Berg aus weißen Kuppeln und Marmorturmspitzen und schmiedeeisernen Baikonen, die Residenz von Tylin Quintara Mitsobar, Dank der Gnade des Lichts Königin von Altara — oder zumindest so viel von Altara, wie in ein paar Tagesritten im Umkreis von Ebou Dar zu erreichen war —, die Herrin der Vier Winde und Wächterin der See der Stürme. Und, was vielleicht noch wichtiger war, die Residenz der Hochlady Suroth Sabelle Meldarath, Befehlshaberin der Vorläufer der Kaiserin von Seanchan, mochte sie ewig leben. Im Augenblick war das eine viel wichtigere Position. An jedem Eingang standen Tylins Wachen mit ihren bauschigen weißen Hosen, grünen Stiefeln und vergoldeten Brustpanzern über den grünen Mänteln, aber da waren auch Männer und Frauen mit jenen insektenhaften Helmen und blaugelben oder grünweißen oder in allen möglichen anderen vorstellbaren Kombinationen gestreiften Rüstungen. Die Königin von Altara brauchte Sicherheit und Stille für ihre Erholung. Zumindest behauptete das Suroth. Und wenn Suroth sagte, dass Tylin es so wollte, dann wollte Tylin es nach kurzer Zeit auch tatsächlich.

Nach kurzem Überlegen ging Mat mit Noal zu einem der Tore, die zu den Stallungen führten. Dort bestand eine größere Chance, einen Fremden hereinzubringen, als wenn er die große Marmortreppe benutzte, die auf den Platz hinunter führte. Ganz zu schweigen von einer Gelegenheit, den Schlamm loszuwerden, bevor er Tylin gegenübertreten musste. Als er das letzte Mal nach einer Wirtshausschlägerei zerzaust zurückgekommen war, hatte sie ihr Missfallen deutlich zum Ausdruck gebracht.

Eine Hand voll Ebou Dari-Wachen standen mit Hellebarden auf der einen Seite des offenen Tores und auf der anderen befand sich die gleiche Anzahl Seanchaner mit quastengeschmückten Speeren; sie alle standen so steif wie Narienes Statue.

»Des Lichts Segen für alle«, murmelte Mat höflich an die Ebou Dari gewandt. Es war immer besser, Ebou Dari mit Höflichkeit gegenüberzutreten, solange man sie nicht gut kannte. Und danach ebenfalls, was das anging. Trotzdem waren sie viel... flexibler als die Seanchaner.

»Und für Euch, mein Lord«, erwiderte ihr stämmiger Offizier und trat vor. Mat erkannte ihn. Surlivan Sarat, ein anständiger Bursche, immer zu einer schlagfertigen Bemerkung bereit und mit einem guten Auge für Pferde. Surlivan schüttelte den Kopf und klopfte mit dem dünnen, vergoldeten Stab, dem Zeichen seines Amtes, gegen die Seite seines spitzen Helms. »Wart Ihr schon wieder in einen Kampf verwickelt, mein Lord? Sie wird wie eine Wasserfontäne in die Luft gehen, wenn sie Euch sieht.«

Mat nahm aufgebracht die Schultern zurück und versuchte, sich nicht zu offensichtlich auf seinen Stab zu stützen. Immer zu einer schlagfertigen Bemerkung bereit? Wenn man so darüber nachdachte, hatte der von der Sonne dunkel gebräunte Mann eine Zunge wie eine Raspel. Und so gut war sein Auge für Pferde nun auch wieder nicht. »Wird es Fragen geben, wenn mein Freund hier bei meinen Männern schläft?«, fragte er kurz angebunden. »Das sollte es nicht. Bei meinen Männern ist Platz genug.« Platz für mehr als nur einen, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Bis jetzt waren acht Männer gestorben, weil sie ihm nach Ebou Dar gefolgt waren.

»Nicht von mir, mein Lord«, sagte Surlivan, obwohl er den dürren Mann an Mats Seite musterte und verständnisvoll die Lippen schürzte. Noals Mantel erschien von guter Qualität, zumindest unter diesen Lichtverhältnissen, und die Spitze, die er trug, war in einem besseren Zustand als Mats. Vielleicht gab das den Ausschlag. »Und sie braucht nicht alles zu wissen, also auch nicht von ihrer Seite.«

Mat runzelte die Stirn, aber bevor unbeherrschte Worte ihn und Noal in den Suppenkessel befördern konnten, kamen drei gepanzerte Seanchaner ans Tor galoppiert und Surlivan wandte sich ihnen zu.

»Ihr und Eure Ehefrau wohnt im königlichen Palast?«, erkundigte sich Noal und wollte sich Richtung Tor in Bewegung setzen.

Mat zog ihn zurück. »Wartet auf sie«, sagte er und deutete auf die Seanchaner. Seine Ehefrau? Verdammte Frauen! Verdammte Würfel in seinem verdammten Kopf!

»Ich habe Depeschen für die Hochlady Suroth«, verkündete eine der Seanchanerinnen und hieb auf eine Ledertasche, die von einer gepanzerten Schulter hing. Ihr Helm wies eine einzige Feder auf, was sie als untergeordneten Offizier kennzeichnete, aber ihr Pferd war ein großer Wallach, der ziemlich schnell aussah. Die anderen beiden Tiere machten einen durchaus stämmigen Eindruck, aber das war auch alles, was man zu ihren Gunsten sagen konnte.

»Tretet mit dem Segen des Lichts ein«, sagte Surlivan und verbeugte sich andeutungsweise.

Die Verbeugung der Seanchanerin in ihrem Sattel war das genaue Spiegelbild seiner Bemühung. »Der Segen des Lichts auch für Euch«, nuschelte sie und die drei ritten auf den Stallhof.

»Das ist schon seltsam«, meinte Surlivan und sah ihnen nach. »Sie fragen immer uns um Erlaubnis, nie sie.« Er wies mit dem Stab auf die seanchanischen Wachen auf der anderen Seite des Tors. Sie hatten ihre starre Haltung beibehalten, sie hatten, soweit es Mat betraf, die Neuankömmlinge nicht mal angesehen.

»Und was würden sie tun, wenn Ihr ihnen sagt, sie könnten nicht eintreten?«, fragte Noal leise und rückte das Bündel auf seinem Rücken zurecht.

Surlivan fuhr auf dem Absatz herum. »Es reicht, dass ich meiner Königin einen Eid geschworen habe«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme, »und sie hat ihren ... wem auch immer sie ihn geleistet hat. Gebt Eurem Freund ein Bett, mein Lord. Und warnt ihn, dass es Dinge gibt, die in Ebou Dar besser ungesagt bleiben, wie auch Fragen, die man besser nicht stellt.«

Noal sah verblüfft aus und fing an zu protestieren, dass er nur neugierig sei, aber Mat tauschte mit dem altaranischen Offizier weitere Höflichkeiten aus — so schnell er konnte — und drängte seinen neuen Bekannten durch das Tor, wobei er ihn mit gesenkter Stimme über die Lauscher aufklärte. Der Mann mochte ihm ja das Leben vor dem Gholam gerettet haben, aber das bedeutete nicht, dass er zulassen würde, wie er es den Seanchanern in die Hände spielte. Auch sie verfügten über Leute, die man Sucher der Wahrheit nannte, und dem Wenigen zufolge, was er gehört hatte — selbst Leute, die unbefangen über die Totenwache sprachen, machten den Mund zu, wenn es um die Sucher ging —, ließen die Sucher die Zweifler der Weißmäntel wie kleine Jungen aussehen, die Fliegen die Flügel ausrissen; sicherlich ekelhaft, aber nichts, worüber sich ein Mann Sorgen machen musste.

»Ich verstehe«, sagte der Alte langsam. »Das habe ich nicht gewusst.« Er klang, als würde er sich über sich selbst ärgern. »Ihr müsst viel Zeit mit den Seanchanern verbringen. Kennt Ihr auch die Hochlady Suroth? Ich muss schon sagen, ich hatte keine Ahnung, dass Ihr solch weit reichende Verbindungen habt.«

»Wenn ich kann, verbringe ich Zeit mit den Soldaten in Schenken«, erwiderte Mat mürrisch. Wenn Tylin ihn ließ. Licht, er hätte genauso gut verheiratet sein können! »Suroth weiß nicht, dass es mich gibt.« Und er hoffte inständig, dass das auch so blieb.

Die drei Seanchaner waren bereits außer Sicht, ihre Pferde hatte man in die Ställe geführt, aber mehrere Dutzend Sul'dam verschafften ihren Domäne den abendlichen Auslauf und führten sie in einem großen Kreis über den gepflasterten Hof. Fast die Hälfte der grau gekleideten Domäne waren dunkelhäutige Frauen, die nun auf den Schmuck verzichten mussten, den sie als Windsucherinnen getragen hatten. Im Palast und auch überall sonst gab es noch mehr von ihnen; die Seanchaner hatten auf den Schiffen des Meervolks, die ihnen nicht entkommen waren, eine reiche Ernte eingefahren. Die meisten Gesichter zeigten mürrische Resignation oder steinerne Mienen, aber sieben oder acht von ihnen starrten verloren und verwirrt ins Leere, da sie es noch immer nicht glauben konnten. Jede dieser Frauen wurde von einer in Seanchan geborenen Damane begleitet, die ihr die Hand hielt oder einen Arm um sie gelegt hatte und ihr unter den anerkennenden Blicken der Frauen, die zu ihren silbernen Kragen gehörende Armbänder trugen, lächernd zuflüsterte. Ein paar der benommenen Frauen klammerten sich so verzweifelt an die sie begleitende Domäne, als hielten sie Rettungsringe. Es hätte ausgereicht, um Mat frösteln zu lassen, hätten dafür nicht schon seine feuchten Kleider gesorgt.

Er versuchte, Noal schnell über den Hof zu führen, aber der Kreis brachte eine Damane in seine Nähe, die weder Seanchanerin noch eine Atha'an Miere war. Sie war mit einer fülligen Sul'dam mit grauen Haaren verbunden, die olivfarbene Haut hatte und als Altaranerin und Mutter durchgegangen wäre. Der Art und Weise nach zu urteilen, wie sie ihren Schützling ansah, war sie eine strenge Mutter mit einem möglicherweise widerspenstigen Kind. Teslyn Baradon war nach anderthalb Monaten seanchanischer Gefangenschaft dicker geworden, doch ihr altersloses Gesicht sah noch immer so aus, als würden ihre drei Mahlzeiten des Tages nur aus Brombeeren bestehen. Andererseits ging sie friedlich an ihrer Leine, gehorchte den gemurmelten Anweisungen der Sul'dam, ohne zu zögern, und blieb nur stehen, um sich tief vor ihm und Noal zu verbeugen. Aber einen Augenblick lang blitzte in ihren dunkeln Augen tiefer, auf ihn gemünzter Hass auf, bevor sie und die Sul'dam ihre Runde auf dem Stallhof fortführten. Friedlich, gehorsam. Er hatte auf genau diesem Stallhof miterlebt, wie man Damane wegen irgendwelchen Kleinigkeiten so lange mit Ruten geschlagen hatte, bis sie schrien. Teslyn war unter ihnen gewesen. Sie hatte ihm nie etwas Gutes getan, manchmal vielleicht sogar etwas Schlechtes, aber er hätte ihr niemals ein solches Schicksal gewünscht.

»Besser als tot zu sein, schätze ich«, murmelte er und ging weiter. Teslyn war eine harte Frau, die vermutlich jeden Augenblick mit Fluchtplänen beschäftigt war, aber Härte brachte einen auch nur bis zu einem gewissen Punkt. Die Herrin der Schiffe und ihre Meisterin der Klingen waren ohne einen Schrei von sich zu geben am Pfahl gestorben, aber es hatte sie nicht gerettet.

»Glaubt Ihr das wirklich?«, fragte Noal gedankenverloren und fummelte wieder an seinem Bündel herum. Seine verkrüppelten Hände waren mit dem Messer recht geschickt umgegangen, aber bei allem anderen schienen sie unbeholfen zu sein.

Mat sah ihn stirnrunzelnd an. Nein, er war sich nicht sicher, ob er es glaubte. Die silbernen A'dam schienen zu sehr dem unsichtbaren Kragen zu ähneln, den Tylin ihm angelegt hatte. Andererseits konnte Tylin ihn den Rest seines Lebens unter dem Kinn kitzeln, wenn ihn das vom Pfahl fern hielt. Licht, er wünschte sich, die verdammten Würfel in seinem Kopf würden endlich aufhören zu rollen und die Sache zu Ende bringen! Nein, das war eine Lüge. Seit er endlich begriffen hatte, was die Würfel bedeuteten, hatte er sich gewünscht, sie würden nie mehr aufhören zu rollen.

Der Raum, den sich Chel Vanin und die Rotwaffen teilten, lag nicht weit von den Ställen entfernt, ein langes, weiß verputztes Gemach mit niedriger Decke und zu vielen Betten für jene, die überlebt hatten. Vanin, ein kahl werdender Fleischberg, lag hemdsärmlig auf einem von ihnen, ein aufgeschlagenes Buch auf der Brust. Mat war überrascht, dass der Mann lesen konnte. Vanin spuckte durch eine Zahnlücke und musterte Mats schlamm verschmierte Kleidung. »Habt Ihr Euch wieder geprügelt?«, fragte er. »Ich schätze, ihr wird das nicht gefallen.« Er stand nicht auf. Von ein paar überraschenden Ausnahmen abgesehen betrachtete sich Vanin jedem Lord und jeder Lady ebenbürtig.

»Ärger, Lord Mat?«, knurrte Harnan und sprang auf. Er war ein robuster Mann, physisch gesehen und vom Temperament her, aber er biss die Zähne zusammen, was den unbeholfen auf seine Wange tätowierten Falken sich verziehen ließ. »Entschuldigt, aber Ihr seid nicht in der Verfassung dafür. Sagt uns, wie er aussieht, und wir kümmern uns um ihn.«

Drei weitere Männer versammelten sich mit eifrigen Mienen hinter ihm, zwei von ihnen griffen nach ihren Mänteln, während sie noch damit beschäftigt waren, sich das Hemd in die Hose zu stecken. Metwyn, ein jungenhaft aussehender Cairhiener, der zehn Jahre älter als Mat war, griff stattdessen nach dem Schwert, das am Fußende seines Bettes stand, und zog die Klinge ein Stück aus der Scheide, um ihre Schneide zu überprüfen. Von ihnen allen konnte er am besten mit dem Schwert umgehen, sogar sehr gut, obwohl Gorderan ihm darin sehr nahe kam — auch wenn er wie ein Schmied aussah. Gorderan war nicht einmal annähernd so langsam, wie ihn seine breiten Schultern wirken ließen. Ein Dutzend Rotwaffen waren Mat nach Ebou Dar gefolgt, davon waren acht gestorben. Der Rest saß hier im Palast fest, wo sie weder Schankmädchen in den Hintern kneifen noch in Kämpfe wegen Würfelspielen geraten und bis zum Umfallen trinken konnten, wie sie es getan hätten, wenn sie in einem Gasthaus gewohnt und gewusst hätten, dass der Wirt im letzteren Fall dafür sorgen würde, dass man sie nach oben in ihre Betten trug, wenn auch vermutlich mit erleichtertem Geldbeutel.

»Noal kann euch besser als ich erzählen, was passiert ist«, erwiderte Mat und schob sich den Hut in den Nacken. »Er wird bei euch schlafen. Er hat mir heute Abend das Leben gerettet.«

Das rief entsetzte Ausrufe und lautstarken Beifall für Noal hervor, ganz zu schweigen von überschwänglichen Hieben auf den Rücken, die den alten Burschen beinahe von den Füßen holten. Vanin ging sogar so weit, die Stelle, an der er gerade las, mit einem fetten Finger zu markieren und sich auf den Rand seiner dünnen Matratze zu setzen.

Nachdem Noal sein Bündel auf ein freies Bett geworfen hatte, erzählte er die Geschichte mit ausgiebigen Gesten, spielte seine Rolle herab und machte sich sogar zu so etwas wie einem Tölpel, der im Schlamm ausrutschte und den Gholam anstarrte, während Mat wie ein Held kämpfte. Harnan und die Rotwaffen lachten herzlich, da sie wussten, was er damit bezweckte, und es guthießen, dass er ihren Hauptmann nicht schlecht aussehen lassen wollte, aber ihr Gelächter erstarb, als er dazu kam, wie Mats Angreifer in einem winzigen Loch in der Wand verschwand. Er schilderte auch das sehr anschaulich. Vanin legte sein Buch weg und spuckte erneut durch die Zähne aus. Der Gholam hatte ihn und Harnan im Rahad halb tot zurückgelassen. Halb tot, weil er hinter einem anderen her gewesen war.

»Anscheinend ist das Ding aus irgendeinem Grund hinter mir her«, sagte Mat leichthin, als der Alte geendet hatte und sich scheinbar erschöpft auf sein Bett sinken ließ. »Vermutlich hat es irgendwann einmal mit mir Würfel gespielt, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Solange ihr ihm und mir nicht in die Quere kommt, hat keiner von euch etwas zu befürchten.« Er grinste und versuchte, einen Witz daraus zu machen, aber keiner von ihnen lächelte auch nur. »Wie dem auch sei, ich werde euch morgen früh Gold geben. Ihr werdet auf dem ersten Schiff nach Illian eine Passage buchen und Olver mitnehmen. Thom und Juilin auch, falls sie mitgehen wollen.« Er vermutete, dass der Diebefänger auf jeden Fall wollte. »Und natürlich Nerim und Lopin.« Er hatte sich daran gewöhnt, dass die beiden Diener sich um ihn kümmerten, aber eigentlich brauchte er sie hier nicht. »Talmanes muss mittlerweile in der Nähe von Caemlyn sein. Ihr dürftet keine großen Schwierigkeiten haben, ihn zu finden.« Wenn sie weg waren, würde er mit Tylin allein sein. Licht, lieber würde er sich wieder dem Gholam stellen!

Harnan und die anderen drei Rotwaffen tauschten Blicke aus, Fergin kratzte sich am Kopf, als würde er nicht genau verstehen. Vielleicht tat er es tatsächlich nicht. Der knochige Mann war ein guter Soldat — nicht der beste, das nicht, aber gut genug —, aber er war nicht der hellste, wenn es um andere Dinge ging.

»Das wäre nicht richtig«, sagte Harnan schließlich. »Lord Talmanes würde uns das Fell gerben, wenn wir ohne Euch zurückkommen.« Die anderen drei nickten. Das konnte Fergin verstehen.

»Und Ihr, Vanin?«, fragte Mat.

Der fette Mann zuckte mit den Schultern. »Wenn ich diesen Jungen von Riselle fortbringe, wird er mich im Schlaf wie eine Forelle ausweiden. An seiner Stelle würde ich das Gleiche tun. Wie dem auch sei, ich habe hier Zeit zum Lesen. Dazu habe ich als Hufschmied nicht oft Gelegenheit.« Das war eines der Handwerke, die er augenblicklich ausübte. Das andere war Stallknecht. In Wahrheit war er Pferdedieb und Wilderer, und zwar der beste in zwei Ländern und vermutlich noch viel mehr.

»Ihr seid alle verrückt«, sagte Mat stirnrunzelnd. »Nur weil er mich will, heißt das nicht, dass er euch nicht tötet, wenn ihr ihm in die Quere kommt. Das Angebot bleibt bestehen. Jedermann, der zur Besinnung kommt, kann gehen.«

»Ich habe schon Männer wie Euch gesehen«, sagte Noal plötzlich. Der nach vorn gebeugte Mann war das gestaltgewordene Bild von Alter und Erschöpfung, aber seine funkelnden Augen musterten Mat eindringlich. »Einige Männer haben eine Ausstrahlung, die andere Männer dazu bringt, ihnen überallhin zu folgen. Einige führen in die Vernichtung, andere zum Ruhm. Ich könnte mir vorstellen, dass Euer Name in die Geschichtsbücher Einzug halten wird.«

Harnan sah so verwirrt wie Fergin aus. Vanin spuckte aus, legte sich wieder hin und öffnete das Buch.

»Wenn mich mein Glück verlässt, dann vielleicht«, murmelte Mat. Er wusste, was dazu nötig war, um in die Geschichtsbücher aufgenommen zu werden. Dabei konnte ein Mann leicht sein Leben verlieren.

»Ihr solltet besser ein Bad nehmen, bevor sie Euch sieht«, sagte Fergin plötzlich. »Der ganze Dreck wird ihr eine Klette unter den Sattel schieben.«

Wütend riss sich Mat den Hut vom Kopf und stolzierte wortlos weg. Das heißt, er stolzierte, so gut es ging, wenn man an einem Stab hinken musste. Bevor sich hinter ihm die Tür schloss, hörte er, wie Noal anfing, die Geschichte zu erzählen, wie er einmal auf einem Schiff des Meervolks gesegelt war und gelernt hatte, in Salzwasser zu baden. Zumindest fing sie so an.

Er wollte sich sauber machen, bevor Tylin ihn zu Gesicht bekam — das wollte er wirklich —, aber als er durch die Korridore hinkte, in denen die geblümten Wandteppiche hingen, die Ebou Dari wegen der Jahreszeit, an die sie erinnerten, Sommerteppiche nannten, schlugen ihm vier der in die grünen und weißen Livreen des Palasts gekleideten Diener und nicht weniger als sieben Dienerinnen vor, doch besser ein Bad zu nehmen und die Kleider zu wechseln, bevor die Königin ihn so sah; sie boten ihm sogar an, ein Bad einzulassen und frische Sachen zu holen, ohne dass sie davon erfuhr. Sie wussten nicht alles über Tylin und ihn, wofür er dem Licht dankte — allein Tylin und er kannten die schlimmsten Einzelheiten —, aber sie wussten verdammt noch mal zu viel. Schlimmer noch, jeder verfluchte Diener des verfluchten Tarasin-Palasts hieß es gut. Zum einen war Tylin die Königin und konnte, soweit es sie betraf, tun, wozu sie Lust hatte. Davon abgesehen waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt, seit die Seanchaner die Stadt erobert hatten, und wenn ein geschrubbter und in hübsche, saubere Spitzenrüschen gekleideter Mat Cauthon sie davon abhielt, ihnen wegen Nichtigkeiten die Nasen abzureißen, dann würden sie ihn auch hinter den Ohren waschen und wie ein Geschenk in Spitze einwickeln!

»Schlamm?«, sagte er zu einer hübschen, lächelnden Dienerin, die ihre Röcke zum Hofknicks raffte. Ein Funkeln lag in ihren dunklen Augen, und der tiefe Ausschnitt ihres Oberteils stellte eine ordentliche Portion eines Busens zur Schau, der selbst Riselles hätte Konkurrenz machen können. An einem anderen Tag hätte er sich etwas Zeit genommen, um sich an dem Anblick zu erfreuen. »Schlamm? Was für Schlamm!« Ihr Mund klappte auf, sie vergaß, sich wieder aufzurichten, und starrte ihm mit gebeugten Knien nach, wie er davonhinkte.

Juilin Sandar kam schnell um eine Ecke gebogen und wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen. Der Diebefänger aus Tairen sprang mit einem unterdrückten Fluch zurück, sein dunkelhäutiges Gesicht verfärbte sich grau, bis er erkannte, wer ihn da fast umgerannt hätte. Dann murmelte er eine Entschuldigung und setzte sich wieder eilig in Bewegung.

»Hat Thom dich mit in sein Irrsinnsunternehmen reingezogen, Juilin?«, fragte Mat. Juilin und Thom teilten sich irgendwo bei den Dienstbotenquartieren einen Raum, und er hatte keinen Grund, sich hier aufzuhalten. Mit dem dunklen tairenischen Mantel, der über die Stiefel ging, fiel Juilin unter dem Personal auf wie eine Ente in einem Hühnerstall. Suroth war sehr streng in solchen Dingen, strenger als Tylin. Mat fiel nur ein Grund ein, die Angelegenheit, in die Thom und Beslan verwickelt waren. »Nein, sag es mir nicht. Ich habe Harnan und den anderen ein Angebot gemacht und es gilt auch für dich. Wenn du gehen willst, gebe ich dir das nötige Geld.«

Tatsächlich machte Juilin nicht im Mindesten den Eindruck, als wollte er ihm etwas sagen. Der Diebefänger steckte die Daumen in den Gürtel und erwiderte Mats Blick ungerührt. »Was haben Harnan und die anderen gesagt? Und was hat es mit Thoms Unternehmung auf sich, die du für irrsinnig hältst? Das sind ein paar Dächer, auf denen er sich doch wohl besser auskennt als du und ich.«

»Der Gholam ist noch immer in Ebou Dar, Juilin.« Thom wusste, dass er das Spiel der Häuser beherrschte, und er liebte es, seine Nase in die Politik zu stecken. »Das Ding hat vor wenigen Stunden versucht, mich umzubringen.«

Juilin grunzte, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen, und er fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschnittene schwarze Haar. »Ich habe trotzdem einen Grund, noch etwas länger zu bleiben«, sagte er. Sein Auftreten veränderte sich, nun drückte es etwas Stures und Abwehrendes und irgendwie Schuldiges aus. Mat hatte noch nie gesehen, dass er den Frauen nachstieg, aber wenn ein Mann so aussah, konnte das nur eines bedeuten.

»Nimm sie mit«, sagte er. »Und wenn sie nicht will, nun, du wirst noch keine Stunde in Tear sein, dann hast du schon auf jedem Knie eine Neue sitzen. So ist das mit den Frauen, Juilin. Wenn die eine nein sagt, gibt es immer eine andere, die ja sagen wird.«

Ein Diener mit dem Arm voller Leinenhandtücher eilte vorbei und starrte Mats schlammverkrustetes Erscheinungsbild erstaunt an, aber Juilin bezog das auf sich, riss die Daumen aus dem Gürtel und versuchte, eine etwas demütigere Haltung anzunehmen. Ohne großen Erfolg. Zwar schlief Thom bei der Dienerschaft, aber er hatte es von Anfang an geschafft, es so aussehen zu lassen, als wäre das seine Entscheidung gewesen, eine Exzentrizität, daher fand es niemand seltsam, ihn hier oben in diesem Stockwerk zu sehen, wie er vielleicht in Riselles Gemächer schlüpfte, in denen einst Mat gewohnt hatte. Juilin hatte viel Mühe darauf verwendet, deutlich zu machen, dass er ein Diebefänger war; er hatte so vielen mit Vorsicht zu genießenden kleinen Adligen und selbstzufriedenen Kaufleuten in die Augen geschaut, um klarzustellen, dass er genauso gut war wie sie, dass jeder im Palast wusste, wer und was er war. Und wo er sich aufzuhalten hatte, und zwar im Erdgeschoss.

»Mein Lord ist klug«, sagte er viel zu laut und machte eine steife, ruckartige Verbeugung. »Mein Lord weiß alles über Frauen. Wenn mein Lord nun einem einfachen Mann verzeihen möge, ich muss dorthin zurück, wo ich hingehöre.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um und sagte mit weithin verständlicher Stimme: »Ich habe heute gehört, gesetzt den Fall, mein Lord sollte noch einmal so zurückkommen und aussehen, als hätte man ihn die Straße entlang geschleift, wird die Königin meinen Lord mit einer Rute bestrafen.«

Und das war der Stein, der den Wagen entzwei brach.

Mat riss die Türen zu Tylins Gemächer auf, stürmte herein, warf den Hut quer durch den Raum... und erstarrte. Alles, was er hatte sagen wollen, erstarb auf seiner Zunge. Sein Hut landete auf dem Teppich und rollte weiter, aber er sah nicht, wohin. Eine Windböe rüttelte an den hohen, dreibögigen Verandatüren, die auf den langen Balkon hinausführten, von dem aus man auf den Mol Hara herabblicken konnte.

Tylin drehte sich auf einem Stuhl um, dessen Schnitzwerk ihn wie vergoldetes Bambus aussehen ließ, und starrte ihn über den Rand ihres goldenen Weinpokals an. Wellen glänzenden schwarzen Haars, das an den Schläfen eine leichte Grautönung aufwies, umrahmten ein wunderschönes Gesicht mit den Augen eines Raubvogels, das im Augenblick nicht besonders zufrieden aussah. Sie wippte etwas mit dem übereinander geschlagenen Bein, was die grünen und weißen Stoffschichten der Unterröcke rascheln ließ. Die ovale Öffnung ihres Gewandes, die ihre vollen Brüste zur Hälfte enthüllte, wurde von hellgrüner Spitze gesäumt; zwischen ihnen baumelte der juwelenbesetzte Griff ihres Hochzeitsdolchs. Sie war nicht allein.

Suroth saß ihr gegenüber, sah stirnrunzelnd in ihren Weinpokal und trommelte mit den langen Fingernägeln auf der Stuhllehne; obwohl ihr Haar bis auf einen langen Schöpf abrasiert war, stellte sie eine durchaus hübsche Frau dar, wenn man einmal davon absah, dass sie Tylin wie einen verschreckten Hasen aussehen ließ. Zwei Fingernägel jeder Hand waren blau lackiert. An ihrer Seite saß ausgerechnet ein kleinwüchsiges Mädchen, das ebenfalls ein mit aufwendigen Blumenmustern besticktes Oberteil mit weißen Faltenröcken trug, dessen Kopf — der anscheinend völlig kahl geschoren war! — mit einem durchsichtigen Schleier bedeckt und mit einem Vermögen an Rubinen behängt war. Selbst in seinem Entsetzen fielen Mat die Rubine und das Gold auf. Hinter dem Stuhl des Mädchens stand eine schlanke Frau mit verschränkten Armen und schlecht verhohlener Ungeduld, deren Hautfarbe fast so dunkel wie ihr beinahe schwarzes Gewand war und die, selbst wenn sie eine Aiel gewesen wäre, über eine erstaunliche Körpergröße verfügte. Ihr lockiges schwarzes Haar war kurz geschnitten, aber nicht abrasiert, also war sie weder Blut noch So'jhin. Mit ihrer majestätischen Schönheit stellte sie sowohl Tylin wie auch Suroth in den Schatten. Ihm entging die Schönheit von Frauen nicht, selbst wenn er das Gefühl hatte, gerade einen Schlag mit einem Hammer auf den Kopf erhalten zu haben.

Es war nicht Suroths Anwesenheit oder die der Fremden, die ihn hatte erstarren lassen. Die Würfel hatten innegehalten und waren mit einem Donnern gefallen, das seinen Schädel erbeben ließ. Das war noch nie zuvor geschehen. Er stand da und wartete darauf, dass einer der Verlorenen aus den Flammen des Marmorkamins sprang oder die Erde aufklaffte, um den Palast unter seinen Füßen zu verschlingen.

»Du hörst mir nicht zu, mein Täubchen«, gurrte Tylin in einem gefährlichen Tonfall. »Ich sagte, geh in die Küche und iss eine Pastete, bis ich Zeit für dich habe. Und wenn du schon mal dabei bist, nimm gleich ein Bad.« Ihre dunklen Augen funkelten. »Wir sprechen später über den Schlamm.«

Benommen ging er noch einmal alles in Gedanken durch. Er hatte den Raum betreten, die Würfel waren verstummt und... Nichts war geschehen. Nichts!

»Der Mann wurde überfallen«, sagte die zierliche, verschleierte Gestalt und erhob sich. Ihre Stimme wurde so schneidend wie der draußen heulende Wind. »Ihr habt mir versichert, dass die Straßen sicher sind, Suroth! Ich bin ungehalten!«

Es musste etwas geschehen! Es hätte schon längst geschehen sollen! Es geschah immer etwas, wenn die Würfel verstummten.

»Ich versichere Euch, Tuon, die Straßen von Ebou Dar sind so sicher wie die Straßen von Seandar«, erwiderte Suroth und das riss Mat aus seiner Benommenheit. Sie klang... nervös. Aber Suroth war diejenige, die andere Menschen nervös machte.

Ein schlanker, anmutiger junger Mann in dem fast durchscheinenden Gewand eines Da'covale trat mit einem großen, blauen Porzellankrug an ihre Seite, neigte den Kopf und bot stumm an, ihr Wein nachzuschenken. Und ließ Mat erneut zusammenzucken. Er hatte nicht bemerkt, dass noch andere anwesend waren. Da war nicht nur der blonde Mann in seiner unanständigen Kleidung. Eine schlanke, aber mit hübschen Kurven ausgestattete rothaarige Frau in einem ebenfalls durchsichtigen Gewand kniete neben einem Tisch, auf dem Fläschchen mit Gewürzen, Weinkrüge aus feinem Meervolkporzellan und ein kleiner vergoldeter Bronzeofen mit den zum Erwärmen des Weines nötigen Feuerhaken aufgebaut waren, während am anderen Ende eine Dienerin in der grünen und weißen Livree von Haus Mitsobar stand. Und in einer Ecke stand noch eine Seanchanerin so reglos, dass er sie beinahe übersehen hätte, eine kleine Frau, deren Kopf zur Hälfte rasiert war und deren Brüste selbst Riselles in den Schatten gestellt hätten, wenn ihr Gewand aus roten und gelben Rechtecken nicht eng am Hals angelegen und sie verhüllt hätte. Nicht, dass er das Verlangen verspürt hätte, sie sich näher anzusehen. Seanchaner waren so empfindlich, wenn es um ihre So'jhin ging. Tylin reagierte empfindlich auf andere Frauen. Seit er das Bett wieder verlassen konnte, hatte keine Dienerin seine Gemächer betreten, die jünger als seine Großmutter war.

Suroth betrachtete den anmutigen Mann, als würde sie sich fragen, wer er war, dann schüttelte sie wortlos den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Kind mit dem Namen Tuon zu, das den Burschen fortwinkte. Die livrierte Dienerin eilte los, um ihm den Krug abzunehmen und Tylins Pokal aufzufüllen, aber die Königin machte eine kleine Geste, die sie zurück zur Wand schickte. Tylin saß so gut wie reglos da. Kein Wunder, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, wenn diese Tuon Suroth Angst einjagte, was offensichtlich der Fall war.

»Ich bin unzufrieden, Suroth«, sagte das Mädchen erneut und blickte streng auf die andere Frau herab. Selbst im Stehen hatte sie es nicht weit, um auf die sitzende Hochlady heruntersehen zu können. Mat vermutete, dass auch sie eine Hochlady war, nur von höherer Stellung als Suroth. »Ihr habt viel zurückgeholt und das wird die Kaiserin freuen, möge sie ewig leben, aber Euer schlecht geplanter Angriff im Osten war ein Desaster, das sich nicht wiederholen darf. Und wenn die Straßen der Stadt sicher sind, wieso wurde er dann angegriffen?«

Suroths Knöchel verfärbten sich weiß, weil sie die Stuhllehne und den Pokal so fest umklammerte. Sie starrte Tylin an, als wäre alles ihre Schuld, und die Königin lächelte entschuldigend und senkte den Kopf. Oh, Blut und Asche, dafür würde er bezahlen!

»Ich bin gefallen, das ist alles.« Der Art und Weise nach zu urteilen, wie die Köpfe zu ihm herumfuhren, hätte seine Stimme genauso gut ein Feuerwerk sein können. Suroth und Tuon waren offensichtlich schockiert, dass er zu sprechen gewagt hatte. Tylin sah aus wie ein Adlerweibchen, das seinen Hasen gebraten verspeisen wollte. »Ladys«, fügte er hinzu, aber das schien die Situation auch nicht zu verbessern.

Plötzlich beugte sich die große Frau vor, riss Tuon den Pokal aus der Hand und warf ihn in den Kamin. Funken stoben zum Schornstein hoch. Die Dienerin regte sich, als wollte sie den Becher zurückholen, bevor er noch mehr beschädigt wurde, ließ es aber sein, als die So'jhin sie berührte.

»Ihr seid dumm, Tuon«, sagte die große Frau und ihre Stimme ließ den strengen Tonfall des Mädchens wie Gelächter erscheinen. Der bekannte seanchanische Akzent schien fast völlig zu fehlen. »Suroth hat die Situation hier gut im Griff. Was im Osten geschehen ist, kann in jeder Schlacht passieren. Ihr müsst aufhören, Eure Zeit mit lächerlichen Nichtigkeiten zu verschwenden.«

Suroth starrte sie einen Augenblick lang erstaunt an, bevor sie ihre Miene in eine ausdruckslose Maske verwandelte. Mat starrte ebenfalls. Sprach man einen vom Blut in diesem Ton an, hatte man Glück, wenn man mit einem Ausflug zum Peitschenpfahl davonkam!

Überraschenderweise neigte Tuon den Kopf ein Stück. »Ihr könntet Recht haben, Anath«, sagte sie ruhig und sogar mit einer Spur Ehrerbietung. »Die Zeit und Omen werden es erweisen. Aber der junge Mann lügt offensichtlich. Vielleicht fürchtet er Tylins Zorn. Seine Verletzungen sind jedoch schwerwiegender, als sie von einem Sturz sein könnten, es sei denn, es gibt Klippen in der Stadt, die ich nicht gesehen habe.«

Er fürchtete also Tylins Zorn? Nun, was das anging, so tat er das tatsächlich, zumindest ein bisschen. Aber nur ein kleines bisschen. Doch es gefiel ihm nicht, daran erinnert zu werden. Er stützte sich auf seinen schulterhohen Stab und versuchte, eine bequeme Stellung zu finden. Sie hätten ihm auch einen Sitzplatz anbieten können. »Ich wurde an dem Tag verletzt, als eure Jungs die Stadt eroberten«, sagte er mit seinem dreistesten Grinsen. »Euer Haufen hat Blitze geschleudert und Feuerbälle aus irgendeinem verheerenden Zeug. Ich bin aber fast schon wieder gesund, danke der Nachfrage.« Tylin verbarg ihr Gesicht im Weinpokal, schaffte es aber trotzdem, ihm über den Rand einen Blick zuzuwerfen, der spätere Vergeltung versprach.

Tuons Röcke raschelten, als sie über den Teppich auf ihn zukam. Das dunkle Gesicht unter dem Schleier hätte hübsch sein können, hätte es nicht den Ausdruck eines Richters gehabt, der ein Todesurteil verkündete. Und mit vernünftigem Haar statt einem Kahlkopf. Ihre Augen waren groß und feucht, aber völlig ausdruckslos. Alle ihre Fingernägel waren lackiert. In einem hellen Rot. Mat fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte. Licht, allein für das Geld, das die Rubine kosteten, hätte ein Mann jahrelang im Luxus leben können.

Sie hob die Hand, legte die Fingerspitzen unter sein Kinn, und er fing an zurückzuzucken. Bis Tylin ihm über Tuons Kopf einen scharfen Blick zuwarf und auf der Stelle Vergeltung versprach, falls er etwas dergleichen tat. Mürrisch ließ er das Mädchen seinen Kopf herumdrehen, damit sie ihn studieren konnte.

»Ihr habt gegen uns gekämpft?«, verlangte sie zu wissen. »Ihr habt die Eide geschworen?«

»Ich habe geschworen«, murmelte er. »Was das andere angeht, hatte ich dazu keine Gelegenheit.«

»Also hättet Ihr es getan.« Sie umkreiste ihn langsam und führte ihr Studium fort, berührte die Spitze an seinem Handgelenk, hob den Saum seines Umhangs an, um die Stickereien zu mustern. Er erduldete es, weigerte sich jedoch, seine Position zu verändern. Sein finsterer Blick konnte sich mit dem Tylins messen. Licht, er hatte schon Pferde gekauft, ohne sie einer so gründlichen Untersuchung zu unterziehen! Als Nächstes würde sie sich seine Zähne ansehen wollen!

»Der Junge hat Euch gesagt, dass er verletzt wurde«, sagte Anath frostig. »Wenn Ihr ihn haben wollt, dann kauft ihn und fertig. Es war ein langer Tag und Ihr solltet längst im Bett sein.«

Tuon verharrte und untersuchte den langen Siegelring an seinem Finger. Er war ein Probestück, das die Kunstfertigkeit des Handwerkers zeigen sollte, ein laufender Fuchs und zwei fliegende Raben; die Tiere wurden von den Sichelmonden umgeben. Er hatte ihn zufällig gekauft, obwohl er ihm mittlerweile ans Herz gewachsen war. Er fragte sich, ob sie ihn haben wollte. Sie richtete sich wieder auf und starrte in sein Gesicht. »Ein guter Rat, Anath«, sagte sie. »Wie viel kostet er, Tylin? Wenn er ein Liebling ist, nennt Euren Preis, und ich werde ihn verdoppeln.«

Tylin verschluckte sich an ihrem Wein und hustete. Mat hätte beinahe den Stab fallen lassen. Das Mädchen wollte ihn kaufen? Nun, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte sie sich genauso gut ein Pferd ansehen können.

»Er ist ein freier Mann, Hochlady«, sagte Tylin unsicher, als sie wieder sprechen konnte. »Ich... ich kann ihn nicht verkaufen.« Am liebsten hätte Mat gelacht, hätte sich Tylin nicht angehört, als wollte sie verhindern, dass ihre Zähne klapperten, und hätte sich diese verfluchte Tuon nicht gerade nach seinem Preis erkundigt. Ein freier Mann! Ha!

Das Mädchen wandte sich von ihm ab, als hätte sie ihn aus seinen Gedanken gestrichen. »Ihr habt Angst, Tylin, aber das sollte nicht so sein.« Sie ging zu Tylins Stuhl, hob mit beiden Händen den Schleier, entblößte die untere Gesichtshälfte und beugte sich vor, um Tylin sanft zu küssen, einmal auf jedes Augenlid und einmal auf die Lippen. Tylin sah erstaunt aus. »Ihr seid mir eine Schwester, und Suroth auch«, sagte Tuon mit überraschend sanfter Stimme. »Ich selbst werde Euren Namen als einen des Blutes eintragen. Ihr werdet die Hochlady Tylin und die Königin von Altara und noch mehr sein, wie es Euch versprochen wurde.«

Anath schnaubte laut.

»Ja, Anath, ich weiß«, sagte das Mädchen seufzend, erhob sich und ließ den Schleier wieder herunter. »Der Tag war lang und anstrengend und ich bin müde. Aber ich werde Tylin zeigen, welche Länder für sie bestimmt sind, sodass sie sich keine Sorgen zu machen braucht. In meinen Gemächern sind Karten, Tylin. Wollt Ihr mir die Ehre erweisen und mich dorthin begleiten? Ich habe ausgezeichnete Masseusen.«

»Ich bin diejenige, die geehrt ist«, sagte Tylin, ohne allerdings beruhigter als zuvor zu klingen.

Auf eine Geste der So'jhin hin lief der blonde Mann zur Tür, um sie zu öffnen. Auf den Knien hielt er sie offen, aber vorher erfolgte das übliche Glattstreichen und Richten der Gewänder, das Frauen zu tun hatten, bevor sie irgendwohin gehen konnten, ob sie nun aus Seanchan oder Altara oder sonst woher kamen. Allerdings nahm die rothaarige Da'covale Tuon und Suroth diese Arbeit ab. Mat nutzte die Gelegenheit, um Tylin ein Stück zur Seite zu nehmen, weit genug, um nicht belauscht zu werden. Die So'jhin verfolgte ihn mit ihren Blicken, was ihm nicht entging, aber wenigstens schien Tuon, die die Bemühungen der schlanken Da'covale über sich ergehen ließ, seine Existenz vergessen zu haben.

»Ich bin nicht einfach nur gefallen«, sagte er leise zu Tylin. »Der Gholam hat vor wenigen Stunden versucht, mich zu töten. Es wäre vielleicht besser, wenn ich gehe. Das Ding ist hinter mir her und wird nicht davor zurückschrecken, jeden in meiner Nähe töten.« Dieser Plan war ihm gerade erst eingefallen, aber er fand, dass er gute Erfolgsaussichten hatte.

Tylin schniefte. »Er... es... kann dich nicht bekommen, Schweinchen.« Sie warf Tuon einen Blick zu, der die Hochlady ihren Plan mit der Schwesternschaft hätte vergessen lassen, wenn sie ihn gesehen hätte. »Und sie auch nicht.« Wenigstens war sie schlau genug, um zu flüstern.

»Wer ist sie?«, fragte er. Nun, einen Versuch war es wert gewesen.

»Die Hochlady Tuon und du weißt so viel wie ich«, erwiderte Tylin genauso leise. »Suroth springt, wenn sie die Stimme erhebt, und sie springt, wenn Anath spricht, obwohl ich fast schwören könnte, dass diese Anath eine Dienerin ist.« Plötzlich kratzte sie mit dem Finger einen Schlammfleck von seiner Wange. Er hatte gar nicht gewusst, dass er auch Dreck im Gesicht hatte. Auf einmal trat das Adlerweibchen wieder deutlich in ihre Augen. »Erinnerst du dich an die rosafarbenen Schleifen, Süßer? Wenn ich zurückkomme, werden wir ausprobieren, wie du in Rosa aussiehst.«

Sie rauschte mit Tuon und Suroth aus dem Raum, gefolgt von Anath und der So'jhin und den Da'covale, und ließ Mat mit der großmütterlichen Dienerin zurück, die anfing, den Weintisch aufzuräumen. Er ließ sich auf einen der Bambusstühle sinken und verbarg den Kopf in den Händen.

Zu jeder anderen Zeit hätten ihn die rosafarbenen Schleifen erschaudern lassen. Er hätte niemals versuchen sollen, ihr die Meinung zu sagen. Selbst der Gholam nahm nur einen kleinen Teil seiner Gedanken ein. Die Würfel waren verstummt und... Was? Er war drei Leuten von Angesicht zu Angesicht — oder zumindest so gut wie — begegnet, die er nie zuvor getroffen hatte, aber das konnte es nicht sein. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass Tylin zu einer Angehörigen des Blutes gemacht werden sollte. Aber wenn die Würfel zuvor innegehalten hatten, war immer ihm persönlich etwas zugestoßen.

Er saß da und machte sich deswegen Sorgen, während die Dienerin anderes Personal hereinrief, um alles wegzubringen. Mat saß da, bis Tylin zurückkehrte. Sie hatte das mit den rosafarbenen Schleifen nicht vergessen und das ließ wiederum ihn alles andere für eine ziemlich lange Zeit vergessen.

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