23 Wo die Sonne verschwand

Mit der einen Hand versuchte Shalon, den ungewohnten Umhang festzuhalten, während sie sich gleichzeitig bemühte, nicht von dem ungewohnten Sattel zu fallen; sie stieß ihrem Pferd unbeholfen die Fersen in die Flanken und folgte Harine und ihrem Schwertmeister Moad durch die Öffnung in der Luft, die von dem Stallhof des Sonnenpalastes... Sie wusste nicht genau, wohin sie führte, auf jeden Fall war es ein langer freier Platz —nannte man so etwas nicht eine Lichtung? Sie glaubte schon —, eine Lichtung, die größer als das Deck eines Springers war und die zwischen Hügeln voller verkümmerter Bäume lag. Sie erkannte nur die Kiefern, die zu klein und verkrüppelt waren, als dass man sie zu etwas anderem als Teer und Terpentin hätte verarbeiten können. Von den anderen Bäumen wiesen die meisten kahle graue Äste auf, die Shalon an Knochen denken ließen. Die Morgensonne schwebte direkt über den Baumwipfeln, und die Kälte schien hier noch durchdringender zu sein als in der Stadt, die sie gerade hinter sich gelassen hatte.

Shalon hoffte, dass das Pferd keinen Fehltritt machte und sie auf die Felsen schleuderte, die sich dort erhoben, wo der Schnee nicht das am Boden verfaulende Laub bedeckte. Sie traute Pferden nicht. Im Gegensatz zu Schiffen hatten Pferde einen eigenen Willen. Sie waren hinterhältige Biester, auf die man draufklettern musste. Und Pferde hatten Zähne. Wann auch immer ihr Reittier durch die Nüstern schnaubte, zuckte sie zusammen und tätschelte seinen Hals und gab beruhigende Laute von sich. Zumindest hoffte sie, dass die Bestie sie beruhigend fand.

Cadsuane hingegen saß ohne sichtbare Anstrengung auf einem großen Pferd mit schwarzer Mähne und Schweif und hielt das Gewebe des Wegetors aufrecht. Sie hatte keine Probleme mit Pferden. Sie kannte keine Probleme. Ein plötzlicher Windstoß hob den dunkelgrauen Umhang an, der das Hinterteil ihres Reittieres bedeckte, aber es gab keinerlei Anzeichen, dass sie die Kälte überhaupt wahrnahm. Der goldene Haarschmuck um ihren dunkelgrauen Haarknoten geriet in Bewegung, als sie den Kopf drehte, um Shalon und ihre Begleitung zu beobachten. Sie war eine ansehnliche Frau, die aber in der Menge nicht weiter aufgefallen wäre, wenn man einmal davon absah, das ihr glattes Gesicht nicht zu den Haaren passte. Doch wenn man sie erst näher kennen lernte, war es schon zu spät.

Shalon hätte viel dafür gegeben, sehen zu können, wie man dieses Gewebe erschuf, selbst wenn das bedeutet hätte, sich in Cadsuanes Nähe begeben zu müssen, aber man hatte ihr erst nach Vollendung des Wegetors erlaubt, den Stallhof zu betreten, und ein an die Rahnock angeschlagenes Segel lehrte einen weder, wie man ein Segel setzen musste, noch wie man es herstellte. Sie kannte nur den Namen. Als sie an der Aes Sedai vorbeiritt, mied sie den Blick, aber sie spürte ihn. Der Blick dieser Frau ließ ihre Zehennägel sich krümmen und nach einem Halt suchen, den die Steigbügel nicht boten. Sie sah keinen Fluchtweg und doch hoffte sie durch das Studium der Aes Sedai einen zu finden. Sie wusste nur wenig über die Schwestern; sie war die Erste, die dies zugegeben hätte. Vor ihrer Reise nach Cairhien war sie einer Einzigen begegnet, und wenn sie an sie gedacht hatte, dann nur, um dem Licht dafür zu danken, nicht auserwählt worden zu sein, eine von ihnen zu werden. Aber bei Cadsuanes Gefährtinnen gab es Strömungen tief unter der Oberfläche.

Tiefe, starke Strömungen konnten alles verändern, was an der Oberfläche offensichtlich erschien.

Die vier Aes Sedai, die unmittelbar nach Cadsuane hindurchgeritten waren, warteten zusammen mit drei Behütern auf ihren Pferden auf der einen Seite der Lichtung. Zumindest war Shalon davon überzeugt, dass Ihvon der Behüter der wilden Alanna war, und Tomas gehörte zu der pummeligen kleinen Verin, aber sie glaubte, den auffallend jungen Mann, der sich dicht an die dicke Daigian hielt, im schwarzen Mantel eines Asha'man gesehen zu haben. Aber dann konnte er wohl kaum ein Behüter sein, oder? Eben war nur ein Junge. Doch wenn die Frau ihn ansah, schien ihr ohnehin übertriebener Stolz noch weiter anzuschwellen. Kumira, eine angenehm aussehende Frau mit blauen Augen, deren Blick messerscharf werden konnte, wenn sie etwas interessierte, saß etwas zur Seite geneigt im Sattel und musterte Eben so intensiv, dass es ein Wunder war, dass er nicht in Stücke geschnitten auf dem Boden lag.

»Lange mache ich da nicht mehr mit«, knurrte Harine und trat ihr Pferd mit den bloßen Fersen, damit es in Bewegung blieb. Die mit Brokat geschmückte gelbe Seide unterstützte ihre Bemühungen, im Sattel sitzen zu bleiben, genauso wenig, wie es Shalons blaue Seide tat. Sie schwankte umher, jede Bewegung des Tiers ließ sie rutschen und bei jedem Schritt verlor sie beinahe den Halt. Der Wind frischte auf, spielte mit den Enden ihrer Schärpe und ließ ihren Umhang flattern, aber sie hielt es für unter ihrer Würde, die Kleidung zu kontrollieren. Auf den Schiffen wurden Umhänge nur selten benutzt; sie waren im Weg und konnten Arme und Beine in genau dem Augenblick behindern, in dem man sie fürs Überleben brauchte. Moad hatte ihn abgelehnt und verließ sich auf seinen gesteppten blauen Mantel, den er auch in der größten Kälte auf See trug. Nesune Bihara ritt in bronzefarbenes Tuch gekleidet durch das Wegetor und blickte sich um, als wollte sie alles auf einmal in sich aufnehmen, dann kam Elza Penfel, die aus irgendeinem Grund ein mürrisches Gesicht machte und den pelzgesäumten Umhang eng um sich zog. Keine der anderen Aes Sedai schienen große Anstrengungen zu machen, sich vor der Kälte zu schützen.

»Vielleicht begegne ich dem Coramoor, sagt sie«, murmelte Harine und zerrte an den Zügeln, bis ihr Pferd auf die Seite der Lichtung zuschritt, die jener entgegengesetzt lag, auf der sich die Aes Sedai versammelten. »Vielleicht! Und sie bietet einem diese Möglichkeit an, als wäre es ein Privileg.« Harine musste keine Namen nennen; wenn sie das Wort »sie« auf eine Weise in den Mund nahm, die an den Stich einer Qualle denken ließ, dann konnte sie nur eine Frau meinen. »Ich habe das Recht dazu, es ist ausgehandelt worden! Sie verweigert mir das vereinbarte Gefolge! Ich muss meine Segelherrin zurücklassen und meine Diener!« Erian Boroleos kam voller Anspannung durch die Öffnung, als würde sie ein Schlachtfeld erwarten. Ihr folgte Beldeine Nyram, die nicht mal wie eine Aes Sedai aussah. Beide trugen Grün, Erian von Kopf bis Fuß, Beldeine in den Schlitzen an Ärmeln und Rock. Hatte das etwas zu bedeuten? Vermutlich nicht. »Soll ich mich dem Coramoor wie ein Decksmädchen nähern, das ihrer Segelherrin die Ehre erweist?« Wenn mehrere Aes Sedai zusammen standen, war die glattgesichtige Alterslosigkeit deutlich zu erkennen, selbst wenn das Haar weiß war, konnte man unmöglich sagen, wer zwanzig Jahre oder gar doppelt so alt war, und Beldeine sah einfach wie ein zwanzigjähriges Mädchen aus. Und das sagte einem genauso wenig wie ihre Röcke. »Soll ich etwa selbst mein Bettzeug auslüften und mein Leinen waschen? Sie schießt das Protokoll einfach in den Wind! Ich werde es nicht erlauben! Schluss damit!« Das waren alte Klagen, die sie seit dem vergangenen Abend, als Cadsuane ihre Bedingungen gestellt hatte, falls sie sie begleiten wollten, ein Dutzend Mal geäußert hatte. Diese Bedingungen waren streng gewesen, aber Harine war keine andere Wahl geblieben, als ihnen zuzustimmen, was die Verbitterung nur noch größer machte.

Shalon hörte nur mit halbem Ohr zu, nickte und murmelte die nötigen Erwiderungen. Natürlich stimmte sie ihr zu. Ihre Schwester erwartete Zustimmung. Die Aes Sedai beanspruchten jedoch den Hauptteil ihrer Aufmerksamkeit. Sie beobachtete sie verstohlen. Moad tat so, als würde er nicht zuhören, aber er war ja auch Harines Schwertmeister. Bei jedem anderen war Harine scheinbar so fest wie ein nasser Knoten, aber sie ließ Moad so viel Spielraum, dass jedermann hätte denken können, der grauhaarige Mann mit den harten Augen sei ihr Geliebter, vor allem, da sie beide verwitwet waren. Das heißt, sie hätten es vielleicht gedacht, wenn sie Harine nicht kannten. Harine würde sich niemals einen Geliebten nehmen, der einen geringeren Rang als sie einnahm, was natürlich zur Folge hatte, dass sie sich jetzt keinen mehr nehmen konnte. Als sie ihre Pferde in der Nähe der Bäume zum Stehen brachten, stützte Moad einen Ellbogen auf den hohen Knauf seines Sattels, legte eine Hand auf den langen, mit Schnitzereien verzierten Elfenbeingriff seines Schwerts, das hinter seiner Schärpe steckte, und betrachtete die Aes Sedai und die Männer, die sie begleiteten, ohne jede Zurückhaltung. Wo hatte er gelernt, ein Pferd zu reiten? Er sah doch tatsächlich so aus, als würde er sich wohl fühlen. Sein Rang war auf den ersten Blick zu erkennen; selbst wenn er nicht sein Schwert und den dazu passenden Dolch trug, waren da noch immer die acht schweren Ohrringe und die Art und Weise, wie die Schärpe geknotet war. Gab es bei den Aes Sedai keine vergleichbaren Methoden? Konnten sie wirklich so schlecht organisiert sein? Angeblich war die Weiße Burg wie ein mechanischer Apparat, der Throne in sich aufnahm und sie nach seinem Willen umformte. Natürlich schien die Maschine jetzt kaputt zu sein.

»Ich sagte, wo hat sie uns hingebracht, Shalon?«

Harines Stimme war wie eine eiskalte Rasierklinge und sie trieb das Blut aus Shalons Gesicht. Unter einer jüngeren Verwandten zu dienen war niemals einfach, aber Hanne machte es noch schwieriger. Im Privaten war sie mehr als nur kühl, und in der Öffentlichkeit war sie dazu fähig, eine Segelherrin an den Füßen aufhängen zu lassen, ganz zu schweigen von einer Windsucherin. Und seit diese junge Küstengebundene namens Min ihr gesagt hatte, dass sie eines Tages die Herrin der Schiffe sein würde, war sie noch schlimmer geworden. Sie warf Shalon einen missbilligenden Blick zu und hob ihr goldenes Riechkästchen, als wollte sie einen unangenehmen Geruch überdecken, dabei machte die Kälte das Parfüm unbrauchbar.

Schnell schaute Shalon zum Himmel und versuchte, den Sonnenstand zu bestimmen. Sie wünschte sich, ihr Sextant wäre nicht auf der Weißen Gischt eingeschlossen —die Küstengebundenen durften niemals einen Sextanten zu Gesicht bekommen, geschweige denn seinen Einsatz verfolgen —, aber sie war sich sowieso nicht sicher, ob er eine Hilfe gewesen wäre. Diese Bäume mochten kurz sein, trotzdem konnte sie keinen Horizont ausmachen. Ziemlich genau im Norden wuchsen die Hügel zu Gebirgen an, die schräg von Nordosten nach Südwesten führten. Sie vermochte nicht einzuschätzen, wie hoch sie waren. Für ihren Geschmack ging es in dieser Landschaft viel zu sehr auf und ab. Trotzdem wusste jede Windsucherin, wie man grob schätzte. Und wenn Harine Informationen verlangte, erwartete sie auch, welche zu bekommen.

»Ich kann nur schätzen, Herrin der Wogen«, sagte sie. Harines Kiefermuskeln spannten sich, aber keine Windsucherin würde eine Schätzung als exakte Position ausgeben. »Ich glaube, wir befinden uns drei- oder vierhundert Meilen südlich von Cairhien. Genaueres kann ich nicht sagen.« Jede grüne Schülerin, die mit einem Messstab eine so ungenaue Position benannte, wäre für den Stock des Decksmeisters vornübergebeugt worden, aber als Shalon hörte, was sie da sagte, erstarrte ihre Zunge. Für ein Schiff unter vollen Segeln bedeuteten hundert an einem Tag zurückgelegte Meilen einen guten Schnitt. Moad schürzte nachdenklich die Lippen.

Harine nickte langsam und schaute durch Shalon hindurch, als könnte sie Schiffe sehen, die unter vollen Segeln durch mithilfe der Macht geschaffene Löcher in der Luft glitten. Dann würden ihnen die Meere wahrlich gehören. Sie schüttelte sich, beugte sich zu Shalon herüber, und ihr Blick schien sich in dem ihren festzukrallen. »Ihr müsst das in Erfahrung bringen, ganz egal, was es kostet. Sagt ihr, dass Ihr mich ausspionieren werdet, wenn sie es Euch beibringt. Wenn das Licht es will und Ihr sie überzeugen könnt, tut sie es womöglich. Oder Ihr kommt vielleicht nahe genug an eine der anderen heran, um es zu erlernen.«

Shalon fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie hoffte, dass Harine ihr Zusammenzucken entgangen war. »Ich habe sie schon einmal zurückgewiesen, Herrin der Wogen.« Sie hatte eine Erklärung gebraucht, warum die Aes Sedai sie eine Woche lang festgehalten hatten, und eine Version der Wahrheit war ihr am aussichtsreichsten erschienen. Harine wusste alles. Bis auf das Geheimnis, das Verin ihr entlockt hatte. Bis auf die Tatsache, dass Shalon sich bereiterklärt hatte, Cadsuanes Bedingungen zu erfüllen, um dieses Geheimnis weiterhin zu hüten. Mochte das Licht ihr gnädig sein, sie bereute Ailil, aber sie war so einsam gewesen, dass sie viel zu weit herausgesegelt war, bevor ihr das klar geworden war. Bei Harine gab es keine abendlichen Unterhaltungen bei mit Honig gesüßtem Wein, um die langen Monate erträglicher zu machen, die sie von ihrem Ehemann Mishael getrennt war.

Bestenfalls würden noch viele Monate vergehen, bevor sie wieder in seinen Armen liegen konnte. »Bei allem Respekt, warum sollte sie mir jetzt glauben?«

»Weil Ihr das Wissen haben wollt.« Harine ließ die Hand durch die Luft sausen. »Die Küstengebundenen glauben immer an Habgier. Ihr werdet ihnen natürlich ein paar Dinge erzählen müssen, um Eure ehrlichen Absichten zu beweisen. Ich werde jeden Tag entscheiden, was es sein wird. Vielleicht kann ich sie in die Richtung steuern, in der ich sie haben will.«

Brutale Finger schienen sich in Shalons Kopfhaut zu graben. Sie hatte vorgehabt, Cadsuane so wenig zu erzählen, wie es nur eben ging, und das auch nur so selten wie möglich, bis sie eine Gelegenheit gefunden hatte, sich von ihr zu befreien. Wenn sie jeden Tag mit der Aes Sedai sprechen und — und was noch schlimmer war — ihr ins Gesicht lügen musste, würde die Frau mehr aus ihr herausbekommen, als sie wollte. Mehr, als Harine wollte. Viel mehr. Das war so sicher wie der Sonnenaufgang. »Verzeiht mir, Herrin der Wogen«, sagte sie mit jedem Funken an Ehrerbietung, den sie aufzubringen imstande war, »aber falls ich das sagen darf, werde ich...«

Sie unterbrach sich, als Sarene Nemdahl herangeritten kam und vor ihnen das Pferd zügelte. Die letzten Aes Sedai und Behüter waren durch das Tor gekommen und Cadsuane hatte es verschwinden lassen. Corele, eine dünne, aber hübsche Frau, lachte und warf ihre schwarze Haarmähne zurück, während sie sich mit Kumira unterhielt. Merise, eine hoch gewachsene Frau, deren Augen von einem noch helleren Blau waren als Kumiras, und einem mehr als hübschen Gesicht, das streng genug war, um selbst Harine aufmerken zu lassen, dirigierte mit scharfen Gesten die vier Männer, die sich um die Packpferde kümmerten. Alle anderen ergriffen die Zügel. Anscheinend machten sich alle bereit, die Lichtung zu verlassen.

Sarene war wunderschön, allerdings minderte der fehlende Schmuck ihr Aussehen genauso wie das schlichte weiße Kleid, das sie trug. Die Küstengebundenen schienen überhaupt keinen Sinn für Farben zu haben. Sogar ihr dunkler Umhang war mit weißem Fell gesäumt. »Herrin der Wogen, Cadsuane, sie hat mich gebeten... mir befohlen, Eure Helferin zu sein«, sagte sie und neigte ehrerbietig den Kopf. »Ich werde Eure Fragen beantworten, sofern ich das kann, und Euch bei den Bräuchen helfen, so gut ich mich in ihnen auskenne. Mir ist bewusst, das Euch meine Anwesenheit möglicherweise Unbehagen bereitet, aber wenn Cadsuane befiehlt, müssen wir gehorchen.«

Shalon lächelte. Sie bezweifelte, dass die Aes Sedai wusste, dass auf einem Schiff eine Helferin das darstellte, was bei den Küstengebundenen eine Dienerin war. Harine würde vermutlich lachen und wissen wollen, ob die Aes Sedai Leinentücher vernünftig waschen konnte. Es würde erfreulich sein, sie in guter Stimmung zu sehen.

Doch statt zu lachen versteifte sich Harine auf ihrem Sattel, als wäre ihr Rückgrat zu einem Hauptmast geworden, und die Augen quollen hervor. »Ich verspüre kein Unbehagen!«, fauchte sie. »Ich ziehe es nur vor ... Fragen jemand anderem zu stellen... Cadsuane. Ja. Cadsuane. Und ich muss weder ihr noch sonst jemandem gehorchen! Niemandem! Außer der Herrin der Schiffe!« Shalon runzelte die Stirn; es sah ihrer Schwester nicht ähnlich, so durcheinander zu klingen. Harine holte tief Luft und sprach dann in energischerem Tonfall weiter, obwohl es sich in gewisser Weise genauso seltsam wie zuvor anhörte. »Ich spreche für die Herrin der Schiffe des Atha'an Miere und verlange den mir zustehenden Respekt! Ich verlange ihn, habt Ihr das verstanden? Ja, ist das klar?«

»Ich kann sie bitten, jemand anderen zu bestimmen«, sagte Sarene zweifelnd, als würde sie nicht erwarten, dass ihre Bitte etwas ändern würde. »Ehr müsst wissen, dass sie mir an jenem Tag ganz genaue Anweisungen gegeben hat. Aber ich hätte nicht meine Beherrschung verlieren sollen. Da habe ich versagt. Gefühle zerstören jegliche Vernunft.«

»Ich weiß, wie man Befehle befolgen muss«, knurrte Harine und duckte sich im Sattel zusammen. Sie sah aus, als wäre sie bereit, sich jeden Augenblick auf Sarene zu stürzen. »Ich heiße es gut, wenn Befehle befolgt werden!«, kreischte sie beinahe. »Allerdings kann man Befehle, die ausgeführt worden sind, auch wieder vergessen. Man muss sie nicht mehr erwähnen. Versteht Ihr mich?« Shalon starrte sie von der Seite an. Wovon sprach sie da? Welche Befehle hatte Sarene ausgeführt und warum wollte Harine, dass sie in Vergessenheit gerieten? Moad machte keine Anstrengungen, sein Stirnrunzeln zu verbergen. Dann wurde sich Harine seiner Aufmerksamkeit bewusst und ihre Miene verfinsterte sich.

Sarene schien es nicht zu bemerken. »Ich weiß nicht, wie man absichtlich etwas vergessen soll«, sagte sie langsam und legte die Stirn in Falten. »Ich nehme an, Ihr meint, dass wir so tun sollten. Ist das richtig?« Die mit Perlen geschmückten Zöpfe, die aus ihrer Kapuze baumelten, stießen klirrend zusammen, als sie den Kopf über diese Dummheit schüttelte. »Also gut. Ich werde Eure Fragen so gut beantworten, wie ich kann. Was wollt Ihr wissen?« Harine seufzte lauthals. Shalon hätte es für Ungeduld halten können, aber sie glaubte, es war Erleichterung. Erleichterung?

Ob Harine nun erleichtert war oder nicht, sie wurde wieder sie selbst, von Selbstbeherrschung erfüllt und befehlsgewohnt, und sie versuchte den Blick der Aes Sedai zu erwidern, als wollte sie diese dazu zu bringen, dass sie ihren senkte. »Ihr könnt mir sagen, wo wir sind und wo wir hinreisen«, verlangte sie zu wissen.

»Wir sind in den Hügeln von Kintara«, sagte Cadsuane, die plötzlich vor ihnen erschien; ihr Pferd stieg auf die Hinterbeine, ließ die Hufe durch die Luft wirbeln und versprühte Schnee. »Und wir reiten nach Far Madding.« Sie hielt sich nicht nur im Sattel, sie schien das Aufbäumen des Tieres nicht mal zu bemerken!

»Ist der Coramoor in Far Madding?«

»Angeblich soll Geduld eine Tugend sein, Herrin der Wogen.« Obwohl Cadsuane den Titel benutzte, der Harine zustand, lag kein Respekt in ihrem Benehmen. Nicht der geringste. »Ihr reitet mit mir. Versucht nicht, zurückzufallen. Es wäre unerfreulich, wenn ich Euch wie Kornsäcke transportieren müsste. Sobald wir in der Stadt sind, werdet Ihr schweigen, bis ich Euch zu sprechen erlaube. Ich werde nicht zulassen, dass Ihr durch Unwissenheit Probleme schafft. Ihr werdet Sarene Euch führen lassen. Sie hat Ihre Befehle.«

Shalon erwartete einen Wutausbruch, aber Harine beherrschte sich, obwohl es sie offensichtlich viel Mühe kostete. Sobald sich Cadsuane abgewandt hatte, murmelte sie wütend vor sich hin, biss aber die Zähne zusammen, als sich Sarenes Pferd in Bewegung setzte. Offensichtlich sollte keine Aes Sedai hören, was sie zu sagen hatte.

Wie sich herausstellte, bedeutete mit Cadsuane zu reiten, hinter ihr herzureiten, und zwar zwischen den Bäumen vorbei nach Süden. Alanna und Verin ritten zwar neben der Frau, aber als Harine den Versuch unternahm, sich zu ihnen zu gesellen, machte ein Blick von ihr klar, dass sonst niemand willkommen war. Shalon erwartete eine Explosion, die nicht kam. Stattdessen bedachte Harine aus irgendeinem Grund Sarene mit einen finsteren Blick und riss ihr Pferd herum, um zwischen Moad und Shalon zu reiten. Sie unternahm keine Anstrengung, Sarene, die auf Shalons anderer Seite ritt, noch irgendwelche Fragen zu stellen, sondern beschränkte sich darauf, die vor ihr befindlichen Frauen finster anzuschauen. Hätte Shalon sie nicht besser gekannt, hätte sie gesagt, dass in diesen Blicken eher Trotz als Wut lag.

Shalon wiederum war heilfroh, schweigen zu können. Ein Pferd zu reiten war schon schwierig genug, ohne sich gleichzeitig unterhalten zu müssen. Davon abgesehen wusste sie plötzlich, warum sich Harine so seltsam verhielt. Sie versuchte bestimmt, bei den Aes Sedai die Wogen zu glätten. Das musste es sein. Harine zügelte ihr Temperament nie, wenn es nicht unbedingt nötig war. Die Anstrengung, die die Kontrolle sie jetzt kostete, musste sie innerlich förmlich brodeln lassen. Und wenn ihre Bemühungen nicht das gewünschte Ergebnis brachten, würde sie Shalon in einen Kessel stecken und kochen. Der Gedanke daran verursachte Shalon Kopfschmerzen. Sie konnte nur hoffen, dass das Licht sie leitete und ihr half; es musste eine Möglichkeit geben, wie sie vermeiden konnte, ihre Schwester auszuspionieren, ohne dass man ihrer Wangenkette sämtliche Ehrenauszeichnungen abriss und sie sich auf einen Springer abkommandiert fand, dessen Segelherrin darüber brütete, warum sie niemals höher aufgestiegen war und die ihre Wut darüber an jedermann ausließ. Genauso schlimm wäre es gewesen, wenn Mishael ihr Ehegelübde als gebrochen erklärte. Es musste eine Möglichkeit geben.

Manchmal drehte sie sich auf ihrem Sattel um und warf einen Blick auf die hinter ihr reitenden Aes Sedai. Von den Frauen vor ihr war mit Sicherheit nichts zu lernen. Gelegentlich wechselten Cadsuane und Verin ein paar Worte, aber sie steckten dabei die Köpfe zusammen und sprachen zu leise, um belauscht werden zu können. Alanna schien das, was vor ihnen lag, kaum erwarten zu können; sie blickte ununterbrochen nach Süden. Ein paar Mal ließ sie ihr Pferd ein paar Schritte schneller ausschreiten, bevor Cadsuane sie mit einem leisen Wort zurückholte, dem sie mit wildem Blick oder einer mürrischen Grimasse zögernd gehorchte. Cadsuane und Verin schienen um die Frau besorgt zu sein. Cadsuane strich fast auf die gleiche Art über ihren Arm, wie Shalon den Hals ihres Pferdes tätschelte, und Verin strahlte sie an, als würde sie sich von einer Krankheit erholen. Was Shalon nichts sagte. Also dachte sie über die anderen nach.

Wenn man auf einem Schiff aufsteigen wollte, reichte es nicht, nur die Winde Weben oder das Wetter vorhersagen oder die Position bestimmen zu können. Man musste die Absicht lesen können, die zwischen den Worten eines Befehls verborgen lag, und imstande sein, kleine Gesten und Veränderungen im Gesichtsausdruck zu interpretieren. Man musste erkennen, wer sich wem unterwarf, selbst wenn es kaum merklich war, denn Mut und Fähigkeiten ließen einen nur bis zu einem gewissen Punkt aufsteigen.

Nicht weit hinter ihnen ritten vier Frauen — Nesune, Erian, Beldeine und Elza — in einer kleinen Gruppe, obwohl sie nicht zusammengehörten, sondern lediglich den gleichen Platz einnahmen. Weder sprachen sie miteinander noch sahen sie sich an. Sie schienen einander nicht besonders zu mögen. Shalon setzte sie in Gedanken in das gleiche Boot wie Sarene. Die Aes Sedai gaben vor, dass sie alle unter Cadsuane vereint waren, aber das entsprach offensichtlich nicht der Wahrheit. Merise, Corele, Kumira und Daigian saßen in einem anderen Boot, das von Cadsuane gelenkt wurde. Manchmal schien Alanna in dem einen und dann wieder in dem anderen Boot zu sein, während Verin in gewisser Weise zwar zu Cadsuanes Boot gehörte, aber nicht darin saß. Vielleicht schwamm sie nebenher, während Cadsuane ihre Hand hielt. Und wäre das nicht allein schon seltsam genug gewesen, war da noch die Sache mit dem erwiesenen Respekt.

Seltsamerweise hatte es den Anschein, als würden die Aes Sedai Stärke in der Macht Erfahrung oder Fähigkeiten vorziehen. Ihre Rangordnung gründete sich auf Stärke, wie bei Decksmatrosen, die sich in Küstentavernen prügelten. Natürlich beugten sie sich alle Cadsuane, doch bei den anderen gab es Merkwürdigkeiten. Den Regeln ihrer eigenen Hierarchie zufolge bekleideten einige der Frauen aus Nesunes Boot eine Position, auf der sie von einigen aus Cadsuanes Boot Respekt erwarten konnten, aber obwohl ein paar von ihnen dies durchaus zum Ausdruck brachten, benahmen sie sich dabei, als würden sie einem Höhergestellten gegenüberstehen, der ein ernstes, allgemein bekanntes Verbrechen begangen hatte. Der Hierarchie nach übertraf Nesune alle im Rang — von Cadsuane und Merise einmal abgesehen —, doch sie verhielt sich Daigian — welche die unterste Sprosse der Leiter einnahm — gegenüber auf eine Weise, als würde sie trotzig zu diesem Verbrechen stehen, und die anderen in ihrem Boot verhielten sich genauso. Alles lief sehr unauffällig ab, ein leicht erhobenes Kinn, eine leise gewölbte Braue, ein Verziehen der Lippen, aber für ein beim Aufstieg auf den Schiffen geübtes Auge war es unverkennbar. Vielleicht würde ihr nichts davon helfen, aber wenn sie schon Werg zupfen musste, dann ging das nur, indem sie einen Faden fand und zog.

Der Wind frischte auf; die Böen drückten den Umhang gegen ihren Rücken und ließen ihn zu ihren beiden Seiten emporflattern. Sie nahm es kaum wahr.

Die Behüter stelten möglicherweise einen weiteren Faden dar. Sie bildeten den Abschluss, verborgen hinter den Aes Sedai, die hinter Nesune und den anderen drei ritten. Eigentlich hatte Shalon erwartet, dass zwölf Aes Sedai von mehr als sieben Behütern begleitet werden würden. Angeblich hatte jede Aes Sedai mindestens einen Behüter, wenn nicht noch mehr. Sie schüttelte gereizt den Kopf. Natürlich abgesehen von der Roten Ajah. Sie war nicht völlig unwissend, was die Rote Ajah betraf.

Aber die Frage war nicht, wie viele Behüter, sondern ob sie alle Behüter waren. Sie war sich ziemlich sicher, den ergrauten alten Damer und den so hübschen Jahar in schwarzen Mänteln gesehen zu haben, bevor sie sich plötzlich mit den Aes Sedai zusammengetan hatten. Zu diesem Zeitpunkt war sie nicht willens gewesen, sich die Schwarzmäntel genauer anzusehen, und um der Wahrheit die Ehre zu geben, war ihre Aufmerksamkeit mindestens zur Hälfte von der hübschen Ailil in Beschlag genommen gewesen, aber sie war sich sicher. Und wie auch immer Eben da hineinpasste, sie war sich fast sicher, dass die beiden anderen jetzt Behüter waren. Fast sicher. Jahar sprang genauso schnell wie Nethan oder Bassane, wenn Merise mit den Fingern schnippte, und der Art nach zu urteilen, wie Corele Damer anlächelte, war er entweder ihr Behüter oder ihr Bettwärmer, und Shalon konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau wie sie einen fast kahlen alten Mann mit einem lahmen Bein in ihr Bett holte. Sie wusste bestimmt nicht viel über die Aes Sedai, aber sie war überzeugt, dass es keine akzeptierte Praxis war, mit Männern, welche die Macht lenken konnten, den Bund einzugehen. Falls sie beweisen konnte, dass sie es getan hatten, würde sich das vielleicht als das Messer erweisen, das scharf genug war, um sich von Cadsuane freizuschneiden.

»Diese Männer können die Macht jetzt nicht mehr lenken«, murmelte Sarene.

Shalon fuhr so schnell auf dem Sattel herum, dass sie sich mit beiden Händen an der Mähne des Pferdes festhalten musste, um nicht herunterzufallen. Der Wind wehte den Umhang über ihren Kopf und sie riss ihn wieder herunter, bevor sie sich richtig aufsetzen konnte. Sie kamen zwischen den Bäumen hervor. Unter ihnen befand sich eine breite Straße, die in einem weiten Bogen südwärts aus den Hügeln zu einem See führte, der vielleicht eine Meile entfernt am Saum einer mit braunem Gras bewachsenen Ebene lag, die sich bis zum Horizont erstreckte. Der See, der im Westen mit einem schmalen Schilfrand an sie angrenzte, war eine klägliche Entschuldigung für ein Gewässer, kaum länger als zehn Meilen und nicht mal so breit. In seiner Mitte erhob sich eine Insel, die, so weit es Shalon überblicken konnte, von hohen, mit Türmen übersäten Mauern umgeben und von einer Stadt eingenommen wurde. Sie erfasste das alles mit einem Blick, während sie zugleich Sarene anstarrte. Es war fast so, als hätte die Frau ihre Gedanken gelesen. »Warum können sie die Macht nicht lenken?«, fragte sie. »Habt Ihr ...? Habt Ihr sie ... gedämpft?« Sie glaubte, das war wohl das richtige Wort, aber das sollte die Männer doch angeblich umbringen. Sie war immer der Meinung gewesen, dass es eine seltsame Methode war, um Hinrichtungen aus irgendeinem Grund sanfter zu machen.

Sarene blinzelte und Shalon erkannte, dass die Aes Sedai mit sich selbst gesprochen hatte. Sie musterte Shalon einen Augenblick lang, während sie Cadsuane den Abhang hinunter folgten, dann richtete sie den Blick wieder auf die Stadt auf der Insel. »Euch fallen Dinge auf, Shalon. Es wäre besser, wenn Ihr das, was Euch an den Männern aufgefallen ist, für Euch behalten würdet.«

»Dass sie Behüter sind?«, sagte Shalon leise. »Habt Ihr sie deshalb binden können? Weil Ihr sie gedämpft habt?« Sie hoffte, ein Geständnis entlocken zu können, aber die Aes Sedai sah sie lediglich an. Sie schwieg, bis sie den Fuß des Hügels erreichten und hinter Cadsuane auf die Straße einbogen. Die Straße war breit, der Boden vom vielen Verkehr fest zusammengestampft, aber sie hatten sie für sich allein.

»Es ist nicht unbedingt ein Geheimnis«, sagte Sarene schließlich und nicht sehr bereitwillig für etwas, das kein Geheimnis war, »aber es ist auch nicht weithin bekannt. Wir sprechen nicht oft von Far Madding, von den Schwestern einmal abgesehen, die hier geboren wurden, und selbst die kommen nur selten zu Besuch. Aber Ihr solltet Bescheid wissen, bevor Ihr dort eintretet. Die Stadt hat ein Ter'angreal in ihrem Besitz. Vielleicht sind es auch drei Ter 'angreale. Das weiß keiner. Man kann sie genauso wenig studieren, wie man sie fortbringen kann. Sie müssen während der Zerstörung der Welt erschaffen worden sein, als die Furcht vor wahnsinnigen Machtlenkern alltäglich war. Aber einen solchen Preis für Sicherheit zu zahlen...« Die mit Perlen verzierten Zöpfe, die bis zu ihrer Brust baumelten, klirrten gegeneinander, als sie voller Unglauben den Kopf schüttelte. »Diese Ter 'angreale, sie kopieren ein Stedding. Das heißt, zumindest in den wichtigen Dingen, fürchte ich, obwohl ich vermute, dass ein Ogier das anders sehen würde.« Sie seufzte traurig.

Shalon starrte sie ungläubig an und warf Harine und Moad einen verwirrten Blick zu. Warum sollten Fabeln einer Aes Sedai Furcht einflößen? Harine öffnete den Mund, gab dann aber Shalon ein Zeichen, die offensichtliche Frage zu stellen. Sollte sie auch mit Sarene Freundschaft schließen, um ihren Kurs zu glätten? Shalons Kopf schmerzte. Aber sie war ebenfalls neugierig.

»Und welche Dinge sind das?«, fragte sie behutsam. Glaubte die Frau wirklich an fünf Spannen große Leute, die Bäumen etwas vorsangen? Und da gab es noch etwas mit Äxten, oder? Hier kommen die Aelfinn, um dein Brot zu stehlen; hier kommen die Ogier, um dir den Kopf abzuschlagen. Licht, das hatte sie nicht mehr gehört, seit Harine mit Puppen gespielt hatte. Da ihre Mutter auf den Schiffen aufgestiegen war, hatte man ihr die Aufgabe übertragen, Harine zusammen mit ihrem ersten Kind großzuziehen.

Sarenes Augen weiteten sich überrascht. »Das wisst Ihr wirklich nicht?« Ihr Blick glitt zu der vorausliegenden Inselstadt. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen war sie im Begriff, die Bilge zu betreten. »Innerhalb des Stedding kann man die Macht nicht lenken. Man kann nicht einmal die Wahre Quelle fühlen. Kein draußen gewobenes Gewebe hat einen Einfluss auf das, was drinnen ist, obwohl das keine Rolle spielt. Tatsächlich gibt es hier zwei Stedding, eines in dem anderen. Das größere beeinflusst Männer, aber wir werden das kleinere betreten, bevor wir die Brücke erreichen.«

»Ihr werdet dort nicht die Macht lenken können?«, fragte Harine. Als die Aes Sedai nickte, ohne den Blick von der Stadt zu nehmen, umspielte ein schmales, frostiges Lächeln Harmes Lippen. »Vielleicht können wir uns über die Instruktionen unterhalten, nachdem wir ein Quartier bezogen haben.«

»Dir lest die Philosophie?« Sarene sah überrascht aus. »Die Theorie der Instruktionen, heutzutage hält man nicht viel davon, aber ich war immer der Meinung, dass man daraus viel lernen kann. Eine Unterhaltung wird nett sein, um mich von anderen Dingen abzulenken. Falls uns Cadsuane Zeit lässt.«

Harine fiel der Unterkiefer herunter. Sie starrte die Aes Sedai an und vergaß, sich am Sattel festzuhalten, und nur Moads schneller Griff verhinderte, dass sie herunterfiel.

Shalon hatte Harine niemals die Philosophie erwähnen hören, aber ihr war es egal, worüber ihre Schwester sprach. Sie starrte Far Madding an und schluckte schwer. Sie hatte natürlich gelernt, jemanden einzuhüllen, damit diese Person nicht die Macht benutzen konnte, und sie war im Laufe ihrer Ausbildung auch selbst eingehüllt worden, aber selbst eingehüllt konnte man noch immer die Quelle fühlen. Wie würde es sein, sie nicht fühlen zu können? So als würde man die Sonne aus der Sicht verlieren, sie aber direkt am Rande des Sichtfelds lauern? Wie würde es sein, wenn die Sonne verschwand?

Während sie sich dem See näherten, war sie sich der Quelle bewusster, als sie es seit jenem ersten Mal der Freude, als sie diese berührt hatte, gewesen war. Sie konnte nur mühsam verhindern, nicht von ihr zu trinken, aber die Aes Sedai würden das Licht sehen und vermutlich auch den Grund dafür kennen. Sie würde sich oder Harine nicht auf diese Weise beschämen. Auf dem Wasser tummelten sich viele kleine Boote, von denen keines länger als sechs oder sieben Spannen war; einige holten Netze ein, andere krochen langsam mithilfe langer Ruder dahin. Der windbewegten Dünung nach zu urteilen, die über die Oberfläche rollte und manchmal in schaumigen, an Brandung erinnernde Fontänen gegeneinander prallte, wären Segel genauso sehr ein Hindernis wie eine Hilfe gewesen. Dennoch schienen die Boote beinahe etwas Vertrautes zu sein, auch wenn sie nicht einmal annähernd mit den schnittigen Vier- oder Acht- oder Zwölfsitzern vergleichbar waren, wie die Schiffe des Meervolks sie mit sich führten. Ein winziger Trost inmitten all dieser Merkwürdigkeiten.

Die Straße mündete auf einer Landzunge, die eine halbe Meile oder mehr in den See hineinragte, und plötzlich verschwand die Quelle. Sarene seufzte, gab aber durch nichts anderes zu erkennen, dass sie es bemerkt hatte. Shalon befeuchtete sich die Lippen. Es war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sie fühlte sich... leer, aber das konnte sie ertragen. Wenn sie es nicht zu lange ertragen musste. Der böige und kapriziöse Wind, der versuchte, ihre Umhänge zu stehlen, fühlte sich plötzlich viel kälter an.

Am Ende der Landzunge befand sich auf der einen Seite zwischen der Straße und dem Wasser ein Dorf aus grauen Steinhäusern mit schiefergedeckten Dächern. Frauen, die mit großen Körben vorbeieilten, blieben beim Anblick der Reiter stehen. Mehr als nur eine griff sich an die Nase, während sie starrte. Shalon hatte sich fast an diese Art von Blicken gewöhnt. In Cairhien. Aber ihre Aufmerksamkeit wurde von dem Festungswerk gegenüber dem Dorf angezogen, einem Berg aus dicht verfugten Steinen, der fünf Spannen in die Höhe wuchs und auf dessen Ecktürmen Soldaten durch die Visiere ihrer Helme spähten. Einige hielten offen gespannte Armbrüste. Weitere behelmte Soldaten strömten aus einem eisenbeschlagenen Tor in unmittelbarer Nähe der Brücke, Männer mit Rüstungen, deren Panzer aus rechteckigen Schuppen zusammengesetzt waren und die als Abzeichen ein goldenes Schwert auf der linken Schulter trugen. Einige trugen Schwerter am Gürtel, andere hielten lange Speere oder Armbrüste. Shalon fragte sich, ob sie wohl damit rechneten, dass sich die Aes Sedai den Weg freikämpften. Ein Offizier mit einer gelben Feder am Helm bedeutete Cadsuane anzuhalten, dann ging er auf sie zu und nahm den Helm ab. Mit grauen Strähnen durchsetztes Haar flutete bis zur Taille auf seinen Rücken. Er hatte ein hartes, mürrisches Gesicht.

Cadsuane beugte sich tief auf ihrem Sattel herab, um ein paar leise Worte mit dem Mann zu wechseln, dann zog sie einen fetten Geldbeutel unter einer Satteltasche hervor. Er nahm ihn entgegen, trat zurück und winkte einen der anderen Soldaten heran, einen großen, knochigen Mann, der keinen Helm trug. Er hielt ein Schreibbrett und sein im Nacken zusammengebundenes Haar reichte ebenfalls bis zur Taille. Er neigte respektvoll den Kopf, bevor er sich nach Alannas Namen erkundigte und ihn sorgfältig und mit zwischen die Zähne geklemmter Zunge niederschrieb, wobei er die Feder oft in die Tinte eintauchte. Der mürrische Offizier stand da, den Helm auf die Hüfte gestützt, und musterte die anderen hinter Cadsuane ausdruckslos. Der Geldbeutel hing an seinen Fingern, als hätte er ihn vergessen. Er schien sich nicht darüber bewusst zu sein, dass er mit einer Aes Sedai gesprochen hatte. Vielleicht war es ihm auch egal. Hier unterschied sich eine Aes Sedai durch nichts von einer anderen Frau. Shalon erschauderte. Hier unterschied auch sie sich durch nichts von einer normalen Frau, während der Dauer ihres Aufenthalts war sie ihrer Fähigkeiten beraubt. Beraubt.

»Sie schreiben die Namen aller Ausländer auf«, sagte Sarene. »Die Ratsherrinnen wissen gern, wer in der Stadt ist.«

»Vielleicht würden sie eine Herrin der Wogen ohne Bestechung einlassen«, sagte Harine trocken. Der knochige Soldat, der sich von Alanna abwandte, zuckte wie jeder Küstengebundene beim Anblick von Shalons und Harines Schmuck zusammen, bevor er auf sie zukam.

»Euer Name, ehrenwerte Frau, wenn Ihr so freundlich wärt?«, sagte er höflich zu Sarene und neigte wieder den Kopf. Sie sagte ihn ihm, ohne zu erwähnen, dass sie eine Aes Sedai war. Shalon ließ es ebenfalls bei ihrem Namen bewenden, aber Harine gab auch ihre Titel an, Harine din Togara Zwei Winde, Herrin der Wogen vom Clan Shodein, Außerordentliche Botschafterin der Herrin der Schiffe des Atha'an Miere. Der Bursche blinzelte, dann biss er sich auf die Zunge und beugte den Kopf über das Schreibbrett. Harine runzelte die Stirn. Wenn sie jemanden beeindrucken wollte, dann erwartete sie auch, dass er beeindruckt war.

Während der knochige Mann schrieb, drängte sich ein stämmiger Soldat mit Helm, an dessen Schulter eine Ledertasche hing, zwischen Harines und Moads Pferd. Hinter den Stäben seines Visiers verzerrte eine wulstige Narbe, die das ganze Gesicht hinunterverlief, seinen Mund zu einem höhnischen Grinsen, aber er verneigte sich durchaus respektvoll vor Harine. Und dann versuchte er, Moad das Schwert abzunehmen.

»Ihr müsst das erlauben oder Eure Klingen bis zur Abreise hier lassen«, sagte Sarene schnell, als der Schwertmeister dem stämmigen Mann die Scheide vorenthielt. »Cadsuane hat für diese Vergünstigung bezahlt, Herrin der Wogen. In Far Madding darf kein Mann mehr als ein Gürtelmesser tragen, es sei denn, die Waffe ist friedensgebunden, dass sie nicht gezogen werden kann. Selbst diese Mauerwachen dürfen von ihrem Posten kein Schwert mitnehmen. Stimmt das nicht?«, fragte sie den dürren Soldaten, und er erwiderte, dies sei richtig und es sei auch gut so.

Mit einem Schulterzucken zog Moad das Schwert aus der Schärpe, und als der Bursche mit der Narbe auch den Dolch mit dem Elfenbeingriff verlangte, gab er auch diesen ab. Der Mann schob sich den langen Dolch hinter den Gürtel, holte eine Rolle aus feinem Draht aus der Tasche und wickelte das Schwert geschickt in ein Netz ein. Gelegentlich hielt er inne, um eine Siegelpresse aus dem Gürtel zu ziehen und eine kleine Bleischeibe um die Drähte zu falten, aber er hatte schnelle, geübte Hände.

»Die Namensliste wird an die anderen beiden Brückenposten weitergegeben«, fuhr Sarene fort, »und die Männer müssen die ungebrochenen Drähte vorzeigen, andernfalls werden sie festgehalten, bis ein Magistrat entscheidet, dass kein weiteres Verbrechen verübt wurde. Und selbst wenn keines geschehen ist, besteht die Strafe in einer hohen Geldbuße und Peitschenhieben. Die meisten Ausländer hinterlegen ihre Waffen vor dem Betreten der Stadt, um das Geld zu sparen, aber das würde bedeuten, dass wir auch auf dieser Brücke wieder abreisen müssten. Das Licht allein weiß, welche Richtung wir einschlagen wollen, wenn wir wieder gehen.« Sie warf Cadsuane einen Blick zu, die anscheinend Alanna davon abhalten musste, allein über die lange Brücke zu reiten, und fügte beinahe flüsternd hinzu: »Zumindest hoffe ich, dass das ihre Beweggründe sind.«

Harine schnaubte. »Das ist doch albern. Wie soll er sich verteidigen?«

»Gute Frau, in Far Madding besteht für keinen Mann die Notwendigkeit, sich verteidigen zu müssen.« Die Stimme des stämmigen Mannes war heiser, aber er klang nicht spöttisch. Er verkündete das Offensichtliche. »Dafür sorgen die Straßenhüter. Würde man zulassen, dass jeder Mann ein Schwert trägt, wenn er will, dann hätten wir hier bald so schlimme Zustände wie überall anderswo. Ich habe gehört, wie es da zugeht, gute Frau, und das wollen wir hier nicht haben.« Er verbeugte sich vor Harine und schritt die Reihe weiter ab, gefolgt von dem Mann mit dem Schreibbrett.

Moad untersuchte kurz Schwert und Dolch, deren Griff und Scheide sorgfältig eingewickelt waren, dann schob er sie zurück an Ort und Stelle, wobei er darauf achtete, seine Schärpe nicht mit den Siegeln zu zerreißen. »Schwerter erhalten erst dann einen Nutzen, wenn der Verstand versagt«, sagte er. Harine schnaubte erneut. Shalon fragte sich, wo der Bursche seine Narbe wohl herhatte, wenn Far Madding so sicher war.

Hinter ihnen ertönten Protestrufe von den anderen Männern, aber sie wurden schnell zum Verstummen gebracht. Vermutlich von Merise. Darauf hätte Shalon jede Wette abgeschlossen. Manchmal ließ diese Frau Cadsuane locker erscheinen. Ihre Behüter waren wie die abgerichteten Wachhunde, die Amayar benutzte, bereit, auf einen Pfiff loszuspringen, und sie zögerte nicht, die Behüter der anderen Aes Sedai herumzukommandieren. Kurz darauf waren alle Schwerter friedensgebunden und die Packpferde nach verborgenen Waffen durchsucht. Sie ritten auf die Brücke und die Hufe klapperten über den Stein. Shalon versuchte sich jede Einzelheit zu merken, nicht so sehr aus Interesse, sondern um sich von dem abzulenken, was fehlte.

Die Brücke war flach und so breit wie die hinter ihr liegende Straße; an den Seiten ragten niedrige Steinbrüstungen in die Höhe, die einen Wagen daran hindern würden, in die Tiefe zu stürzen, Angreifern aber keinen Schutz boten, und sie war lang, mindestens eine Dreiviertelmeile, und so gerade wie ein Pfeil. Gelegentlich fuhr eines der Boote unter ihr hindurch, was unmöglich gewesen wäre, hätten sie Masten gehabt. Riesige Türme flankierten das mit Eisen beschlagene Stadttor — Sarene erklärte ihnen, dass es sich um das Caemlyn-Tor handelte —, wo Wächter mit dem goldenen Schwert auf der Schulter die Köpfe vor den Frauen neigten und die Männer misstrauisch beäugten. Die dahinterliegende Straße ...

Völlig sinnlos, hier aufmerksam alles beobachten zu wollen. Die Straße war breit und gerade und wurde von zwei- oder dreistöckigen Steinhäusern gesäumt; die Straße war voller Menschen und Karren, und alles schien zu verschwimmen. Die Quelle war verschwunden! Shalon wusste, dass sie wieder da sein würde, wenn sie diesen Ort verließ, und beim Licht, sie wollte auf der Stelle umkehren. Wie lange würde es wohl dauern, bevor sie dies konnte? Möglicherweise hielt sich der Coramoor in der Stadt auf, und Harine wollte auf dem schnellsten Weg zu ihm, vielleicht wegen dem, was er darstellte, vielleicht weil sie glaubte, er würde ihr helfen, zur Herrin der Schiffe aufzusteigen. Bis Harine abreiste und Cadsuane sie von der Übereinkunft entband, saß Shalon hier fest. Hier, wo es keine Wahre Quelle gab.

Sarene redete wie ein Wasserfall, doch Shalon bekam kaum ein Wort mit. Sie überquerten einen Platz mit einer großen Frauenstatue in der Mitte, aber Shalon schnappte nur ihren Namen auf, Einion Avharin, obwohl Sarene ihr berichtete, warum die Frau in Far Madding berühmt war und warum ihre Statue auf das Caemlyn-Tor zeigte. Eine Reihe blattloser Bäume teilte die Straße jenseits des Platzes. Sänften und Kutschen und Männer in Schuppenrüstungen kämpften sich durch die Menge, aber sie nahm sie nur wie durch einen Schleier wahr. Zitternd zog sie sich in sich selbst zurück. Die Stadt verschwand. Die Zeit verschwand. Alles verschwand außer der Angst, nie wieder die Quelle spüren zu können. Shalon war sich nie zuvor bewusst gewesen, welchen Trost sie aus ihrer unsichtbaren Gegenwart geschöpft hatte. Sie war immer da gewesen, hatte unvorstellbare Freuden versprochen, ein Leben, das so reich war, dass alle Farben verblassten, wenn die Macht aus ihr wich. Und jetzt war die Quelle selbst nicht mehr da. Sie war weg. Das war alles, dessen sie sich bewusst war, dessen sie sich bewusst sein konnte. Sie war weg.

Загрузка...