25 Verschiedene Arten von Behüterbund

Rand saß mit untergeschlagenen Beinen und an der Wand lehnend auf dem Bett seines Zimmers im Haupt der Ratsherrin und spielte auf der mit Silber eingefassten Flöte, die ihm Thom Merrilin vor so langer Zeit geschenkt hatte. Einem Menschenalter. Dieses Zimmer mit seinen geschnitzten Wandpaneelen und den Fenstern, die auf den Nethvin-Markt hinausschauten, war besser als das, aus dem sie in der Krone von Maredo ausgezogen waren. Die neben ihm aufgestapelten Kissen waren mit Entendaunen gefüllt, das Bett verfugte über einen bestickten Baldachin und Vorhänge, und der Spiegel über dem Waschständer hatte keine einzige Blase. Der Sims über dem steinernen Kamin wies sogar einfaches Schnitzwerk auf. Es war das Zimmer eines wohlhabenden ausländischen Kaufmanns. Er war froh, dass er daran gedacht hatte, beim Aufbruch in Cairhien genug Gold mitzunehmen. Er war es einfach nicht gewöhnt, viel davon in der Tasche zu haben. Für den Wiedergeborenen Drachen wurde alles zur Verfügung gestellt. Allerdings hätte er sich mit der Flöte irgendein Nachtlager verdienen können. Die Melodie hieß Klage einer langen Nacht und er hatte sie nie zuvor im Leben gehört. Lews Hierin schon. Es war wie mit den Fertigkeiten im Zeichnen. Eigentlich, fand Rand, hätte ihm das Angst einjagen oder ihn wütend machen sollen, aber er saß einfach da und spielte, während Lews Therin weinte.

»Licht, Rand«, murmelte Min, »willst du bloß dasitzen und auf diesem Ding rumblasen?« Ihre Röcke wirbelten umher, während sie auf dem geblümten Teppich auf und ab schritt. Der Bund mit ihr und Elayne und Aviendha fühlte sich an, als hätte es ihn schon immer gegeben. Als hätte er nie etwas anderes gewollt. Er atmete und er war mit ihnen verbunden; das eine war so natürlich wie das andere. »Sollte sie ein falsches Wort sagen, das jemand aufschnappt, wenn sie es bereits gesagt hat... Ich werde nicht zulassen, dass dich jemand für Elaida in eine Zelle schleift!« Alannas Bund hatte sich noch nie so angefühlt. Zwar hatte er sich im Grunde nicht verändert, doch seit jenem Tag in Caemlyn erschien er zusehends stärker als Eindringling, wie ein Fremder, der über seine Schulter blickte, Sand in seinen Stiefeln. »Musst du das spielen? Es treibt mir Tränen in die Augen und verschafft mir gleichzeitig eine Gänsehaut. Wenn sie dich in Gefahr bringt...!« Sie riss eines ihrer Messer aus seinem Versteck in dem lose fallenden Ärmel und drohte damit.

Er nahm die Flöte von den Lippen und sah schweigend zu ihr herüber. Ihr Gesicht rötete sich, dann knurrte sie plötzlich und schleuderte die Klinge in den Boden, wo sie zitternd stecken blieb.

»Sie ist hier«, sagte er und zeigte mit der Flöte in eine Richtung. Unbewusst drehte er das Instrument und zeichnete Alannas Weg damit ganz genau nach. »Sie wird bald da sein.« Sie war am Vortag in Far Madding eingetroffen, und er verstand nicht, warum sie bis jetzt gewartet hatte. Alanna war ein Gewirr aus Gefühlen in seinem Kopf, nervös und misstrauisch, besorgt, entschlossen und vor allem zornig. Ein kaum gezügelter Zorn. »Wenn du lieber nicht dabei sein willst, kannst du ...« Min schüttelte energisch den Kopf. Direkt neben Alannas Bund lag das Bündel, das Min darstellte. Auch in ihm brodelte es vor Sorge und Wut, aber jedes Mal, wenn sie ihn ansah, strahlte die Liebe wie ein Signalfeuer auf und durchdrang es. Manchmal auch einfach nur so, wenn sie ihn nicht ansah. Furcht schimmerte ebenfalls hindurch, obwohl sie sie zu verbergen suchte.

Er setzte die Flöte wieder an die Lippen und begann mit Der betrunkene Hausierer. Das war fröhlich genug, um die Toten aufzumuntern. Lews Therin knurrte ihn an.

Min musterte ihn mit verschränkten Armen, dann riss sie abrupt an ihrem Kleid und rückte es auf den Hüften zurecht. Mit einem Seufzer senkte er die Flöte und wartete. Wenn eine Frau grundlos ihr Kleid richtete, war das mit einem Mann zu vergleichen, der die Schnallen seiner Rüstung fester zog und den Sattelgurt überprüfte; sie wollte einen Sturmangriff reiten, und man würde wie ein Hund niedergemacht, wenn man die Flucht ergriff. In Min war die Entschlossenheit jetzt genauso groß wie in Alanna, Zwillingssonnen, die in seinem Hinterkopf aufglühten.

»Wir werden nicht mehr über Alanna sprechen, bis sie hier ist«, sagte sie entschieden, so als hätte er auf diesem Thema bestanden. Entschlossenheit und noch immer Furcht, die jetzt stärker als zuvor war, ununterbrochen niedergetrampelt wurde und wieder in die Höhe sprang.

»Aber natürlich, Frau, wenn du es so möchtest«, erwiderte er und senkte den Kopf in der Art, wie es in Far Madding Sitte war. Sie schnaubte laut.

»Rand, ich mag Alivia. Das tue ich wirklich, selbst wenn sie Nynaeve in den Wahnsinn treibt.« Mit einer in die Hüfte gestützten Faust beugte sich Min vor und richtete den Zeigefinger genau auf seine Nase. »Aber sie wird dich töten.« Sie spie jedes Wort aus.

»Du hast gesagt, sie würde mir dabei helfen zu sterben«, sagte er ganz ruhig. »Das waren deine Worte.« Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn er starb? Da würde Trauer sein, sie verlassen zu müssen und Elayne und Aviendha. Trauer über den Schmerz, den er ihnen bereitet hatte. Vor dem Ende hätte er gern noch einmal seinen Vater gesehen. Davon abgesehen war er beinahe zu dem Schluss gekommen, dass der Tod eine Erlösung sein würde.

Der Tod ist eine Erlösung, sagte Lews Thenn inbrünstig. Ich will den Tod. Wir verdienen den Tod!

»Mir beim Sterben zu helfen ist nicht dasselbe, wie mich zu töten«, fuhr Rand fort. Mittlerweile war er richtig gut darin, die Stimme zu ignorieren. »Es sei denn, du hast deine Meinung über das geändert, was du gesehen hast.«

Min warf verzweifelt die Hände in die Höhe. »Ich habe gesehen, was ich gesehen habe, und das habe ich dir erzählt, aber der Pfuhl des Verderbens soll mich verschlucken, wenn ich darin einen Unterschied erkenne. Und ich kann einfach nicht begreifen, warum du glaubst, dass es ihn tatsächlich gibt!«

»Min, früher oder später muss ich sterben«, sagte er geduldig. Das hatten ihm jene gesagt, denen er glauben musste. Wenn du leben willst, musst du sterben. Für ihn ergab das noch immer keinen Sinn, aber es stellte eine unverrückbare Tatsache dar. Er musste sterben, genau wie es scheinbar in den Prophezeiungen des Drachen stand. »Ich hoffe, es wird nicht bald sein. Jedenfalls will ich das nicht. Es tut mir Leid, Min. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass du mit mir den Bund eingehst.« Aber er war nicht stark genug gewesen, es ihnen abzuschlagen, genauso wenig wie er stark genug gewesen war, um sie von sich zu stoßen. Er war zu schwach, um das zu tun, was getan werden musste. Er musste im Winter trinken, bis das Herz des Winters wie der Mittag eines Sonnentags aussah.

»Hättest du dich geweigert, hätten wir dich gefesselt und es trotzdem getan.« Er kam zu dem Schluss, dass es besser war, sie nicht zu fragen, wie sich das von dem unterschieden hätte, was Alanna getan hatte. Sie sah darin auf jeden Fall einen Unterschied. Sie kniete sich aufs Bett und nahm sein Gesicht in beide Hände. »Rand al'Thor, du wirst mir jetzt zuhören. Ich lasse dich nicht sterben. Und wenn du es trotzdem schaffst, nur um mir eins auszuwischen, folge ich dir und hole dich zurück.« Plötzlich schob sich starke Belustigung durch den Ernst, den er in seinem Kopf fühlte. Ihre Stimme nahm eine spöttische Strenge an. »Und dann bringe ich dich an diesen Ort, um hier zu leben. Ich werde dich zwingen, dir das Haar bis zur Taille wachsen zu lassen und Haarspangen mit Mondsteinen zu tragen.«

Er lächelte sie an. Sie konnte ihn noch immer zum Lächeln bringen. »Ich habe noch nie von einem Schicksal gehört, das schlimmer als der Tod ist, aber ich glaube, das könnte es durchaus sein.«

Jemand klopfte an der Tür und Min erstarrte. In einer stummen Frage formten ihre Lippen Alannas Namen. Rand nickte und zu seiner Überraschung stieß ihn Min auf die Kissen und warf sich auf seine Brust. Sie wand sich und hob dann den Kopf, und ihm wurde klar, dass sie versuchte, ihr Bild in dem Spiegel über dem Waschtisch zu sehen. Endlich fand sie eine Position, die ihr gefiel; sie lag halb auf ihm drauf, eine Hand in seinem Nacken und die andere neben ihrem Gesicht auf seiner Brust. »Herein«, rief sie.

Cadsuane betrat den Raum und blieb stehen, ihr Blick richtete sich auf das Messer, das im Boden steckte. Mit dem Gewand aus feinem dunkelgrünen Tuch und dem von einer Silberbrosche gehaltenen pelzbesetzten Umhang hätte sie durchaus als erfolgreiche Kauffrau oder Geldverleiherin durchgehen können, obwohl die goldenen Vögel, Fische, Sterne und Monde, die von dem eisengrauen Haarknoten auf ihrem Kopf baumelten, für beide zu protzig gewesen wäre. Sie trug ihren Großen Schlangenring nicht, was vermuten ließ, dass sie sich bemühte, nicht zu viel Aufsehen zu erregen. »Habt ihr Kinder euch gestritten?«, fragte sie nachsichtig.

Rand konnte beinahe spüren, wie Lews Therin ganz still wurde, so wie eine Bergkatze, die sich in den Schatten duckte. Lews Therin hütete sich vor dieser Frau fast genauso sehr wie er auch.

Min kämpfte sich mit knallrotem Gesicht auf die Füße und glättete wütend die Röcke. »Du hast gesagt, sie wäre es!«, sagte sie anklagend in dem Augenblick, in dem Alanna eintrat. Cadsuane schloss die Tür.

Alanna warf Min einen Blick zu und tat sie als unwichtig ab, während sie sich auf Rand konzentrierte. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, nahm sie den Umhang ab und warf ihn über einen der beiden Stuhle, die es in dem Raum gab. Ihre Hände legten sich auf die dunkelgrauen Röcke und verkraUten sich in dem Stoff. Auch sie trug keinen Aes Sedai-Ring. Von dem Augenblick an, in dem ihr Blick auf ihn fiel, strömte Freude durch ihren Bund. Der Rest war immer noch da, die Nervosität und der Zorn, aber dass sie Freude empfand, damit hätte er nie gerechnet!

Er blieb liegen, wo er war, ergriff die Flöte und spielte damit. »Sollte ich überrascht sein, Euch zu sehen, Cadsuane? Ihr taucht viel zu oft dort auf, wo ich Euch nicht sehen will. Wer hat Euch das Schnelle Reisen beigebracht?« Es konnte nur das gewesen sein. Im einen Augenblick war Alanna ein vager Gedanke an der Schwelle seines Bewusstseins gewesen, im nächsten erblühte sie in seinem Kopf zu voller Stärke auf. Zuerst hatte er gedacht, sie hätte das Schnelle Reisen gelernt, aber als er jetzt Cadsuane sah, wusste er es besser.

Alanna presste die Lippen aufeinander und selbst Min sah missbilligend aus. Die Gefühle, die von der einen durch den Behüterbund flössen, waren sprunghaft; bei der anderen war es jetzt nur noch Wut, in die sich Entzücken mischte. Warum verspürte Alanna Freude?

»Wie ich sehe, habt Ihr noch immer keine besseren Manieren als eine Ziege«, sagte Cadsuane trocken. »Mein Junge, ich glaube kaum, dass ich Eure Erlaubnis brauche, um meinem Geburtsort einen Besuch abzustatten. Und was das Schnelle Reisen anbelangt, es geht Euch nichts an, was ich wo gelernt habe.« Sie löste den Umhang, steckte die Brosche in ihren Gürtel, wo sie schnell bei der Hand war, und legte ihn sich über den Arm, und zwar auf eine Weise, als wäre er viel wichtiger als Rand. Ihre Stimme nahm einen gereizten Unterton an. »Auf die eine oder andere Weise habt Ihr mir eine Menge Reisegefährten aufgehalst. Alanna war so begierig, Euch wiederzusehen, nur ein Herz aus Stein hätte sich weigern können, sie nicht mitzunehmen, und Sorilea hat gesagt, dass einige der anderen, die Euch den Treueid geleistet haben, zu nichts zu gebrauchen seien, bis man ihnen erlauben würde, Alanna zu begleiten, also habe ich Nesune, Sarene, Erian, Beldeine und Elza auch mitgebracht. Ganz zu schweigen von Harine und ihrer Schwester und ihrem Schwertmeister. Sie wusste nicht, ob sie in Ohnmacht fallen, schreien oder jemanden beißen sollte, als sie herausfand, dass Alanna Euch suchen wollte. Und dann sind da noch drei von Euren schwarzbemäntelten Freunden. Ich weiß nicht, wie dringend sie Euch sehen wollen, aber sie sind auch hier. Nun, jetzt, da wir Euch gefunden haben, kann ich Euch ja die Meervolkfrauen und die Schwestern schicken, damit Ihr Euch um sie kümmert.«

Rand sprang mit einem unterdrückten Fluch auf die Beine. »Nein! Haltet sie von mir fern!«

Cadsuanes dunkle Augen wurden schmal. »Ich habe Euch schon einmal wegen Eurer Ausdrucksweise ermahnt; ich werde es nicht noch einmal tun.« Sie sah ihn noch einen Augenblick lang stirnrunzelnd an, dann nickte sie, als würde sie glauben, dass er sich die Lektion zu Herzen nehme. »Nun, was bringt Euch auf die Idee, Ihr könntet mir sagen, was ich zu tun habe, mein Junge?«

Rand kämpfte mit sich. Er konnte hier keine Befehle geben. Er hatte Cadsuane noch nie irgendwo etwas befehlen können. Min behauptete, dass er die Frau brauchte, dass sie ihm etwas beibringen würde, das er lernen musste, aber wenn überhaupt machte ihn das nur noch misstrauischer, was ihre Person betraf. »Ich will meine Angelegenheiten hier zu Ende bringen und in aller Ruhe abreisen«, sagte er schließlich. »Wenn Ihr ihnen schon Bescheid sagt, dann sorgt wenigstens dafür, dass sie verstehen, warum ich es mir nicht leisten kann, dass sie sich in meiner Nähe aufhalten, ehe ich zur Abreise bereit bin.« Die Frau sah ihn mit hochgezogener Augenbraue erwartungsvoll an, und er holte tief Luft. Warum musste sie immer alles so schwierig machen? »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Ihr keiner von ihnen verratet, wo ich bin.« Dann fügte er zögernd, sehr zögernd hinzu: »Bitte.« Min atmete aus, als hätte sie die Luft angehalten.

»Gut«, sagte Cadsuane nach einem Augenblick. »Ihr habt Manieren, wenn Ihr es nur versucht, selbst wenn es Euch aussehen lässt, als hättet Ihr Zahnschmerzen. Ich schätze, ich kann für den Moment Euer Geheimnis bewahren. Nicht alle von ihnen wissen, dass Ihr in der Stadt seid. Ach ja. Ich sollte Euch sagen, dass Merise mit Narishma den Behüterbund eingegangen ist. Corele hat Damer und der junge Hopwil gehört zu Daigian.« Sie sagte es, als wäre es eine Nebensächlichkeit, die sie leicht hätte vergessen können.

Diesmal machte er sich nicht die Mühe, leise zu fluchen, und Cadsuanes kraftvolle Ohrfeige renkte ihm beinahe den Kiefer aus. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen. Eine der anderen Frauen keuchte auf.

»Ich habe es Euch gesagt«, sagte Cadsuane gelassen. »Keine Warnungen mehr.«

Min machte einen Schritt auf sie zu, doch er schüttelte kaum merklich den Kopf. Es half ihm, die Flecken zu verscheuchen. Er hätte sich gern den Kiefer gerieben, aber er hielt seine Hände an den Seiten. Er musste sich dazu zwingen, den Griff um die Flöte zu lockern. Was Cadsuane anging, hätte der Schlag genauso gut niemals stattgefunden haben können.

»Warum sollten Flinn und die anderen sich bereit erklären, den Bund einzugehen?«, verlangte er zu wissen.

»Fragt sie, wenn Ihr sie seht«, entgegnete sie. »Min, ich glaube, Alanna will eine Zeit lang mit ihm allein sein.« Sie wandte sich zur Tür, ohne auf Mins Erwiderung zu warten, und fügte dann hinzu: »Alanna, ich warte unten im Frauenraum. Lasst Euch nicht zu viel Zeit. Ich will zurück auf die Höhen. Min?«

Min starrte Alanna finster an. Sie starrte Rand finster an. Dann warf sie die Hände in die Luft und stapfte leise vor sich hin schimpfend hinter Cadsuane aus dem Raum. Sie warf die Tür hinter sich ins Schloss.

»Mit deinem eigenen Haar hast du mir besser gefallen.« Alanna verschränkte die Arme unter den Brüsten und musterte ihn. In dem Bund rangen Zorn und Freude miteinander. »Ich hatte gehofft, dass es besser sein würde, so nahe bei dir zu sein, aber du bist noch immer wie ein Stein in meinem Kopf. Selbst aus dieser Entfernung kann ich kaum sagen, ob du aufgebracht bist oder nicht. Aber egal, es ist besser, hier zu sein. Ich mag es nicht, so lange von einem Behüter getrennt zu sein.«

Rand ignorierte sie und die überschäumende Freude, die durch den Bund floss. »Sie hat nicht gefragt, was ich in Far Madding will«, sagte er leise und starrte auf die Tür, als könnte er Cadsuane durch das Holz hindurch sehen. Sie musste sich doch sicher danach fragen. »Du hast ihr gesagt, dass ich hier bin, Alanna. Nur du kannst es gewesen sein. Was ist mit deinem Eid geschehen?«

Alanna holte tief Luft, und es verging ein Augenblick, bevor sie darauf antwortete. »Ich bin mir nicht sicher, ob Cadsuane überhaupt etwas an dir liegt«, fauchte sie. »Ich halte den Schwur, so gut ich kann, aber du machst es einem sehr schwer.« Ihre Stimme verhärtete sich, durch den Bund floss mehr Zorn. »Ich schulde einem Mann die Lehnstreue, der verschwindet und mich zurücklässt. Wie soll ich dir da dienen? Aber was noch viel wichtiger ist, was hast du getan?« Sie überquerte den Teppich und starrte zu ihm hoch; in ihren Augen loderte Wut. Er war mehr als ein Fuß größer als sie, aber es schien ihr egal zu sein. »Du hast etwas getan, ich weiß es. Ich war drei Tage lang ohne Bewusstsein! Was hast du getan?«

»Wenn ich schon einen Bund eingehen muss, dann nur mit jemandem, dem ich dazu die Erlaubnis gegeben habe.« Er konnte ihre Hand gerade noch abfangen, bevor sie in seinem Gesicht landete. »Ich bin für heute genug geschlagen worden.«

Sie starrte mit gebleckten Zähnen zu ihm hoch, als wäre sie bereit, ihm die Kehle durchzubeißen. Der Bund beförderte jetzt nur noch Zorn und Empörung, so messerscharf wie ein Dolch. »Du hast zugelassen, dass jemand anders mit dir den Bund eingeht?«, fauchte sie. »Wie kannst du es wagen! Wer auch immer sie ist, ich werde sie vor Gericht sehen! Ich werde sie mit Ruten auspeitschen lassen! Du gehörst mir!«

»Weil du mich genommen hast, Alanna«, sagte er kalt. »Falls noch mehr Schwestern davon erfahren sollten, würde man dich mit Ruten auspeitschen.« Min hatte ihm einst gesagt, dass er Alanna vertrauen konnte, dass sie die Grüne und vier andere Schwestern »in seiner Hand« gesehen hatte. Auf eine seltsame Art und Weise vertraute er ihr tatsächlich, aber er befand sich auch in Alannas Hand, und das wollte er nicht. »Gib mich frei und ich bestreite, dass es jemals passiert ist.« Er hatte nicht einmal gewusst, dass das überhaupt möglich war, bis Lan ihm von Myrelle und ihm erzählt hatte. »Gib mich frei und ich befreie dich von deinem Eid.«

Die brodelnde Wut, die durch den Bund floss, ließ nach, ohne ganz zu verschwinden, aber ihr Gesicht wurde ruhig und ihre Stimme beherrscht. »Du tust mir weh.«

Das wusste er. Er konnte den Schmerz in ihrem Handgelenk durch den Bund fühlen. Er ließ sie los und sie massierte das Handgelenk ausgiebiger, als es wegen der Schmerzen, die er gefühlt hatte, notwendig gewesen wäre. Sie setzte sich auf den zweiten Stuhl, schlug die Beine übereinander und rieb sich weiterhin das Gelenk. Sie schien nachzudenken.

»Ich habe daran gedacht, dich freizugeben«, sagte sie schließlich. »Ich habe davon geträumt.« Sie stieß ein klägliches Lachen aus. »Ich habe sogar Cadsuane gebeten, den Bund an sie weitergeben zu dürfen. Ein Zeichen, wie verzweifelt ich war, um so eine Bitte zu stellen. Wenn jemand dich unter Kontrolle halten kann, dann Cadsuane. Aber sie hat sich geweigert. Sie war außer sich, dass ich es vorschlug, ohne dich zu fragen, aber selbst wenn du dich einverstanden erklärt hättest, hätte sie es nicht getan.« Sie breitete die Hände aus. »Also gehörst du mir.« In ihrem Gesicht regte sich keine Miene, aber als sie das sagte, loderte die Freude wieder auf. »Auf welche Weise auch immer ich dich bekommen habe, du bist mein Behüter. Ich trage eine Verantwortung, die genauso stark ist wie der Eid, den ich schwor, dir zu gehorchen. Genauso stark. Also werde ich dich nicht freigeben und irgendjemand anderen überlassen, bis ich weiß, dass sie dich auf die richtige Weise kontrollieren kann. Wer hat sich mit dir verbunden? Wenn sie fähig ist, gebe ich dich frei.«

Allein die Vorstellung, Cadsuane hätte seinen Bund übernehmen können, jagte Rand eine Gänsehaut über den Rücken. Alanna war nie dazu fähig gewesen, ihn mithilfe des Bundes zu kontrollieren, und er glaubte auch nicht, dass es überhaupt eine Schwester gab, die es konnte, aber er würde niemals das Risiko eingehen, es gerade bei dieser Frau darauf ankommen zu lassen. Licht!

»Wie kommst du darauf, dass ich ihr egal bin?«, verlangte er zu wissen, statt Alannas Frage zu beantworten. Vertrauen oder nicht, niemand würde dies erfahren, solange er es verhindern konnte. Was Elayne, Min und Aviendha getan hatten, mochte zwar durch das Burggesetz legitimiert sein, aber wenn herauskam, dass sie auf diese Weise mit ihm verbunden waren, hatten sie von den anderen Aes Sedai Schlimmeres als eine Bestrafung zu befürchten. Er setzte sich auf die Bettkante und drehte die Flöte in seinen Händen. »Nur weil sie meinen Bund nicht haben wollte? Vielleicht sind ihr die Konsequenzen nicht so gleichgültig wie dir? Sie ist in Cairhien zu mir gekommen und auch dann noch geblieben, als es außer mir keinen Grund dafür mehr gab. Soll ich ernsthaft glauben, sie wollte ihre Freunde besuchen, während ich zufällig hier bin? Sie hat dich nach Far Madding gebracht, damit sie mich finden konnte.«

»Rand, sie wollte jeden Tag wissen, wo du bist«, sagte Alanna, »aber ich bezweifle, dass es in Seleisin einen Hirten gibt, der sich nicht fragt, wo du bist. Die ganze Welt will das wissen. Ich wusste, dass du im tiefen Süden bist, dass du dich seit Tagen nicht von der Stelle gerührt hattest. Als ich herausfand, dass sie und Verin herkommen, musste ich sie auf den Knien anflehen, mich mitkommen zu lassen. Aber ich hatte keine Ahnung, dass du in der Stadt bist, bis ich oben in den Hügeln über der Stadt aus dem Tor trat. Davor dachte ich, ich musste den halben Weg bis nach Tear Reisen, um dich zu finden. Cadsuane hat es mir auf dem Weg hierher beigebracht, also glaube nicht, du könntest mir in Zukunft so leicht aus dem Weg gehen.«

Cadsuane hatte Alanna das Schnelle Reisen beigebracht? Das verriet noch immer nicht, wer es Cadsuane gezeigt hatte. Andererseits spielte es keine Rolle. »Und Damer und die beiden anderen haben zugelassen, das sie gebunden werden? Oder haben die Schwestern es auf die gleiche Weise vollbracht, wie du dich mit mir verbunden hast?«

Ihre Wangen röteten sich, aber ihre Stimme blieb ruhig. »Ich habe gehört, wie Merise Jahar gefragt hat. Er hat zwei Tage gebraucht, um einzuwilligen, und sie hat ihn nicht unter Druck gesetzt. Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber wie Cadsuane schon sagte, du kannst sie ja fragen, wenn du willst. Rand, du musst eines wissen, diese Männer hatten Angst, zu deiner ›Schwarzen Burg‹ zurückzukehren.« Ihre Lippen verzogen sich angewidert, als sie diesen Namen aussprach. »Sie hatten Angst, dass man sie beschuldigt, an dem Angriff auf dich teilgenommen zu haben. Wenn sie einfach geflohen wären, hätte man sie als Deserteure gejagt. Soweit ich weiß, lautet dein Befehl doch so, oder? Wo hätten sie sonst hingehen können außer zu den Aes Sedai? Und es ist gut, dass sie es getan haben.« Sie lächelte, als hätte sie gerade etwas Wunderbares gesehen, und ihre Stimme wurde aufgeregt. »Rand, Damer hat eine Methode entdeckt, wie man jemanden von einer Dämpfung Heilen kann! Licht, ich kann dieses Wort aussprechen, ohne dass mir die Zunge erstarrt. Er hat Irgain und Ronaille und Sashalle Geheilt. Sie haben dir die Treue geschworen, genau wie die anderen auch.«

»Was meinst du damit — wie die anderen auch?« »Ich meine, all die Schwestern, die von den Aiel festgehalten wurden. Sogar die Roten.« Sie klang, als könnte sie es noch immer nicht glauben, was durchaus richtig war, aber Unglaube verwandelte sich in Eifer, als sie beide Füße auf den Boden stellte, sich vorbeugte und ihn fixierte. »Jede von ihnen hat den Eid geleistet und die Strafe akzeptiert, die du Nesune und den anderen auferlegt hast, den ersten fünf, die den Schwur geleistet haben. Cadsuane vertraut ihnen nicht. Sie hat nicht erlaubt, dass auch nur eine von ihnen einen Behüter mitbringt. Ich muss zugeben, dass ich zuerst unschlüssig war, aber ich glaube, dass du ihnen vertrauen kannst. Sie haben einen Eid auf dich geschworen. Du weißt, was das für eine Schwester bedeutet. Wir können keinen Eid brechen, Rand. Das ist nicht möglich.«

Sogar die Roten. Es hatte ihn überrascht, als die ersten fünf Gefangenen ihm Gehorsam schworen. Elaida hatte sie geschickt, um ihn zu entfuhren, und sie hatten es auch getan. Er war sich sicher gewesen, dass es damit zu tun hatte, dass er Ta'veren war, aber das hatte nur die Wahrscheinlichkeit geändert, hatte dafür gesorgt, dass das, was nur einmal in einer Million Fälle passierte, "zur Realität wurde. Schwer zu glauben, dass eine Rote auf einen Mann, der die Macht lenken konnte, einen Treueid schwor, ganz egal unter welchen Umständen.

»Rand, du brauchst uns.« Sie stand auf und bewegte sich, als wollte sie auf und ab schreiten, aber dann blieb sie stehen und betrachtete ihn. Ihre Hände glätteten die Röcke, als wäre sie sich nicht bewusst, was sie tat. »Du brauchst die Unterstützung der Aes Sedai. Ohne sie wirst du jede Nation erobern müssen und darin warst du bis jetzt nicht besonders erfolgreich. Du magst ja der Ansicht sein, dass die Rebellion in Cairhien ihr Ende gefunden hat, aber nicht jeder ist davon begeistert, dass Dobraine zu deinem Verwalter ernannt wird. Falls Toram Riatin wieder auftauchen sollte, könnten sich ihm eine Menge Unzufriedener anschließen. So wie wir gehört haben, sitzt Hochlord Darlin gemütlich im Stein und wird als dein Verwalter in Tear angekündigt, aber die Rebellen strömen nicht aus dem Haddon Mirk an seine Seite. Was Andor angeht, wird Elayne Trakand vielleicht verkünden, dass sie dich unterstützt, sobald sie auf dem Thron sitzt, aber sie hat deine Soldaten aus Caemlyn herausmanövriert, und ich trage ein Glöckchen am Hals, wenn sie sie nach einer erfolgreichen Thronbesteigung in Andor bleiben lässt. Die Schwestern können dir helfen. Elayne wird auf uns hören. Die Rebellen in Cairhien und Tear werden zuhören. Die Weiße Burg beendet seit dreitausend Jahren Kriege und Rebellionen. Dir mag der Vertrag missfallen, den Rafela und Merana mit Harine abgeschlossen haben, aber sie haben alles erreicht, was du haben wolltest. Licht, Mann, lass uns dir helfen!«

Rand nickte langsam. Dass ihm die Aes Sedai den Gehorsam schworen war bloß als eine Möglichkeit erschienen, die Menschen mit seiner Macht zu beeindrucken. Die Furcht, dass sie ihn für ihre eigenen Zwecke einspannten, hatte ihn für alles blind gemacht. Er gab das nicht gern zu. Er war ein Narr gewesen.

Ein Mann, der jedem vertraut, ist ein Narr, sagte Lews Therin, und ein Mann, der niemandem vertraut, ist ein Narr. Wir sind alle Narren, wenn wir lange genug leben. Er klang beinahe wie ein geistig gesunder Mensch.

»Geh zurück nach Cairhien«, sagte er. »Richte Rafela und Merana aus, ich will, dass sie mit den Rebellen in Haddon Mirk sprechen. Sag ihnen, sie sollen auch Bera und Kiruna mitnehmen.« Von Alanna abgesehen waren das die vier anderen, denen er Min zufolge vertrauen konnte. Was hatte sie über die fünf Frauen gesagt, die Cadsuane mitgebracht hatte? Dass jede von ihnen ihm auf ihre Art dienen würde. Das reichte nicht, noch nicht. »Ich will Darlin Sisnera als meinen Statthalter und die von mir erlassenen Gesetze sollen bestehen bleiben. Alles andere können sie bei den Verhandlungen weggeben, solange sie nur die Rebellion beenden. Und danach... was ist?«

Alannas Miene hatte sich verdüstert und sie war wieder auf den Stuhl gesunken. »Es ist nur, dass ich diesen ganzen weiten Weg gereist bin, und du schickst mich sofort wieder weg. Es ist vermutlich besser so, da dieses Mädchen hier ist.« Sie seufzte. »Du hast keine Vorstellung davon, was ich in Cairhien durchgemacht habe, wie ich den Bund nur gerade genug verhüllt habe, um zu verhindern, dass mich das, was ihr beider, treibt, die ganze Nacht wach hält. Das ist viel schwieriger, als ihn vollständig zu verhüllen, aber ich mag es nicht, die Verbindung mit meinen Behütern völlig zu verlieren. Doch zurück nach Cairhien zu gehen wird fast genauso schlimm sein.«

Rand räusperte sich. »Das ist mein Wille.« Über gewisse Dinge sprachen Frauen viel offener als Männer, das hatte er mittlerweile gelernt, aber es war immer noch ein Schock, wenn sie es dann taten. Er hoffte, dass Elayne und Aviendha den Bund verhüllten, wenn er Min liebte. Wenn sie zusammen im Bett lagen, existierte nichts mehr außer ihr, genau wie es bei Elayne gewesen war. Und mit Sicherheit wollte er sich nicht mit Alanna darüber unterhalten. »Möglicherweise bin ich hier fertig, wenn du in Cairhien alles erledigt hast. Wenn ich nicht... wenn nicht, kannst du hierher zurückkehren. Aber du musst von mir fernbleiben, bis ich etwas anderes sage.« Selbst mit dieser Einschränkung blühte in ihr die Freude wieder auf.

»Du wirst mir nicht verraten, mit wem du den Bund eingegangen bist, oder?« Er schüttelte den Kopf und sie seufzte. »Ich sollte jetzt besser gehen.« Sie stand auf, nahm den Umhang und legte ihn sich über den Arm. »Im besten Fall ist Cadsuane nur ungeduldig. Sorilea hat sie ermahnt, wie eine Mutterglucke auf uns aufzupassen, und das tut sie auch. Auf ihre Weise.« An der Tür blieb sie für eine letzte Frage stehen. »Warumbist du hier, Rand? Cadsuane mag es ja egal sein, aber mir nicht. Wenn du willst, behalte ich es für mich. Ich habe es nie geschafft, mich länger als nur ein paar Tage in einem Stedding aufzuhalten. Warum solltest du freiwillig hier bleiben, wo du nicht einmal die Quelle fühlen kannst?«

»Vielleicht ist es für mich nicht so schlimm«, log er. Ihm wurde klar, dass er es ihr hätte sagen können. Er glaubte ihr, dass sie es für sich behalten würde. Aber sie sah ihn als ihr Behüter und sie war eine Grüne. Keine Erklärung konnte sie dazu bringen, dass er sich all dem allein stellte, aber in Far Madding konnte sie sich nicht besser verteidigen als Min, vielleicht sogar noch weniger. »Geh, Alanna. Ich habe genug Zeit verschwendet.«

Sobald sie den Raum verlassen hatte, rutschte er auf dem Bett herum, bis er mit dem Rücken wieder an der Wand lehnte, dann saß er da und spielte mit der Flöte herum. Er dachte nach. Min hatte gesagt, dass er Cadsuane brauchte, aber sie war an ihm lediglich als Kuriosität interessiert. Eine Kuriosität mit schlechten Manieren. Irgendwie musste er ihr Interesse wecken. Aber wie, beim Licht, sollte er das machen?

Mit einiger Mühe kämpfte sich Verin auf dem Hof von Aleis' Palast aus ihrer Sänfte. Sie war einfach nicht dafür gebaut, in diese Dinger zu passen, aber in Far Madding stellten sie das schnellste Transportmittel dar. Kutschen wurden früher oder später von den Menschenmassen aufgehalten, und an einige der Orte, zu denen sie wollte, kamen sie erst gar nicht heran. Der feuchte Wind vom See wurde kälter, als sich das Zwielicht herabsenkte, aber Verin ließ zu, dass er ihren Umhang flattern ließ, während sie zwei Silberpfennige aus dem Geldbeutel heraussuchte und sie den Trägern gab. Natürlich durfte sie das eigentlich nicht, da es sich um Aleis' Jungen handelte, aber Eadwina würde das nicht wissen. Sie hätten das Geld nicht annehmen dürfen, aber das Silber verschwand im Handumdrehen in ihren Mänteln, und der jüngere der beiden, ein ansehnlicher Bursche in mittleren Jahren, machte vor ihr sogar eine anmutige Verbeugung, bevor sie die Sänfte aufnahmen und in Richtung Remise losliefen, ein niedriges Gebäude, das in einer Ecke der Vordermauer stand. Verin seufzte. Ein Junge in seinen mittleren Jahren. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie das Gefühl hatte, Far Madding niemals verlassen zu haben. Damit musste sie vorsichtig umgehen. Es könnte gefährlich sein, vor allem, falls Aleis oder die anderen ihre Täuschung entdeckten. Vermutlich war die Anordnung für Verin Mathwins Exil niemals außer Kraft gesetzt worden. In Far Madding verhielten sich alle still, wenn eine Aes Sedai mit dem Gesetz in Konflikt geriet, aber die Ratsherrinnen hatten keinen Grund, die Aes Sedai zu fürchten, und aus eigenen Gründen hielt die Weiße Burg bei den seltenen Gelegenheiten still, wenn sich eine Schwester einer vom Gericht verhängten Auspeitschung gegenübersah. Verin hatte nicht die Absicht, der neueste Grund für die Burg zu sein, still zu halten.

Natürlich war Aleis' Palast nicht mit dem Sonnenpalast oder dem Königlichen Palast von Andor zu vergleichen, auch nicht mit anderen Palästen, in denen Könige und Königinnen residierten. Er war ihr persönliches Eigentum, das nichts mit ihrer Position als Erste Ratsherrin zu tun hatte. Zu beiden Seiten wuchsen andere Paläste in die Höhe, mal größer und mal kleiner, die jedoch alle von hohen Mauern umgeben wurden. Nur am Ende nicht, wo die Höhen — der einzige Punkt der Insel, der einem Berg nahe kam — in einer steilen Klippe zum Wasser hinabstürzten. Allerdings war der Palast nicht mal klein. Die Frauen der Barsallas waren bereits im Handel und in der Politik tätig gewesen, als die Stadt noch Fei Moreina geheißen hatte. Beide Stockwerke des Palastes wurden von hohen Säulengängen umgeben und der weiße Marmorwürfel bedeckte den größten Teil des von einer Mauer umgebenen Anwesens.

Sie fand Cadsuane in einem Wohnzimmer, das einen schönen Ausblick auf den See geboten hätte, wären die Vorhänge nicht zugezogen gewesen, um die Wärme des Feuers in dem großen Marmorkamin im Raum zu behalten. Ihr Nähkörbchen stand auf einem kleinen Beistelltisch mit Intarsien, der neben ihren Stuhl gerückt worden war, und sie arbeitete ganz ruhig mit Nadel und Stickreifen. Sie war nicht allein. Verin faltete ihren Umhang zusammen, legte ihn über die Lehne eines Polsterstuhls und setzte sich auf einen anderen, um zu warten.

Elza schien sie kaum wahrzunehmen. Die Grüne mit der für gewöhnlich so freundlichen Miene stand vor Cadsuane auf dem Teppich und schaute grimmig drein; ihr Gesicht war gerötet, und ihre Augen funkelten. Elza war sich ihrer Position unter den Schwestern immer deutlich bewusst, vielleicht sogar zu sehr. Um Verin zu ignorieren und vor allem Cadsuane zur Rede zu stellen, musste sie ganz schön aufgeregt sein. »Wie konntet Ihr sie gehen lassen?«, verlangte sie zu wissen. »Wie sollen wir ihn ohne sie finden?« Ah, darum also ging es.

Cadsuanes Kopf blieb über den Stickreifen gebeugt und ihre Nadel machte weiterhin kleine Stiche. »Ihr könnt warten, bis sie zurückkehrt«, sagte sie seelenruhig.

Elza ballte die Fäuste. »Wie könnt Ihr so gleichgültig sein?«, sagte sie. »Er ist der Wiedergeborene Drache! Dieser Ort könnte eine Todesfalle für ihn sein! Ihr müsst...!« Sie verstummte mitten im Satz, als Cadsuane einen Finger hob. Mehr tat sie nicht, aber bei ihr reichte das vollständig.

»Ich habe mir Eure Tirade lange genug angehört, Elza. Ihr dürft gehen! Sofort!«

Elza zögerte, aber sie hatte keine Wahl. Mit gerötetem Gesicht machte sie einen kleinen Knicks, wobei sie den Stoff ihrer Röcke in den noch immer geballten Fäusten hielt, aber selbst wenn sie aus dem Wohnzimmer hinausstolzierte, so tat sie es doch ohne zu zögern.

Cadsuane legte den Stickreifen auf den Schoß und lehnte sich zurück. »Macht Ihr mir einen Tee, Verin?«

Unwillkürlich zuckte Verin zusammen. Die andere Schwester hatte nicht einmal in ihre Richtung geschaut. »Natürlich, Cadsuane.« Auf einem der Seitentische stand ein übertrieben verzierter silberner Teekessel auf einem vierbeinigen Gestell und war glücklicherweise noch immer heiß. »War es klug, Alanna gehen zu lassen?«, fragte sie.

»Ich konnte sie wohl kaum daran hindern, ohne den Jungen mehr wissen zu lassen, als er soll, oder?«, erwiderte Cadsuane trocken.

In aller Ruhe goss Verin Tee in eine Tasse aus dünnem blauen Porzellan. Es war kein Meervolk-Porzellan, aber es handelte sich um gute Qualität. »Könnt Ihr Euch denken, warum er ausgerechnet nach Far Madding gekommen ist? Ich habe beinahe meine Zunge verschluckt, als mir klar wurde, dass der Grund, warum er mit dem Herumspringen aufgehört hat, darin bestehen könnte, dass er hier ist. Wenn es etwas Gefährliches ist, sollten wir vielleicht versuchen, ihn aufzuhalten.«

»Verin, er kann tun, was sein Herz begehrt, egal was, wenn er nur lange genug lebt, um Tarmon Gai'don zu erreichen. Und so lange ich an seiner Seite sein kann, um ihm beizubringen, wie man wieder lacht und weint.« Sie schloss die Augen, rieb sich die Schläfen mit den Fingerspitzen und seufzte. »Er verwandelt sich in Stein, Verin, und wenn er nicht wieder lernt, dass er ein Mensch ist, könnte der Sieg in der Letzten Schlacht nicht viel besser als eine Niederlage sein. Die junge Min hat ihm gesagt, dass er mich braucht; so viel habe ich aus ihr herausbekommen, ohne ihren Verdacht zu erregen. Aber ich muss darauf warten, dass er zu mir kommt. Ihr seht doch, wie grob er mit Alanna und all den anderen umspringt. Es wird schon schwer genug sein, ihn zu unterrichten, wenn er darum bittet. Er widersetzt sich jeder Führung, glaubt, er müsste alles selbst tun und erlernen, und wenn ich ihn nicht dafür arbeiten lasse, wird er gar nichts lernen.« Ihre Hände fielen auf den Stickreifen auf ihrem Schoß. »Ich scheine heute Abend in einer mitteilsamen Stimmung zu sein. Ungewöhnlich für mich. Falls Ihr diesen Tee jemals fertig eingegossen habt, werde ich möglicherweise noch mehr preisgeben.«

»Oh, ja, natürlich.« Hastig füllte Verin eine zweite Tasse und schob die kleine Phiole ungeöffnet zurück in ihre Gürteltasche. Es war gut, sich Cadsuane endlich sicher sein zu können. »Nehmt Ihr Honig?«, fragte sie so gedankenverloren, wie sie zustande brachte. »Ich kann mir das einfach nicht merken.«

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