21 Eine Frage des Eigentums

Egeanin lag auf dem Rücken auf dem Bett und hielt die Hände in die Höhe, die Handflächen der Decke zugewandt, die Finger gespreizt. Ihre hellblauen Röcke lagen wie ein Fächer über ihren Beinen und sie versuchte, ganz ruhig dazuliegen, um die schmalen Falten nicht zu sehr zu zerknittern. So wie Kleidung die Bewegung einschränkte, musste sie eine Erfindung des Dunklen Königs sein. Als sie dort lag, studierte sie ihre Fingernägel, die viel zu lang waren, um ein Tau zu ergreifen, ohne nicht mindestens zur Hälfte abzubrechen. Nicht, dass sie persönlich in den letzten Jahren ein Tau in die Hand genommen hätte, aber sie war stets dazu bereit und vor allem fähig gewesen, falls es die Umstände erfordert hätten.

»...grobe Dummheit!«, knurrte Bayle und stocherte in den flammenden Scheiten im Ziegelkamin herum. »Glück stich mich, die Seefalke konnte schneller und dichter am Wind segeln als jedes seanchanische Schiff. Voraus es gaben Sturmböen und...« Sie hörte nur so weit zu, um zu wissen, dass er aufgehört hatte, wegen der Unterkunft zu meckern und sich wieder dem uralten Streit zugewandt hatte. Das mit dunklem Holz getäfelte Gemach war nicht das beste, das die Wanderin zu bieten hatte, nicht einmal annähernd, doch bis auf den Ausblick entsprach es seinen Forderungen. Die beiden Fenster schauten auf den Stallhof hinaus. Ein Hauptmann der Grünen entsprach im Rang einem Bannergeneral, aber an diesem Ort waren die meisten, die sie rangmäßig übertraf, Gehilfen oder Sekretäre der Offiziersveteranen des Immer Siegreichen Heeres. Und genau wie auf See half es auch beim Heer nur wenig, wenn man dem Blut angehörte, es sei denn, es handelte sich um das Hohe Blut.

Der meergrüne Lack auf den Nägeln ihrer kleinen Finger funkelte. Sie hatte immer gehofft aufzusteigen, vielleicht bis zum Hauptmann der Goldenen und wie ihre Mutter Flotten zu befehlen. Als Mädchen hatte sie sogar davon geträumt, genau wie ihre Mutter zur Hand der Kaiserin auf See ernannt zu werden, zur linken Hand des Kristallthrons zu stehen, als So'jhin der Kaiserin, mochte sie ewig leben, mit der Erlaubnis, direkt zu ihr sprechen zu dürfen. Junge Frauen hatten alberne Träume. Und sie musste zugeben, dass sie, nachdem sie für die Vorläufer auserwählt worden war, über die Möglichkeit spekuliert hatte, einen neuen Namen zu erringen. Sie hatte nicht darauf gehofft, bestimmt nicht — das wäre vermessen gewesen —, aber jedem war klar gewesen, dass die Zurückeroberung der geraubten Länder neue Zugänge für das Blut bedeutete. Jetzt war sie Hauptmann der Grünen, zehn Jahre bevor sie sich überhaupt Hoffnungen darauf hätte machen dürfen, und stand an den Ausläufern jenes steilen Berges, der durch die Wolken zum Gipfel der Kaiserin führte, mochte sie ewig leben.

Sie bezweifelte jedoch, dass man ihr das Kommando über ein Großschiff gab, oder gar eine Schwadron. Suroth behauptete, ihre Geschichte zu glauben, aber warum hatte man sie dann in Cantorin zurückgelassen? Und als dann die Befehle endlich eintrafen, warum mussten sie sich hier melden und nicht auf einem Schiff? Natürlich gab es nur eine begrenzte Zahl von Kommandoposten, selbst für einen Hauptmann der Grünen. Möglicherweise war ja das der Grund. Vielleicht hatte man sie auch für eine Position in Suroths Gefolge ausgesucht, obwohl ihre Befehle lediglich besagten, mit der nächsten verfügbaren Gelegenheit nach Ebou Dar zu reisen und auf weitere Befehle zu warten. Vielleicht. Das Hohe Blut mochte ohne die Vermittlung einer Stimme zum Niederen sprechen, aber sie hatte den Eindruck, dass Suroth sie bereits in dem Augenblick vergessen hatte, in dem man sie nach dem Empfang ihrer Ehrung entlassen hatte. Was ebenfalls bedeuten konnte, dass Suroth misstrauisch war.

Argumente, die im Kreis liefen. Hätte dieser Sucher seinem Verdacht nachgegeben, könnte sie jetzt von Meerwasser leben. Er hatte nicht mehr in der Hand oder sie säße bereits in einem Verlies und würde sich die Lungen aus dem Leib brüllen, aber wenn er sich ebenfalls in der Stadt aufhielt, dann würde er sie beobachten und auf den ersten Fehler warten, den sie machte. Er konnte im Augenblick nicht mal einen Tropfen ihres Blutes vergießen, aber die Sucher hatten Erfahrung darin, dieses kleine Problem zu überwinden. So lange er sich damit begnügte, sie zu beobachten, konnte er sie anstarren, bis seine Augen vertrockneten. Sie hatte jetzt ein sicheres Deck unter den Füßen und von hier aus würde sie den nächsten Schritt mit großer Bedachtsamkeit machen. Hauptmann der Goldenen war vermutlich nicht länger zu erreichen, aber sich als Hauptmann der Grünen zur Ruhe zu setzen war ehrenhaft.

»Und?«, wollte Bayle wissen. »Was meinen du?« Breit, muskulös und kräftig stand er in Hemdsärmeln neben dem Bett, die Stirn gerunzelt und die Fäuste in die Hüften gestemmt, genau die Art von Mann, die sie immer bevorzugt hatte. Es war nicht die Pose, die ein So'jhin vor seiner Herrin einnehmen sollte. Seufzend ließ sie die Hände auf den Bauch fallen. Bayle wollte einfach nicht lernen, wie sich ein So'jhin zu benehmen hatte. Er betrachtete alles als Witz, als wäre nichts davon ernst gemeint. Manchmal sagte er sogar, er wollte als ihre Stimme fungieren, ganz egal wie oft sie ihm erklärte, dass sie keine Angehörige des Hohen Blutes war. Einmal hatte sie ihm eine Prügelstrafe verpasst, und danach hatte er sich geweigert, mit ihr in einem Bett zu schlafen, bis sie sich entschuldigte. Eine Entschuldigung!

Rasch ging sie in Gedanken durch, was sie mit halbem Ohr von seinem Geknurre mitbekommen hatte. Ja, nach all dieser Zeit noch immer dieselben Argumente. Nichts Neues. Sie schwang die Beine über die Bettkante, setzte sich auf und zählte an den Fingern ab. Sie hatte es so oft getan, dass sie es mittlerweile auswendig konnte. »Hättest du versucht zu fliehen, hätte die Damane auf dem anderen Schiff deine Masten wie Äste geknickt. Es war kein zufälliger Befehl zum Anhalten, Bayle, und das weißt du; sie wollten beim ersten Ruf wissen, ob das Schiff die Seefalke war. In dem ich dich in den Wind brachte und verkündete, dass wir uns mit einem Geschenk für die Kaiserin, möge sie ewig leben, auf dem Weg nach Cantorin befanden, habe ich ihr Misstrauen beschwichtigt. Alles andere hätte dazu geführt, dass man uns im Frachtraum in Ketten gelegt und bei der Ankunft in Cantorin verkauft hätte. Ich bezweifle, dass wir das Glück gehabt hätten, stattdessen dem Scharfrichter vorgeführt zu werden.« Sie hielt den Daumen hoch. »Und zu guter Letzt, hättest du die Ruhe bewahrt, wie ich es dir gesagt hatte, wärst du auch nicht auf dem Block gelandet. Du hast mich viel gekostet!« Anscheinend hatten mehrere Frauen aus Cantorin den gleichen Geschmack gehabt, was Männer betraf. Sie hatten den Preis in extravagante Höhen getrieben.

Stur, wie er war, machte er ein finsteres Gesicht und rieb sich gereizt den kurzen Bart. »Und ich sagen noch immer, wir hätten sollen alles über Bord werfen«, murmelte er. »Dieser Sucher haben nicht den geringsten Beweis, dass ich es an Bord haben.«

»Sucher brauchen keine Beweise«, sagte sie und ahmte spöttisch seinen Akzent nach. »Sucher finden Beweise und dieses Finden ist schmerzhaft.« Wenn er nur noch das zur Sprache brachte, was er selbst vor langer Zeit zugegeben hatte, näherte sie sich vielleicht endlich dem Ende der ganzen Diskussion. »Auf jeden Fall hast du bereits zugegeben, dass kein Schaden dadurch entstanden ist, dass Suroth den Kragen und die Armbänder hat. Sie können ihm nicht angelegt werden, es sei denn, jemand kommt nahe genug an ihn heran, und ich habe nichts davon gehört, dass das jemandem gelungen ist oder gelingen wird.« Sie sparte sich die Bemerkung, dass es keine Rolle spielen würde, falls jemand Erfolg damit hatte. Bayle kannte sich nicht einmal in den Versionen der Prophezeiungen aus, die sie auf dieser Seite des Weltmeeres hatten, aber er beharrte darauf, niemand hätte die Notwendigkeit erwähnt, dass der Wiedergeborene Drache vor dem Kristallthron knien musste. Möglicherweise würde es sich als notwendig erweisen, dass man ihm dieses männliche Adam umlegte, aber Bayle würde das niemals einsehen. »Was geschehen ist, ist geschehen, Bayle. Wenn das Licht uns erleuchtet, werden wir lange im Dienst für das Reich leben. Nun, du hast behauptet, du kennst diese Stadt. Was gibt es hier Interessantes zu sehen oder zu tun?«

»Hier immer sein irgendwelche Feste«, sagte er langsam, fast widerwillig. Er konnte es nicht ausstehen, seine Argumente aufzugeben, ganz egal, wie sinnlos sie auch waren. »Ein paar sein vielleicht nach deinem Geschmack. Einige nicht, ich schätzen. Du so... wählerisch sein.« Was meinte er denn damit? Plötzlich grinste er. »Wir könnten eine Weise Frau suchen. Sie nehmen hier die Eheschwüre ab.« Er strich mit den Fingern über die rasierte Seite seines Schädels und verdrehte die Augen, als wollte er es sich ansehen. »Obwohl, wenn ich mich an den Vortrag erinnern, den du mir über die ›Rechte und Privilegien meiner Position gehalten haben, können So'jhin lediglich andere So'jhin heiraten, also müssen du mich zuerst freigeben. Glück stich mich, du haben noch nicht einen Fußbreit Boden von den versprochenen Landgütern bekommen. Ich können mein altes Handwerk wieder aufnehmen und dir in kurzer Zeit ein Landgut verschaffen.«

Ihr blieb der Mund offen stehen. Das war nichts Altes. Das war neu, sehr neu. Sie war immer sehr stolz auf ihr nüchternes Denkvermögen gewesen. Durch Können und Mut war sie zur Befehlshaberin aufgestiegen, war Veteranin von Seeschlachten und Stürmen und Schiffbruch. Und in diesem Augenblick fühlte sie sich wie eine Deckmatrosin, die auf ihrer ersten Fahrt voller Panik und schwindelig vom Krähennest herunterschaute, während sich die ganze Welt um sie herum drehte und ein Sturz in das Meer, das ihr Blickfeld ausfüllte, scheinbar unausweichlich schien.

»So einfach ist das nicht«, sagte sie und sprang auf die Füße, sodass er gezwungen war, einen Schritt zurückzutreten. Beim Licht, sie hasste es, atemlos zu klingen! »Die Freilassung verlangt von mir, für deinen Lebensunterhalt als freier Bürger aufzukommen, um zu sehen, ob du dich selbst ernähren kannst.« Licht! Worte, die einem aus dem Mund sprudelten, waren genauso schlimm wie Atemlosigkeit. Sie stellte sich auf einem Deck vor. Es half etwas. »In deinem Fall würde das vermutlich bedeuten, dass ich ein Schiff kaufe«, fuhr sie fort und klang zumindest ungerührt. »Und wie du mich erinnert hast, habe ich noch keine Landgüter erhalten. Davon abgesehen könnte ich nicht zulassen, dass du wieder mit dem Schmuggel anfängst, und das weißt du genau.« Das war die Wahrheit und der Rest war eigentlich auch keine Lüge. Ihre Jahre auf See waren profitabel gewesen, und auch wenn das Gold, das ihr gehörte, für eine Angehörige des Blutes nur Taschengeld war, so war sie dennoch imstande, ein Schiff zu kaufen — solange er kein Großschiff haben wollte —, aber sie hatte nicht geradeheraus bestritten, sich keines leisten zu können.

Er breitete die Arme aus, noch etwas, das er nicht tun sollte, und nach kurzem Zögern legte sie die Wange an seine breite Schulter und ließ zu, dass er sie umarmte. »Alles werden gut, Mädchen«, murmelte er sanft. »Irgendwie alles werden gut.«

»Du sollst mich nicht ›Mädchen‹ nennen, Bayle«, schalt sie ihn und starrte an seiner Schulter vorbei in den Kamin. Er schien vor ihren Augen zu verschwimmen. Vor dem Aufbruch aus Tanchico hatte sie beschlossen, ihn zu heiraten, eine jener blitzschnellen Entscheidungen, die ihren Ruf begründet hatten. Er war vielleicht ein Schmuggler, aber dem hätte sie ein Ende bereiten können, und er war treu, stark und intelligent, ein echter Seefahrer. Das Letztere war für sie immer eine Notwendigkeit gewesen. Aber sie kannte seine Sitten nicht. In einigen Teilen des Reiches waren es die Männer, die fragten, und sie waren beleidigt, wenn eine Frau auch nur eine Andeutung in die Richtung machten. Sie hatte auch keine Ahnung, wie man einen Mann einfing. Ihre wenigen Liebhaber waren alles Männer von gleichem Rang gewesen, Männer, denen sie offen gegenübertreten und wieder Lebewohl sagen konnte, wenn der eine oder andere auf ein anderes Schiff versetzt oder befördert wurde. Und jetzt war er So'jhin. Es war nichts dabei, mit seinem So'jhin ins Bett zu gehen, solange man es nicht in aller Öffentlichkeit tat. Er würde wie gewöhnlich sein Lager am Fuß des Bettes aufschlagen, selbst wenn er nie darauf schlief. Aber einen So'jhin zu befreien, ihn von den Rechten und Privilegien fern zu halten, für die Bayle nur Hohn und Spott übrig hatte, war der Gipfel der Grausamkeit. Nein, sie log, weil sie Dingen wieder aus dem Weg ging, und, was viel schlimmer war, sie belog sich selbst. Sie wollte Bayle Domon aus ganzem Herzen heiraten. Sie hegte aber auf bittere Weise Zweifel, ob sie sich überwinden konnte, freigelassenen Besitz zu heiraten.

»Wie meine Lady befehlen, es soll geschehen«, sagte er in fröhlicher Verspottung der steifen Förmlichkeit.

Sie boxte ihn unter die Rippen. Nicht hart. Gerade hart genug, um ihn grunzen zu lassen. Er musste es lernen! Sie hatte keine Lust mehr, sich Ebou Dars Sehenswürdigkeiten anzusehen. Sie wollte dort bleiben, wo sie war, in Bayles Armen, sie wollte keine Entscheidungen mehr treffen müssen, sondern hier für alle Ewigkeit stehen blieben.

Ein scharfes Klopfen ertönte an der Tür und sie stieß ihn weg. Wenigstens wusste er genug, um nicht dagegen zu protestieren. Während er den Mantel überzog, schüttelte sie ihr Gewand aus und versuchte, die Falten zu glätten, die das Liegen auf dem Bett hervorgerufen hatte. Obwohl sie sich kaum bewegt hatte, schienen es eine ganz schöne Menge zu sein. Das Klopfen konnte Suroths Marschbefehl sein oder eine Magd, die sehen wollte, ob sie etwas brauchten, aber wer auch immer es war, sie würde nicht zulassen, dass er sie in einem Zustand sah, als hätte sie sich auf Deck herumgewälzt.

Sie gab die sinnlosen Versuche auf, wartete, bis Bayle alle Knöpfe geschlossen und eine Pose angenommen hatte, die er für einen So'jhin angebracht hielt — Wie ein Kapitän auf dem Achterdeck, der gleich Befehle brüllt, dachte sie und seufzte —, dann brüllte er: »Herein!« Die Frau, die die Tür öffnete, war die Letzte, mit der sie gerechnet hätte.

Bethamin warf ihr einen zögernden Blick zu, bevor sie hereinschlüpfte und die Tür leise hinter sich schloss. Die Sul'dam holte tief Luft, dann kniete sie nieder und hielt sich steif aufrecht. Ihr dunkelblaues Gewand mit den roten Rechtecken und den Silberblitzen sah frisch gereinigt und gebügelt aus. Der scharfe Kontrast zu ihrem eigenen schlampigen Erscheinungsbild ärgerte Egeanin. »Meine Lady«, begann Bethamin zögernd und schluckte dann. »Meine Lady, ich bitte Euch, mit Euch sprechen zu dürfen.« Sie warf Bayle einen Blick zu und befeuchtete sich die Lippen. »Unter vier Augen, wenn es meiner Lady beliebt.«

Das letzte Mal hatte Egeanin diese Frau in einem Keller in Tanchico gesehen; sie hatte sie von einem A'dam befreit und ihr befohlen zu verschwinden. Wäre sie eine Angehörige des Hohen Blutes gewesen, hätte das ausreichend Grund für eine Erpressung geboten! Zweifellos wäre die Anklage dieselbe gewesen wie bei der Befreiung einer Domäne. Verrat. Nur dass Bethamin es nicht enthüllen konnte, ohne sich dabei selbst ans Messer zu liefern.

»Er kann alles hören, was Ihr zu sagen habt, Bethamin«, sagte sie ruhig. Sie befand sich in einer Untiefe und da war kein Platz für etwas anderes als Ruhe. »Was wollt Ihr?«

Bethamin rutschte auf den Knien herum und verschwendete noch mehr Zeit mit Lippenlecken. Dann strömte plötzlich ein ganzer Wortschwall aus ihr hervor. »Ein Sucher hat mich besucht und mir befohlen, unsere... Freundschaft wieder aufzufrischen und ihm über Euch Bericht zu erstatten.« Sie biss sich auf die Unterlippe, als wollte sie sich auf diese Weise selbst am Plappern hindern, und starrte Egeanin an. Ihre dunklen Augen waren voller Verzweiflung und flehentlichem Betteln, genau wie damals in dem Keller in Tanchico.

Egeanin erwiderte den Blick kühl. Eine Untiefe und eine unerwartete steife Brise. Der seltsame Befehl, nach Ebou Dar zu kommen, hatte plötzlich seine Erklärung gefunden. Sie brauchte keine Beschreibung, um zu wissen, dass es derselbe Mann war. Genauso wenig wie sie fragen musste, warum Bethamin Verrat übte, indem sie einen Sucher hinterging. Wenn er zu dem Schluss kam, dass sein Verdacht ausreichte, um sie zur Befragung abzuholen, würde sie ihm schließlich alles sagen, was sie wusste, und dann würde auch ein gewisser Keller zur Sprache kommen, und Bethamin würde bald wieder ein A'dam tragen. Die einzige Hoffnung dieser Frau bestand darin, ihr zu helfen, dem Sucher aus dem Weg zu gehen.

»Steht auf«, sagte sie. »Setzt Euch.« Glücklicherweise gab es zwei Stühle, auch wenn keiner besonders bequem aussah. »Bayle, ich glaube, in dieser Flasche auf der Kommode ist Schnaps.«

Bethamin war so zittrig, dass Egeanin ihr aufhelfen und sie zum Stuhl führen musste. Bayle brachte Silberbecher mit einem Schluck Schnaps und erinnerte sich rechtzeitig daran, sich zu verbeugen und Egeanin zuerst etwas anzubieten, aber als er zu der Kommode zurückgekehrt war, sah sie, dass er sich ebenfalls etwas eingeschenkt hatte. Er stand da, den Becher in der Hand, und betrachtete sie, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Bethamin starrte ihn ungläubig an.

»Ihr glaubt, Ihr schwebt schon über dem Pfahl«, sagte Egeanin und die Sul'dam zuckte zusammen und starrte sie Furcht erfüllt an. »Ihr irrt Euch, Bethamin. Das einzige Verbrechen, das ich begangen habe, war Euch zu befreien.« Das stimmte zwar nicht genau, aber am Ende war sie es gewesen, die Suroth das männliche A'dam übergeben hatte. Und mit einer Aes Sedai zu sprechen war kein Verbrechen. Der Sucher hatte möglicherweise einen Verdacht — er hatte in Tanchico versucht, an der Tür zu lauschen —, aber sie war keine Sul'dam, die den Auftrag hatte, Marath'damane einzufangen. Schlimmstenfalls bedeutete das einen Verweis. »Solange er nichts darüber erfährt, hat er keinen Grund, mich zu verhaften. Wenn er wissen will, was ich sage, dann sagt es ihm. Denkt nur immer daran: Sollte er sich entscheiden, mich zu verhaften, werde ich ihm Euren Namen nennen.« Eine Erinnerung daran konnte Bethamin davor warnen, plötzlich dem Glauben zu verfallen, dass sich ihr ein Ausweg bot, bei dem sie sie zurücklassen konnte. »Er wird mich nicht einmal zum Schreien bringen müssen.«

Zu ihrer Überraschung fing die Sul'dam hysterisch an zu lachen. Zumindest bis sich Egeanin vorbeugte und ihr eine Ohrfeige gab.

Bethamin rieb sich mürrisch die Wange und sagte: »Bis auf den Keller weiß er über fast alles Bescheid, meine Lady.« Und sie fing an, das phantastische Netz des Verrats zu beschreiben, das Egeanin, Bayle und Suroth und vielleicht sogar selbst Tuon mit Aes Sedai und Marath'damane und Domäne, die Aes Sedai gewesen waren, miteinander verband.

Bethamins Stimme wurde zunehmend schriller, als sie von einer unglaublichen Anschuldigung zur nächsten sprang, und es dauerte nicht lange und Egeanin fing an, den Schnaps zu trinken. In kleinen Schlucken. Sie war ganz ruhig. Sie hatte sich im Griff. Sie war... Das ging weit über jede Untiefe hinaus. Sie fuhr ganz nah an einer Leeküste vorbei und der Seelenblender selbst ritt auf dieser Sturmböe herbei, um ihr die Augen zu rauben. Nachdem Bayle eine Zeit lang mit immer größer werdenden Augen zugehört hatte, stürzte er einen bis zum Rand mit dem dunklen, scharfen Schnaps gefüllten Becher auf einen Zug herunter. Es erleichterte sie, seine Ungläubigkeit zu sehen, und diese Erleichterung rief Schuldgefühle hervor. Sie würde ihn nicht für einen Mörder halten. Davon abgesehen konnte er zwar ausgezeichnet mit seinen Händen umgehen, war aber nur ein mittelmäßiger Schwertkämpfer; ob mit Waffen oder bloßen Händen, Hochlord Turak hätte Bayle wie einen Karpfen aufgeschlitzt. Ihre einzige Entschuldigung, es überhaupt in Betracht zu ziehen, lag darin, dass er in Tanchico mit zwei Aes Sedai zusammen gewesen war. Das Ganze war Unsinn. Es konnte nicht anders sein! Diese beiden Aes Sedai waren kein Teil einer Verschwörung gewesen, es hatte sich um eine zufällige Begegnung gehandelt. Beim Licht, sie waren kaum älter als Mädchen gewesen, fast noch unschuldig, viel zu weichherzig, um ihren Vorschlag zu akzeptieren, dem Sucher die Kehle durchzuschneiden, als sie dazu Gelegenheit hatten. Wirklich schade. Sie hatten ihr das männliche A'dam überreicht. Eiswasser schien ihr den Rücken hinunterzulaufen. Sollte der Sucher erfahren haben, dass sie vorgehabt hatte, sich des A'dam auf die Weise zu entledigen, die jene Aes Sedai vorgeschlagen hatten, sollte irgendjemand dies erfahren, würde man sie genauso des Verrats für schuldig erklären, als hätte sie es in den Tiefen des Ozeans versenkt. Bist du es denn nicht? fragte sie sich. Der Dunkle König war gekommen, um ihre Augen zu stehlen.

Bethamin drückte mit tränenüberströmtem Gesicht den Becher an die Brüste, so als wollte sie sich selbst festhalten. Falls sie versuchte, nicht zu zittern, scheiterte sie kläglich. Sie starrte Egeanin an oder vielleicht auch auf etwas, das jenseits von ihr lag. Etwas Furchteinflößendes. Das Feuer hatte den Raum nur mäßig erwärmt, aber Bethamins Gesicht war schweißüberströmt.

»... und wenn er von Renna und Seta erfährt, wird er es mit Sicherheit wissen!«, plapperte sie. »Er wird mich holen und die anderen Sul'dam auch! Ihr müsst ihn aufhalten! Wenn er mich holt, werde ich ihm Euren Namen geben! Das werde ich!« Abrupft führte sie den Becher an den Mund und stürzte den Inhalt hinunter, verschluckte sich und hustete, dann hielt sie ihn Bayle zum Nachfüllen hin. Er rührte sich nicht. Er sah aus, als hätte ihn eine Axt gestreift.

»Wer sind Renna und Seta?«, fragte Egeanin. Sie war genauso verängstigt wie die Sul'dam, aber wie immer behielt sie ihre Furcht auf geradem Kiel. »Was kann der Sucher über sie erfahren?« Bethamins Blick glitt zu Boden, sie konnte ihr nicht in die Augen sehen, und plötzlich wusste sie es. »Es sind Sul'dam, nicht wahr, Bethamin? Und man hat ihnen den Kragen angelegt, genau wie Euch.«

»Sie stehen in Suroths Diensten«, wimmerte die Frau. »Aber man erlaubt ihnen nicht, die Verbindung einzugehen. Suroth kennt die Wahrheit.«

Egeanin rieb sich müde die Augen. Vielleicht gab es ja tatsächlich eine Verschwörung. Oder Suroth verbarg, was die beiden waren, um das Reich zu schützen. Das Reich hing von den Sul'dam ab; seine Stärke gründete sich auf sie. Die Neuigkeit, dass Sul'dam Frauen waren, die fähig waren, das Lenken der Macht zu erlernen, konnte das Reich womöglich bis ins Mark erschüttern. Sie hatte es auf jeden Fall erschüttert. Sie vielleicht sogar zerstört. Sie hatte Bethamin nicht aus Pflichtbewusstsein befreit. In Tanchico hatten sich so viele Dinge verändert. Sie hing nicht länger dem Glauben an, dass jede Frau, die die Macht lenken konnte, es automatisch verdiente, an den Kragen gelegt zu werden. Verbrecher mit Sicherheit, vielleicht auch jene, die sich weigerten, dem Kristallthron den Treueid zu schwören, und... Sie wusste es nicht. Einst hatte sich ihr Leben aus felsgleichen Überzeugungen zusammengesetzt, die wie Leitsterne gewesen waren, die niemals verloschen. Sie wollte ihr altes Leben zurück. Sie wollte ein paar Sicherheiten.

»Ich dachte...«, setzte Bethamin an. Wenn sie nicht aufhörte, sich die Lippen zu lecken, würde sie bald keine mehr haben. »Meine Lady, wenn der Sucher einen... Unfall erleidet, verschwindet die Gefahr vielleicht mit ihm.« Licht, diese Frau glaubte an diese Intrige gegen den Kristallthron, und sie war bereit, sie geschehen zu lassen, um ihre eigene Haut zu retten!

Egeanin stand auf, und die Sul'dam hatte keine andere Wahl, als ihrem Beispiel zu folgen. »Ich werde darüber nachdenken, Bethamin. Ihr werdet mich jeden Tag besuchen, an dem Ihr frei habt. Der Sucher wird das erwarten. Ihr werdet nichts tun, bis ich eine Entscheidung getroffen habe. Habt Ihr verstanden? Nichts, außer Euren Pflichten nachzukommen und das zu tun, was ich Euch sage.« Bethamin verstand. Sie war so erleichtert, dass sich jemand um die Gefahr kümmerte, dass sie erneut niederkniete und Egeanins Hand küsste.

Egeanin drängte die Frau beinahe aus dem Raum, schloss hinter ihr die Tür und schleuderte den Becher in den Kamin. Er traf die Ziegel, prallte ab und rollte über den kleinen Teppich auf dem Boden. Er war verbeult. Ihr Vater hatte ihr den Satz geschenkt, als sie ihr erstes Kommando erhalten hatte. Sämtliche Kraft schien aus ihr herausgeströmt zu sein. Der Sucher hatte Mondlicht und Zufälle zu einem Strick geknüpft, der ihr nun die Luft abschnürte. Falls man sie nicht zu Besitz machte. Diese Möglichkeit ließ sie erschaudern. Was auch immer sie tat, der Sucher hatte sie in der Falle.

»Ich kann ihn töten.« Bayle ballte die Fäuste; sie waren so breit wie der Rest von ihm. »Wenn ich mich recht erinnere, sein er ein dünner Kerl. Daran gewöhnt, dass ihm jeder gehorchen. Er werden nicht damit rechnen, dass ihm jemand den Hals bricht.«

»Du wirst ihn niemals finden, um ihn töten zu können, Bayle. Er wird sie niemals zweimal am selben Ort treffen, und selbst wenn du ihr Tag und Nacht folgst, könnte er eine Verkleidung tragen. Du kannst nicht jeden Mann töten, mit dem sie spricht.«

Sie nahm die Schultern zurück und ging zum Tisch, auf dem ihr Schreibpult stand und klappte es auf. Das mit geschnitzten Wellen verzierte Schreibpult mit seinem in einem Silberhalter steckenden Glastintenfässchen und dem silbernen Sandstreuer war das Geschenk ihrer Mutter zu jenem ersten Kommando gewesen. Die sauber gestapelten Blätter trugen das ihr kürzlich zugestandene Siegel, ein Schwert und einen bewachsenen Anker. »Ich werde deine Freilassung verfügen«, sagte sie und tauchte die silberne Schreibfeder ein, »Und dir genug Geld für eine Schiffspassage geben.« Die Feder glitt über die Seite. Sie hatte immer eine gute Handschrift gehabt. Logbucheinträge mussten leserlich sein. »Nicht genug, um ein Schiff kaufen zu können, wie ich fürchte, aber es muss reichen. Du wirst mit dem ersten verfügbaren Schiff segeln. Rasier dir den Rest deines Kopfes, dann solltest du keine Schwierigkeiten bekommen. Es ist immer noch schockierend, kahlköpfige Männer ohne Perücken zu sehen, aber niemand scheint sich daran...« Sie keuchte auf, als Bayle das Blatt direkt unter ihrer Feder wegriss.

»Wenn du mich frei lassen, du können mir keine Befehle geben«, sagte er. »Außerdem du müssen dafür sorgen, dass ich meinen Lebensunterhalt verdienen kann, wenn du mich frei geben.« Er hielt das Blatt ins Feuer und sah zu, wie es sich schwarz verfärbte und zusammenrollte. »Ein Schiff, haben du gesagt, und ich werden dich beim Wort nehmen.«

»Hör mir gut zu«, sagte sie in ihrer besten Achterdeckstimme, aber das machte keinen Eindruck auf ihn. Es musste das verflixte Gewand sein.

»Du brauchen eine Mannschaft«, übertönte er sie. »Und ich können eine für dich finden, sogar hier.«

»Was soll ich denn mit einer Mannschaft? Ich habe kein Schiff. Und selbst wenn, wo sollte ich hinsegeln, dass mich der Sucher nicht findet?«

Bayle zuckte mit den Schultern, als wäre das nebensächlich. »Zuerst eine Mannschaft. Ich haben den jungen Burschen in der Küche erkannt, den mit dem Mädchen auf den Knien. Spar dir deine Grimassen. An ein paar Küssen ist nichts Schlechtes.«

Sie stand auf, bereit, ihn ordentlich zurechtzuweisen. Sie runzelte die Stirn und zog keine Grimasse, das Pärchen hatte in aller Öffentlichkeit aneinander rumgefummelt wie die Tiere, und er war ihr Besitz! So konnte er nicht mit ihr sprechen!

»Er heißen Mat Cauthon«, fuhr Bayle fort, noch während sie den Mund öffnete. »Seine Kleidung zeigen, er haben es weit in der Welt gebracht. Als ich ihn sehen das erste Mal, er tragen einen Bauernmantel und flüchten vor Trollocs und zwar an einem Ort, den selbst Trollocs fürchten. Beim letzten Mal brannte fast halb Weißbrücke und ein Myrddraal versuchen, ihn und seine Freunde zu töten. Ich haben es nicht mit eigenen Augen gesehen, aber noch mehr könnte ich sowieso nicht glauben. Jeder Mann, der Trollocs und Myrddraal überleben, sollte nützlich sein, finde ich. Vor allen Dingen jetzt.«

»Eines Tages werde ich mir mal einen dieser Trollocs und Myrddraal ansehen müssen, von denen du immer erzählst«, knurrte sie. Die Dinger konnten nicht halb so Furcht einflößend sein, wie er sie immer beschrieb.

Er grinste und schüttelte den Kopf. Er wusste, was sie von diesem Schattengezücht hielt. »Was noch besser sein, der junge Meister Cauthon hatte Gefährten auf meinem Schiff. Ebenfalls gute Männer für die Art von Unternehmung. Einen davon kennen du. Thom Merrilin.«

Egeanin stockte der Atem. Merrilin war ein schlauer alter Mann. Ein gefährlicher alter Mann. Und er war mit diesen beiden Aes Sedai zusammen gewesen, als sie Bayle kennen gelernt hatte. »Bayle, gibt es eine Verschwörung? Sag es mir. Bitte.« Niemand sagte bitte zu einem Stück Besitz, nicht mal zu einem So'jhin. Zumindest nicht, solange man nicht etwas um jeden Preis wollte.

Er schüttelte erneut den Kopf, stemmte sich mit einer Hand am Kaminsims ab und blickte stirnrunzelnd in die Flammen. »Aes Sedai schmieden Intrigen wie Fische schwimmen. Sie können sich mit Suroth zusammengetan haben, aber die Frage sein, kann sie mit ihnen etwas geplant haben? Ich haben gesehen, wie sie Damane anschaut, als wären sie räudige Hunde mit Flöhen und ansteckenden Krankheiten. Könnte sie überhaupt mit einer Aes Sedai sprechen?« Er sah auf und sein Blick war offen und klar und verbarg nichts. »Ich sagen die Wahrheit. Beim Grab meiner Großmutter, ich nichts wissen von einem Komplott. Doch selbst wenn ich von zehn wüsste, werde ich trotzdem nicht zulassen, dass dieser Sucher dir oder sonst jemandem ein Leid zufügen, egal, was dazu erforderlich sein.« Das hätte auch jeder loyale So'jhin sagen können. Nun ja, kein ihr bekannter So'jhin hätte es so direkt gesagt, aber die Gesinnung war die gleiche. Leider wüsste sie, dass er es nicht so meinte, es nicht so meinen konnte.

»Danke, Bayle.« Eine beherrschte Stimme war eine Notwendigkeit für ein Kommando, und sie war stolz darauf, dass sie in diesem Augenblick beherrscht klang. »Finde diesen Meister Cauthon und Thom Merrilin, wenn du es vermagst. Vielleicht kann man ja etwas arrangieren.«

Er versäumte es, sich zu verbeugen, bevor er ging, aber sie erwog nicht einmal, ihn dafür zu tadeln. Sie hatte auch nicht vor, sich von dem Sucher gefangen nehmen zu lassen. Was auch immer dazu nötig war, ihn aufzuhalten. Das war eine Entscheidung, die sie getroffen hatte, bevor sie Bethamin befreite. Sie füllte den verbeulten Becher bis zum Rand mit Schnaps, weil sie sich betrinken wollte, bis sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war, aber stattdessen saß sie da und starrte in die dunkle Flüssigkeit, ohne auch nur einen Tropfen zu nippen. Was auch immer dazu nötig war. Licht, sie war kein Stück besser als Bethamin! Aber diese Selbsterkenntnis veränderte nichts. Was auch immer dazu nötig war.

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