Die Jacare war ein wahrhaft hinterlistiges Schiff.

Obwohl sie 40 Meter lang, sieben Meter breit und mit insgesamt 32 mächtigen Kanonen bestückt war, sah sie aus zwei Meilen Entfernung, besonders wenn man sie direkt voraus erspähte, wie ein harmloser Küstensegler aus.

Keine Frage, daß man viel Mühe darauf verwendet hatte, diesen optischen Eindruck zu erzielen. Die tiefe Reling und der kaum über die Wasseroberfläche ragende, blau gestrichene Rumpf sorgten dafür, daß die wahre Größe des Schiffs, besonders bei aufgewühlter See, fast unmöglich einzuschätzen war.

Wahrscheinlich entscheidend war jedoch, daß die Jacare nicht mit der großen quadratischen Takelage spanischer Galeonen fuhr, sondern mit dreieckigen »lateinischen« Segeln. Außerdem segelte das Schiff gewöhnlich mit drei auf die Hälfte ihrer Länge gekappten Masten, so daß es keinem im Traum eingefallen wäre, ein Schiff mit so sparsamer Takelage und so kurzen Masten könnte irgendeine Angriffsgefahr darstellen.

Wenn es darauf ankam, konnte die Besatzung der Jacare jedoch die obere Hälfte der Masten, die mit Metallklammern an den Stümpfen befestigt waren, in Windeseile auf die Vertiefung an der Spitze setzen und die Takelage des Schiffs wie durch Zauberhand verdoppeln.

Dann stürzte sich das pfeilschnelle Schiff im Handumdrehen auf seine ahnungslose Beute und führte ihr gleichzeitig die Reichweite seiner eindrucksvollen Kanonen vor.

Der Name Jacare, der in der Sprache der karibischen Ureinwohner »Kaiman« bedeutete, war somit mehr als gerechtfertigt, denn das seltsame Schiff, das eigentlich aussah wie ein maurischer Küstensegler, glich in Wahrheit einem verstohlenen Krokodil, das in einer Flußschleife zu dösen schien und nur die Augen und die Schnauzenspitze zeigte, doch urplötzlich einen Satz machen und mit seinem schrecklichen Rachen das nichtsahnende Opfer in den Tod reißen konnte.

Der Kapitän, Waffenmeister und Eigentümer des Schiffs hörte auf den Namen Jacare Jack und war in vielerlei Hinsicht das getreue Abbild seiner Schöpfung. Mit seiner untersetzten Statur und seinem kahlen Schädel erinnerte er eher an einen gutbürgerlichen Notar, einen trägen Lehrer oder gar an einen gutem Essen zugetanen Mönch als an einen berüchtigten Piraten, der, wie es hieß, über zwanzig Galeonen versenkt hatte und dessen glänzenden Schädel alle Gouverneure der Karibik nur zu gerne an der Rah aufgeknüpft hätten.

Wer ihn kannte, wußte oder hatte es gar am eigenen Leib verspürt, daß sich hinter der unschuldigen Fassade des friedlich wirkenden Mannes ein brutaler Seeräuber verbarg, der den Säbel nicht zog, ohne ihn blutbefleckt wieder in die Scheide zu stecken.

Nicht umsonst hatte Jacare Jack an Raubzügen und Expeditionen des gerissenen Henry Morgan, des eleganten Chevalier de Grammont und sogar des geheimnisumwitterten und gehaßten Mombars teilgenommen, letzterer einer der sadistischsten und skrupellosesten Freibeuter, die je die schwarze Totenkopfflagge gehißt hatten.

Doch wie jeder gute »Seewolf« respektierte Jacare Jack die Gesetze der gefürchteten Bruderschaft der Küste peinlich genau, und so befahl er seinem Steuermann sofort, den Kurs zu ändern, als an einem nebligen Morgen der Ausguck im Mastkorb einen Schiffbrüchigen meldete.

Eigentlich waren es zwei Schiffbrüchige, die da an Bord kamen, und der Pirat war im ersten Augenblick ziemlich überrascht, daß der kaum den Kinderschuhen entwachsene Knabe am Steuerrad der elenden Schaluppe trotz seiner verzweifelten Situation mutig und gefaßt schien, während der baumstarke Mann, der auf dem Vorderdeck geschlafen hatte, kaum einen zusammenhängenden Satz herausbrachte.

»Wer seid ihr, woher kommt ihr, wohin wollt ihr?« lautete seine erste Frage.

»Ich heiße Sebastián Heredia, und das ist mein Vater«, erwiderte der aufgeweckte Junge wie aus der Pistole geschossen. »Wir kommen von Margarita und wollen nach Puerto Rico.«

»Puerto Rico?« ließ der Pirat in schallendem Gelächter vernehmen. »Na du gefällst mir! Bei deinem Kurs landest du geradewegs in Guinea, in Afrika.«

»Wir wurden von einem Unwetter überrascht«, verteidigte sich der Junge. »Noch nie habe ich so viele Blitze gesehen.«

»Und einer ist deinem Vater wohl ins Hirn gefahren.« Der Pirat tippte sich leicht an die Stirn. »Ist er vielleicht ein bißchen…?«

»Das ist eine lange Geschichte«, lautete die bittere Antwort.

Amüsiert musterte Jacare Jack den furchtlosen Jungen und wandte sich dann seinem Stellvertreter Lucas Castano zu, einem bärbeißigen Panamesen, der, wie es so seine Art war, bis dahin noch kein Sterbenswörtchen gesagt hatte, und fuhr schließlich gelassen fort.

»Ich hör mir gern Geschichten an, hab den ganzen Tag nichts zu tun und möchte wissen, ob ich euch an Bord behalten oder ins Meer werfen soll.« Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Also schieß los.«

An diesem Morgen erzählte Sebastián Heredia Matamoros Kapitän Jacare Jack den Teil der Geschichte, den er erzählen wollte, und was er eigentlich nicht erzählen wollte, zog ihm der Pirat Stück für Stück aus der Nase, bis eine Glocke vom Achterdeck die Besatzung zum Mittagessen rief und der Pirat seine riesige Pfeife, die man aus dem Hüftknochen eines englischen Admirals geschnitzt hatte, am Mast ausklopfte.

»Eine scheußliche und traurige Geschichte«, nickte er überzeugt. »Wirklich eine riesige Schweinerei. Man kann halt wirklich niemandem trauen, nicht einmal der eigenen Mutter. Ihr könnt bleiben«, fügte er hinzu. »Du wirst dem Koch zur Hand gehen, und wenn es deinem Vater wieder besser geht, kann er auf Deck aushelfen.«


So wurde der gerade zwölf Jahre alte Sebastian Heredia zum Küchengehilfen und Schiffsjungen eines Piratenschiffes. Außerdem fiel ihm die täglich mühseliger werdende Aufgabe zu, sich um einen armen Teufel zu kümmern, der mit seiner elenden Lage nicht fertig wurde und allmählich verdorrte wie ein Stockfisch, den man zum Trocknen aufgehängt hatte.

Tatsächlich verbrachte Miguel Heredia Ximénez die Stunden und Tage damit, völlig abwesend und auf seine Aufgabe konzentriert auf dem Schiffsdeck zu hocken und, an die Bugwand gelehnt, Messer, Säbel, Äxte und Dolche zu schleifen. Von seinen Händen und Armen abgesehen schien er Tausende von Meilen entfernt, im Geiste war er in Margarita geblieben, unfähig zu begreifen, was ihm eigentlich zugestoßen war.

Hätte der Tod seine ganze Familie hinweggerafft, hätte sich Miguel Heredia vielleicht mit seinem Schicksal abfinden können, denn mit einem noch so frühen Tod mußte ein Mann seiner Zeit immer rechnen. Doch daß die Frau, der er sein ganzes Leben gewidmet hatte, ihn so eiskalt verraten würde, das war ein brutaler und unerwarteter Schlag, den er nicht verarbeiten, sondern nur verdrängen und vielleicht irgendwann vergessen konnte.

Auf die Planken des Decks hatte er den Namen »Celeste« eingeschnitzt, und wenn er ihn betrachtete, wurden ihm die Augen feucht, und der Junge fand kein Mittel, seinen Vater zu trösten.

Wäre Sebastián allein gewesen, er hätte über die tägliche Arbeit seinen Schmerz vergessen können, doch immer wenn er seinen Vater ansah, der stundenlang Schwerter schliff, bis sie so scharf waren wie Rasiermesser, mußte er wieder an die glücklichen Zeiten seiner Familie denken.

In der Zwischenzeit »vagabundierte« die Jacare, mit spärlicher Takelage und halblangen Masten, ohne Kurs und Ziel, durch die ruhigen Gewässer der Karibik und lauerte wie ein Krokodil auf eine Beute, die so unvorsichtig war, den Weg des Schiffs zu kreuzen.

Niemand an Bord ließ sich jemals auch nur das geringste Anzeichen von Ungeduld anmerken. Der erfahrene Kapitän hatte also seine Besatzung gut ausgewählt. Viele Stunden mußten die müßigen Piraten beim Würfelspiel totschlagen.

Wenn das Meer ruhig war, holte man in den heißen Mittagsstunden die Segel ein und ließ das Schiff beidrehen, damit die Mannschaft ein erfrischendes Bad im Meer nehmen konnte. Bei einem dieser entspannenden Augenblicke kündigte der Ausguck im Mastkorb ein Schiff aus Osten an.

Obwohl die Neuankömmlinge wußten, daß sie in gefährlichen Gewässern segelten, brauchten sie eine geschlagene Stunde, bis sie bemerkten, daß auf ihrem Kurs ein Schiff mit niedriger Reling im Wasser trieb. Als sie es schließlich ausmachten, änderten sie lediglich ihren Kurs um drei Grad Süd, um einer unangenehmen Überraschung aus dem Weg zu gehen.

Kapitän Jack musterte die Neuankömmlinge mit seinem schweren Fernglas, während Sebastián das Herz bis zum Hals schlug.

Sein Vater zeigte nicht die geringste Regung.

Auch wenn es alle Segel gesetzt hatte, zog das schwere Frachtschiff, das lediglich mit sechs Kanonen mittleren Kalibers bestückt war, im Schneckentempo an der enttäuschten Meute halbnackter Piraten vorbei. Als der Junge schließlich wissen wollte, warum man nach fast zwei Wochen erfolglosen Wartens eine solche Beute verschmäht hatte, ließ sich der stets schweigsame Lucas Castano zu einer ersten säuerlichen Bemerkung herab.

»Die guten Schiffe kommen nicht, sie fahren.«

»Fahren? Wohin?«

»Nach Spanien. Die Schiffe, die fahren, haben Gold, Silber, Perlen und Smaragde an Bord. Die Schiffe, die kommen, haben nur Schweine, Kühe, Piken und Schaufeln geladen. Der Kahn hier ist nur vom Kurs abgekommen.«

Als hätte er seinen Wortschatz für diese Woche bereits verbraucht, drehte er sich um und verschwand in Richtung Achterdeck. Regungslos blieb der Junge stehen und schaute zu, wie ein Märchenschiff, von dessen phantastischer Ladung die Leute von Margarita fast nur träumen konnten, langsam am Horizont verschwand.

Sebastián wartete über zwei Stunden, bis der schwitzende Kapitän seine lange Siesta beendet hatte. Dann kam er unter dem Vorwand, ihm etwas Zitronensaft anbieten zu wollen, direkt zu Sache.

»Für die Ladung dieses Potts würde man auf Margarita über tausend gute Perlen bekommen.«

Der kahle Dickwanst betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.

»Was willst du damit andeuten?«

»Daß ich es absurd finde, auf eine Beute zu warten, die vielleicht erst in Monaten auftaucht, während hier gerade ein Vermögen davonsegelt.«

»Hältst du mich für einen Trottel?« erregte sich der andere. »Ich greife nur Schiffe an, die nach Europa fahren. Es sei denn, es handelt sich um eine Galeone, auf der vielleicht ein Adeliger mitfährt, der ein gutes Lösegeld einbringt.« Er zeigte auf den Horizont hinaus. »Aber für die gesamte Besatzung dieses Seelenverkäufers kriegst du keine hundert Dublonen.«

»Ich rede nicht von der Besatzung, sondern von der Ladung«, beharrte der unerschütterliche Junge. »Eine gute Machete kostet in Juan Griego mindestens zwei Perlen, und dieses Schiff muß Dutzende davon geladen haben.«

»Kann schon sein«, knurrte sein Gegenüber. »Aber soll ich vielleicht am Strand von Juan Griego landen und ausrufen: >Macheten! Macheten zu verkaufen! Gute Macheten aus Toledo! <« Als hielte er ein so unsinniges Gespräch damit für beendet, zog er an seiner Pfeife: »Daß ich nicht lache!«

»Aber nein!« räumte der Junge todernst ein. »Natürlich geht das nicht. Hauptmann Mendana würde Euch mit seinen Kanonen in Stücke schießen. Ihr könnt aber sehr wohl außer Reichweite seiner Kanonen vor Anker gehen und die Nachricht verbreiten. Die Fischer werden Euch wie Mücken umschwärmen, und in drei Tagen habt Ihr alles bis zum letzten Nagel in Perlen von dieser Größe eingetauscht.«

Jetzt war es Sebastian, der sich umdrehte, um sich zu seinem Vater zu setzen. Doch dabei ließ er den Schotten nicht aus den Augen, der offenbar schwer an den Worten des Jungen zu kauen hatte.

Als der Horizont nur noch eine rötliche Linie war, hinter der das Schiff verschwunden war, schwang Kapitän Jacare Jack seinen riesigen Hintern aus der Hängematte, setzte sich auf die Reling des Achterkastells und ließ eine mächtige Stimme erschallen, die nur bei Befehlen zum Einsatz kam.

»Die Masten hoch! Alle Segel setzen! Steuer hart Backbord! Wir machen Jagd auf diese Idioten!«

»Auf einen rostigen Pott?« wunderte sich der Steuermann.

»Von wegen Pott, du Schwachkopf!« lautete die Antwort. »Auf tausend Perlen!«

Für den jungen Sebastian Heredia war es ein unvergeßliches Schauspiel, wie sich die bis dahin apathische Besatzung der Jacare plötzlich auf die Taue und Segel stürzte. Jeder wußte offensichtlich genau, was er zu tun hatte, und stellte sich dabei so geschickt an, daß zehn Minuten später der schneidige Bug des Schiffes wie die Rückenflosse eines verrückt gewordenen Delphins durch die Wogen glitt.

Die Jacare legte sich so steil nach Steuerbord, daß beinahe Wasser auf Deck strömte, und während sich der größte Teil der Mannschaft an die Backbordreling klammerte, um ein Gegengewicht zu schaffen, glitt das elegante Schiff wie eine riesige Möwe mit blauem Bauch und weißen Schwingen über das Meer hinweg, als hätte sie einen an der Wasseroberfläche schwimmenden Fisch entdeckt.

Die Nacht brach herein, ohne daß sie ihre Beute entdeckt hätten. Um das Schiff wieder in eine stabile Lage zu bringen, nahm man etwas Fahrt zurück. Drei Stunden später meldete der Ausguck einen Lichtschein direkt voraus. Der Kapitän ließ daraufhin alle Lichter löschen und befahl absolute Ruhe. Man beschränkte sich darauf, dem Lichtschein des Seelenverkäufers zu folgen, ohne daß dieser etwas von der Anwesenheit des Piratenschiffs ahnte.

Bei Morgengrauen hatte sich die Jacare bis auf eine halbe Seemeile an das Achterdeck des Schiffs herangeschlichen. Nunmehr ließ Kapitän Jacare Jack seine Kriegsflagge hissen und einen Warnschuß abfeuern.

Als der Kapitän der Nueva Esperanza die 32 riesigen Kanonen und die schwarze Flagge erblickte, traf er eine kluge Entscheidung: die Segel zu streichen und an Ort und Stelle zu verharren. Man mußte kein genialer Seestratege sein, um einzusehen, daß es reinen Selbstmord bedeutet hätte, sich auf eine Schlacht einzulassen.

Nach den ungeschriebenen Gesetzen des Meeres mußte ein Pirat einen Feind schonen, der sich ihm bedingungslos ergeben hatte, und wer immer in der Karibik segelte, wußte, daß die Flagge mit dem Krokodil, das einen Totenkopf im Rachen hatte, einem schottischen Kapitän gehörte, der diese Gesetze stets respektiert hatte.

Die Piraten hißten nämlich nicht, wie allgemein irrtümlich angenommen wird, alle die gleiche schwarze Fahne mit Totenkopf und gekreuzten Knochen. Diese gehörte eigentlich nur einem stelzbeinigen Iren namens Edward England, mit dem Beinamen »Kapitän ohne Schiff«, einem armen Teufel, der so gutmütig war, daß ihn seine blutrünstigen Begleiter schließlich an einem einsamen Strand von Madagaskar aussetzten. Dort starb er Jahre später, weil er nicht mit den barbarischen Verbrechen fertigwurde, die seine alte Mannschaft unter seiner geliebten Flagge beging.

Wenn die Kapitäne ein Schiff ausrüsteten und auf Kaperfahrt gingen, dachten sie lange über ein unverwechselbares Wappen nach, denn davon konnte Erfolg oder Scheitern abhängen. Für die Besatzung eines Schiffes, die eine Piratenflagge am Horizont erblickte, machte es nämlich einen enormen Unterschied, ob es sich dabei um den Totenkopf mit drei Lilien handelte, die den allseits respektierten französischen Chevalier de Grammont ankündigte, oder um das zuprostende Skelett des grausamen L’Olonnois oder gar um den unverzierten Totenkopf des teuflischen Mombars.

Bei Jacare Jack oder dem Chevalier de Grammont konnte man es riskieren, die Segel zu streichen und die Waffen zu strecken, bei Mombars oder L’Olonnois gab es nur Reißaus oder Kampf, und wenn das nicht half, konnte man sich nur noch mit einem Stein um den Hals ins Meer stürzen, um den bestialischen Foltern zu entgehen, an denen sich diese unbeschreiblichen Sadisten zu ergötzen pflegten.

Kein Wunder also, daß der Kapitän der Nueva Esperanza, kaum hatte ihn der Warnschuß geweckt und er die Flagge mit dem Kaiman im Nebel ausgemacht, beidrehen ließ und seinen Männern befahl, sich mit den Händen an der Reling aufzustellen, damit niemand auch nur im geringsten an seinen friedlichen Absichten zweifeln konnte.

Als erster schwang sich der Panamese Lucas Castano an Bord des alten übelriechenden Potts und erwies dem phlegmatischen Kapitän aus Kantabrien seine Reverenz, der den Überfall lediglich als kurze und unvorhergesehene Fahrtunterbrechung zu sehen schien. Ausgiebig untersuchte der Pirat den Frachtraum, bevor er auf die Jacare zurückkehrte und dabei über die Nutzlosigkeit der unsinnigen Anstrengung grollte.

»Abfall!« knurrte er.

»Was für Abfall?« wollte der Kapitän wissen.

»Werkzeug!« lautete die ungeduldige Antwort eines Mannes, der jedes Wort wie einen Schatz hütete. »Piken, Schaufeln, Fässer, Haken, Säcke, Macheten… Nur Plunder!«

Der Schotte wandte sich zu Sebastián Heredia, der ihm fast über die Schultern schaute, und befahl ihm mit drohender Stimme: »Geh an Bord, schau dich um, und wenn du glaubst, daß du deine Perlen dafür kriegst, machen wir weiter.« Er zeigte mit dem Finger auf ihn. »Wenn du aber feststellst, daß du sie nicht kriegst, dann fahren wir weiter, und du kommst mit zwanzig Peitschenhieben davon, weil ich wegen dir Zeit verloren habe. Alles klar?«

»Völlig klar«, schluckte der Junge.

»Na dann ist’s ja gut. Aber spitz die Ohren, zum Teufel: Wenn du mich diesen Quatsch weitermachen läßt und ich am Schluß keine tausend Perlen auf meinem Tisch sehe, dann macht das fünfzig Peitschenhiebe.« Er grinste wie über einen amüsanten Witz. »Und das kannst du mir glauben, ich kenne nur einen einzigen Mann, der fünfzig Peitschenhiebe von Lucas Castano überlebt hat: ein riesiger Schwarzer, und der hat eine dickere Haut als ein Haifisch.«

»Einverstanden, aber unter einer Bedingung…!« schoß der Junge zurück.

»Aha, da haben wir’s schon! Und die lautet?«

»Daß alles, was über die tausend geht, mir gehört.«

Der Schotte fuhr sich mit der Hand über die Glatze, wischte sich mit dem abgewetzten Ärmel seiner roten Jacke den Schweiß ab und starrte den schmutzigen Jungen an, als könnte er es nicht fassen, ein so unverschämtes und furchtloses Geschöpf vor sich zu haben. Schließlich haute er ihm lachend auf die Schulter.

»Halbe-halbe! Alles über tausend teilen wir halbe-halbe. Und jetzt hau ab!«

Sebastián Heredia schwang sich auf die Nueva Esperanza, machte eine zeremonielle Verbeugung vor dem Kantabrier, als wolle er um Erlaubnis bitten, dessen Schiff von Grund auf untersuchen zu dürfen, und verschwand in den Laderäumen, um herauszufinden, wie viele Perlen man ihm in Juan Griego für so viele Waren geben würde. Fast eine Stunde verbrachte er unter Deck, doch schließlich tauchte sein zerzauster Kopf wieder an Deck auf und rief überschwenglich aus:

»Mehr als genug, Kapitän! Mehr als genug!«

»Bist du sicher?« wollte dieser wissen.

»Ganz sicher!«

»Also gut!« gab Jacare Jack zu. »Du weißt, was du riskierst.« Er wandte sich seinem Stellvertreter zu, dem die ganze Angelegenheit offensichtlich als reine Zeitverschwendung und außerdem eines echten Piraten unwürdig erschien, und fügte hinzu: »Befiehl dem Kapitän, seine Kanonen ins Meer zu werfen. Überraschungen mag ich nicht. Und dann soll er Kurs auf Margarita setzen. Wir werden ihm folgen.«

Lucas Castano stieß einen Fluch aus, mit dem er gewöhnlich kundtat, daß er nicht einverstanden war, doch gehorchte er wie immer unverzüglich, denn kaum war der Nachmittag angebrochen, waren sie schon auf dem Weg. Vorher holten sie allerdings noch ein halbes Dutzend Schinken, zwanzig Sack Korn und zehn Fässer Wein aus Carinena an Bord.

»Denkt daran«, gab Sebastián Heredia seinem Kapitän zu verstehen: »Das alles ist wenigstens dreißig Perlen wert.«

Vier Tage später ging die Nueva Esperanza in der Bucht von Juan Griego vor Anker, allerdings außer Reichweite der Kanonen von La Galera. Gleichzeitig ging die Jacare zwischen Punta Tunar und Cabo Negro auf Streife. Dabei hatte sie kaum Segel gesetzt, fuhr jedoch mit ganzer Masthöhe. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr hätte sie also in Windeseile alle Segel hissen können.

Bald versammelten sich die Leute aus dem Dorf am Strand. Schließlich bedeutete das unerwartete Ereignis eine willkommene Abwechslung in ihrem monotonen Alltag. Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als der alte Pott eine Schaluppe zu Wasser ließ und der allen wohlbekannte Sebastián Heredia Matamoros an Land ging, die Anwesenden umarmte und zur Festung lief, von wo aus ihn ein düster blickender Hauptmann Mendana mit einem starken Fernglas beobachtete.

»Zum Teufel, darf man wissen, was du hier treibst?« lautete logischerweise die erste Frage des Offiziers, als der keuchende Junge sein Ziel erreicht hatte. »Ich habe dir doch verboten, auf die Insel zurückzukehren.«

»Meinem Vater habt Ihr es verboten, nicht mir«, entgegnete der furchtlose Junge. »Und der hat nicht die geringste Absicht, auch nur einen Fuß auf Margarita zu setzen.«

»Wo ist er denn?«

Sebastian deutete auf das elegante Schiff in der Bucht.

»An Bord«, sagte er.

»An Bord der Jacare?« wunderte sich sein Gegenüber. »Wie gibt’s denn so was?«

»Sie haben uns aufgenommen, als wir kurz davor waren, unterzugehen.«

In aller Kürze erzählte der aufgeweckte Junge, was ihm zugestoßen war, seitdem er die Insel verlassen hatte, und schloß mit einem für seine Jugend unangemessenen Ernst.

»Aus diesem Grund bin ich zunächst zu Euch gekommen. Ich wollte nichts unternehmen, was Euch schaden könnte. Dafür verdanke ich Euch zuviel.«

»Gar nichts verdankst du mir«, beeilte sich der Offizier zu antworten. »Und was das Schaden betrifft: Was soll ich schon machen, wenn ein Schiff außer Reichweite meiner Kanonen vor der Küste ankert.« Mit süffisantem Lächeln fuhr er fort: »Natürlich kann ich eine Nachricht nach La Asunción schicken, und die können wiederum aus Cumaná ein Kriegsschiff anfordern, das es mit der Jacare aufnehmen kann.«

»Und wann käme das?« wollte Sebastian wissen.

»Im günstigsten Fall in zwei Wochen, oder auch gar nicht. Sehr wahrscheinlich gar nicht.«

»Sind denn gar keine Kriegsschiffe in der Nähe?«

»Nicht daß ich wüßte«, lautete die Antwort. »Allerdings habe ich genügend Soldaten hier, um die Insel gegen eine Handvoll Piraten zu verteidigen.« Der grobschlächtige Hauptmann nahm auf einer der Kanonen Platz, legte sein schweres Fernglas zur Seite und fuhr dem mutigen Jungen liebevoll durchs zerzauste Haar: »Mit Piraten habe ich nichts am Hut, aber die Beamten der Casa kann ich wahrscheinlich noch weniger ausstehen. Immerhin riskieren die Piraten, daß man sie aufhängt, während diese Schweine tausendmal mehr rauben, und das unter dem Schutz der Justiz.« Er zog ihn heftig an den Ohren. »Wenn die Piraten also die Casa berauben und die Waren zu einem anständigen Preis an die armen Leute losschlagen, dann von mir aus. Ich werde keinen Fuß ins Wasser setzen, um sie aufzuhalten, solange keiner von ihnen an Land geht.«

Der Junge streckte ihm die Hand entgegen, als wolle er einen Pakt besiegeln.

»Gilt das Abkommen?« wollte er wissen.

Eine heftige Kopfnuß war die Antwort, worauf sich der Junge klagend die schmerzende Beule rieb.

»Was für ein Abkommen?« bellte der verdutzte Offizier. »Seit wann schließt ein Hauptmann des Königs ein Abkommen mit einem Knirps? Das wär ja noch schöner!«

»Regt Euch doch nicht auf!«

»Wenn du unverschämt wirst, dann werde ich wohl noch wütend werden dürfen. Und jetzt scher dich zum Teufel und denk dran, daß du zwei Meilen Abstand zur Küste hältst.«

Sebastián nickte und ging die Steintreppe zum Strand hinunter. Doch schon auf der ersten Stufe drehte er sich um und fragte in einem ganz anderen Ton:

»Wißt Ihr etwas von meiner Schwester?«

»Nur daß sie im Haus dieses Hurensohns lebt.« Hauptmann Mendana hielt kurz inne, bevor er mit leicht ironischem Lächeln fortfuhr: »Aber mach dir keine Sorgen. Ich hab dir schon gesagt, daß deine Mutter dafür sorgt, daß es ihr an nichts fehlt.«

»Und ich habe Euch gesagt, daß sie nicht mehr meine Mutter ist«, lautete die trockene Antwort. »Meine Mutter ist gestorben.«

Unter den aufmerksamen Augen des Offiziers setzte er seinen Rückweg fort, kletterte in ein am Strand liegendes Boot und bat mit erhobenen Händen um Ruhe.

»Auf diesem Schiff gibt es alles, was ihr nur brauchen könnt. Und ab morgen früh wird das alles für ein Zehntel des Preises verkauft, den die Casa von euch verlangt. Doch denkt dran, wir nehmen nur Perlen an.«

Der Handel galt.

Für den pfiffigen Sebastián Heredia war es das erste große Geschäft seines Lebens. Sogar die Taue, Fässer und Segel der Nueva Esperanza schlug er los, und beinahe hätte er sogar noch den Anker verhökert, denn jeden Morgen strömten die Einheimischen aus allen Dörfern der Insel herbei, um zu Schleuderpreisen alles zu erwerben, was sie stets gebraucht und nie erhalten hatten.

In tiefer Nacht fuhren die Perlenfischer mit der ganzen Familie aufs Meer hinaus. Kaum dämmerte der Morgen, da tauchten sie schon ein ums andere Mal in die Tiefen hinab, während Frauen und Kinder mit flinken Händen die Austern knackten, um nach runden und schimmernden Perlen zu suchen.

Immer wenn sie eine gute Handvoll zusammen hatten, hißten sie die Segel und nahmen Kurs auf Juan Griego, um an Bord der Nueva Esperanza ihren Handel abzuschließen.

Als schließlich kein Nagel mehr übrig war, verließ Sebastián Heredia den alten Pott, der in der Bucht noch lange auf neue Segel warten würde, kehrte an Bord der Jacare zurück und legte vor dem lächelnden Kapitän zwei mittelgroße Säcke nieder.

»Im einen Sack ist das, was ich versprochen habe. Und im anderen der Überschuß. Die Hälfte davon gehört mir!«

»Was Jacare Jack verspricht, hält er auch«, lautete die Antwort. »Nimm dir, was dir zusteht.«

Als der Junge seinen Anteil entnommen hatte, ließ der Kapitän den Rest unter der Mannschaft verteilen, und zwar so, wie es die traditionellen Regeln der Bruderschaft der Küste vorschrieben. Danach kam dem Kapitän als Ausrüster des Schiffes ein Drittel der Beute zu, seinem Stellvertreter ein Zehntel. Was übrig blieb, wurde nach Rang und Dauer der Zugehörigkeit an die einzelnen Besatzungsmitglieder verteilt, wobei man einen Teil für Krankheiten und unvorhergesehene Notfälle beiseite legte.

In dieser Nacht veranstaltete die Besatzung ein enormes Saufgelage und prostete unzählige Male dem Jungen zu, der ihr ohne jegliches Blutvergießen zu so unerwartetem Reichtum verholfen hatte. Am nächsten Tag ließ der bereits nüchterne Kapitän Jacare Jack das Schiff in See stechen, winkte Lucas Castano zu sich und gab dem erstaunten Panamesen zu verstehen:

»Ich denke, wir sollten uns so viele Schiffe wie möglich holen, bevor sich herumspricht, daß es wesentlich lukrativer und ungefährlicher ist, Schiffe anzugreifen, die aus Europa kommen, anstatt dorthin zu fahren.«

»Ihr wollt doch nicht etwa das Ganze wiederholen?« entrüstete sich sein Stellvertreter.

»Warum denn nicht?« lautete die logische Antwort. »Wir sollten unsere Glückssträhne nutzen, solange sie andauert.«

»Das ist eines Piraten unwürdig, der etwas auf sich hält«, gab Lucas Castano zu bedenken.

»Hör mal zu, du Schwachkopf!« entgegnete sein Kapitän in aller Seelenruhe. »Ein Pirat hat nur eine Sorge: reich zu werden, bevor man ihn aufhängt. Und auf diese Weise klappt das doch wunderbar, also halt am besten den Schnabel wie bisher, und du wirst alt werden.«

Lucas Castano beherzigte den Rat, und so änderte die Jacare als erstes Schiff auf hoher See die in der Karibik herrschende Piratenstrategie. Statt zwischen der Insel Tortuga und den Bahamas den riesigen Galeonen aufzulauern, die gegen Ende des Sommers mit ihren Schätzen auf der Nordroute nach Spanien zurückkehrten, kreuzte die Jacare in den Gewässern von Barbados und Grenada, um die schwerfälligen Frachtschiffe zu überfallen, die sich ohne Begleitschutz der spanischen Flotte, die einmal jährlich von Sevilla nach Westindien fuhr, auf den Weg in die Neue Welt machten.

Die schwerfälligen spanischen Galeonen setzten fast ausschließlich quadratische Segel. Mit Rückenwind segelte man damit zwar wunderbar, Seitenwinde konnte man dagegen kaum ausnutzen. Daher gab es für die Steuermänner schon seit einem Jahrhundert nur zwei Atlantikrouten. Auf dem Weg in die Neue Welt nutzte man die Passatwinde, die im Oktober oder November zu blasen begannen. Mit diesem Rückenwind dauerte die Überfahrt von den Kanarischen Inseln nach Barbados nur einen guten Monat. Für die Rückkehr nach Europa nutzte man wiederum die Westwinde, die im Hochsommer wehten und die Schiffe von den Bahamas zu den Azoren und von dort an die spanische Küste trieben.

Aus diesem schlichten Grund entwickelte sich zwischen Sevilla, dem einzigen spanischen Hafen mit königlichem Patent, und einem riesigen Kontinent, von dessen wahren Grenzen man nur vage Vorstellungen hatte, ein unaufhörlicher Fluß an Menschen und Waren.

Die englischen, französischen und holländischen Korsaren hatten von ihren jeweiligen Kronen den ausdrücklichen Auftrag, dafür zu sorgen, daß Spanien durch Gold, Perlen, Diamanten und Smaragde aus seinen unendlich reichen Kolonien nicht noch mächtiger wurde. Also gab es für sie nur eins: die reichen Schätze auf ihrem Weg nach Spanien abzufangen, auch wenn man dafür besagte Galeonen auf den Grund des Meeres schicken mußte. Kein Wunder, daß die Korsaren spektakuläre Siege vermelden konnten. Schließlich hatten sie es ja nicht nötig, einen Feind gefangenzunehmen oder ihn in einer fairen Schlacht zu besiegen. Sie konnten sich darauf beschränken, schwer manövrierfähige Transportschiffe mit den modernsten Kriegstechniken zu zerstören.

Manchmal, wenn die Situation günstig und ohne großes Risiko schien, bemächtigten sich die Korsaren auch ihrer Beute. Damit handelten sie allerdings entschieden gegen den Auftrag ihrer Souveräne, die den Korsaren die berühmten Kaperbriefe ausgestellt hatten. Ein Korsar hatte demnach im Prinzip keine Wahl: Er konnte eine ganze Flotte versenken, ohne daß er daraus irgendeinen Nutzen hätte ziehen dürfen. Er war also in Wahrheit nichts weiter als eine Art »Staatsterrorist« seiner Zeit, der lediglich rein politischen Zwecken diente.

Die echten Seeräuber waren aus diesem Grund auf die Korsaren nicht gut zu sprechen. Wahllos so immense Reichtümer zu zerstören, von denen so viele hätten profitieren können, sahen die Piraten als idiotische Verschwendung und als Sicherheitsrisiko. Gold, Silber und Edelsteine ruhten nutzlos auf dem Meeresgrund, während die zahllosen Todesopfer, welche die barbarischen Attacken forderten, nur dazu dienten, daß die spanischen Behörden neue Kriegsschiffe schickten. Und die machten keinen Unterschied zwischen »ehrbaren Seeräubern« und barbarischen Korsaren.

Das soll nicht heißen, daß sich nicht bisweilen einige der skrupellosesten Piraten auf die Seite der Korsaren schlugen und mit ihnen gemeinsam eine mächtige Flotte oder eine Festung angriffen. Stets war jedoch klar, daß die einen nur den Auftrag hatten zu zerstören, während es den anderen ums Plündern ging.

Da es häufig zu solchen Allianzen kam, vergaßen die Opfer und später die Historiker mit der Zeit, worin ursprünglich der Unterschied zwischen Piraten und Korsaren bestanden hatte, und schließlich warf man beide in den gleichen Topf. Ob Korsar oder Pirat: Allein die bloße Erwähnung jagte Angst und Schrecken ein.

Jacare Jack gehörte stets zu den echten Piraten, das heißt zu jenen nur selten blutdürstigen Seeräubern, denen es lediglich darum ging, in kürzester Zeit so reich wie möglich zu werden und sich dann auf ein frühes Altenteil zu setzen, um in Frieden die Früchte der so kurzen Anstrengung zu genießen.

Der Schotte wußte nur zu gut, daß man ein versenktes Schiff kein zweites Mal plündern konnte und daß ein mißhandelter Kapitän nicht noch einmal kampflos die Waffen streckte. Daher sorgte er dafür, daß seine Männer beim Entern nur soviel Gewalt wie unbedingt nötig anwendeten.

Das führte mit der Zeit dazu, daß die Besatzung eines Schiffes beim Anblick der Krokodilsflagge mit Totenkopf einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, da sie in Gewässern, in denen es von Feinden nur so wimmelte, ein gewisses Maß an Sicherheit vermittelte.

Von Oktober bis März ging die Jacare daher hundert Meilen östlich von Barbados auf Patrouille, überfiel Schiffe ohne Begleitschutz, plünderte die Lagerräume oder lotste eine besonders reiche Beute in eine versteckte Bucht der von gefährlichen Riffen geschützten kleinen Inseln Rameau, Bateaux und Barandal. Hier in den südlichen Grenadinen war man sicher, denn ein Feind, der die schmalen Wasserstraßen des Archipels nicht wie seine Westentasche kannte, lief unweigerlich auf ein Korallenriff und war den Kanonen der Jacare hilflos ausgeliefert.

Auf der nahen und wesentlich größeren, aber unbewohnten Insel Mayero hatte Jacare Jack sein »Winterquartier« aufgeschlagen. Hinter diesem pompösen Namen verbargen sich allerdings im Prinzip nur zwei Dutzend strohgedeckte Lehmhütten. Immerhin herrschte auf Mayero kein Mangel an Huren, Rum und gutem Essen.

Der größte Teil der Besatzung war mit seinem Los glücklich und zufrieden. Von April bis September machte man Ferien auf einer paradiesischen Insel, und das übrige Jahr ging mit einträglicher und recht gefahrloser Arbeit dahin. Nur gelegentlich regte sich einer auf und fand, daß ein echter Pirat doch mehr sein mußte als jene seltsame Mischung aus Krämer und Bandit.

Auf derartige Beschwerden gab der Schotte stets die gleiche Antwort: »Hier gebe ich die Befehle, und wem das nicht paßt und lieber abhauen möchte, braucht nur die Hand zu heben, damit ich ihn am nächsten Ast aufhängen kann, denn einen Hurensohn, der unser Versteck verrät, kann ich wirklich nicht brauchen.«

Natürlich fiel es keinem auch nur im Traum ein, jemals die Hand zu heben, und so ging das friedliche Leben einige Jahre lang weiter, in denen Sebastián Heredia Matamoros in Gesellschaft der rüdesten Lebewesen auf der Erde aufwuchs.

Mit 16 Jahren beherrschte er bereits drei Sprachen, kannte sich in der Navigation und im Waffengebrauch aus, und kaum war er 17 geworden, da führte ihn eine begabte und erfahrene Mulattin in die schwierige Kunst ein, wie man Frauen glücklich macht.

Auch mit allen Arten von Glücksspiel war er bestens vertraut, und nach drei Krügen Rum konnte er immer noch aufrecht gehen.

Da ihm als »Einsatzleiter« ein beträchtlicher Teil an der Beute zufiel, hätte er sich eigentlich als Günstling Fortunas fühlen können, hätte ihn nicht sein Vater ständig an die bittere Tragödie erinnert, die seine Jugend verdunkelt hatte.

Denn Miguel Heredia Ximénez hatte sich im Lauf der Jahre kein Jota verändert und war so stumm und abwesend wie immer geblieben. Zwar erwähnte er seine Frau und seine Tochter niemals mit auch nur einem Wort, doch konnte jeder sehen, daß ihm beide unaufhörlich im Kopf herumgingen. Das steigerte sich immer mehr zu einer Besessenheit, die ihn allmählich verrückt machte.

Sebastiáns Liebe und Hingabe hätte sogar die Herzen einer Bande von Halunken erweicht, die wahrscheinlich einem Lahmen, ohne mit der Wimper zu zucken, die Kehle durchgeschnitten hätten. Stunden und Stunden setzte sich der Junge zu seinem Vater, um ihm tausend Dinge zu erzählen, obwohl er wußte, daß er nur selten eine Antwort erhalten würde.

Nur eines schien den Vater, dem ansonsten sogar das Atmen schwerfiel, glücklich zu machen: Wenn er sich an einem seichten Ankerplatz ins Meer stürzen und stundenlang bis zur Erschöpfung tauchen konnte.

In diesen Nächten schlief er tief und ruhig, als hätte ihm die Taucherei für einen Augenblick die glücklichen Zeiten zurückgebracht, in denen sein ganzes Schalten und Walten darin bestand, schöne Perlen zu finden, die seiner Familie zugute kamen.

Wenn der Vater tauchen ging, paßte sein Sohn wie früher auf Haie und Barracudas auf, stets mit einer Hand an der Lanze und einer scharfen Machete am Gürtel, wie ein Schutzengel, der genau wußte, daß jenes schutzlose Wesen alles war, was ihm im Leben geblieben war.

Oft nahm der schweigsame Lucas Castano am anderen Ende der Schaluppe Platz, wo er angelte oder scheinbar abwesend vor sich hin döste. Doch obwohl die Augen unter seinem alten zerfressenen Strohhut geschlossen waren, konnte er beim leisesten Anzeichen von Gefahr aufspringen.

Während der langen Ruhezeiten zog es Miguel Heredia vor, in seinen schmerzlichen Erinnerungen versunken an Bord der Jacare zu bleiben. Rum, Glücksspiel und Huren interessierten ihn nicht das mindeste. Er beschränkte sich darauf, Waffen zu schleifen oder gefundene Perlen in einer kleinen selbstgeschnitzten Truhe zu hüten.

Er bot wirklich einen jammervollen Anblick.

Sein Sohn begeisterte sich dagegen oft ein wenig zu sehr für die Würfel und die Frauen. In der Liebe war ihm das Glück stets hold, im Spiel eher weniger. Das scherte ihn allerdings kaum, denn die Lagerräume der Schiffe der Casa de Contratación gaben weit mehr her, als selbst ein Pechvogel beim Würfeln verschleudern konnte.

Für die richtige Erziehung eines Jünglings war das Umfeld, in dem Sebastián Heredia Matamoros aufwuchs, nicht gerade ideal, doch wie das Leben manchmal so spielt, schaffte es der Junge trotzdem, eine seltsame Balance zwischen der schmutzigen, von Gewalt beherrschten Welt, die ihn umgab, und den moralischen Prinzipien zu halten, die man ihm von klein auf beigebracht hatte.

Dabei spielte es kaum eine Rolle, daß die Frau, die ihm die Prinzipien vermittelt hatte, diese als erste verraten hatte. Vielleicht waren aber auch die schmerzvollen Folgen dieses Verrats daran schuld, daß sich der Junge von Margarita unbewußt seine Moral bewahrte.

Lucas Castano, der ihn von allen Leuten an B6rd am besten kannte, war zutiefst davon überzeugt, daß Sebastián ohne die Anwesenheit des Vaters seine Wurzeln ebenso verloren hätte wie die restlichen Mitglieder der kunterbunt zusammengewürfelten Besatzung. Die eiserne Klammer, die ihn mit dem bedauernswerten Kranken verband, hatte den Jungen jedoch ohne Zweifel vor dem moralischen Absturz bewahrt.

Das Leben der seltsamen Gemeinschaft verlief also weiterhin in »normalen« Bahnen: bis am Morgen eines heißen Sommertages die Wache der Nordküste die alarmierende Nachricht brachte, daß während der Nacht die beste Schaluppe verschwunden war.

Bald stellte sich heraus, daß zwei französische Marsgaste offensichtlich beschlossen hatten, zu desertieren.

Gaston und Rene Rousselot, an Bord nur »die Marseiller« genannt, waren zwei sehr unterschiedliche Brüder, die allerdings kaum eine Gelegenheit ausließen, sich in alle nur denkbaren Schwierigkeiten zu bringen.

Von allen zehn Peitschenhieben, die Lucas Castano in den letzten Jahren ausgeteilt hatte, waren sechs auf dem Rücken eines der beiden gelandet, und dennoch zettelten die Brüder immer wieder aus dem geringsten Anlaß heraus eine wütende Schlägerei an.

Nach drei Gläsern Rum war Rene in der Lage, sogar – oder besser mit Vorliebe – auf seinen eigenen Bruder mit Fäusten einzuschlagen. Doch aus unerfindlichen Gründen einigten sich die beiden immer wieder, nur um sich mit dem Rest der Mannschaft anzulegen.

Da sie sich jahrelang nur noch mit Rivalen hatten anlegen können, die ihre Tricks nur zu genau kannten, wunderte es keinen, daß sich die beiden Südfranzosen abgesetzt hatten, um sich neue »Opfer« zu suchen. Der erfahrene Kapitän konnte sich aber an fünf Fingern abzählen, daß die beiden bei ihrer Vorliebe für Alkohol und Schlägereien bald herumerzählen würden, wo sich die gesuchte Jacare und ihre nicht aufgreifbare Besatzung verbarg.

»Entweder machen wir Jagd auf sie«, befand er, »oder wir warten ab, bis sie Jagd auf uns machen. Also los!«

»Und wohin?«

»Sind doch Franzosen, oder nicht? Die Ziege will auf den Berg und die Franzosen dorthin, wo man ihre Sprache spricht. Ich wette meine vier letzten Haare darauf, daß sie Kurs auf Martinique gesetzt haben.«

Im letzten Abendrot lichtete die Jacare die Anker, um die gefährlichen Riffe der kleinen Inseln gefahrlos zu umschiffen, und bei Anbruch der Nacht fuhren sie bereits mit geblähten Segeln Kurs Nordost.

Jacare Jack hatte genügend seemännische Erfahrung, um sich auszumalen, daß sich die Marseiller mit ihrer Nußschale nicht aufs offene Meer hinauswagen, sondern lieber an der Leeseite der Inseln entlang segeln würden. Auf diese Weise konnten sie sich beim geringsten Anzeichen von Gefahr in jeder noch so winzigen Bucht verstecken.

Aus diesem Grund ließ er sich gar nicht erst auf eine sinnlose Verfolgungsjagd ein, sondern beschloß, auf der Luvseite der Inseln die ganze Schnelligkeit seines Schiffs auszuspielen, um die Schaluppe im breiten Kanal zwischen St. Lucia und Martinique abzufangen.

Endlich ließ er einmal seinen wahren Charakter durchblicken. Gewöhnlich konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, doch in den folgenden Tagen verließ er die Brücke keinen Augenblick lang und befehligte seinen schnellen Küstensegler so bravourös, als ginge es um eine Regatta, bei der seine ganze Habe auf dem Spiel stand.

»Keiner legt sich mit Kapitän Jack an«, war das einzige, was er gelegentlich vor sich hin grollte. »Haifischfutter mache ich aus den beiden.«

Bis zum letzten Schiffsjungen waren alle seiner Meinung, denn an Bord hatte jeder mit den verhaßten Marseillern ein Hühnchen zu rupfen, und jetzt, wo die beiden die gesamte mühsam aufgebaute Existenz der Besatzung aufs Spiel setzten, brachen alte, längst verheilte Wunden wieder auf.

Selbst der schweigsame Lucas Castano ließ einen Fluch hören, und damit war alles gesagt.

Obwohl Sebastián und Miguel Heredia wie durch ein Wunder als einzige an Bord die aberwitzigen Gewaltausbrüche dieses barbarischen Pärchens noch nie am eigenen Leib verspürt hatten, war der Junge über den schmutzigen Verrat ebenso empört wie die anderen. Sein Abscheu gegenüber den Deserteuren verflog jedoch urplötzlich, als sein Vater zum ersten Mal seit langer Zeit mit ihm sprach.

»Hab Mitleid mit ihnen«, murmelte er, als sich der Junge immer mehr erregte. »Ihr Ende wird schrecklich sein.«

»Woher weißt du das denn?«

»Ich weiß es einfach.«

Mehr sagte er nicht, doch er wußte es mit Sicherheit. Ein Mensch, der nichts wahrzunehmen schien, was um ihn herum vorging, konnte andere Welten »kennen«, von denen andere, die ihn umgaben, noch nicht einmal etwas ahnten.

Und kein Wahnsinn ist unergründlicher als der, in den man sich freiwillig geflüchtet hat.

Am meisten verbitterte Sebastian, daß er gegen die schmerzvolle Wahl des Vaters nicht anzukämpfen vermochte. Jedesmal lief er wie gegen eine unsichtbare Mauer. Das Herz des Vaters schien nur noch eine Pumpe zu sein, und seine Gedanken waren in einem unergründlichen Brunnen der Erinnerungen versunken. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb richtete der Junge seine Liebe, die einst seiner gesamten Familie gegolten hatte, ganz auf seinen Erzeuger. Für Emiliana Matamoros empfand er nur noch tiefen Groll, während das Bild, das er von seiner Schwester hatte, immer verschwommenere Züge annahm, so sehr er sich auch dagegen stemmen mochte.

Schließlich war Celeste zur Zeit der Trennung noch ein kleines Mädchen gewesen, dessen Gesichtszüge sich ständig zu ändern schienen. Drei Tage nach ihrem Aufbruch, nach einer Nacht, die sie in einer winzigen Bucht von St. Lucia auf der Lauer gelegen hatte, stürzte sich die Jacare wie ein Pelikan auf die Nußschale der ahnungslosen Marseiller.

Was Sebastian für eine harmlose Redewendung gehalten hatte, den Satz mit dem Haifischfutter, sollte sich als schrecklicher Ernst erweisen. Kaum hatte der inzwischen nicht mehr wiederzuerkennende Kapitän Jack die Deserteure ergriffen, befahl er, sie ins Meer werfen zu lassen. Zuvor ließ er sie mit starken Tauen aneinanderfesseln und zwischen ihre Schenkel riesige Haken stecken, deren messerscharfe Spitzen auf der Höhe des Penis herausragten.

Mit dem eigenen Messer schnitt er ihnen in die Beine, die stark zu bluten begannen. Danach befahl er langsamste Fahrt voraus, nahm auf dem Achtersteven Platz und sah zu, wie die Opfer voller Panik im Wasser ruderten und eine rote Spur hinterließen, die bald gierige Haie anlocken würde.

Nach zehn Minuten tauchte die erste Rückenflosse auf, doch folgte sie zunächst lediglich der Blutspur, ohne anzugreifen, so als traute die dunkle und riesige Bestie dem unerwarteten Frühstück nicht über den Weg.

Nicht nur an Bord, sondern auch im Wasser blieb es stumm. Gaston und Rene hatten offensichtlich eingesehen, daß alles Betteln um Gnade sinnlos war, und sich in ihr schreckliches Schicksal ergeben. Vielleicht hofften sie auf ein schnelles und möglichst schmerzloses Ende.

Doch wer immer eine so sadistische Qual erfunden hatte, wußte genau, was er tat. Normalerweise konnte ein Hai sein Opfer mit einem einzigen Biß in Stücke reißen, doch wenn dieses Opfer wie ein lebendiger Köder gefesselt war, dann hatte es einen entsetzlichen, quälend langsamen Todeskampf vor sich.

Mit einemmal tauchte ein zweiter Hai aus der Tiefe auf, stürzte sich auf das linke Bein von Rene und riß es bis zum Oberschenkel ab. Als wäre das ihr Signal gewesen, stürzte sich die erste Bestie auf das andere Bein.

Das Meer färbte sich rot vor Blut, und jetzt stieß der beklagenswerte Marseiller einen Schrei aus, der den Zuschauern des grausigen Schauspiels in Mark und Bein fuhr.

Doch das Schlimmste sollte noch kommen.

Der forschere Hai ließ der wehrlosen Beute keine Zeit, zu verbluten, sondern attackierte sie erneut und verschluckte dabei den Haken. Damit hing die Bestie unweigerlich an Rene Rousselot und schlug ihre scharfen Zähne in das weiche Fleisch des Bauchs, den sie bei ihren erfolglosen Versuchen, sich von dem im Rachen feststeckenden Eisen zu befreien, immer weiter aufriß.

Von den Marseillern blieb nur eine stöhnende Masse aus Blut, Fleisch und Eingeweiden, die wie ein Ball im Rachen des Hais hin- und hergeschüttelt wurde. Schließlich konnte der schreckensstarre Sebastián Heredia nicht mehr anders: Er lehnte sich über die Reling und mußte sich das erste Mal in seinem Leben übergeben. Danach nahm er neben seinem Vater Platz, der völlig abwesend eine Machete schliff, und blieb dort sitzen, bis Lucas Castano die Taue durchschnitt und sich die aus allen Himmelsrichtungen herbeigeeilten blindwütigen Haie den kärglichen Rest der beiden Brüder streitig machen konnten.

Im schweren Jahr nach der grausamen Hinrichtung wurde Sebastián schneller erwachsen als in der gesamten Zeit, die er bis dahin an Bord der Jacare verbracht hatte, nicht nur, weil er an Körpergröße und Kraft gewann oder in der Kriegs- und Liebeskunst dazulernte, sondern weil ihm allmählich dämmerte, daß er sich eine andere Zukunft schafften mußte, weit weg von jener üblen Gesellschaft.

Jeden Abend legte er sich mit der Überzeugung schlafen, seine Lebensweise, die ihm so absurd vorkam, aufzugeben, doch jeden Morgen verschob er seine Entscheidung aufs neue. Kapitän Jack, der schon die Marseiller Brüder nicht hatte ziehen lassen, hätte, davon war Sebastián zutiefst überzeugt, einen »jungen Wirrkopf und einen alten Toren« ebensowenig frei mit dem Wissen herumlaufen lassen, wo sich sechs Monate im Jahr eines der meistgesuchten Schiffe der Karibik verbarg.

»Die Jacare ist immer >das Land ohne Wiederkehr< gewesen«, hatte ihm Lucas Castano bedeutet. An diesem Tag verbrauchte er mehr Spucke als gewöhnlich. »Du mußt wissen, daß unser Leben eine Hölle wäre, wenn wir nicht eine absolut sichere Zuflucht hätten.«

Wie konnte man einem mißtrauischen Schotten und die gesamte finstere Besatzung davon überzeugen, daß weder er noch sein Vater die genaue Lage der Insel preisgeben würden?

Wer konnte garantieren, daß er schweigen würde wie ein Grab, falls er in die Hände der Schergen der Casa de Contratación fallen würde?

Und wer konnte ausschließen, daß eine saftige Belohnung die beiden nicht dazu verleiten würde, die Kameraden, mit denen sie so viele schwere Jahre geteilt hatten, zu verraten?

Ehrbarkeit hatte nie zu den Kardinaltugenden der Bruderschaft der Piraten gehört. Wie konnte man also von dieser üblen Meute »Seewölfe« erwarten, daß sie von sich aus an den Anstand eines ihrer Mitglieder glaubte?

Man hätte sich also wie die Marseiller bei Nacht und Nebel aus dem Staub machen müssen und wäre dabei Gefahr gelaufen, ebenfalls als Haifutter zu enden: ein Risiko, das der Junge um nichts in der Welt hätte eingehen wollen.

Und selbst wenn sie gefahrlos hätten fliehen können, wohin denn?

»Nach Hause«, hatte einige wenige Male der stets abwesende Miguel Heredia Ximénez zu diesem Thema gesagt. Die Schwester wiederzusehen war in der Tat auch der sehnlichste Wunsch seines Sohnes.

Was wohl aus ihr geworden war?

Inzwischen mußte sie fünfzehn Jahre alt sein, rechnete sich Sebastián aus, doch so sehr er sich auch Mühe gab, er konnte sich nicht vorstellen, wie aus dem Mädchen allmählich eine junge Frau wurde, und wenn sich die Schwester wie ein Schatten in seine Erinnerung schlich, dann stets als Kind.

Wenn das Boot seines Vaters am Kap vorbei in die weite Bucht von Juan Griego einfuhr, war das erste, was sie sahen, Sebastián mußte lächeln, wenn er daran dachte, das kleine Mädchen, das im Schatten der Festung La Galera saß, aufs Meer hinausschaute und sogleich fröhlich zu winken begann. Bis zum Schlafengehen wich es dann dem älteren Bruder nicht mehr von der Seite und folgte ihm wie ein treues Hündchen.

Nur zu oft hatte Sebastián den Spott seiner Freunde ertragen müssen, die nicht verstehen konnten, daß dieses kleine Mädchen, das eigentlich eher aussah wie ein kleiner Junge, stets wie eine Klette an ihm hing. Doch hatte die kecke Kleine ein so einnehmendes Wesen, daß die ungehobelte Jungenschar schließlich zähneknirschend ihre Anwesenheit duldete.

Schon mit vier Jahren zeigte Celeste Heredia Matamoros beeindruckend ihre Willenskraft, die sie allerdings hinter einem unschuldigen Lächeln und manchen schlagfertigen Antworten zu verbergen wußte.

Was mochte wohl aus ihr geworden sein, jetzt wo sie in einem Palast unter ganz anderen Menschen lebte?

Gelegentlich erinnerte sich Sebastián an die Wut, die in ihren rebellischen Augen funkelte, als man sie gewaltsam in die Kutsche des Abgesandten der Casa de Contratación von Sevilla zerrte, und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob der plötzliche Wandel in ihrer Lebensweise nicht Einfluß auf ihr mutiges und spontanes Wesen genommen hatte.

In Nächten wie dieser legte er sich mit dem Vorsatz schlafen, das Schiff zu verlassen und sich auf die Suche nach dem Mädchen zu machen.

Bald aber holte ihn das unendliche Meer in die bittere Wirklichkeit zurück: Er mochte zwar ein wahrhaft »freier Mann« sein, ein wilder Pirat ohne jegliche Bindungen, und doch war er ein Gefangener seines eigenen Berufs geworden, und die Taue, an die er sich beim Betrachten des weiten Horizonts klammerte, waren in Wirklichkeit nichts anderes als die schwachen Gitterstäbe eines Gefängnisses, aus dem die Flucht fast unmöglich erschien.

Eintönig flössen so die Tage dahin.

Und die Wochen.

Und die Monate.

Eine harte Strafe.

Zu hart in den Augen eines Menschen, der vom Leben wesentlich mehr erwartete.

An einem diesigen Nachmittag schließlich, bei dem man nicht wußte, ob ein Sturm oder eine der gefürchteten totalen Flauten drohte, die selbst stählerne Nerven auf die Probe stellten, entdeckten sie ein Schiff am Horizont.

Alle Augen folgten ihm.

Es war eine mittelgroße Galeone, deren Reling im Verhältnis zur Länge des Schiffs unverhältnismäßig hoch schien. Zunächst hielt das Schiff direkt auf die Piraten zu, dann schien es jedoch Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, indem es den Kurs änderte, offenkundig mit der Absicht, gut zwei Meilen luvseits zu kreuzen.

»Die Masten hoch!« befahl der Schotte angesichts dieses Manövers. »Und haltet die hohen Segel bereit.«

»Greifen wir an?« fragte verblüfft Lucas Castano.

Ein leichtes Kopfschütteln war die Antwort.

»Nein! Aber mit den Segeln, die er gesetzt hat, sollte er nicht nach Luv abfallen, sondern leeseits fahren. Ich trau ihm nicht.«

»Vielleicht eine Falle?«

»Unter einer so hohen Reling könnte er durchaus drei Kanonenreihen verbergen. Leute, paßt auf…!« rief er seiner Mannschaft auf Deck zu, die auf seine Befehle wartete. »Wenn das Schiff nur eine Idee auf uns zuhält, alle Segel setzen, Steuer hart Backbord und ab wie der Teufel!«

»Können wir ihn nicht stellen?« wollte Sebastián wissen.

Der Glatzkopf schaute ihn an wie einen Idioten.

»Hier und jetzt? Ich müßte verrückt sein! Wenn er uns ködern will, hat er wenigstens fünfzig Dreißigpfünder an Bord, mit denen er uns in Stücke reißen kann. Bei der Schlacht hätten wir keine Chance.«

Also warteten sie weiter ab, schweigend und angespannt, die Augen starr auf den Bug eines Geisterschiffs gerichtet, auf dessen Brücke kein menschliches Wesen auszumachen war.

»Gefällt mir nicht!« gab Lucas Castano schließlich zu. »Gefällt mir überhaupt nicht.«

»Macht die Rauchflöße fertig«, flüsterte der Schotte, und sein Befehl wurde von Mann zu Mann auf Deck weitergegeben.

Besagte »Flöße« waren in Wirklichkeit nur riesige, mit Öl und Schießpulver getränkte Strohballen. Angezündet verbreiteten sie einen dichten Rauch, der die Sicht der Kanoniere behinderte und die Flucht des in Bedrängnis geratenen Schiffs begünstigte.

Die Galeone, auf deren Bug man den provokanten Namen Vendaval (»Sturmwind«) entziffern konnte, setzte ihre schnelle Fahrt fort, wobei sie allmählich nach Steuerbord abfiel, als wollte sie so weit wie möglich an der Jacare vorbeisegeln. Doch als die Entfernung nur noch eine knappe Meile betrug, grollte Kapitän Jack vor sich hin und zog geräuschvoll den Rotz hoch:

»Entweder ändern die jetzt gleich den Kurs, oder sie können bei diesen Segeln ihr Manöver nicht fortsetzen, ohne längsseits zu gehen.«

Ohne Zweifel war er ein großartiger Seemann.

Der beste seines Metiers, von dem alle an Bord stets eine Menge lernen konnten. Denn kaum hatte er seinen Satz ausgesprochen, drehte der Bug der Vendaval langsam nach Backbord.

Unverzüglich brüllte der Schotte los:

»Alle Segel setzen, Steuer hart Backbord, Flöße ins Wasser!«

Drei Minuten später bot die Jacare der Vendaval nur noch ihr Achterschiff, machte geradezu einen Sprung nach vorn und glitt wie das schärfste Messer von Miguel Heredia durch die Wogen, während acht in ihrem Fahrwasser brennende Strohballen dichte, schwarze und stinkende Rauchsäulen aufsteigen ließen.

Die Kanonen der Galeone feuerten nur ein einziges Mal, ohne damit den Küstensegler zu gefährden, der in der Ferne verschwand. Die Besatzung amüsierte sich in der Zwischenzeit damit, dem Feind mit eindeutigen Handzeichen deutlich zu machen, wie wenig Respekt das schnellste Schiff der Karibik vor der Feuerkraft der Vendaval hatte.

Am Nachmittag war vom Angreifer keine Spur mehr zu sehen. Nun ließ der Kapitän die Glocke läuten, bis sich die gesamte Besatzung unterhalb des Achterkastells versammelt hatte.

»Jetzt sind wir an der Reihe!« sagte er.

»Greifen wir an?« riefen einige Stimmen im Chor, wobei sie eine Spur echter Begeisterung nicht verbergen konnten.

»Natürlich!« gab der Schotte zurück und wandte sich Lucas Castano zu. »Die schwarze Flagge hoch!«

Zustimmendes Raunen erfüllte das Deck, und bald grinsten die meisten Besatzungsmitglieder übers ganze Gesicht, als der riesige Totenschädel mit Krokodil am höchsten Mast flatterte.

»Alle Kanonen nach Backbord«, befahl der Glatzkopf, während er mit absoluter Gelassenheit den Rotz hochzog. »Hundert Mal haben wir das schon geübt, doch vergeßt mir keinen Augenblick lang, daß wir ihnen nur eine einzige Breitseite verpassen können. Wenn wir sie nicht voll erwischen, können wir wieder Fersengeld geben!«

»Schwarze Segel?« wollte sofort der Hauptgast wissen.

»Später«, entgegnete der Kapitän. »Jetzt müssen wir erst mal schnelle Fahrt machen, und mit den weißen Segeln geht das besser.«

Vier Stunden später holte man Groß- und Besansegel ein, um Teersegel zu setzen, ohne daß die Jacare entscheidend an Fahrt einbüßte. Sie steuerte einen Kurs parallel zu dem, den die Vendaval ursprünglich verfolgt hatte, mit dem Ziel, den Gegner zu überholen. Schließlich war das Piratenschiff vom Kiel bis zum Mastkorb auf Schnelligkeit getrimmt.

Im Schutz der Dunkelheit, die über die Karibische See hereingebrochen war, war der blaue Rumpf der Jacare, auf der kein Licht brannte, nur ein Schatten in der Finsternis. Selbst aus einer Entfernung von weniger als 200 Metern hätte sie nicht einmal ein Ausguck mit Adleraugen entdeckt.

Gleichzeitig hatte man fast alle Steuerbordkanonen um 180 Grad gedreht und ihre Lafetten so weit erhöht, daß man einen guten Meter über Deck, zwischen Tauen und Masten hindurch, über die Backbordreling feuern konnte. Auf diese Weise verdoppelte man die Feuerkraft auf einer Seite, ließ allerdings die andere inzwischen ungeschützt.

Doch der erfahrene Kapitän Jack wußte genau, was er tat.

Nach Mitternacht hatte man den Berechnungen des Kapitäns zufolge genügend Vorsprung vor der Galeone erreicht. Nun änderte er den Kurs um 90 Grad. Sein Ziel war es, dem Gegner den Weg abzuschneiden und dessen Ankunft abzuwarten.

Um drei Uhr morgens betrachtete er den Himmel, schien die Luft zu prüfen und befahl dann, Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Schiff verlor an Fahrt, bis es fast bewegungslos verharrte. Schließlich ließ er alle restlichen Segel einholen. Lediglich das Teersegel blieb gesetzt, mit dem sich die gefügige Jacare problemlos manövrieren ließ.

»Wie ein lauerndes Krokodil.«

Mit wachen Augen und gespitzten Ohren, die auf jedes kleinste Geräusch achteten, das nicht von Meer und Wind verursacht wurde, legten sich alle bis zum philippinischen Koch und seinen jungen Küchengehilfen auf die Lauer. Ihr erfahrener Kapitän, darauf vertraute die gesamte Mannschaft, hatte den Kurs der Galeone genau berechnet, die so töricht gewesen war, sich auf offener See mit der legendären Jacare anzulegen.

Verblüfft stellte Sebastián fest, daß seine Gefährten kaum Nervosität zeigten, sondern fröhlich und voller Zuversicht waren, als wäre die Tatsache, daß sie es in wenigen Augenblicken mit einem Schiff aufnehmen würden, das sie in eine Falle hatte locken wollen und ihnen an Feuerkraft weit überlegen war, nur eine nette Anekdote, die sie eines Tages ihren Enkeln erzählen würden.

Die schwarze Nacht, in der nur eine schmale Mondsichel den Sternen Gesellschaft leisten wollte, jagte ihnen ebenfalls keine Angst ein. Trotz des ausdrücklichen Befehls, sich absolut ruhig zu verhalten, war der eine oder andere geflüsterte Witz zu hören, und ein Pirat leistete sich sogar den Luxus, laut zu schnarchen.

Dann verbreitete es sich auf Deck wie ein Lauffeuer.

Der Feind kam,

»Besan- und Focksegel anziehen! Steuer zwei Grad Steuerbord!«

Lediglich die schweren Teersegel blähten sich im Wind, und trotzdem wurde die Jacare immer schneller. Sie hielt genau auf die weißen Segel zu, die sich kaum von der verschwommenen Linie am Horizont abzeichneten. Jeder Mann nahm seine Gefechtsposten ein. Aus den Ladeluken holte man zwei Dutzend Laternen, deren dicke Hauben dafür sorgten, daß man von weitem keinen Schein sehen konnte.

»Kurze Lunten!« hatte der Kapitän ausdrücklich angeordnet. Wenn die Kanonen feuerten, würde das leichte Schiff bis zum Mastkorb erzittern. Die Marsgaste mußten sich daher mit aller Kraft an die Taue klammern, um nicht ins Meer geschleudert zu werden.

Arrogant und schweigsam setzte die völlig ahnungslose Vendaval ihren Kurs fort. Der Küstensegler steuerte auf sie zu, um sie im Windschatten zu überholen.

Eine Frage von Minuten.

Nicht einmal eine Viertelmeile trennte die beiden Schiffe noch. Hätte die Galeone ihren Kurs nur um ein Grad Backbord geändert, wäre es fast unweigerlich zum Zusammenstoß gekommen, bei dem das leichte Piratenschiff sicherlich im Nachteil gewesen wäre.

Doch an Bord der Galeone hatte niemand auch nur den Hauch einer Chance, die Gefahr zu erkennen, die da auf sie zukam.

Kein Schiff.

Nur ein Schatten in der Dunkelheit.

Schote lockern, gab man im Flüsterton weiter. Darauf drosselte der Segler seine Fahrt etwas und fiel in die horizontale Lage zurück. In diesem Augenblick drückte Lucas Castano Sebastián etwas Werg in die Hand und flüsterte:

»Stopf dir die Ohren zu.«

Der Junge gehorchte sofort, denn die Galeone war schon fast auf gleicher Höhe, und wenige Augenblicke später donnerte die Stimme von Kapitän Jack:

»Feuer!!!«

Man nahm die Hauben von den Laternen, zündete die Lunten, und während sie vor der Backbordseite der Vendaval kreuzten, spuckten die Kanonen eine nach der anderen ihre tödliche Ladung aus und ließen alle Spanten und Planken erzittern.

Der beißende Rauch vernebelte einige Augenblicke lang den Blick auf das feindliche Schiff, doch als er sich allmählich verzog, konnte man im Schein der an Bord entfesselten Brände erkennen, daß die schwere Galeone abgefallen war und ihr Besanmast krachend ins Meer stürzte. »Schote anziehen, alle Segel setzen und Steuer hart Backbord!«

In aller Eile entfernte sich die Jacare vom Schlachtort, doch die Besatzung stieß sofort Jubelschreie aus, als sie sah, wie die Flammen die umfangreiche Takelage der Vendaval ergriffen, die sofort beigedreht hatte, während die verstörte Besatzung allerorts versuchte, Schäden zu reparieren und Brände zu löschen.

»Wenn ihre Pulverkammer nicht in zehn Minuten hochgeht, gehören sie uns«, stellte Lucas Castano klar.

Im sicheren Abstand von zwei Meilen kreiste die Jacare um Ihre Beute, die jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte, doch trotz der gewaltigen Packung, die ihr der Feind verpaßt hatte, konnte die Besatzung der Galeone das Feuer löschen. Eine halbe Stunde später lag die Karibik wieder in tiefer Dunkelheit.

»Was nun?« wollte Sebastián wissen.

»Abwarten.«

Bis zum Morgengrauen war noch eine Stunde Zeit, daher begab sich Sebastian unter Deck, wo sein Vater fast die ganze Nacht über verbracht hatte. Abwesend wie üblich hatte er die Schlacht nicht zur Kenntnis genommen, die sich über seinem Kopf abgespielt hatte.

»Wir haben gewonnen«, war das erste, was Sebastián sagte.

»Jemand hat verloren«, lautete die lakonische Antwort seines Vaters.

»Sie haben uns angegriffen.«

»Die Piraten sind wir.«

»Und wenn sie uns versenkt hätten?«

»Wäre schade um dich gewesen.«

Mit der Jacare unterzugehen hätte für Miguel Heredia Ximénez ganz offensichtlich nur das Ende seiner Leiden bedeutet. In Wahrheit war es ihm völlig gleichgültig, ob eine Schlacht, von der er ohnehin wußte, daß sie ihm seine Familie nicht zurückbrachte, gewonnen oder verloren wurde.

Schweigend blieb Sebastián neben seinem Vater sitzen, bis dieser den Kopf wieder auf das Kissen legte, die Augen schloß und bald gleichmäßige Atemzüge vernehmen ließ. Als der Junge an Deck zurückkehrte, war Backbord das erste Tageslicht zu erkennen.

Grau und ruhig war das Meer, sanfter Nieselregen fiel von einem bedeckten Himmel, und in der Ferne trieb eine schmutzige Galeone wie ein rauchgeschwärzter Korken manövrierunfähig auf dem Wasser.

Die Masten schienen verbrannt, kein Mastbaum war mehr an Ort und Stelle, und die einst schmucken Segel waren nur noch düstere Fetzen.

Noch einmal umkreiste die Jacare wie ein Raubvogel ihre todgeweihte Beute, dann ließ Kapitän Jack einen Warnschuß abfeuern.

Unmittelbar darauf wurde eine riesige weiße Fahne geschwenkt.

Die Jacare ließ ihre beste Schaluppe zu Wasser, mit der Lucas Castano und acht bis an die Zähne bewaffnete Männer zur Vendaval übersetzten.

Ohne Widerstand ließ man sie an Bord kommen. Erst als der Panamese ein Zeichen gab, daß alle Kanonen entladen waren, machte man sich daran, den Feind zu entern.

Als Sebastian schließlich das verwüstete Deck betrat, mußte er zu seiner Verblüffung feststellen, daß ihn ein halbes Dutzend schreckensbleicher Frauen und eine Kinderschar vom Achterkastell aus betrachteten.

»Gütiger Gott!« rief er aus. »Die haben mit Frauen und Kindern an Bord eine Schlacht angefangen. Nicht möglich!«

Die übrige Besatzung der Jacare schien ähnlich fassungslos zu sein. Schließlich wollte der Schotte mit ärgerlicher Stimme wissen:

»Wer ist der Kapitän?«

Drei Männer deuteten auf eine der Leichen, die unter dem Achterkastell aufgereiht waren.

»Der Längste.«

Lucas Castano trat heran, musterte den Toten genau, drehte ihn um, bis dessen aufgerissene Augen in den Himmel starrten, dann schloß er sie mit verblüffender Gelassenheit. Ein ums andere Mal schüttelte er den Kopf, bis er sich schließlich aufrichtete und reichlich sarkastisch kommentierte:

»Merkwürdige Leiche, bei Gott! Hat die Brust voller Blei, doch sein wertvolles Hemd hat überhaupt nichts abbekommen.« Streng musterte er die Anwesenden und beharrte schließlich drohend auf seiner Frage: »Wer ist der Kapitän?«

Ein beleibter Mann mit zerfetztem schmutzigen Hemd und schwarzer Klappe über dem linken Auge trat vor.

»Das bin ich… Kapitän Rui Santos Pastrana, Marques de Antigua, im Dienste Ihrer Gnädigen Majestät.«

»Deine Gnädige Majestät kann mich mal kreuzweise«, entgegnete der Schotte mit beträchtlicher Schärfe in der Stimme.

»Und noch weniger kann ich ausstehen, daß mich jemand angreift, ohne vorher die Kriegsflagge zu hissen.« Er näherte sich seinem Gegenüber und hob dessen Augenklappe an, um sicherzugehen, daß er wirklich einen Einäugigen vor sich hatte. »Weißt du, welche Strafe die Seegesetze für eine solche Niedertracht vorsehen?«

»Im Kampf gegen Gesetzlose gibt es keine Vorschriften«, gab der Spanier mit augenfälliger Verachtung zurück. »Meine Befehle lauten, jedes Piraten- oder Korsarenschiff zu versenken, das meinen Weg kreuzt.«

»Tja, Pech gehabt, du Tölpel. Daß du ein schmutziger hinterhältiger Latino bist, reicht allein, um dich aufzuknüpfen, aber weil du dabei auch noch das Leben Unschuldiger in Gefahr bringst, hast du es wirklich verdient.« Der Schotte gab drei seiner Männer einen Wink und knurrte: »Hängt ihn auf!«

»Nein…!« Eine der Frauen, die die Szene verfolgt hatten, stürzte die kleine Treppe hinunter, warf sich Kapitän Jack zu Füßen und heulte wie von Sinnen: »Nein, Senor, um Gottes willen, tötet ihn nicht!« Sie drehte sich um und deutete auf die Kinderschar. »Was soll aus meinen Söhnen werden?«

»Eure Söhne?« gab der Angesprochene höchst verblüfft zurück. »Soll ich vielleicht glauben, Senora, daß es dieser Idiot gewagt hat, sich mit seiner Frau und seinen Kindern an Bord auf ein Piratenschiff zu stürzen?«

»So ist es, Senor. Die zwei kleinsten sind unsere Söhne. Ich flehe euch an!« Alle blickten auf die zwei kleinen Knaben, die noch keinen Meter groß waren und das Schauspiel mit schreckensweiten Augen verfolgten.

Zum ersten Mal, seit er ihn kannte, erlebte Sebastián Heredia einen wirklich fassungslosen Kapitän Jack. Einen Augenblick zögerte der Schotte, schließlich aber ging er auf die Knaben zu, hockte sich zu dem Kleinsten und musterte ihn streng.

»Ist er wirklich euer Vater?« wollte er wissen.

Der Junge nickte.

»Und wie heißt er?«

»Papa.«

Der Glatzkopf verharrte einige Zeit, bis er schließlich einen tiefen Seufzer ausstieß.

»Ein guter Name, bei Gott! Der beste, den es gibt.« Er nahm den Kleinen beim Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben. »Weißt du was, du Knirps? Wenn du geantwortet hättest, Rui Santos Pastrana, Marques de Antigua, wärst du in fünf Minuten eine Waise gewesen. Aber einen >Papa< kann man nicht einfach aufhängen.« Er richtete sich mühsam auf, musterte alle Anwesenden der Reihe nach und wandte sich schließlich Lucas Castano zu. »Schlag ihm die rechte Hand ab, damit man ihm nicht noch einmal das Kommando über ein Schiff gibt. Anschließend bekommt jeder Mann an Bord zwanzig Peitschenhiebe. Mit den Frauen könnt ihr machen, was ihr wollt, aber mißhandelt sie nicht. Alles von Wert schafft ihr auf die Jacare, denn wenn es dunkel wird, brechen wir auf.«

»Keiner rührt das Mädchen an!«

Alle drehten sich perplex um und schauten Miguel Heredia Ximénez an, der mit einer großen und scharfen Machete an der Reling stand. An seiner Entschlossenheit konnte kein Zweifel bestehen, und seine Augen funkelten, während er auf ein etwa 13jähriges Mädchen in der Frauenschar zeigte.

»Potztausend«, rief Kapitän Jack belustigt aus. »Du kannst ja sprechen! Was bist du doch für ein schweigsamer Kerl gewesen! Doch das sage ich dir, ein Kind ist die nicht mehr. Eigentlich ist sie die einzige Frau, die etwas taugt.«

»Sie muß so alt sein wie meine Tochter«, lautete die unbeirrte Antwort. »Und wer es wagt, sie anzurühren, den kastriere ich! Ihr seid gewarnt!«

Der Schotte musterte ihn, blinzelte spöttisch mit den Augen, dachte einige Sekunden nach und zuckte mit der Schulter.

»Also gut! Da es das erste ist, worum du mich bittest, und weil mir die Idee nicht gefällt, eine Bande von Kastrierten zu befehligen, gewähre ich dir diesen Wunsch unter der Bedingung, daß du in den nächsten fünf Jahren den Mund nicht mehr aufmachst.« Damit schien die Diskussion für ihn beendet zu sein. Er nahm die schluchzende Marquesa de Antigua am Handgelenk und schleifte sie in seine Kajüte auf der Jacare, während er kundgab: »Ach, ist das manchmal schwer, Senora, ein Pirat zu sein! So schwer!«

Die Frau folgte ihm, während sie sich die Tränen abwischte. Kein Opfer, mit dem sie das Leben des törichten Vaters ihrer Kinder retten konnte, schien ihr zu schwer. Miguel Heredia stieg zum Achterkastell hinauf und baute sich mit gut sichtbarer Machete neben dem Mädchen auf.

Lucas Castano drückte Sebastian seine zwei schweren blitzenden Pistolen in die Hand und deutete nach oben.

»Geh mit ihm! Hier gibt es manchen Hurensohn, der es riskiert, sich kastrieren zu lassen, wenn es um eine gute Jungfrau geht. Ich hab zu tun!«

Er hatte wirklich eine so schwere Arbeit vor sich, daß er um Hilfe bitten mußte. Es war weder leicht noch angenehm, einem Mann kaltblütig die Hand abzuschlagen und anschließend einer ganzen Besatzung ein »kariertes Hemd« auf den Rücken zu malen.

Mit gezückten Waffen stellte sich Sebastián Heredia Matamoros neben seinen Vater und betrachtete das stumme Schauspiel. So brutal ihre Strafe auch war, keines der Opfer ließ auch nur ein Jammern hören. Auch die Frauen ließen sich wie Lämmer in die Offizierskajüten führen. Dort wartete praktisch die gesamte lüsterne Besatzung der Jacare darauf, an die Reihe zu kommen.

Als sich Lucas Castano am Nachmittag seine Pistolen zurückholte, beschränkte sich Sebastián auf ein Murmeln:

»Es ist nicht gerecht.«

Der Panamese musterte ihn erstaunt.

»Doch, Junge, das ist gerecht! Wenn diese Fettsäcke uns besiegt hätten, wären wir jetzt nur noch Fischfutter. Wenn wir die schwarze Flagge hissen und der Feind sich ergibt, dann respektiert der Kapitän die Gesetze, und keiner wird bestraft, geschändet oder getötet.« Er spuckte aus, um seiner ganzen Verachtung Nachdruck zu verleihen. »Aber wenn sie ein schmutziges Spiel mit ihm treiben, dann zahlt er ihnen mit gleicher Münze heim, und das kann er stets besser.«

Er ließ sich an einem dicken Tau zum Deck der Jacare hinab, und der Junge beließ es dabei, seinen Vater anzusehen.

»Was meinst du dazu?« wollte er wissen.

»Daß er recht hat.«

Nun wandte sich Sebastian dem bleichen Mädchen zu, das keinen Mucks gemacht hatte, als hoffte es dadurch unsichtbar zu werden. Die gelbe Pfütze zu ihren Füßen verriet jedoch nur zu deutlich, wie wenig sie ihr Entsetzen hatte beherrschen können.

»Wie alt bist du?« wollte der Margariteno wissen.

Erst nach einer Ewigkeit schien die einfache Frage das Hirn des schreckensstarren Geschöpfs erreicht zu haben, das schließlich stotterte:

»Vierzehn.«

»Woher kommst du?«

»Aus Cuenca.«

»Und wohin fährst du?«

»Nach Puerto Rico.«

»Mein Vater hat ein Gasthaus in San Juan. Ich fahre zu ihm, weil meine Mutter gestorben ist.«

Der Junge betrachtete das magere Mädchen, das so blaß geworden war, als wolle es gleich in Ohnmacht fallen, und plötzlich ging ihm der Gedanke durch den Kopf, ob seine Schwester wohl ähnlich aussehen mochte. Bald jedoch war ihm klar, daß bei aller Zeit, die vergangen war, die rebellische Celeste sich nicht in ein so verletzliches und zerbrechliches Wesen verwandelt haben konnte.

Mit einem Stein in der Hand nahm es Celeste mit jedem Jungen auf, und eines war dem Margariteno klar: Unter keinen Umständen hätte sie sich in die Hose gemacht.

Celeste hatte Mumm.

Verdammt viel Mumm.

Das schreckensbleiche Mädchen hier war nicht gerade schön und wohl noch nicht einmal eine Frau, doch gab es da etwas in ihrer Hilflosigkeit – vielleicht ihre riesigen und angsterfüllten grauen Augen –, das einen brutalen Seewolf dazu verleiten konnte, sie an der schmalen Taille zu packen und in die entlegenste Kajüte zu zerren. Wie Lucas Castano zu versichern pflegte: Jungfräulichkeit war ein seltenes Gut und daher um so begehrter.

Als die Sonne langsam am Horizont verschwand, ließ Jacare Jack die in ein schmutziges Bettuch gehüllte Marquesa auf das Schiff ihres Ehemanns springen und brüllte mit einer Stimme, die er für besondere Gelegenheiten aufsparte:

»Wer nicht in fünf Minuten an Bord ist, landet in San Juan de Puerto Rico!« Er machte eine kleine Pause: »Oder am Galgen!«

Auf der Galeone gab es nichts mehr, was nur einen Heller wert gewesen wäre. Als sich die beiden Schiffe endlich trennten, war sie nur noch ein trauriger Schatten ihrer selbst.

Die Männer der Vendaval fluchten leise, während sie sich gegenseitig ihre blutigen Striemen auf den Schultern behandelten. In der Zwischenzeit versuchten sich die Frauen gegenseitig zu trösten, daß sie klaglos hatten ertragen müssen, von einer ganzen Bande wilder Bestien bis zur Erschöpfung für deren lüsterne Spiele benutzt worden zu sein.

Kurze Zeit später wurde der Kapitän »madig«: im wahrsten Sinne des Wortes.

Niemand wußte genau, warum, doch brach bei ihm eine eiternde Wunde nach der anderen auf, und obwohl man ihn mit unzähligen Tinkturen und Salben einrieb, konnte niemand verhindern, daß nach einer gewissen Zeit weiße Maden im geschwollenen und übelriechenden Fleisch wimmelten. Man hätte an einen merkwürdigen Kadaver denken können, der sich schon für die Fäulnis entschieden hatte, während er noch reden und fluchen konnte.

»Das muß diese verdammte Marquesa gewesen sein!« knirschte er ein ums andere Mal mit den Zähnen, während der geschickte Portugiese Manoel Cintra, der bisweilen an Bord den Arzt spielte, seine schmerzhaften und nutzlosen Salben auftrug. »Die verdammte Hure muß verfault gewesen sein!«

Ob es nun eine Geschlechtskrankheit oder ein unbekannter tropischer Parasit war, der in seinen Wunden Eier abgelegt hatte: Der bislang so spöttische und mutige Pirat verwandelte sich vor aller Augen in ein empfindliches und furchtsames Geschöpf, das sich offen gegen die Vorstellung wehrte, bei lebendigem Leib von derart widerwärtigen Kreaturen verschlungen zu werden.

»Daß sie mich mal beim Entern umbringen, damit habe ich stets gerechnet«, sagte er. »Selbst daß sie mich aufhängen, wenn sie es schaffen, mich zu fangen. Das ist schließlich ein glorreiches Ende für einen Seeräuber wie mich. Aber lebendig zu verfaulen… Bei Gott, das hätte ich mir nicht träumen lassen!«

Als Sebastian wissen wollte, was an einem Tod am Galgen »glorreich« sein könnte, gab der übelgelaunte Kapitän bissig zurück:

»Ohne die Gefahr, am Galgen zu enden, würde sich jeder Hungerleider zum Piraten aufschwingen, und in der Karibik würde es vor Feiglingen wimmeln. Wer bereit ist zu töten, sollte vor allem auch bereit sein zu sterben…« Er deutete auf seine Wunden: »Aber so nun auch wieder nicht.«

Ein gequälter Mann, der keine Nacht mehr schlafen konnte, und tagsüber vor Schmerzen auf seine Pfeife biß, war nicht mehr in der Lage, eine Mannschaft unerwünschter Glücksritter zu befehligen. Nach einer weiteren grauenvollen Nacht war der Kapitän offensichtlich zur Überzeugung gelangt, daß ihm die Situation aus den Händen glitt. Er befahl den Jungen aus Margarita in die Achterkajüte, bedeutete ihm, die Türe hinter sich zu schließen, und kam ohne Umschweife zur Sache:

»Ich werde dir eine schwierige Mission anvertrauen.«

»Wie Ihr befehlt, Kapitän.«

»Manoel Cintra sagt, daß mich nur ein Mensch auf der Welt heilen kann: ein Arzt aus Cartagena de Indias. Fahr dorthin und schaff ihn mir her.«

»Und wie überrede ich ihn dazu?«

»Wie man alle Welt überredet: mit Geld.« Er nahm die Hand des Jungen und drückte sie fest. »Biete ihm, was er verlangt, aber bring ihn her zu mir, denn diese verdammten Mistviecher bringen mich um!«

Der Junge musterte sein abgemagertes, welkes Gegenüber, in dem sein alter Kapitän nicht wiederzuerkennen war, und fragte schließlich:

»Warum habt Ihr mich ausgewählt? Warum schickt Ihr nicht Lucas Castano? Nach allem, was man mir erzählt hat, kennt er Cartagena de Indias sehr gut.«

»Weil ich ihn hier brauche, um die Disziplin an Bord aufrechtzuerhalten.« Er schnitt eine bittere Grimasse. »Und weil du der Schlaueste bist.«

»Danke!«

»Keine Ursache!« Wie ein Haken zeigte sein Finger auf ihn. »Denk dran, ich habe aber auch noch einen dritten Grund, dich auszuwählen.«

»Und der wäre?«

»Dein Vater«, entgegnete der Schotte mit größter Selbstverständlichkeit. »Er bleibt an Bord, und wenn du mich verrätst, wird er die Hölle auf Erden erleben. Du weißt, wozu ich fähig bin.«

»Solche Drohungen sind unnötig«, lautete die traurige Antwort. »Ich bin Euch zu größtem Dank verpflichtet.«

»Die Friedhöfe sind voller Leute, die auf fremden Dank vertrauten. Manche halten einen guten Faustschlag für den besten Dank.«

»Ich nicht.«

»Das will ich hoffen, doch nur für den Fall, daß du deine Meinung änderst, bleibt dein Vater, wo er ist.« Er tätschelte ihm freundlich den Unterarm. »Und jetzt sag Lucas, daß er Kurs auf Cartagena nehmen und dir erklären soll, so gut er kann, was du dort zu tun hast.«

Sechs Tage später gingen sie zwischen den Islas del Rosario vor Anker, einem wunderschönen Archipel mit kristallklarem Wasser, traumhaften Stränden und winzigen paradiesischen Inseln. Nachdem er eine Schaluppe zu Wasser gelassen und diese bis zum Bordrand mit verschiedenen Fischen gefüllt hatte, wies der Panamese nach Westen.

»Wenn du vier Stunden die Küste entlangsegelst, wirst du eine riesige Bucht mit zwei Festungen entdecken. Fahr ohne Furcht hinein und nimm Kurs auf den Fischerhafen. Du findest ihn zur Linken eines Klosters, das auf einem Berg liegt, den sie Popa nennen. Den siehst du schon von weitem. Verkauf alle Fische, doch denk dran, in den Eingeweiden des Zackenbarschs sind die Perlen. Geh mit ihm an Land, als ob du ihn abliefern müßtest, und lauf geradewegs auf einen Turm zu. Dort fragst du nach dem Haus des Juden Isaias Toledo. Alle Welt kennt ihn dort.«

Sebastian Heredia Matamoros befolgte alle Ratschläge der Nummer Zwei an Bord aufs Genaueste, wenn ihm auch das Herz bis zum Halse schlug, als er an den drohenden Kanonen und den aufmerksamen Wachposten der Festungen San Jose und San Fernando vorbei in die weite Bucht einfuhr, in der die Geschwader der ganzen Welt Platz gefunden hätten.

Als er anschließend Kurs auf die Stadt nahm, die sich im Westen erhob, und sich dem weißen Häusermeer näherte, konnte er angesichts der majestätischen Festung von San Felipe sein Staunen nicht unterdrücken. Das Fort beherrschte die Stadt völlig und war zweifellos das großartigste militärische Bauwerk, das je ein Architekt entworfen hatte.

Das so gefürchtete kleine Fort La Galera, in dessen Schatten er auf die Welt gekommen und aufgewachsen war, erschien ihm angesichts dieser hohen und dicken Mauern wie eine Hundehütte. Hätte man die unzähligen Kanonen, mit denen die gestaffelten Mauern gespickt waren, gleichzeitig abgefeuert, wäre wahrscheinlich auf jeden Quadratmeter der Bucht eine Kugel gestürzt.

Cartagena de Indias war die wunderschöne Stadt, in der jedes Jahr die unendlichen Schätze aus allen Winkeln des Kontinents lagerten, bis sie mit der Großen Flotte nach Sevilla gebracht wurden. Die Baumeister von vier Generationen spanischer Könige hatten die Stadt zum damals gewaltigsten »Tresor« der Menschheit ausgebaut, so stolz und uneinnehmbar, daß die Tatsache, im ruhigen Wasser der Bucht zu segeln, für sich allein ein unvergeßliches Erlebnis war.

Die Meerseite der Zitadelle war von bis zu zwanzig Meter dicken, mit Geschützen gespickten Mauern unterstützt, und als ob das nicht ausgereicht hätte, machten die schweren Kanonen von San Felipe mit ihrer langen Reichweite jedem Träumer deutlich, daß er anstelle von Cartagena de Indias ebensogut die Holle hätte angreifen können.

Tausende von Gefangenen hatten über ein Jahrhundert lang Tag und Nacht geschuftet, damit sich die Steinblöcke mit mathematischer Präzision ineinanderfügten. Niemand wußte genau, wie viele Geheimkammern sich im Labyrinth der Gänge verbargen, die in die Eingeweide der Erde führten, bis in die fernen Gewölbe des Dominikanerklosters.

Die Festung San Felipe war in Wahrheit eine zweite Stadt in der Stadt, eine unüberwindliche Zuflucht, falls die übrigen Verteidigungsanlagen nicht ausgereicht hätten. In den tiefsten Verliesen lagerte man über Monate hinweg die Schätze, bis sie nach Spanien eingeschifft wurden.

Der Hafen pulsierte vor Leben und Hektik, so daß niemand Notiz von der Ankunft eines kleinen Fischerboots zu nehmen schien. Nachdem er seine Ware unter Wert verkauft und nur soviel gefeilscht hatte, daß er keinen Argwohn erregte, packte Sebastián Heredia den schwarzen Zackenbarsch in einen alten Sack und machte sich ohne Hast auf den Weg zum Turm, der die Hafeneinfahrt beherrschte.

Eine halbe Stunde später betätigte er den Klopfer einer schweren Tür am Ende einer engen Gasse, einen Steinwurf vom Gouverneurspalast entfernt, und sofort öffnete ihm ein indianischer Diener. Nachdem er den Besucher von Kopf bis Fuß gemustert hatte, ließ er ihn in einen schattigen Innenhof eintreten, in dem ein Dutzend bunter Papageien plapperte.

»Meister Isaias ist nicht da«, war alles, was er sagte. »Aber seine Schwester wird Euch empfangen.«

Kurz darauf erschien eine Frau mit dem blassesten Teint und den blondesten Haaren, die der Margariteno je gesehen hatte. Zwar war sie nicht unbedingt schön, doch mit ihrer Art zu sprechen und sich zu benehmen zog sie unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich. Kein Zweifel: Sie war ein einzigartiges Geschöpf, das mit den Frauen der Karibik wenig oder gar nichts gemein hatte.

Sie musterte den Neuankömmling mit einer merkwürdigen Mischung aus Interesse und Mißfallen angesichts seines unordentlichen Aussehens. Meister Isaias sei auf Reisen, wiederholte sie, doch auch ihre medizinischen Kenntnisse reichten aus, um jeder Bitte zu entsprechen.

»Seit Jahren arbeite ich mit meinem Bruder zusammen. Wie kann ich Euch helfen?«

Mit dieser Situation hatte der Junge nun überhaupt nicht gerechnet. Dabei verwirrte ihn weniger die Tatsache, daß die Person, die er sprechen wollte, nicht anwesend war, sondern daß er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er sein Problem einer Frau erklären sollte.

»Ich kann ja wiederkommen«, murmelte er schließlich.

»Mein Bruder bleibt vielleicht noch länger fort«, lautete die unwirsche Antwort. »Wenn Ihr krank seid, solltet Ihr mir lieber so schnell wie möglich sagen, was Euch fehlt.«

»Nein! Ich bin nicht krank«, beeilte sich der Junge mit der Antwort. »Es geht nicht um mich.«

»Um wen dann?«

Sebastian zögerte.

»Um einen Verwandten«, sagte er schließlich. »Jemand, der schnelle Hilfe nötig hat.«

»Welche Symptome hat er?«

»Würmer.«

»Würmer?« entgegnete die seltsame Frau, ein wenig überrascht. »Was für Würmer? Doch nicht etwas sututus, oder?«

Jetzt war die Verblüffung auf Sebastiáns Seite. Wieder einmal schaute er in die beunruhigenden und fast durchsichtigen Augen, bis er schließlich mit den Schultern zuckte.

»Keine Ahnung, was ein sututu ist.«

»Winzige Larven, die einige Urwaldfliegen auf der Rückenhaut ablegen. Lebt Euer Verwandter im Urwald?«

Der Margariteno schüttelte den Kopf.

»Auf dem Meer. Und es sind keine winzigen Larven, sondern große dicke Würmer, die am ganzen Körper aus stinkenden Wunden kriechen… Einfach widerlich!«

»Aha…!«

Die Frau setzte sich auf eine Steinbank, streckte den Arm aus, auf dem ein riesiger roter Papagei Platz nahm. Mit einer Geste verwies sie ihren Besucher auf eine benachbarte Bank, blieb einen Augenblick stumm und dachte angestrengt darüber nach, während sie den Kopf des Vogels streichelte, ob ihr solche Symptome schon einmal untergekommen waren.

»Seltsam«, murmelte sie schließlich, als spräche sie mit sich selbst. »Sehr merkwürdig für einen Seemann.« Ratlos schüttelte sie den Kopf. »Wie alt ist er?«

»45 Jahre, vielleicht fünfzig. Genau weiß ich es nicht.«

»Muß ja ein ziemlich entfernter Verwandter sein, wenn Ihr nicht mal sein Alter wißt, doch das ist nicht mein Problem.« Sie blickte ihm so tief in die Augen, als wollte sie seine Gedanken lesen. »Ist er in Europa oder Westindien geboren?«

»In Europa.«

»Und wo dort?«

»Irgendwo im Norden…« lautete die zögerliche Antwort Sebastiáns, der nicht zuviel verraten wollte. »Wo genau, weiß ich nicht.«

Die Frau ließ den Papagei auf einen Ast flattern, musterte ihr Gegenüber erneut mit ihrem durchdringenden Blick und murmelte schließlich mit absoluter Ruhe, wobei sie ihn duzte:

»Ich hab allmählich den Verdacht, daß du zu einem jener Piratenschiffe gehörst, die oft die Küste heimsuchen. Oder schlimmer noch, zu einem Korsarenschiff. Doch das spielt keine Rolle. Was mich interessiert, sind die Patienten, nicht ihr Beruf…« Sie lächelte ein wenig, und ihr Lächeln war wirklich sehr anziehend. »Pirat oder Korsar?«

»Pirat.«

»Besser so. Wenn ich ehrlich sein soll, die Scheinheiligkeit der Korsaren ist mir zuwider. Nun gut! Ich werde mich eingehend mit der Krankheit deines >Verwandten< beschäftigen. Wann kann ich ihn sehen?«

Der Junge schüttelte heftig den Kopf.

»Unter keinen Umständen setzt der Kapitän einen Fuß an Land. Wenn er die Wahl zwischen Galgen und Würmern hat, zieht er die Würmer vor.«

»Abwarten«, lautete die ironische Antwort. »Wenn die Dinge so sind, wie sie sind, wird ihm die Schlinge bald lieber sein.« Langsam stand sie auf, als wollte sie das Gespräch damit beenden. »Ich brauche zwei Tage, um die Bücher zu konsultieren und zu sehen, was sich machen läßt.«

»Und wer garantiert mir, daß bei meiner Rückkehr nicht die Soldaten auf mich warten?«

Sein Gegenüber sah ihn abschätzig an, als könnte sie es nicht fassen, daß jemand sie des Verrats für fähig hielt.

»Raquel Toledo«, antwortete sie schließlich ziemlich bitter. »Was du mir gesagt hast, ist so, als hättest du es einem Priester anvertraut. Zwar kann ich die nicht unbedingt leiden, doch ein Geheimnis können sie hüten. Genieß die Stadt, aber bitte unauffällig, und komm in zwei Tagen wieder.«

Sebastian Heredia zog ein scharfes Messer aus dem Gürtel, schnitt den Barsch auf, zeigte eine Handvoll schöner kichererbsengroßer Perlen vor und legte fünf auf die Steinbank.

»Das ist Euer Vorschuß. Den Rest bekommt Ihr, wenn der Kapitän geheilt ist.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich ihn heilen werde«, lautete die trockene Antwort. »Nur, daß ich es versuchen werde. Und jetzt ab mit dir.« Als der Junge schon fast am großen Portal angelangt war, rief sie ihn zurück und fügte hinzu: »Und das nächste Mal kommst du bitte am Abend. Man muß ja nicht unbedingt sehen, wie ein Pirat am hellichten Tage bei mir aus – und eingeht.« Sie zeigte ein schelmisches Lächeln. »Obwohl du, ehrlich gesagt, eher wie ein Klosterschüler als wie ein Pirat ausschaust.«

Verwirrt bis gekränkt verließ der Margariteno das große Haus. Noch immer wußte er nicht so recht, was in dem schattigen Innenhof voller krächzender Papageien geschehen war.

Er hatte erwartet, einem alten Juden mit langem Bart und Hakennase zu begegnen, vielleicht so einem wie dem Ladino Samuel, dem Geldverleiher von La Asuncion, den sein Vater mehr als einmal hatte aufsuchen müssen, wenn die Perlenfischerei nicht den erhofften Gewinn abwarf. Doch hier hatte er es mit einer beunruhigenden und überraschenden Frau zu tun, die ihr Leben lang auf eigenen Beinen gestanden hatte.

Abgesehen von den einfachen Dorfbewohnern von Juan Griego hatte Sebastián Heredia nur mit den fröhlichen und schamlosen Huren der »Winterquartiere« zu tun gehabt. Und wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß er sich nie hätte träumen lassen, daß eine Frau Bücher lesen, etwas von Medizin verstehen und so selbstbewußt sprechen könnte wie Raquel Toledo.

Nicht die Tatsache, daß er eine Ärztin vor sich hatte, die ihn gleichzeitig anzog und abstieß, auch nicht ihr charmanter exotischer Akzent, sondern ihre nicht vorgeschützte, sondern tatsächliche Überlegenheit ließ den armen Perlenfischer aus Margarita, der zum Piraten geworden war, darüber nachdenken, welch unergründliche Kluft zwischen seiner eigenen Welt und der eines so einzigartigen Geschöpfs bestand.

Er nahm auf einer Mauerböschung des weiten Palmenstrands Platz und fragte sich, ob jene Raquel Toledo, Schwester eines konvertierten Juden und selbst Jüdin, die zum Christentum übergetreten war, nicht in Wahrheit eine jener gefürchteten Hexen war, von denen man sich an Bord der Jacare in den langen Mußestunden so viel erzählte.

Sie konnte lesen, glaubte nicht an Jesus, konnte geheimnisvolle Tränke gegen eklige Würmer zubereiten und hatte darüber hinaus zwei beunruhigende Augen und hellblondes, fast weißes Haar. Ohne Zweifel konnte man sie viel eher als echte Hexe ansehen als all die anderen Geschöpfe, von denen der arme Junge in seinem kurzen Leben gehört hatte.

»Gefällt mir nicht«, murmelte er schließlich in sich hinein. »Gefällt mir überhaupt nicht.«

Längere Zeit hing er seinen Gedanken nach, bis ihn der Hunger packte und er sich ohne Hast auf die breite Esplanade am Hafen begab. Dutzende Frauen priesen dort mit lauter Stimme alle möglichen zubereiteten scharfen Speisen an, als hätte man in der unglaublichen Hitze der Stadt, in der sich kein Lüftchen regte, nicht schon genug geschwitzt.

Mit einem Beutel voller Geld und unendlicher Neugier stürzte sich der Junge aus Margarita bald in den Schlund der heißesten, lebendigsten und pulsierendsten Stadt der Karibik. Sie war das Herz einer Neuen Welt und seit dem Niedergang von Santo Domingo die inoffizielle Hauptstadt des Kontinents.

In Cartagena de Indias strömten nicht nur die Reichtümer, sondern auch die überaus unterschiedlichen Menschen aus allen Winkeln des spanischen Weltreichs zusammen. Auf den weiten Plätzen und in den beschaulichen Gassen liefen halbnackte Indianer mit Federschmuck herum, während elegante Fräulein ihre zarte Haut mit riesigen, reich bestickten Sonnenschirmen schützten, die sie in einem gleichmäßigen Rhythmus drehten.

Kapitäne in spanischem Sold, Seeleute, Schreiber, Pfarrer, Mönche, Händler, schwarze Sklaven, aufgeputzte Freudenmädchen, Mischlinge und Tagelöhner: Vom Sonnenaufgang bis kurz nach Mittag war es ein einziges Kommen und Gehen. Dann leerten sich die Straßen wie durch Zauberhand, denn in der drückenden Hitze des frühen Nachmittags wagte sich nicht einmal der mutigste Straßenköter in die pralle Sonne, die einem das Hirn wegschmolz.

Drei Stunden lang war die lebendigste Stadt der Karibik wie ausgestorben. Zumindest schlief sie, und unter den schattigen Kapokbäumen der Parkanlagen und Plätze schnarchten alle, die keinen geeigneteren Platz für ihre wohlverdiente Siesta hatten finden können.

Wenn die Sonne schließlich die Palmen der Insel Baru, welche die Bucht im Osten abschloß, zu streicheln begann, erwachte Cartagena in der ersten Brise des späten Nachmittags zu neuem Treiben, das noch frenetischer war als in den ersten Morgenstunden.

Doch nun ging es viel vergnügter zu: Man lachte und sang, flanierte am Strand, tändelte im Rhythmus der Trommeln, Gitarren und Rasseln, denn Cartagena de Indias war nicht nur eine hektische, sondern vor allem auch eine sinnliche Stadt, die wie keine andere zur Fleischeslust verführte.

Jede Gasse war eine eigene Welt, jeder kleine Platz ein Universum und jede Haustür eine Aufforderung zum Abenteuer.

Frohgemut und voller Begeisterung stürzte sich Sebastian in diese verrückte Welt der koketten Abenteuer, eine fröhliche, rumselige Welt der Lieder. Ein wenig erstaunt war er schon, daß es da eine Stadt gab, die Piraten, Korsaren, Freibeuter und feindliche Truppen zu ignorieren schien, die vor ihrer Haustüre lauerten. Jeden Augenblick konnte Gewalt und Tod, Blut und Feuer, Verbrechen und Plünderung über die fröhliche Nacht hereinbrechen, denn zu Lande und zu Wasser gab es wohl keinen Räuber, der nicht davon träumte, sich die riesigen Schätze zu holen, die in den tiefsten Gewölben der Festung San Felipe schlummerten.

Jeden Abend riegelte man mit einer dicken und schweren Kette die Einfahrt der Bucht ab. Kein Schiff kam dann mehr durch, und ein halbes Dutzend schneller Schaluppen patrouillierte auf offener See, um beim Anblick eines feindlichen Schiffs sofort Alarm zu schlagen. Doch wußte man auch, daß besagte Feinde gelegentlich die Stadt lieber umgingen, um die Einwohner Cartagenas mit einem Angriff von der Landseite zu überraschen.

Trotzdem vertrauten die Cartagener felsenfest auf die überaus erprobte Uneinnehmbarkeit von Fort San Felipe, dessen mächtige Tore sich schlössen, wenn die Sonne den Horizont berührte, und dessen hohen Mauern sich ab diesem Zeitpunkt unter Androhung der Todesstrafe niemand mehr nähern durfte.

»In San Felipe schießt man zuerst und ruft dann >Halt<«, hieß es, und obwohl manch unschuldiger Trunkenbold im Kugelhagel der aufmerksamen Wachposten sein Leben ausgehaucht hatte, waren sich doch alle einig, einen so vernünftigen Brauch niemals abzuschaffen.

San Felipe schützte sie, und jeder Einwohner der Stadt hatte die Verpflichtung, San Felipe zu schützen und zu respektieren.

Doch unten, an den Stränden, in den Gassen und auf den Plätzen genügte eine gute Stimme, Rhythmus im Blut oder eine Flasche Rum, um an einem der unzähligen Feste teilzunehmen, mit denen man an jeder Ecke die heiße Nacht durchfeierte.

Achtundvierzig wunderbare Stunden lang vergaß Sebastián Heredia Matamoros vollständig, daß er nur ein Pirat war, auf dessen Kopf ein Preis stand, und ein Junge, der darüber unglücklich war, daß ihn seine Mutter auf die schändlichste Art verraten hatte. Achtundvierzig Stunden lang genoß er das neue Gefühl, ein »normaler« Mann zu sein, ohne bittere Vergangenheit, schwierige Gegenwart und unsichere Zukunft.

Achtundvierzig Stunden lang war er ein Fischer, der seinen Gewinn großzügig teilte, die Sänger mit Rum bewirtete und den freizügigen Frauen bunte Tücher verehrte.

Trotzdem ging ihm in diesen achtundvierzig Stunden die aufregende Frau mit den Augen aus Eis und dem strohblonden Haar so gut wie nicht aus dem Kopf.

Matte Schäfchenwolken trieben am roten Abendhimmel dahin, als Sebastian erneut den Weg zur Pforte einschlug, die in den Innenhof führte, wo die Papageien bereits im schattigen Garten vor sich hindösten. Dort empfing ihn Raquel Toledo in einem langen schwarzen Kleid mit tiefem Ausschnitt, das auf den ersten Blick nicht so recht zu ihrer Persönlichkeit und ihrer sozialen Stellung passen wollte.

»Ich habe deinen Fall studiert«, war das erste, was ihm die Hausherrin eröffnete. »Und ich bin zu dem Schluß gelangt, daß ich keine endgültige Diagnose stellen kann, ohne den Kranken selbst untersucht zu haben.«

»Und wie soll das gehen?«

»Das ist dein Problem, nicht meines«, entgegnete sie streng. »Du wirst einsehen, daß ich keine Lust habe, an Bord eines Piratenschiffs zu gehen, doch bin ich bereit, mich mit deinem >Kapitän< an einem Ort zu treffen, der für uns beide keine Gefahren birgt.«

»Und Euer Bruder?«

»Der kann noch wochenlang ausbleiben. Und er wird dir das gleiche sagen.« Sie läutete ein Glöckchen, worauf eine schwarze Dienerin an der Tür erschien. »Jetzt kannst du das Abendessen auftragen«, befahl sie trocken.

Sebastian stand ohne Zweifel das unvergeßlichste Abendessen seines Lebens bevor. Ein Dutzend schläfriger Papageien, die gelegentlich ein tiefes Krächzen hören ließen, schaute dabei zu. Man speiste im Schein der Kerzen, unter schattigen Bäumen. Papayas und Mangos verströmten einen intensiven Duft, und Sebastian sog das aufregende Parfüm der Frau ein, die plötzlich aus allen Poren ihres Körpers Sinnlichkeit ausstrahlte.

Die scheinbar so kalte, stolze und zurückhaltende Raquel Toledo erwies sich als die unersättlichste und leidenschaftlichste Geliebte. Sebastian, der an die schamlosen Prostituierten der Insel gewöhnt war, die schnell zur Sache kamen, war mehr als überrascht, was man in einer langen Nacht mit einer Frau anstellen konnte, die so ungemein erfahren war wie diese konvertierte Jüdin.

Sie lehrte ihn in Stunden, was ihm die abgebrühtesten Dirnen nicht in Jahren hatten beibringen können, denn was Raquel Toledo mit absoluter Selbstverständlichkeit unter raffinierter Fleischeslust verstand, ging weit über das hinaus, was man von irgendeiner anderen Frau ihrer Zeit erwarten konnte.

Eine Überraschung jagte die andere, und der zeitweilig eingeschüchterte Junge wechselte, beinahe ohne es zu merken, von der aktiven in die passive Rolle, denn seine geschickte Lehrerin nahm bald die Zügel in die Hand und führte ihn auf bis dahin unbekannte und dabei so angenehme Wege, daß er schließlich bei Anbruch des Tages erschöpft zusammensank. Er konnte es kaum fassen, daß man in einer einzigen Nacht so viele und so wundersame Heldentaten in der Liebeskunst vollbringen konnte.

Am folgenden Nachmittag ging er wieder an Bord der kleinen Schaluppe und setzte Kurs auf die fernen Islas del Rosario. Noch immer hatte er den Eindruck, bis zum Überdruß von einer Frau benutzt worden zu sein, für die Männer lediglich Objekte für den täglichen Gebrauch zu sein schienen.

»Ich weiß nicht, warum zum Teufel die nur Angst hat, an Bord eines Piratenschiffs zu gehen«, sagte er sich. »Die einzigen, die sich dabei wirklich einer Gefahr aussetzen, sind die Piraten. Ich glaube, die könnte es mit der ganzen Besatzung aufnehmen, ohne daß dabei auch nur ihre Haare unordentlich würden.«

Vier Meilen vom Archipel entfernt kreuzte die Jacare seinen Weg, und kaum hatte Sebastian das Deck betreten, lief er in die Kajüte des Kapitäns, um ihm zu erzählen, was vorgefallen war. Die verwirrenden Ereignisse der letzten Nacht erwähnte er dabei natürlich nicht.

»Kann man ihr vertrauen?« wollte der Schotte als erstes wissen. »Soweit ich weiß, sind momentan fünftausend Dublonen auf meinen Kopf ausgesetzt.«

»Ich habe den Eindruck, daß sie ihren eigenen höher schätzt. Und sie ist wohl intelligent genug, um zu begreifen, daß wir sie beim geringsten Anzeichen von Verrat in Stücke schießen.«

»Wie ist sie?«

»Außergewöhnlich.«

»Was soll das heißen?«

»Daß sie anders ist als alle anderen Frauen, die ich je kennengelernt habe…« Sebastián machte eine kleine Pause. »Und alle Männer.«

»Sie ist Jüdin.«

»Zum Christentum übergetreten. Und das tut eigentlich nicht viel zur Sache.« Der Junge stieß einen tiefen Seufzer aus, um es endlich zuzugeben: »Ehrlich gesagt, weiß ich noch immer nicht, was ich von ihr halten soll. An ihrer Seite fühle ich mich winzig.«

»Winzig?« wiederholte der Schotte ungläubig. »Da denke ich, einen Mann aus dir gemacht zu haben, und du kommst mir mit so was. Wovon redest du, zum Teufel?«

»Von Raquel Toledo, Kapitän…«Sebastián senkte die Stimme, als fürchtete er, jemand anderer könnte ihn hören, und fügte fast wispernd hinzu: »Sie hat mich besessen.«

Der Glatzkopf musterte ihn entgeistert.

»Sie hat dich besessen?« entgegnete er im gleichen, fast unhörbaren Ton, während er mit geballter Faust eine unzweideutige Handbewegung machte. »Willst du sagen, daß sie dich vergewaltigt hat? Richtig vergewaltigt?«

»Nein, Kapitän! Seid doch nicht so roh! Doch nicht so was«, protestierte der andere. »Wie sollte mich eine Frau vergewaltigen?«

»Was weiß ich denn? Vielleicht war sie ja ein verkleideter Sodomit.« Er zuckte mit den Schultern. »Soll ja schon vorgekommen sein!«

»Kein Sodomit!« ereiferte sich der Junge. »Eine Frau. Die weiblichste Frau der Welt.«

»Also weiter? Sprich dich aus!«

Zähneknirschend erzählte der Junge, der nicht wußte, ob er sich verlegen, schuldig oder stolz fühlen sollte, alle Einzelheiten seiner fast unglaublichen erotischen Abenteuer der vergangenen Nacht. Der grobschlächtige und blutrünstige Pirat hörte mit offenem Mund zu und vergaß wenigstens für einen längeren Augenblick seine Qualen, die ihm die Wunden und die Würmer bereiteten.

»Ich kann’s nicht glauben!« wiederholte er ein ums andere Mal. »Das hat sie wirklich gemacht? Meine Güte! Also noch mal, sie hat dich gebadet, ans Bett gefesselt und dann mit der Zunge… Verdammt, und mich fressen die Würmer auf. Wenn sie so was schon mit einem Schiffsjungen treibt, was zum Teufel macht sie dann erst mit einem Kapitän?« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die muß ich kennenlernen«, schloß er. »Ich kann nicht sterben, bevor ich nicht jemanden getroffen habe, der solche Dinge tut.«

»Und wie stellen wir das an?«

»Laß mich nachdenken.«

Am folgenden Tag ließ Kapitän Jack Sebastian schon im Morgengrauen rufen, gab ihm einige sehr präzise Befehle und schärfte ihm ein, diese wortwörtlich auszuführen. Kurze Zeit später verabschiedete sich der Junge erneut von seinem Vater und ging mit seiner Schaluppe zum zweiten Mal auf Kurs Cartagena.

Schon in Sichtweite der Hafenfestungen mußte er eine gute Stunde lang beidrehen, weil eine sanfte Brise von Land her wehte und in diesem Augenblick drei riesige Galeonen, die von einem schnellen Kriegsschiff mit über 70 Geschützen begleitet wurden, in den Hafen einfuhren.

Mit so schwerfälligen Schiffen, die quadratische Segel gesetzt hatten, war es wahrlich keine leichte Aufgabe, bei Gegenwind die tiefste Stelle in der Bucht anzusteuern. Der Margariteno mußte zugeben, daß Kapitäne und Besatzungen ihr Handwerk verstanden, denn eine nach der anderen defilierten die Galeonen an den Festungen San Fernando und San Jose vorbei, die zu ihrer Ankunft Salut schossen.

Sebastian folgte ihnen in die Bucht und fragte sich, ob die Galeonen wohl Gold aus Mexiko oder Silber aus Peru geladen hatten, oder ob sie Quecksilber aus Almaden an Bord hatten, das für die Bergwerke von Potosi bestimmt war.

Dann steuerte er auf den Fischerhafen zu, und als es dunkel wurde, ergriff er mit zitternder Hand den schweren Türklopfer in Form eines Wasserspeiers und hämmerte damit an die dicke Pforte des Hauses mit den Papageien.

Raquel Toledo empfing ihn in einem feinen blütenweißen Kleid, und nach einem üppigen und köstlichen Abendessen, das wieder im Garten serviert wurde, fiel sie wiederum wie eine Spinne über ihr schutzloses und hypnotisiertes Opfer her und praktizierte an ihm alle möglichen Zaubereien, als wären die Kenntnisse dieser himmlischen Frau in den kompliziertesten Formen der Liebeskunst ohne Grenzen.

»Wo hast du das alles gelernt?« wollte Sebastián in einer jener kurzen Pausen wissen, die sie ihm zugestand.

»Aus Büchern.«

»Aus Büchern?« versetzte der arme Junge ungläubig. »Ich hätte nie gedacht, daß es Bücher gibt, in denen so etwas steht.«

»Doch, die gibt es sehr wohl. In allen Ländern und in allen Sprachen«, entgegnete sie belustigt. »Doch die galante Literatur des Orients über die Kunst der Liebe ist die beste und lehrreichste«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und die einzige, die niemals aus der Mode kommt. Zeiten, Kulturen und Könige wechseln sich ab, aber die Methode, wie ich es schaffe, daß >er< auf mein Streicheln reagiert und mich stundenlang glücklich macht, die ändert sich nie.«

»Und hast du viele solche Bücher?«

»Ganze Regale voll.«

Auf diese Weise verbrachten sie die ganze Nacht, den folgenden Tag und die folgende Nacht. Als erneut der Morgen graute, gingen Sebastian und Raquel, die jetzt das einfache Kleid einer Bäuerin trug, zum Hafen hinunter und bestiegen die Schaluppe. Als sie die Hafenausfahrt erreichten, wurde gerade die Kette eingezogen, damit die ersten Schiffe die Bucht verlassen konnten.

Unmittelbar darauf nahmen sie Kurs nach Süden und fuhren ohne Eile in Richtung der Islas del Rosario, getrieben von der gleichen Landbrise, die auch zwei Tage zuvor geweht hatte.

Drei Stunden später versicherte sich der Margariteno, daß kein Segel am Horizont zu sehen war, ging Backbord und steuerte direkt auf die große Insel Barú zu. Zwanzig Meter vor einem winzigen Strand mit Palmen und Mangroven ging er schließlich vor Anker.

Kurz darauf tauchte Kapitän Jack aus dem Dickicht auf und winkte fröhlich mit der Hand.

»Keine Gefahr!« rief er.

Als der Bug der Schaluppe auf Sand stieß, zog Raquel Toledo aus einer schweren Tasche, die sie bei sich hatte, eine riesige Pistole, und während sie auf den Kapitän zielte, bedeutete sie Sebastian mit überraschender Kälte:

»Sobald ich einen Fuß an Land setze, stichst du wieder in See, und denk dran, wenn sich irgend jemand nähert, schieß ich den Kopf deines geliebten Kapitäns in Stücke. Alles klar?«

Da Sebastian bereits nichts mehr überraschen konnte, was diese verwirrende Frau tat oder sagte, beließ er es bei einem leichten Nicken. Die Frau sprang aus dem Boot und näherte sich mit Pistole in der einen und Tasche in der anderen Hand dem wartenden Schotten.

Als die Jüdin ihn erreicht hatte, befahl sie ihm lakonisch:

»Entkleidet Euch!«

»Ich soll mich ausziehen?« gab sich ihr Gegenüber schockiert. »Hier?«

»Die Affen werden sich nicht erschrecken. Und ich auch nicht«, lautete die barsche Antwort. »So verlieren wir keine Zeit.«

Mit einer Frau, die offenbar das Befehlen noch mehr gewohnt war als der Kapitän der Jacare selbst, war das Diskutieren völlig zwecklos, daher zögerte er nur einige Sekunden, bevor er gehorchte, und kurze Zeit darauf stand er am Strand, wie Gott ihn erschaffen hatte.

Ohne die Waffe einzustecken, ging Raquel um ihn herum und studierte aufs Genaueste jede einzelne Wunde.

Schließlich holte sie aus ihrer riesigen Tasche ein scharfes Stilett, öffnete eine der Wunden und füllte Eiter und Würmer in ein kleines Metallkästchen.

»Ihr könnt Euch wieder ankleiden«, bedeutete sie ihm, während sie im Schatten einer Palme Platz nahm und die wimmelnden ekligen Tierchen aus der Nähe betrachtete.

Wenig später hockte sich ein übellauniger Kapitän Jack mit gesenktem Kopf neben die Jüdin.

»Was haltet Ihr davon?« wollte er wissen.

»Daß Ihr Glück habt, überhaupt noch am Leben zu sein. Aber wenn Ihr weiter in diesen Breiten verweilt, wird Euch dieses Glück bald verlassen.« Sie blickte auf und sah ihm ins Gesicht.

»Meiner Meinung nach gibt es nur ein Heilmittel: ein kaltes Klima. In dieser feuchten Hitze, bei diesen Insekten, ist nichts zu machen.«

»Seid Ihr sicher?«

»Absolut! Die Infektion ist bereits zu weit fortgeschritten, um ganz sicherzugehen, doch ist das zweifellos der beste Rat, den ich Euch geben kann. Ich habe Euch eine Salbe mitgebracht, die Eure Schmerzen lindern wird, doch gegen die Würmer müßte ich Euch ein Gift verabreichen, das Euch schließlich umbringen würde.«

»Verlangt Ihr von mir, daß ich alles aufgebe?«

»Ich verlange überhaupt nichts von Euch«, gab Raquel Toledo mit jenem Nachdruck und Gleichmut zurück, die sie so unnahbar erscheinen ließen. »Ich gebe Euch lediglich einen Rat, der auf vielen Jahren Erfahrung beruht. Wenn Ihr in Westindien bleibt, werdet Ihr keine zwei Monate mehr leben, das dürft Ihr mir glauben. Alles andere ist Eure Sache.«

Lange Zeit betrachtete der Kapitän geradezu mit besessener Aufmerksamkeit die riesige Wunde, die sich fast über seinen gesamten linken Unterarm ausbreitete, und schließlich erhob er sich und lehnte sich gegen den Stamm einer Palme.

»Ihr habt Euch als sehr mutige Frau erwiesen«, murmelte er schließlich. »Nicht nur, daß Ihr es gewagt habt, hierherzukommen, sondern auch, daß Ihr die Dinge so unverblümt beim Namen nennt, obwohl Ihr wißt, daß Ihr es mit einem Piratenkapitän zu tun habt.«

»Könige, Piraten oder Bettler, wenn sie krank werden, sind sie nur noch Patienten, und als solche behandle ich sie alle gleich.« Sie lächelte, und es war ein warmes, mitfühlendes und in gewisser Weise beruhigendes Lächeln. »Ich möchte Euch keine falschen Hoffnungen machen. Doch ich bin davon überzeugt, wenn Ihr nach Europa zurückkehrt, habt Ihr gute Aussichten, alt zu werden.«

»Was haltet Ihr von Schottland?«

»Ich bin nie dort gewesen, doch scheint mir das ein sehr geeigneter Ort zu sein.«

Kapitän Jack löste einen schweren Beutel aus seinem Gürtel und setzte ihn vor ihr ab.

»Das ist der Lohn für Euren Mut. Die Perlen sind für die Konsultation.« Er ging zum Wasser hinunter, gab Sebastián einen Wink, näher zu kommen, und als dieser ihn ohne weiteres verstehen konnte, bedeutete er ihm: »Bring die Senora nach Hause, und genieße die nächsten zwei Nächte, so gut du kannst. Nur zwei Nächte!«

Der Junge grinste von einem Ohr zum anderen.

»Länger halt ich es auch nicht aus.«

Wenige Tage, nachdem Sebastian an Bord zurückgekehrt war, ließ Kapitän Jack ihn erneut in seine Kajüte rufen, und kaum waren sie allein, kam er ohne Umschweife zur Sache:

»Wie viele Perlen hast du?«

»Ich habe keine Ahnung«, gab der verblüffte Junge in aller Ehrlichkeit zu.

»Aber ich. Mit deinem Anteil an der Beute und dem, was du mir abgeluchst hast, müßten dir wenigstens fünfhundert geblieben sein. Stimmt’s?«

Der Margariteno überlegte eine Weile, zögerte kurz und nickte leicht.

»Kann sein.«

Kapitän Jack musterte ihn lange, als wolle er noch einmal über etwas nachdenken, worüber er sich schon lange den Kopf zerbrochen hatte. Die folgenden Worte schienen ihm unendlich schwerzufallen.

»Für diesen Preis verkaufe ich dir das Schiff.«

»Die Jacare…?« fragte Sebastian Heredia verdattert.

»Die Jacare, mit Besatzung und Fahne«, lautete die entschlossene Antwort. »Ich kenne dich gut und bin überzeugt, daß du sie in meinem Sinne führen und nicht entehren wirst.« Er machte eine Pause, um zähneknirschend einen Schmerzenslaut zu unterdrücken, und lächelte schließlich gequält. »In diesen Zeiten ist es nicht leicht, sich einen Namen zu machen, auch als Pirat nicht, daher rate ich dir, wenn du das Schiff haben willst, auch meinen Namen und meine Flagge zu übernehmen. Das wird dir Probleme ersparen.«

»Ich habe mir niemals vorgestellt, mein ganzes Leben lang Pirat zu bleiben. Eigentlich wollte ich Lehrer werden.«

»Was du lehren könntest, paßt in das Loch dieses Zahns«, gab der Schotte mit grausamer Ironie zurück. »Außerdem heißt es in diesem Metier: >Einmal Pirat, immer Pirat<. Das kann man nicht wie ein altes Paar Stiefel hinter sich lassen.«

»Warum wollt Ihr dann Schluß machen?«

»Weil mir keine Wahl bleibt. Gut, ich habe zwar schon gesagt, daß du dich besser zur Ruhe setzt, bevor sie dir den Hals langziehen, doch ein Jahr unter eigener Flagge ist besser als zehn unter der des Königs…« Der Glatzkopf stieß einen tiefen Seufzer der Resignation aus. »Es wird mir abgehen, dieses Leben. Doch seit einiger Zeit ist es kein Leben mehr, und die Jüdin hat sicher recht, daß nur ein kühles Klima diese widerlichen Biester umbringt.« Er spuckte aus und fuhr beinahe aggressiv fort: »Was hältst du von meinem Vorschlag?«

»Ich muß darüber nachdenken.«

»Du hast zwei Tage.«

Sebastian war froh, nach dem Gestank eines lebendigen Toten in der Kabine wieder frische Morgenluft atmen zu können. Er ließ sich auf dem Achterkastell nieder, unweit der Stelle, an der sein Kapitän Platz zu nehmen pflegte, als wollte er sich ein Bild davon machen, was es bedeutete, Kapitän eines Schiffs zu sein und Befehle zu geben, denen keiner widersprach.

Ein großartiges Angebot, ohne Zweifel. Was waren schon die Perlen, die lediglich einen Frauenhals schmücken konnten, gegen die Jacare, gegen das kühnste und stolzeste Schiff der Weltmeere?

Er frage sich, ob er es befehligen konnte.

Das Schiff, bestimmt.

Die Besatzung, wahrscheinlich nicht.

Immerhin waren es Piraten.

Alte blutrünstige Piraten, die einen Befehlshaber nötig hatten, der sie, falls sie nicht spurten, auch zu den Haien schicken konnte. Der Junge zweifelte, ob er jemals zu so einem Befehl fähig sein würde.

Er ließ die Augen über Deck wandern und musterte die vertrauten Gesichter unter einem ganz neuen Blickwinkel, als wollte er herausfinden, wem er einen Verrat zutrauen mußte, und schließlich kam er zu einem beunruhigenden Schluß: Fast die Hälfte dieser zerlumpten Halunkenschar würde nicht mit der Wimper zucken, ihn zu gegebener Stunde an einen riesigen Anker zu binden.

»Woran denkst du?«

Er drehte sich zu Lucas Castano um, der ihn offensichtlich schon längere Zeit an die Reling gelehnt beobachtet hatte. Sebastian kannte den Panamesen gut genug, um sich klar zu sein, daß Lucas genau wußte, worum sich der Junge Sorgen machte. Daher deutete er lediglich auf die Kapitänskajüte und fragte:

»Hat er es dir gesagt?«

»Ich hab’s ihm vorgeschlagen.«

»Eigentlich solltest du seinen Posten übernehmen, wenn er aufhört.«

»Das meiste Geld habe ich in Huren und Rum investiert«, versetzte der andere und schnalzte mit der Zunge, als wolle er sich über sich selbst lustig machen. »Den Rest habe ich verschleudert.«

»Ich sehe mich nicht als Piratenkapitän.«

»Wenn du schon ein Seeräuber bist, dann lieber Kapitän als Schiffsjunge«, lautete die nicht unlogische Antwort. »Und zweifellos bist du der Schlaueste an Bord.«

»Wirst du mein Adjutant sein?«

Jetzt deutete Lucas Castano auf die Kajüte von Jacare Jack und entgegnete:

»Zwölf Jahre lang bin ich der seine gewesen, und ihn umzubringen wäre mir nicht viel schwerer gefallen als dich.«

»Verstehe.«

»Also überleg’s dir gut.«

Er entfernte sich, ohne dem Gespräch viel Bedeutung beimessen zu wollen und überließ Sebastian seinen unendlichen Zweifeln.

Natürlich war die Chance verlockend, Kapitän eines großartigen Schiffs zu werden, doch wußte er auch, daß sein Leben damit eine neue Wendung nahm. Stets hatte er seinen Aufenthalt auf der jacare als unvermeidliche Episode seiner Jugendzeit betrachtet, an der ihn keinerlei Schuld traf. Äußere Umstände, für die er nichts konnte, hatten ihn dazu gezwungen, sich dieser Bande Seewölfe anzuschließen, doch von heute auf morgen Schiff, Fahne und Ruhm des gefürchteten Kapitäns Jacare Jack zu »erben«, würde ihm ein unauslöschliches Mal aufdrücken. Von nun an würde es keinen Ort mehr geben, ob zu Lande oder zu Wasser, wo man ihn nicht als sicheren Kandidaten für den Galgen ansehen würde.

Er betrachtete seinen abwesenden Vater, dessen Geist in fernen Meeren segeln mochte, und es tat ihm weh, ihn bei der wichtigsten Entscheidung seines Lebens nicht um Rat fragen zu können.

Wenn er das Angebot des Schotten annahm, das war ihm völlig klar, war er dazu verurteilt, den Rest seines Lebens an Bord eines Schiffs zu verbringen. Die Jacare wäre zwar sein Königreich, doch nur ein winziges in der Unendlichkeit der Ozeane.

Seine Grenzen würden für immer von der Reling des Schiffs bestimmt und das Land – alle Länder! – würde ihm ein feindlicher Ort sein, wo er sich niemals mehr sicher fühlen würde.

Für die meisten Seeleute, so sehr sie ihre Lebensweise auch lieben mochten, bedeutete das Land einen Ort der Rückkehr, oft auch einen ersehnten Hafen, in dem man im Notfall Zuflucht fand. Doch ein Pirat mußte stets mit der Angst leben, daß ihn an keinem Ort ein freundlicher Empfang erwartete und kein Hafen ihm während eines tobenden Sturms Schutz gewährte.

Ohne zu wissen warum, mußte er plötzlich an das unbeschreibliche Vergnügen denken, das ihn jedesmal erfüllte, wenn das Schiff seines Vaters Cabo Negro passierte und er in der Ferne die kleine Celeste und das alte Haus am Fuß der Festung La Galera erblickte. Im Haus erwarteten ihn Mutter und Schwester, und am Strand seine Freunde.

Jeder Tag, an dem er die Landzunge umrundet hatte, war für ihn ein wunderbares Schauspiel, doch heute konnte er noch so viele Landzungen umsegeln, da gab es nichts, was sich auch nur im entferntesten mit seinem verlorenen Heim und seinem geliebten Strand vergleichen ließ, an dem er so oft gespielt hatte.

Kapitän eines Schiffs zu werden, über dem die schwarze Flagge flatterte, bedeutete gleichzeitig, auf die Möglichkeit zu verzichten, eines Tages ein Haus oder einen Strand wie aus seiner Kindheit zu finden und endgültig sein vergangenes Leben abzuschreiben. Kein Entschluß also, der einem Jungen im Alter Sebastians leichtfallen konnte, auch wenn er in den schwierigen Jahren an Bord viele Erfahrungen hatte sammeln können.

Doch die Versuchung war schon riesengroß.

Vor allem dann, wenn er zusah, wie der Bug der Jacare geschmeidig durch das Wasser glitt und das Schiff über dem Wasser dahinschwebte wie ein riesiger Albatros, der genau wußte, daß ihm in diesem Meer von einem Horizont zum anderen nichts Böses drohte.

Wer träumte nicht davon, ein Schiff zu besitzen, mit dem man die äußersten Regionen der Welt erreichen konnte, ohne Grenzen außer denen der eigenen Person, ohne Gesetze außer denen, die man selbst diktierte? So wog Sebastian die folgenden vierzig Stunden wie besessen das Für und Wider seiner Tage ab, die so anders verlaufen würden als bisher.

Zu guter Letzt kam er zu dem Schluß, daß er zu keiner

Entscheidung gelangen konnte, ohne nicht vorher seinen Vater um Rat gefragt zu haben, obwohl er wußte, daß dieser wie schon seit Jahren wahrscheinlich jegliche Verantwortung von sich weisen würde.

»Ein schönes Schiff«, murmelte Miguel Heredia Ximénez, nachdem er mit ungewohntem Interesse den Ausführungen seines Sohnes zugehört hatte. »Und jeder, der etwas wirklich Schönes besitzt, lebt mit der Angst, daß man es ihm entreißt. Wenn du deine Perlen an verschiedenen Orten aufbewahrst, kann sie dir niemand alle rauben, doch ein Schiff kann man nicht teilen.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Schiff ist wie eine Frau: Man kann es dir nehmen.«

»Ich werde es zu verteidigen wissen.«

»Bist du bereit, dafür zu töten?«

»Ich weiß nicht.«

»Dann finde es heraus, bevor du eine Entscheidung triffst, denn du kannst sicher sein, daß eine Menge Leute sehr wohl bereit sein werden zu töten, um es dir zu rauben.« Er sah ihm in die Augen. »Glaubst du, es lohnt sich?«

»Hängt vom Toten ab.«

»Einen ehrenwerten Mann reut der Tod eines Mistkerls mehr als einen Mistkerl der Tod eines Unschuldigen.«

Diese Lehre seines Vaters blieb Sebastian am tiefsten und für alle Zeiten im Gedächtnis haften. In diesem schlichten Satz lag die Quintessenz seiner Werte und seiner Weltanschauung.

Wie die überwältigende Mehrheit der Menschen mit reinem Gewissen wog Miguel Heredia Gut und Böse ganz anders ab, als es sein Sohn jetzt tun mußte. Was ihn in erster Linie beunruhigte, war die Tatsache, daß die Kriterien, die sein Sohn für seine Entscheidung anwenden mußte, nichts mit den Moralvorstellungen zu tun hatten, die er ihm von Kindheit an einzuimpfen versucht hatte.

Es war ihm aber klar, daß er auf das Schicksal des Jungen ebenso jeglichen Einfluß verloren hatte wie auf sein eigenes. Daher beließ er es dabei, den abgenutzten Wetzstein wieder in die Hand zu nehmen, um seine passive Beschäftigung wieder aufzunehmen, und murmelte gleichzeitig:

»Einen armen Irren um Rat zu fragen kommt aufs gleiche hinaus, wie einen armen Teufel um Almosen zu bitten: Das einzige, was du erreichst, ist seine Demütigung.«

Daß ein Mensch sich selbst als armen Irren bezeichnete, war eigentlich sehr seltsam, doch hatten die vergangenen fahre, die er mit stumpfsinnigem Messerschleifen zugebracht hatte, Miguel Heredia – der im Grunde niemals verrückt gewesen war zur bitteren Schlußfolgerung veranlaßt, daß er tatsächlich geisteskrank war, und offensichtlich hatte er keine Scheu, das offen zuzugeben.

Kurz bevor in dieser Nacht ein roter Halbmond am Horizont erschien, nahm Lucas Castano neben dem Jungen aus Margarita am Vordersteven des Schiffs Platz und wollte wissen:

»Und nun?«

Sebastián musterte ihn eisern, um seinerseits zu fragen:

»Wem kann ich vertrauen?«

»Dir selbst.«

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