Nachdem er all seinen »Besitz« gegen einen schlichten Kreditbrief des jüdischen Geldverleihers Samuel eingetauscht hatte, kehrte Don Hernando Pedrárias Gotarredona nach Cumaná zurück, wo er befriedigt feststellte, daß sein getreuer Sekretär Lautario Espinosa alle Anweisungen genauestens befolgt hatte. Im nahen Golf von Paria lag eine stolze Brigg vor Anker, bewaffnet mit 32 vierundzwanzigpfündigen und 28 sechsunddreißigpfündigen Kanonen.

Ihr Kapitän, Joáo de Oliveira, ein schielender und sehr schmutziger Mann aus Lissabon, war bekannter unter dem Namen Tiradentes, da er die Gewohnheit hatte, eine schwere Verfehlung damit zu bestrafen, daß er dem Missetäter einen Zahn zog. An der Küste Brasiliens genoß er einen gewissen Ruf, weniger seiner Heldentaten wegen, sondern vielmehr, weil er der erste »Christ« war, der geradezu eine Sucht entwickelte, die bitteren Blätter zu kauen, mit denen die Indios der Anden Hunger- und Durstgefühle bekämpften. Tiradentes hatte im Bordell von Candela Fierro sein Quartier aufgeschlagen, weil er an Land keinen Schlaf fand, wenn er nicht wenigstens drei Huren im Bett hatte. Als der Ex-Gesandte der Casa de Contratación von Sevilla bei ihm auftauchte, mußte er die Mädchen förmlich mit Tritten aus dem Zimmer treiben und fand nichts dabei, noch splitternackt geräuschvoll in ein Becken zu urinieren.

»Ich versichere Euch, die Botafumeiro ist wahrscheinlich das beste Schiff auf dieser Seite des Ozeans.«

»Besser als die Jacare?« wollte Don Hernando sofort wissen. Er beugte sich aus dem Fenster und betrachtete den Fluß, um das schamlose Schauspiel hinter seinem Rücken nicht mit ansehen zu müssen.

»Ich kenne die Jacare nicht«, entgegnete der Portugiese, während er sich in aller Gemächlichkeit ankleidete. »Aber wie ich gehört habe, segelte sie mit allen Winden gut. Das kann ich auch, aber meine Feuerkraft ist doppelt so groß.« Er ließ ein Rülpsen hören, das nach billigem Fusel stank. »Der Zustand meiner Besatzung ist allerdings prekär. Ich brauche Leute.«

»Wie viele?«

»Mindestens achtzig. Vor allem Männer für Segel und Geschütze.«

»Ich glaube nicht, daß wir die in Cumaná finden werden.«

»Natürlich nicht!« bestätigte Tiradentes, zog sich die Stiefel an und sprang auf die Beine. »Das habe ich schon versucht, aber es gibt nur zwei Häfen, in denen man eine gute Mannschaft anheuern kann: Tortuga und Port-Royal. Ich persönlich bin für Tortuga.«

Die bloße Erwähnung der kleinen Insel, auf der sich pro Quadratmeter die meisten Todfeinde der Casa de Contratación von Sevilla aufhielten, war schon genug, Don Hernando Pedrárias den Magen umzudrehen. Er starrte in das spöttische Lächeln eines abstoßenden Mannes, dessen riesige Zähne die Kokablätter für immer schwarz gefärbt hatten.

»Tortuga?« wiederholte er sichtlich beunruhigt. »Haltet Ihr es für ratsam, dort vor Anker zu gehen, wo unsere Mission darin besteht, ein Piratenschiff zu verfolgen und zu vernichten?«

Der andere spuckte in das Urinbecken, ohne das fast beleidigende Lächeln abzustellen.

»Port-Royal wäre schlimmer! Alle, die vor Tortuga ankern, wären glücklich, sich gegenseitig beim geringsten Anlaß zu versenken, und kein Pirat wird den Tod eines Jacare Jack beklagen. Im Gegenteil: Sie würden auf seinem Grab tanzen. Gehen wir einen trinken.«

Dankbar begrüßte Don Hernando Pedrárias die Gelegenheit, das Zimmer, in dem es nach Schweiß, Wollust und Urin roch, verlassen zu können. Als sie im Schatten eines Samanbaums Platz nahmen, dessen Wurzeln der Fluß Manzanares umspülte, ging es ihm schon wieder besser.

Einen Augenblick lang schoß ihm jener andere Manzanares bei Madrid durch den Kopf, in dem er als Junge des öfteren mit den Söhnen des Herzogs von Alhumada gebadet hatte, und er mußte sich fragen, wie er nur so tief hatte sinken können.

Der Portugiese schien zu begreifen, daß der andere Zeit zum Nachdenken brauchte. Nach längerem Schweigen fragte Don Hernando mißmutig:

»Was ist, wenn sie mich in Tortuga an Bord entdecken?«

»Dann eröffnen sie das Feuer auf die Botafumeiro«, kam es rasch zurück. »Aber deswegen braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen, denn ich bin dort der einzige, der weiß, wer Ihr seid. Sobald Ihr an Bord kommt, müßt Ihr Euren Namen ändern.«

»Meinen Namen kann ich wohl ändern, aber nicht den Akzent. Ich spreche nur Spanisch.«

»Wahrscheinlich wimmelt es in Tortuga nur so vor spanischen Renegaten. Die meisten Steuermänner sind abtrünnige Spanier, denn sonst kämen sie in diesem Archipel nicht zurecht. Sie sind praktisch die einzigen, die Zugang zu den Seekarten der Casa hatten.«

Die berühmten Seekarten oder Routenbücher, auf denen Winde, Strömungen und gefährliche Untiefen der Karibischen See verzeichnet waren, zählten verständlicherweise zu den besonders eifersüchtig gehüteten Geheimnissen ihrer Zeit. Eine lange Abfolge erfahrener Kartographen hatte diese Routenbücher mit unendlicher Geduld auf der Grundlage der zahllosen, unschätzbar wertvollen Daten zusammengetragen, die ihnen die spanischen Seefahrer in anderthalb Jahrhunderten Navigation an den unbekannten und gefährlichen Küsten der Neuen Welt zur Verfügung gestellt hatten.

Die Navigatorenschule der Casa de Contratación war die einzige Einrichtung, die per Dekret ungehinderten Zugang zu diesem unschätzbar wertvollen Archiv hatte. Ein Navigator, der sich die wesentlichen Informationen dieser Routenbücher im Gedächtnis einprägen konnte, war daher zweifellos ein privilegierter Mann, für dessen Dienste bisweilen astronomische Summen gezahlt wurden.

Ohne die Hilfe eines solchen Mannes riskierte selbst der beste Kapitän, mitten in der Nacht auf eine der unzähligen kleinen Inseln aufzulaufen, die kreuz und quer in der gesamten Karibik verstreut waren. Korallenriffe versenkten wesentlich mehr Piratenschiffe als die Kriegsschiffe der Krone.

Einen Navigator »der Casa« an Bord zu haben war die beste Lebensversicherung, und ein Ausrüster, der auf die Dienste eines solchen Mannes zählen konnte, hatte eine wesentlich größere Aussicht, eine gute Besatzung zusammenzustellen, als einer, der sich mit einem Abenteurer begnügen mußte, der bei der geringsten Unachtsamkeit auf ein Riff laufen konnte.

»Ich werde Seine Exzellenz darum bitten, uns einen guten Navigator zur Verfügung zu stellen«, schlug Pedrárias nach einer Weile vor. »So wie ich das sehe, kommen wir sonst nicht weiter.«

»Großartige Idee. Ich habe gar nicht gewagt, sie Euch vorzuschlagen«, erwiderte der Portugiese. »Ein Mann der Küste gibt nicht gern seine Grenzen zu, aber ehrlich gesagt, in der Karibik fühle ich mich verloren.«

Seine Exzellenz Don Cayetano Miranda Portocarreo verspürte wenig Lust, seinen ehemaligen Untergebenen zu empfangen, entschied sich dann aber auf dessen Drängen doch, ihm einige Minuten seiner kostbaren Zeit zu opfern.

»Martin Prieto ist der einzige Navigator, der im Augenblick zur Verfügung steht, ein ehrenwerter Familienvater, auf den ich nicht verzichten kann. Schon gar nicht kann ich ihn verpflichten, an einem schmutzigen Piratenabenteuer teilzunehmen. Ihr werdet verstehen, daß ich Euch auch keine Routenbücher zur Verfügung stellen kann. Sie könnten schließlich in schlechte Hände fallen.« Wie es seine Gewohnheit war, blickte er auf das Bildnis von Monsignore Rodrigo de Fonseca, und fügte nach langem Nachdenken hinzu: »Ich kann Euch höchstens den Zutritt zur Krypta gestatten und Martin Prieto darum bitten, daß er Euch über die wichtigsten Routen informiert. Aber eines muß Euch klar sein: Ihr dürft nichts aufschreiben und müßt mir Euer Ehrenwort geben, daß Ihr nichts von dem, was man Euch dort zeigt, einem anderen weitergeben werdet.«

Die Krypta war ein großer, in das Felsfundament der Festung San Antonio gehauener Saal, der so hermetisch abgeschlossen war, daß man schon tonnenweise Sprengstoff gebraucht hätte, um ihn auf anderem Wege zu betreten als über eine Wendeltreppe, die durch zwei schwere Eisengitter und eine massive Holzpforte führte. Ein Soldat, der Tag und Nacht am Eingang Posten stand, hatte den strikten Befehl, das Archiv in Brand zu stecken, falls auch nur die leiseste Gefahr bestand, es könne in feindliche Hände fallen.

Im Archiv herrschte eine trockene Luft mit stets gleichbleibender Temperatur, um die unschätzbar wertvollen Dokumente vor Fäulnis zu bewahren. Jedesmal, wenn der strenge Martin Prieto eintrat, um ein Buch zu entnehmen, erhellte der Wächter mit einer Kerze den Raum, ohne auch nur einen Augenblick die Schwelle zu verlassen, und wachte streng darüber, daß der Navigator nur jeweils eine Seekarte oder ein Routenbuch mit nach draußen nahm.

Zehn Meter höher und wieder bei Tageslicht, nahmen der Navigator und Hernando Pedrárias an einem langen Tisch Platz. Mit Hilfe einer großen Vogelfeder erklärte der eine dem anderen die Merkmale der Karten und Bücher, die er dabei kaum berührte.

Den stets finster dreinblickenden Martin Prieto schien die Anwesenheit des Ex-Gesandten der Casa in gewisser Weise abzustoßen. Der Karibikexperte, der seine Lektionen auch mit geschlossenen Augen hätte erteilen können, gab sich alle Mühe, seine immensen Kenntnisse einem Neuling einzutrichtern, der kaum Steuer- von Backbord unterscheiden konnte, aber sehr wohl wußte, daß er um sein Leben lernte, und dessen graue Zellen sich daher alle Mühe gaben, diesen riesigen Berg an Kenntnissen zu verarbeiten.

Wie viele Hunderte von Inseln, Inselchen und gefährlichen Riffen es zwischen den Bahamas und Tobago oder zwischen Tampico und Martinique gab, wie groß Kuba war oder welche Winde und Strömungen die Mona-Passage zwischen Puerto Rico und Hispaniola je nach Jahreszeit beherrschten: Das alles waren Daten, die in wenigen Tagen kaum zu behalten waren, und manchmal glaubte Don Hernando Pedrárias, daß ihm der Schädel platzte.

»Wie lange habt Ihr gebraucht, um dies alles zu lernen?« fragte er Martin Prieto eines Nachts nach einer erschöpfenden Sitzung, die 15 Stunden gedauert hatte.

»Ich lerne noch immer«, lautete die ehrliche Antwort eines Mannes, der dreißig Jahre seines Lebens dem Studium gewidmet hatte. »Noch heute fühle ich mich nicht in der Lage, innerhalb der Jungferninseln zu segeln, ohne bei Anbruch der Nacht beizudrehen.«

»Wenn das so ist, was kann ich dann in zwei Wochen lernen?«

Kein Wunder, daß er keine Antwort erhielt. Nicht einmal der fähigste Schüler hätte sich in einer so kurzen Zeit mehr als nur einen flüchtigen Eindruck von den wahren Umrissen der Karibik oder den Längen- und Breitengraden der großen Inseln verschaffen können. Als Don Hernando Pedrárias daher schließlich in das Bordell von Candela Fierro zurückkehrte, war er fest davon überzeugt, nunmehr noch weniger als vorher über diesen Winkel der Welt zu wissen, in dem er lebte.

Als er dem Portugiesen gegenübertrat, bemühte er sich dennoch, unverzagt zu wirken.

»Im Augenblick habe ich eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie wir nach Tortuga kommen. Danach werden wir weitersehen.«

Drei Tage später lichteten sie die Anker. Als sie durch die Dragon-Passage zwischen Trinidad und dem Festland segelten, beschlich den Ex-Gesandten der Casa de Contratación der Verdacht, daß Joäo de Oliveira noch stark untertrieben hatte, als er den Zustand der Besatzung seines mächtigen Schiffs als »prekär« bezeichnete.

Die 41 unterernährt wirkenden Männer waren mit der schweren Takelage völlig überfordert, als sie in die heftigen Ozeanwinde gerieten. Unterdessen mühte sich ein rachitischer Mann am Steuer, das Schiff auf Kurs zu halten. Den übelriechenden Kapitän Tiradentes schien das alles aber nicht zu kratzen, sondern eher zu amüsieren. Nachdem er eine Prise Koka ausgespuckt hatte, bellte er mit sichtlicher Ironie:

»Nur Mut, ihr Hurensöhne! Wenn wir jetzt auf die Jacare stoßen, versenkt die uns mit ein paar Fürzen!«

Anschließend brach er in schallendes Gelächter aus, als wäre die Tatsache, daß das mächtige Schiff jeden Augenblick auf die Riffe der Punta las Penas auflaufen konnte, für ihn nur ein amüsanter Witz. Don Hernando Pedrárias konnte sich einen bitteren Blick auf den Bugspriet nicht verkneifen, während er sich vorstellte, wie sein Kopf wohl nach dem dritten Tag am Galgen aussehen würde.

»Verfluchte Celeste!« murmelte er immer wieder. »Tausendmal verflucht sollst du sein!«

Kurz danach mußte er sich über die Reling beugen und alles von sich geben, was er in den letzten Stunden zu sich genommen hatte. Danach zog er sich in seine enge Koje zurück. Es war ihm ziemlich egal geworden, ob die Brigg plötzlich kentern und ihn für immer auf den Grund des Ozeans schicken würde.

Joáo de Oliveira entschloß sich klugerweise dazu, um Inseln und Riffe einen großen Bogen zu machen. Er steuerte beharrlich einen Nordwestkurs und mied die Routen der Handels- und Piratenschiffe. Nur zu gut wußte er, daß er mit seiner spärlichen Besatzung einem Angriff wenig entgegenzusetzen hatte, egal, wie groß der Tiefgang und die Bewaffnung des Gegners war.

Unter keinen Umständen hätte der Kapitän dem neuen Herrn der Botafumeiro gestanden, daß der »prekäre« Zustand seiner Besatzung darauf zurückzuführen war, daß drei Viertel kurze Zeit zuvor am Dengue-Fieber gestorben waren. Nicht einmal der verzweifeltste Mann hätte unter diesen Umständen den Mut besessen, in See zu stechen.

Und jetzt wagte sich Kapitän Tiradentes ohne Navigator, mit nur wenigen Marsgasten, ohne einen einzigen Toppsgast und mit einem unfähigen Mann am Steuer, der Schlangenlinien fuhr, in eine Karibische See, die ihm völlig unbekannt war, auf der Suche nach einer Insel, von der man in allen Häfen der Welt sprach, von deren genauer Position er jedoch keinen blassen Schimmer hatte.

»Im Norden von Hispaniola«, hatte man ihm gesagt.

Na schön. Aber wo genau lag dieses Hispaniola?

Zwei Jahre zuvor hatte der schmierige Joáo de Oliveira – wie unzählige Söldnerkapitäne vor ihm – einen krassen Fehler begangen und zu einem sicherlich überhöhten Preis eine angeblich echte Seekarte erworben, auf der die Antillen exakt verzeichnet waren. Doch bald mußte er feststellen, daß er sich eine plumpe Fälschung eingehandelt hatte, oder, was noch schlimmer war, eine »spanische Fälschung«, die ihn geradewegs ins Verderben schicken konnte.

Schon seit langer Zeit hatte die Casa de Contratación nämlich die üble Angewohnheit, von Zeit zu Zeit falsche Seekarten und Routenbücher auf den »Markt« zu werfen, die in die Hände von Piraten und Korsaren fallen sollten. Wenn diese den ausgeklügelten Anweisungen folgten, zerschellten sie früher oder später auf einem der so gefürchteten Riffe.

Nur die besten spanischen Navigatoren konnten solche »Fallen« auf Anhieb entlarven. Das war der Grund, warum die »Renegaten« auf dem chaotischen Arbeitsmarkt der aktiven Seeräuberei so astronomisch hohe Summen kassierten.

Kapitän Tiradentes hatte zwar eine Karte, auf der die genaue Lage von Hispaniola und Puerto Rico verzeichnet war, doch hätte er niemals seine Hand dafür ins Feuer gelegt, daß besagte Inseln tatsächlich innerhalb der angegebenen Längen- und Breitengrade lagen.

Als ihm also Don Hernando Pedrárias mit absoluter Sicherheit bestätigte, daß zwischen der Punta de Penas und dem im Nordwesten liegenden Puerto Rico nur tiefe See lag, befahl er diesen Kurs und hoffte geduldig, daß vor seinem Bug schließlich eine ferne Küste auftauchen würde.

Trotzdem ließ er den Ausguck im Mastkorb und am Davit nie unbemannt, und bei Anbruch der Nacht befahl er, das Großsegel zu reffen, und fuhr lediglich mit dem Focksegel weiter. Alle Lichter an Bord waren gelöscht und alles lauschte gespannt in die Nacht hinaus, um jedes Geräusch, das nach Brandung klang, zu entdecken.

In der vierten Nacht, in der absolute Stille und Finsternis herrschten, erhellten plötzlich immer mehr Sterne den Horizont. Schnell mußte Kapitän Oliveira verblüfft feststellen, daß es sich dabei keinesfalls um Sterne handelte, sondern um Hunderte von besorgniserregenden Lichtern, die mit bemerkenswerter Geschwindigkeit auf seine Steuerbordseite zukamen.

»Sáo Bento, hilf!« rief er entgeistert aus. »Die Flotte!«

In der Tat konnte es sich nur um die mächtige spanische Flotte handeln, die in diesem Jahr mit Verspätung Sevilla verlassen hatte und im Konvoi, ihres Kurses und ihrer Stärke gewiß, nach San Juan de Puerto Rico segelte, von wo aus sie später Südkurs nach Cartagena de Indias einschlagen würde.

Die Flotte!

Die komplette Mannschaft der Botafumeiro betrachtete fasziniert von der Luvreling aus das stolze Schauspiel, das die majestätische Armada bot, und einige Augenblicke lang fühlte sogar Hernando Pedrárias selbst einen gehörigen Stolz, in einem Land geboren zu sein, das zu einer solchen militärischen Machtdemonstration fähig war.

Schließlich wandte er sich an den Portugiesen, der in kurzen Abständen Flüche ausstieß, ohne dabei auch nur einen Augenblick darauf zu verzichten, seine Kokablätter weiterzukauen, und fragte ihn:

»Was gedenkt Ihr zu tun?«

»Zwischen ihnen zu kreuzen«, tönte es entschlossen zurück.

»Zwischen dieser Unmenge von Schiffen zu kreuzen?« rief er aus. »Seid Ihr verrückt geworden? Sie werden uns entern.«

»Nicht, wenn wir geschickt manövrieren. Ich habe nicht genügend Leute, um alle Segel zu setzen, Fahrt aufzunehmen und sie hinter uns zu lassen.« Er spuckte über die Reling. »Und wenn wir unseren jetzigen Kurs halten, überrollen sie uns einfach.« Er wandte sich an den Mann am Steuerrad, der in der Dunkelheit kaum auszumachen war. »Hart Steuerbord! Und ihr dort, Groß- und Besansegel setzen.« Und als sich die Männer schon entfernten, fügte er mit schallendem Gelächter hinzu: »Und macht sicherheitshalber die Rettungsboote los!«

So brisant die Situation auch war und so sehr ihn schon seit der ersten Begegnung der Mann aus Lissabon anwiderte, Don Hernando Pedrárias konnte nicht umhin, die absolute Kaltblütigkeit des Kapitäns zu bewundern, den es offensichtlich kolossal amüsierte, auf eine Unmenge riesiger Schiffe zuzusteuern, die wie blinde Büffel vorwärts stürmten. Er mußte ihnen in finsterer Nacht ausweichen, und dabei konnte er lediglich auf seine eigene Geschicklichkeit und eine Handvoll halbgenesener Männer zählen, die kaum ausreichten, um auch nur die Hälfte der Segel zu setzen.

»Drei Mann ans Steuer!« rief er, als seine eigene Galionsfigur nur noch eine knappe Meile von den Galionsfiguren der Vorhut trennte. »Zwei Grad Backbord! Alle Segel anziehen!«

Der erfahrene Kapitän Joáo de Oliveira wußte, daß die schwere Flotte wie gewöhnlich mit allen Segeln fuhr, um die Rückenwinde zu nutzen. In ihrem Windschatten würde er praktisch nicht mehr von der Stelle kommen. Daher beschloß er, mehr Fahrt zu machen, solange er noch genügend Wind dazu hatte, um sich selbst auf die ankommenden Schiffe zu stürzen, nicht frontal, sondern im Winkel von etwa 40 Grad im Verhältnis zu den Positionslichtern der ersten Linie.

Auf diese Weise wurde einerseits zwar das Risiko eines Zusammenstoßes beträchtlich größer, wenn der Kapitän in der Dunkelheit die wahre Länge der Galeonen, zwischen denen er kreuzen wollte, nicht rechtzeitig erkannte, andererseits behielt er damit eine gewisse Kontrolle über die Botafumeiro, die ansonsten wie ein im Wasser treibender Korken hilflos den Fregatten des Begleitschutzes aus der zweiten und dritten Linie ausgeliefert gewesen wäre, die sie im Handumdrehen in Stücke geschossen hätten.

Die Davitwachen eines so großen Flottenverbands waren logischerweise vor allem damit beschäftigt, den vorgeschriebenen Abstand zu den Positionslichtern der übrigen Schiffe zu halten und den Steuermännern die Kursänderungen zuzurufen. Im übrigen vertrauten sie darauf, daß sie auf kein Hindernis stoßen konnten, solange sie ihrem Flaggschiff blind folgten.

Daß da plötzlich eine Brigg aus der Finsternis auftauchte, traf die Wachen daher völlig unvorbereitet. So sehr sich das Schiff auch bemühen konnte, der Flotte auszuweichen, ein Desaster innerhalb des Verbands, in dem kein nicht vorher von Signalen angekündigtes Manöver möglich war, schien nahezu unausweichlich.

Während die Minuten verstrichen und die Entfernung zur Flotte schrumpfte, gewann die Botafumeiro an Fahrt und stürzte sich wie ein Blitz auf das erste der Lichter. An Bord schlugen inzwischen alle Herzen bis zum Hals, denn beim kleinsten Fehler würde die Botafumeiro unweigerlich ein massives Handelsschiff rammen, das ihr an Tonnage um das Doppelte überlegen war.

Nur eine knappe halbe Meile lag zwischen den Bordseiten der Flottenschiffe, ebenso groß war der Abstand zwischen den Linien: nicht gerade berauschend viel Platz, um auf offener See zu manövrieren, besonders dann nicht, wenn man die Länge der jeweiligen Schiffe in der Dunkelheit schätzen mußte.

»Ein Grad Backbord!« befahl der Lissaboner schließlich. »Die Taue fest anziehen!«

Im letzten Augenblick öffnete Joáo de Oliveira den Winkel etwas weiter und ließ ein großes, über acht Meter hohes Schiff in seinem Kielwasser passieren, wobei der Klüverbaum des Spaniers fast den Achtersteven der Botafumeiro streifte. Nun steuerte er die Botafumeiro direkt auf die mittleren Positionslichter des zweiten Schiffs zu. Bis er es erreicht hätte, würde dieses ihn überholt haben. Als er den schwachen Schein der großen Achterlaternen ausmachen konnte, wußte er, daß die Gefahr für den Augenblick gebannt war. Nachdem er wieder einmal ausgespuckt hatte, murmelte er:

»Steuer geradeaus!«

Hastig ließen die vier Männer das Steuerrad kreisen. Kurz darauf schrie der Portugiese aus vollem Halse:

»Nach zwei Minuten volle Wende Steuerbord! Paßt auf die Mastbäume auf!«

Der Befehl ging von Mund zu Mund.

Alle an Bord, der kränkliche schwarze Koch eingeschlossen, beeilten sich, den Befehl auszuführen. Sie wußten, daß es um ihr Leben ging, und so drehte sich die Brigg bald wie eine elegante Ballerina um sich selbst.

Das ganze Manöver spielte sich in dem Zwischenraum ab, den sich zwei Fregatten der zweiten Linie ließen.

Bis sie von neuem den nunmehr von Backbord kommenden Wind eingefangen und das Manöver in entgegengesetzter Richtung wiederholt hatten, verging beängstigend viel Zeit, und aus der Angst wurde Panik, als ein Wachposten auf einer der Fregatten etwas Ungewöhnliches zu bemerken schien und Alarm gab.

Fast unmittelbar darauf begannen die Kanonen zu donnern. Es waren allerdings nur warnende Pulversalven, denn mit gezieltem Kreuzfeuer hätten sich die Schiffe der Flotte bei ihrer Formation gegenseitig versenkt.

Im Schein des Mündungsfeuers zeichnete sich nunmehr die Botafumeiro ab, die von neuem vor dem Bug eines der Kriegsschiffe aus der dritten Reihe zu kreuzen begann, und kaum hatte sie damit begonnen, feuerte die riesige Galeone, welche die Formation abschloß und wie ein Schäferhund ihre Herde vor sich her zu treiben schien, eine regelrechte Breitseite, die um ein Haar auf dem Deck der Botafumeiro eingeschlagen hätte, die sich wie ein Hase auf der Flucht in die Nacht bewegte.

Knapp zehn Minuten lang verfolgte das riesige Schiff die flüchtende Botafumeiro und deckte sie mit einem ohrenbetäubenden Geschützfeuer ein. Bald jedoch mußte der Spanier eingesehen haben, daß die Beute den Aufwand nicht lohnte. Daher ging er bald Backbord, um seine ursprüngliche Position am Ende der Flotte wieder einzunehmen.

»Gott sei uns gnädig!« rief Don Hernando Pedrárias aus, als er seine Stimme wiedererlangt hatte und ihm die Beine nicht mehr zitterten. »Das war die Cagafuego!«

»Die Cagafuego?« fragte Joáo de Oliveira erstaunt. »Ich dachte, die ist im Pazifik und schützt die Philippinenroute.«

»Sie ist vor einem Jahr zurückgekehrt.«

»Gut zu wissen, auf daß wir nicht noch einmal den Weg dieser Bestie kreuzen! Beinahe hätte sie uns das Licht ausgeblasen.«

Cagafuego war der Spitzname, den die Piraten gewöhnlich dem bestbewaffneten Schiff der spanischen Flotte gaben. Meistens war das eine Galeone mit über neunzig Kanonen und 500 Mann Besatzung.

Eine Stunde später verloren sich die Lichter der Flotte in der Ferne, und die Botafumeiro ging wieder auf ihren ursprünglichen Kurs zurück. Jetzt allerdings gab der Portugiese nicht den Befehl, die Segel anzuziehen, sondern folgte einfach dem Kielwasser der Flotte. Wenn die spanischen Steuermänner sicher waren, daß ihnen in diesen Gewässern bei Nacht keine Gefahr drohte, dann galt dies auch für das Schiff des Portugiesen.

Zwei Tage später passierten sie bei Tagesanbruch die Mona-Passage zwischen Puerto Rico und Santo Domingo. Ohne Hast segelten sie nunmehr die Küste von Hispaniola entlang, bis sie schließlich am folgenden Morgen in einen tiefen Hafen einliefen. Die aufmerksamen Augen der Wachposten verfolgten sie von der uneinnehmbaren Festung aus, deren Errichtung »Gouverneur« Le Vasseur vor einem halben Jahrhundert am gleichen Tag befohlen hatte, an dem ihn die Spanier aus Santo Domingo vertrieben hatten.

An Tortuga war die lange Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Die einst strahlende Festung der Bukaniere, in der das Gold der Piraten und Korsaren einst in Strömen floß und wahre Heerscharen von Huren und Glücksrittern ernährte, verfiel ebenso rasant wie das pulsierende Port-Royal zu florieren begann.

Tortuga war nun einmal kaum mehr als ein kahler Felsen in Sichtweite einer von spanischen Truppen beherrschten Küste, während sich auf Jamaika die Engländer so festgesetzt hatten, daß sie nicht einmal die Spanier mehr vertreiben konnten.

Eine Welt des Verfalls konnte gelegentlich ihren eigenen Charme besitzen, besonders dann, wenn sie auf eine glorreiche Vergangenheit zurückblicken konnte. Doch unter den Helden der Vergangenheit Tortugas hatte es nur blutdürstige Mörder gegeben, und unter den Heldinnen gab es keine, die nicht in tausend Betten geschlafen hatte. So boten Gebäude, Menschen, ja sogar Festungen lediglich den traurigen Anblick des vorzeitigen Ruins.

Gerade mal ein halbes Dutzend Schiffe verlor sich in der weiten Bucht, und schon auf den ersten Blick konnte man erkennen, daß es keine Handelsschiffe mit wertvoller Fracht waren, die man gegen Zucker und Rum hätte eintauschen können, und auch keine stolzen Korsarenschiffe, die bereit waren, gegen die Spanier zu kämpfen, sondern lediglich Küstensegler ohne großen Tiefgang. Mit diesen Schiffen überfielen die Bukaniere Hispaniola und kehrten von dort blutbefleckt zurück, die Schiffe bis zur Reling voll mit toten Schweinen.

Das geräucherte Fleisch, das bei den Schiffsbesatzungen als schmackhafter Proviant so beliebt war, luden die Jäger dann wieder auf ihre Schiffe und setzten Kurs auf Jamaika. Drei Tage später kamen sie dort an, verkauften ihre Ware und verschleuderten ihren Gewinn in den Bordellen und Spielhöllen von Port-Royal, das ihnen den Glanz der ruhmreichen Jahre geraubt hatte.

Die meisten von ihnen kehrten niemals zurück.

Als Don Hernando Pedrárias und Kapitän Tiradentes schließlich die wurmstichige Pier betraten und ein einsamer, zahnloser und vom Skorbut befallener Bettler mit ausgestreckter Hand ein Almosen verlangte, blickten sie sich ernüchtert in die Augen.

»Die Schildkröte ist alt geworden…«, kommentierte der Portugiese mit seinem ihm eigenen Sinn für Humor. »Ich denke, hier werden wir nicht finden, was wir suchen.«

Mit Sonne, Wind, Sand und Salz pflegt die Natur am häufigsten zu zerstören, was Menschenhände aufgebaut haben, und bei dieser verfluchten Insel, die so viel unschuldiges Blut auf dem Gewissen hatte, schien diese Natur beschlossen zu haben, alle verhaßten Zeugnisse dieser traurigen Vergangenheit auszulöschen.

Die majestätische Festung Le Vasseurs fiel allmählich in Trümmer, der »Hafen« versank langsam, und die meisten der einst luxuriösen Gasthäuser, Schenken und Freudenhäuser waren kaum noch mehr als eine Ansammlung von Brettern ohne Anstrich, die seit dem letzten Hurrikan keine Fenster mehr hatten.

»Schöner Or’! Ja Seno!« konnte sich der Portugiese nicht verkneifen, indem er den Akzent des Bordkochs imitierte. »Schön und berühmt!«

Von neuem spuckte er aus, um damit auszudrücken, was er in Wahrheit von einer Insel hielt, von der man ihm schon als Kind Wunderdinge erzählt hatte. Schließlich entschloß er sich jedoch dazu, in der am besten erhaltenen Hafenschenke Platz zu nehmen. Seine schmutzige Kleidung, seine schmierigen zerzausten Haare und seine braunen Hauer paßten geradezu vorzüglich zu den schmutzigen Stühlen, den schmierigen Tischen und den braunen Nägeln der verwahrlosten Bedienung, die vor langer Zeit sicher einmal ein Piratenliebchen gewesen war.

»Was darf’s denn sein?« fragte sie.

»Rum.«

»Merde«, murmelte die Wirtin sichtlich verärgert. »Rum. Immer nur Rum! Seit die verdammten Engländer diesen >Teufelstöter< erfunden haben, will kein Mensch mehr ein anständiges Gesöff haben.«

Die bittere Klage war in gewisser Weise berechtigt. Seit dem verfluchten Tag, an dem ein irischer Säufer in Barbados auf die Idee gekommen war, den Zuckersaft des Zuckerrohrs zu destillieren, hatte sich der Geschmack der Antillenbevölkerung in punkto Alkohol wie durch Zauberhand geändert.

Tatsächlich hatten manche Männer, die oft monatelang auf See waren, nichts anderes im Kopf als das starke Feuerwasser, das anfänglich killdevil oder »Teufelstöter«, später rumbullion (in etwa »Durcheinander«) und schließlich abgekürzt nur noch Rum genannt wurde. Wenn sie an Land gingen, wollten sie nur eins: sich möglichst schnell und billig zu betrinken.

Die milden, verwässerten Weine, die aus Frankreich und Spanien importiert wurden, waren nicht nur zu teuer, oft wurden sie auch auf der langen und heißen Überfahrt schal oder sauer. Ein ganz anderes Kaliber war da ein guter Krug Rum aus Westindien, der umgehend für Euphorie sorgte, ein Vorteil, der nicht zu unterschätzen war, wenn man sich mit voller Absicht betrinken wollte.

Der Rum hatte sich daher zum unangefochtenen König aller westindischen Schenken aufgeschwungen. So kehrte die Wirtin trotz ihrer Proteste und Flüche denn auch bald mit zwei riesigen Krügen des stärksten »Teufelstöters« zurück, setzte sie so hart auf den Tisch, daß reichlich Rum überschwappte, und fragte geradezu aggressiv:

»Noch etwas?«

Der Portugiese nickte:

»Wir brauchen Männer.«

»Männer? Was für Männer?«

»Schwindelfreie Toppsgaste mit Mumm in den Knochen und erfahrene Kanoniere, die gutes Geld verdienen wollen.«

»Wenn es in diesem Drecksnest noch mutige Männer gäbe, hätten sie schon vor langer Zeit das verfluchte Port-Royal in Brand gesteckt«, murmelte das häßliche Weib und zog geräuschvoll den Rotz hoch. »Wie hoch ist mein Anteil?«

»Eine Dublone pro Kopf.«

Die zottelige Hexe nickte zustimmend.

»Ich werde sehen, was sich machen läßt.«

Tiradentes richtete drohend den Finger auf sie.

»Aber bring mir keinen Abschaum. Ich will erfahrene Leute.«

Die Frau lachte nur und zeigte dabei ihr lückenhaftes Gebiß.

»Auf Tortuga haben sie alle Erfahrung. Aber Abschaum sind sie auch alle.«

In der gleichen Nacht zeigte sie, daß sie sehr gut wußte, wovon sie sprach. Von den hundert Vagabunden, die sich in der Schenke beim Kapitän der Botafumeiro vorstellten, hatten die meisten mehr als genug Erfahrung, aber sie waren auch echter Abschaum.

Rum, Hunger, Skorbut, Syphilis und einige berauschende Pilze, die einen halb verrückt machten, hatte diese herrenlose Bande in ein Panoptikum menschlichen Abfalls verwandelt, der aber allen Enthusiasmus zeigte, die geringste Gelegenheit beim Schopf zu packen und einen kahlen Felsen zu verlassen, von dem sie sich nichts mehr erhoffen konnten.

»Die Bezahlung ist gut«, ermahnte der Portugiese einen nach dem anderen, der vor ihm Platz nahm. »Aber wenn du dich entschließt, bei mir anzuheuern, mußt du folgendes wissen: Alkohol, Pilze, Glücksspiel und Frauen sind an Bord verboten. Und bei mir gibt es nur eine einzige Strafe: Dem Missetäter reiße ich einen Zahn aus. Je schwerer das Vergehen, desto mehr Zähne. Und wenn keine Zähne mehr da sind, hänge ich ihn auf. Geh, und denk darüber nach. Wenn du mit der Arbeit und dem Reglement einverstanden bist, dann komm morgen an Bord.«

Загрузка...