Sechsundzwanzig

Benedikt Jónsson, der ehemalige Inhaber des Landmaschinenimporthandels, nahm Erlendur an der Tür in Empfang.

Dieser Besuch konnte erst jetzt stattfinden, weil Benedikt seine Tochter in Dänemark besucht hatte, die in einer Vorstadt von Kopenhagen lebte. Er war gerade erst nach Island zurückgekommen, und ihm war anzumerken, dass er durchaus gerne länger geblieben wäre, weil er sich in Dänemark außerordentlich wohl fühlte.

Während Benedikt sich über Dänemark ausließ, nickte Erlendur an den Stellen, wo es angebracht zu sein schien.

Benedikt war Witwer und schien mit seinem Leben zufrieden zu sein. Er war klein und gedrungen, hatte ein rotes, rundliches und unschuldiges Gesicht und kurze, dickliche Finger. Er lebte allein in einem gepflegten kleinen Einfamilienhaus. Erlendur hatte vor der Garage einen funkelnagelneuen Mercedes-Geländewagen bemerkt. Wahrscheinlich war der ehemalige Firmeninhaber vorausschauend gewesen und hatte für seine alten Tage etwas auf die hohe Kante gelegt.

»Ich habe immer gewusst, dass ich irgendwann noch einmal Fragen über diesen Mann beantworten muss«, kam Benedikt schließlich zur Sache. Sein Vorrat an höflichem Geschwätz war erschöpft.

»Ja, es geht um diesen Leopold«, sagte Erlendur.

»Das Ganze war ziemlich rätselhaft. Wie schon gesagt, es musste irgendwann mal dazu kommen, dass sich jemand darüber Gedanken macht. Wahrscheinlich hätte ich euch schon damals die Wahrheit sagen sollen, aber …«

»Die Wahrheit?«

»Ja«, fuhr Benedikt fort. »Darf ich vielleicht erfahren, weshalb jetzt wieder nach diesem Mann gefragt wird? Mein Sohn hat mir erzählt, dass du dich auch schon bei ihm erkundigt hast. Am Telefon hast du nicht viel sagen wollen. Warum habt ihr jetzt auf einmal wieder so ein Interesse an ihm? Ich dachte, der Fall wäre damals untersucht und abgeschlossen worden. Das hatte ich zumindest gehofft.« Erlendur berichtete ihm von dem Skelettfund im Kleifarvatn, und dass die Polizei in diesem Zusammenhang einige Fälle von vermissten Personen aufrollte.

»Hast du ihn vielleicht auch privat gekannt?«, fragte Erlendur.

»Privat? Nein, das kann ich nicht behaupten. Er hat nicht viel verkauft in der Zeit, in der er bei uns gearbeitet hat.

Wenn ich mich richtig erinnere, ist er sehr häufig auf dem Land herumgereist. Alle meine Verkäufer waren in ganz Island unterwegs, wir verkauften Landmaschinen und Bagger, aber niemand ist so viel wie Leopold durch die Gegend kutschiert und hat so wenig verkauft wie er.«

»Er war also kein Gewinn für deine Firma?«, fragte Erlendur.

»Ich wollte ihn zuerst überhaupt nicht einstellen«, sagte Benedikt.

»Was?«

»Ja. Nein, was ich meine, ist, dass sie mich eigentlich dazu gezwungen haben. Ich musste einem verflixt guten Mann kündigen, um ihn einzustellen. Es war ja keine so große Firma.«

»Moment mal, würdest du das bitte noch einmal wiederholen. Wer hat dich dazu gezwungen, ihn einzustellen?«

»Sie haben gesagt, ich dürfte niemandem davon erzählen, deswegen … Ich weiß nicht, ob ich das jetzt ans Tageslicht bringen soll. Aber ich habe mich bei dieser Geheimniskrämerei die ganze Zeit über nicht wohl gefühlt. Ich bin nicht für Geheimniskrämerei.«

»Inzwischen sind ja einige Jahrzehnte ins Land gegangen«, sagte Erlendur. »Jetzt kann es doch wohl kaum noch jemandem schaden.«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Sie haben mir damit gedroht, jemand anderem die Vertretung zu übergeben. Das haben sie mir eiskalt angedroht, falls ich diesen Mann nicht einstellen würde. Es kam mir so vor, als sei ich der Mafia in die Klauen geraten.«

»Wer hat dich gezwungen, Leopold einzustellen?«

»Die Hersteller in Deutschland, ich meine in der DDR damals. Die hatten Traktoren, die gut und wesentlich billiger als die amerikanischen waren. Und Bagger und Planierraupen. Wir haben ziemlich viele von denen verkauft, obwohl diese ostdeutschen Marken natürlich nicht so viel hermachten wie Ferguson oder Caterpillar.«

»Konnten sie dir wirklich vorschreiben, wen du einstellst?«

»Sie haben mir gedroht«, sagte Benedikt. »Was hätte ich tun sollen? Ich konnte gar nichts anderes machen, als den Mann einzustellen.«

»Hast du eine Erklärung dafür bekommen, weswegen du diesen Mann einstellen solltest?«

»Nein, keine. Keine einzige Erklärung. Ich habe ihn eingestellt, aber ich habe ihn eigentlich nie richtig kennen gelernt. Sie haben gesagt, es sei nur vorübergehend. Und, wie gesagt, er war nicht so oft in der Stadt, sondern hat meist das ganze Land bereist.«

»Vorübergehend?«

»Es hieß, dass er nicht lange bei mir bleiben würde. Und sie haben bestimmte Bedingungen gestellt. Er durfte auf keiner Gehaltsliste erscheinen. Er war freiberuflich für mich tätig, und die Provision musste ich ihm schwarz bezahlen, was gar nicht so einfach war. Mein Steuerberater hat mir dauernd vorgehalten, dass es nicht in Ordnung sei. Es ging allerdings nicht um große Summen, er hat bestimmt nicht davon leben können, was ich ihm gezahlt habe. Er muss von irgendwo anders her Einkünfte bezogen haben.«

»Was glaubst du, was bei diesen Leuten dahinter gesteckt hat?«

»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Und dann ist er auf einmal verschwunden, und seitdem habe ich nichts mehr von Leopold gehört, außer natürlich, als ihr mich dann über ihn ausgefragt habt.«

»Du hast also damals nichts von dem, was du mir jetzt gesagt hast, erwähnt?«

»Ich habe niemandem etwas davon gesagt. Sie haben mir gedroht. Mein Auskommen hing von diesem Unternehmen ab, und ich musste an meine Angestellten denken.

Obwohl die Firma nicht sehr groß war, haben wir ganz gutes Geld gemacht, als sie anfingen, die Kraftwerke bei Búrfell und Sigalda zu bauen. Da fehlten Maschinen. An den Kraftwerken haben wir uns eine goldene Nase verdient. Das war genau zu dieser Zeit. Die Firma vergrößerte sich, und ich hatte genügend anderes zu tun.«

»Und dann hast du einfach versucht, das Ganze zu verdrängen?«

»Genau. Ich war immer der Meinung, dass mich das nichts anginge. Weil der Hersteller darauf bestand, dass ich diesen Mann einstellte, habe ich es getan, aber persönlich ging es mich nicht das Geringste an.«

»Hast du dir damals Gedanken darüber gemacht, was aus ihm geworden sein könnte?«

»Nein. Er hatte diesen Termin in Mosfellssveit, ließ sich dort aber nicht blicken, soweit man weiß. Vielleicht hatte er es einfach aufgegeben oder ihn auf den nächsten Tag verschoben. Das ist denkbar. Vielleicht hatte er etwas Dringenderes zu erledigen.«

»Du glaubst nicht, dass der Bauer, mit dem er verabredet war, gelogen haben könnte?«

»Da bin ich überfragt.«

»Wer hat sich wegen der Anstellung von Leopold mit dir in Verbindung gesetzt? Er selber?«

»Nein, nicht er selber. Da hat sich jemand aus dieser DDR-Botschaft an der Ægisíða an mich gewandt. Eigentlich war es eine kleine Handelsvertretung und keine richtige Botschaft, die sie damals hier in Island unterhielten. Später haben sie sich dann vergrößert. Wir haben uns übrigens in Leipzig getroffen.«

»In Leipzig?«

»Wir sind einmal im Jahr zur Leipziger Messe gefahren. Dort wurden alle möglichen Industriemessen veranstaltet, und von hier aus fuhr immer eine ziemlich große Delegation hin. Ich meine, von den Firmen, die Geschäftsbeziehungen zu den Betrieben in der DDR unterhielten.«

»Wer war der Mann, der damals mit dir gesprochen hat?«

»Er hat sich nie vorgestellt.«

»Kommt dir der Name Lothar bekannt vor? Lothar Weiser? Er war Deutscher.«

»Nie gehört. Lothar Weiser? Der Name ist mir noch nie untergekommen.«

»Kannst du mir diesen Mann aus der Botschaft beschreiben?«

»Das ist alles so lange her. Er war ziemlich stämmig und gar nicht mal unsympathisch, würde ich sagen, wenn er mich nicht dazu gezwungen hätte, diesen Leopold einzustellen.«

»Findest du nicht, dass du seinerzeit die Polizei darüber hättest informieren müssen? Siehst du nicht, dass das ein anderes Licht auf den Fall geworfen hätte?« Benedikt zögerte, dann zuckte er mit den Achseln.

»Ich habe versucht, weder mich noch meine Firma damit zu belasten. Und ich fand, dass mich das wirklich nichts anging. Dieser Mann hatte nichts mit mir zu tun, und er hatte im Grunde genommen genauso wenig mit der Firma zu tun. Ich wurde unter Druck gesetzt. Was sollte ich tun?«

»Kannst du dich an die Verlobte von diesem Leopold erinnern?«

»Nein«, sagte Benedikt nachdenklich. »Nein, das kann ich nicht behaupten. War sie …«

Sein Verstummen deutete darauf hin, dass er nicht so recht wusste, was er eigentlich über die Frau sagen sollte, die den Mann, den sie liebte, verlor und nie erfuhr, was aus ihm geworden war.

»Ja«, sagte Erlendur. »Sie war untröstlich. Und ist es immer noch.«


Der Tscheche Miroslav lebte in Südfrankreich. Er war zwar nicht mehr der Jüngste, aber sein Gedächtnis funktionierte noch einwandfrei. Er sprach Französisch und Englisch und erklärte sich bereit, sich telefonisch mit Sigurður Óli zu unterhalten. Patrick Quinn von der amerikanischen Botschaft hatte das Gespräch vermittelt. Der Tscheche war seinerzeit in seinem Heimatland wegen Spionage verurteilt worden und hatte einige Jahre im Gefängnis verbracht. Er war aber als Spion weder besonders umtriebig noch erfolgreich gewesen. Deswegen hatte er wohl den größten Teil seiner Laufbahn im auswärtigen Dienst in Island verbracht.

Er betrachtete sich selbst nicht als Spion, sondern erklärte, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, als ihm Geld dafür angeboten wurde, einen Kontaktmann in der amerikanischen Botschaft auf dem Laufenden zu halten, falls sich etwas Ungewöhnliches in seiner Botschaft oder in denen der anderen Ostblockstaaten zutrug. Er hatte aber nie etwas zu berichten gehabt, da auf Island ja nichts passierte.

Inzwischen war der Sommer fortgeschritten. Während der Sommerpause war das Skelett im Kleifarvatn vollständig in Vergessenheit geraten. In den Medien wurde mit keinem Wort mehr darauf eingegangen. Weil die meisten in Urlaub waren, hatte es sich auch hinausgezögert, dass Erlendurs Antrag auf eine Durchsuchung des ehemaligen Landbesitzes der beiden Brüder bearbeitet wurde.

Sigurður Óli war zwei Wochen mit Bergþóra in Spanien gewesen und kam braun gebrannt und gut gelaunt von dort zurück. Elínborg war in Island geblieben und hatte die zwei Wochen mit ihrem Teddi in einem Ferienhaus in Nordisland verbracht, das ihrer Schwester gehörte.

Das Interesse an ihrem Kochbuch hielt unvermindert an, und als in einer der Illustrierten ein kleines Interview mit ihr erschien, erklärte sie, dass das nächste bereits im Ofen garte, und meinte damit ein neues Kochbuch.

Eines Tages gegen Ende Juli flüsterte sie Erlendur zu, dass es jetzt endlich bei Sigurður Óli und Bergþóra geklappt hätte.

»Warum flüsterst du?«, fragte Erlendur.

»Endlich«, seufzte Elínborg froh. »Bergþóra hat es mir gesagt. Es soll noch geheim bleiben.«

»Was?«, fragte Erlendur.

»Bergþóra ist schwanger!«, sagte Elínborg. »Sie haben sich doch so viel Mühe gegeben! Sie haben es sogar mit künstlicher Befruchtung versucht, und jetzt hat es endlich geklappt.«

»Sigurður Óli bekommt also ein Kind?«, sagte Erlendur.

»Ja«, entgegnete Elínborg. »Aber kein Wort zu den anderen, es soll noch niemand etwas davon wissen.«

»Das arme Kind«, sagte Erlendur. Elínborg schnaubte verächtlich und verließ sein Büro.

Dieser Miroslav gab sich zunächst außerordentlich kooperativ. Das Telefongespräch wurde von Sigurður Ólis Büro aus geführt. Elínborg und Erlendur waren ebenfalls anwesend. Das Gespräch sollte aufgezeichnet werden. Am vereinbarten Tag zur vereinbarten Zeit nahm Sigurður Óli den Hörer ab, wählte die Nummer und schaltete den Lautsprecher ein.

Erst nach mehrmaligem Klingeln antwortete eine weibliche Stimme. Sigurður Óli stellte sich vor und fragte nach Miroslav. Er wurde um einen Augenblick Geduld gebeten.

Sigurður Óli blickte zu Elínborg und Erlendur hinüber und zuckte etwas verständnislos mit den Achseln. Endlich kam ein Mann an den Apparat, der sich als Miroslav vorstellte.

Sigurður Óli wiederholte noch einmal seinen Namen und kam gleich auf die Sache zu sprechen. Miroslav wusste sofort, worum es ging. Er sprach sogar ein wenig Isländisch, wollte aber das Gespräch lieber auf Englisch führen.

»Einfacher für mich«, sagte er.

»Ja, genau. Ähm, es handelt sich also um diesen Mitarbeiter der DDR-Vertretung in Reykjavik. In den siebziger Jahren war das. Diesen Lothar Weiser.«

»Ich habe gehört, dass ihr eine Leiche in einem See gefunden habt und glaubt, dass er das ist«, sagte Miroslav.

»Das steht keineswegs fest«, sagte Sigurður Óli. »Es ist nur eine Möglichkeit von mehreren«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.

»Ihr findet wohl dauernd Leichen, die an russische Abhörgeräte gebunden sind«, erwiderte Miroslav und lachte laut.

Quinn hatte ihn offensichtlich gut gebrieft. »Nein, ist mir schon klar. Ich verstehe natürlich, dass ihr vorsichtig an die Sache herangeht und nicht allzu viel preisgeben wollt und erst recht nicht am Telefon. Kriege ich diese Informationen bezahlt?«

»Tut mir Leid«, sagte Sigurður Óli. »Wir haben leider keine Möglichkeit, über so etwas zu verhandeln. Uns wurde gesagt, dass Sie mit uns kooperieren wollen.«

»Kooperieren, genau«, sagte Miroslav. »Enginn peningur?«, fragte er dann auf Isländisch.

»Nei«, antwortete Sigurður Óli ebenfalls auf Isländisch.

»Engir peningar.«

Die Leitung blieb eine Weile stumm, und sie warfen sich gegenseitig Blicke zu. Erst nach einer ganzen Weile meldete sich der Tscheche wieder. Er rief etwas in einer Sprache, die wohl Tschechisch war, und im Hintergrund antwortete eine weibliche Stimme. Die Stimmen klangen so gedämpft, als hielte er die Hand vor die Muschel. Es entspann sich ein längerer Wortwechsel, aber sie konnten nicht recht hören, ob es ein Streit war.

»Lothar Weiser war einer von den DDR-Spitzeln auf Island«, ließ sich Miroslavs Stimme auf einmal unvermittelt wieder in der Leitung vernehmen. Die Worte sprudelten aus ihm heraus, als sei er wütend wegen dieses Wortwechsels mit der Frau. »Lothar Weiser sprach ausgezeichnet Isländisch, das hat er in Moskau gelernt, wussten Sie das?«

»Ja, genau«, sagte Sigurður Óli. »Was hat er hier in Island gemacht?«

»Er betitelte sich als Wirtschaftsreferent. Das taten sie alle.«

»War er denn etwas anderes?«, fragte Sigurður Óli.

»Lothar Weiser arbeitete nicht für die Handelsvertretung, sondern für den Staatssicherheitsdienst der DDR«, erklärte Miroslav. »Seine Aufgabe war es, die Leute auf seine Seite zu ziehen, und darauf verstand er sich ausgezeichnet. Er wandte alle möglichen Tricks an, damit sie für ihn arbeiteten, und hatte ein besonderes Geschick dafür, sich die Schwächen der Leute zunutze zu machen. Er setzte sie so lange unter Druck, bis sie mit ihm zusammenarbeiteten. Er stellte ihnen regelrechte Fallen, unter anderem mit Hilfe von Nutten. Das haben sie alle getan. Er machte Aufnahmen, die die Leute in Schwierigkeiten bringen konnten. Begreifen Sie, worauf ich hinauswill? Er war ziemlich ideenreich.«

»Hat er, wie sollen wir das nennen, Komplizen hier in Island gehabt?«

»Meines Wissens nicht, aber das bedeutet nicht, dass er sie nicht trotzdem gehabt haben könnte.« Erlendur griff nach einem Stift auf dem Schreibtisch und begann, einen Gedanken, der ihm durch den Kopf geschossen war, auf ein Blatt zu kritzeln.

»Hatte er isländische Freunde, an die Sie sich erinnern können?«

»Über seine Verbindungen zu Isländern weiß ich nichts. Ich habe ihn nicht näher kennen gelernt.«

»Könnten Sie uns Lothar Weiser etwas genauer beschreiben?«

»Das Einzige, was für Lothar Weiser eine Rolle spielte, war er selber. Ihm war es völlig egal, wen er hinterging und betrog, solange er nur selber Nutzen daraus ziehen konnte. Er hatte viele Feinde, und es gab zweifellos nicht wenige, die ihn am liebsten aus dem Weg geräumt hätten. Das habe ich zumindest gehört.«

»Kannten Sie jemanden, der ihn gerne aus dem Weg geräumt hätte?«

»Nein.«

»Was ist mit diesem russischen Apparat, woher könnte der stammen?«

»Aus jeder x-beliebigen kommunistischen Botschaft in Reykjavik. Wir haben alle russische Geräte verwendet. Dort wurden die meisten davon hergestellt, und alle Botschaften hatten solche Geräte aus der Sowjetunion. Sendegeräte, Aufnahmegeräte, Abhörgeräte. Sogar Radios und diese hoffnungslosen russischen Fernsehapparate. Die haben uns mit diesem ganzen Mist bombardiert, und wir waren gezwungen, die Sachen zu kaufen.«

»Soweit wir sehen können, haben wir ein Abhörgerät gefunden, das dazu verwendet worden ist, die amerikanischen Streitkräfte in Keflavík zu überwachen.«

»Das war im Grunde genommen das Einzige, was gemacht wurde«, sagte Miroslav. »Und dann haben wir noch andere Botschaften abgehört. Außerdem hatten die Amerikaner natürlich im ganzen Land Radarstationen. Aber darüber will ich nicht sprechen. Quinn hat mir gesagt, dass Sie etwas über das Verschwinden von Lothar Weiser wissen wollen.«

Erlendur reichte Sigurður Óli das Blatt, und er las die Frage vor, die Erlendur eingefallen war.

»Wissen Sie, weshalb Weiser nach Island geschickt worden war?«

»Weshalb?«, sagte Miroslav.

»Uns wurde gesagt, dass Island für diplomatische Kreise am Ende der Welt liegt und beim diplomatischen Korps nicht sonderlich beliebt ist«, sagte Sigurður Óli.

»Für uns, die wir aus der Tschechoslowakei kamen, war es ganz okay«, sagte Miroslav. »Mir ist nicht bekannt, dass Lothar Weiser sich etwas hat zuschulden kommen lassen und womöglich deswegen nach Island geschickt wurde, falls Sie darauf anspielen. Soweit ich weiß, ist er einmal aus Norwegen ausgewiesen worden. Die Norweger fanden heraus, wer er war, als er versuchte, einen hoch gestellten Beamten im Außenministerium zur Zusammenarbeit zu bewegen.«

»Was wissen Sie über Lothar Weisers Verschwinden?«

»Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, war bei einem Empfang in der sowjetischen Botschaft. Kurze Zeit später hieß es dann, dass er spurlos verschwunden wäre. Das war im Jahr 1968. Es waren schlimme Zeiten damals wegen dem, was in Prag passierte, und in dem Zusammenhang hat sich Weiser auf diesem Empfang über den Ungarnaufstand 1956 ausgelassen. Ich hörte nur ein paar Gesprächsfetzen, aber ich kann mich noch daran erinnern, denn das, was er sagte, war irgendwie typisch für ihn.«

»Und was hat er gesagt?«, fragte Sigurður Óli.

»Er sprach über irgendwelche Ungarn, die er in Leipzig kannte«, sagte Miroslav. »Vor allem über eine Frau, die damals viel mit isländischen Studenten in Leipzig zusammen war.«

»Erinnern Sie sich daran, was er genau gesagt hat?«

»Er sagte, dass er wüsste, wie man mit diesen politischen Abweichlern umspringen müsste, diesen Dissidenten in der Tschechoslowakei. Am besten sollte man sie sich alle, wie sie da waren, einfach schnappen und in den Gulag befördern. Er war angetrunken, als er das sagte, und worüber er genau gesprochen hat, weiß ich nicht, aber so hat er sich ausgedrückt.«

»Und kurz darauf haben Sie gehört, dass er verschwunden war?«

»Er hat sich bestimmt was zuschulden kommen lassen«, sagte Miroslav. »Davon gingen die Leute aus. Es ging das Gerücht, dass sie ihn selber liquidiert hätten, die Ostdeutschen, um ihn anschließend per Kurier in die DDR zu schicken. Das hätte durchaus der Fall sein können. Diplomatenpost unterlag keinerlei Kontrollen. Wir konnten damals auf diese Weise alles einführen oder ausführen, was wir wollten, es waren unglaubliche Dinge darunter.«

»Oder sie haben ihn im Wasser versenkt«, sagte Sigurður Óli.

»Ich weiß nur das eine, nämlich dass er komplett von der Bildfläche verschwand und man nie wieder etwas von ihm gehört hat.«

»Wissen Sie, was er sich möglicherweise hat zuschulden kommen lassen?«

»Wir glaubten damals, dass er eine Kehrtwendung gemacht hätte.«

»Eine Kehrtwendung?«

»Sich von den anderen hat kaufen lassen. Das passierte nicht selten. Schauen Sie mich an. Aber in der DDR verfuhr man nicht so gnädig mit solchen Überläufern wie bei uns in der Tschechoslowakei.«

»Sie meinen, dass er Informationen an …«

»Ist ganz bestimmt kein Geld für mich drin?«, unterbrach Miroslav Sigurður Óli. Die Frauenstimme im Hintergrund war wieder da, und zwar durchdringender als zuvor.

»Tut mir Leid«, sagte Sigurður Óli.

Sie hörten, wie Miroslav etwas in seiner Muttersprache sagte, um dann auf Englisch fortzufahren: »Ich habe genug gesagt. Versuchen Sie nicht noch einmal, hier anzurufen.«

Dann knallte er den Hörer auf. Sie schauten sich an. Erlendur streckte die Hand nach dem Aufnahmegerät aus und schaltete es ab.

»Wie konntest du dich nur so blöde anstellen«, sagte er zu Sigurður Óli. »Konntest du ihm nicht etwas vorlügen? Ihm sagen, dass er zehntausend Kronen kriegen würde, oder so was. Warum hast du nicht versucht, ihn noch etwas länger in der Leitung zu behalten?«

»Reg dich ab«, sagte Sigurður Óli. »Er wollte nichts mehr sagen. Er wollte nicht mehr mit uns reden. Das habt ihr doch gehört.«

»Bringt uns das hier weiter in der Frage, wer da im See gelegen hat?«, fragte Elínborg.

»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Ein so genannter Wirtschaftsreferent aus der DDR und ein russisches Spionagegerät. Es könnte passen.«

»Meiner Meinung nach liegt es klar auf der Hand«, sagt Elínborg. »Lothar und Leopold sind ein und derselbe Mann, und seine Leiche wurde im Kleifarvatn versenkt. Er hat sich was zuschulden kommen lassen, und sie mussten ihn loswerden.«

»Und die Frau im Milchgeschäft?«, fragte Sigurður Óli.

»Sie hat keine Ahnung gehabt, was los war«, sagte Elínborg. »Sie weiß nichts über diesen Mann, außer dass er nett zu ihr gewesen ist.«

»Vielleicht war sie ein Teil seiner Camouflage hier«, sagte Erlendur.

»Vielleicht«, sagte Elínborg.

»Also, ich finde, dass die Tatsache, dass das Gerät kaputt war, als die Leiche damit versenkt wurde, etwas zu bedeuten hat«, gab Sigurður Óli zu bedenken. »Als hätte es nicht mehr verwendet werden sollen und wäre mutwillig zerstört worden.«

»Die Frage ist, ob das Gerät tatsächlich aus einer dieser Botschaften stammt. Oder ob es nicht irgendwie auf anderen Wegen ins Land gekommen sein kann«, sagte Elínborg. »Wer in aller Welt würde denn ein russisches Abhörgerät einschmuggeln wollen?«, fragte Sigurður Óli. Sie schwiegen, und alle drei dachten so ungefähr das Gleiche. Dieser Fall war so verzwickt, dass sie sich absolut keinen Reim darauf machen konnten. Sie hatten es gewöhnlich mit simplen, isländischen Verbrechen zu tun, bei denen keine rätselhaften Apparate auftauchten oder Wirtschaftsreferenten, die noch nicht einmal welche waren, wo weder ausländische Botschaften eine Rolle spielten, noch der Kalte Krieg, sondern nur die isländische Realität, unbedeutend, ereignislos, alltäglich und so unendlich weit entfernt von den Konfliktschauplätzen dieser Welt.

»Gibt es denn wirklich gar keinen isländischen Aspekt bei dieser Sache?«, fragte Erlendur schließlich, um irgendetwas zu sagen.

»Genau«, sagte Elínborg. »Was ist mit diesen Studenten? Sollten wir nicht versuchen, sie ausfindig zu machen und herauszufinden, ob einer von denen sich an diesen Lothar Weiser erinnern kann? Dem sind wir noch gar nicht nachgegangen.«

Am nächsten Tag wurde Sigurður Óli aus dem isländischen Kultusministerium eine Liste mit den Namen derjenigen zugestellt, die ein Studium in der DDR absolviert hatten, und zwar seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis etwa 1970. Sie kamen nur langsam voran; sie begannen mit denjenigen, die Ende der sechziger Jahre dort gewesen waren, und arbeiteten sich von da aus zeitlich zurück. Es gab keinen Zeitdruck, und sie konnten sich parallel dazu mit anderen Dingen befassen, die unterdessen auf ihren Schreibtischen landeten, größtenteils Einbrüche und Diebstähle. Sie wussten zwar, dass Lothar Weiser in den fünfziger Jahren an der Leipziger Universität immatrikuliert gewesen war, aber es war durchaus denkbar, dass er sich auch noch in späteren Jahren dort herumgetrieben hatte. Sie versuchten, die Suche so effektiv wie möglich zu gestalten, deswegen tasteten sie sich von dem Zeitpunkt an, als er in Island spurlos verschwunden war, Schritt für Schritt in die Vergangenheit zurück.

Die Strategie war, die Betreffenden nicht anzurufen und sich am Telefon mit ihnen zu unterhalten, sondern sie versprachen sich mehr davon, unerwartet bei ihnen zu Hause vorzusprechen. Erlendur war der Meinung, dass die erste Reaktion, wenn die Kriminalpolizei vor der Tür stand, besonders wichtig war. Wie in militärischen Auseinandersetzungen konnte ein unerwarteter Angriff unter Umständen den Gegner aus der Reserve locken. Das Mienenspiel beispielsweise, wenn sie erklärten, weshalb sie gekommen waren. Die ersten Sätze.

Der September neigte sich bereits dem Ende zu, und sie waren mit ihren Recherchen über isländische Studenten in Leipzig in der Mitte der fünfziger Jahre angelangt, als Elinborg und Sigurður Óli eines Tages an der Tür einer Frau mit Namen Rut Bernharðs anklopften. Ihren Informationen zufolge hatte sie schon nach anderthalb Jahren das Studium in Leipzig abgebrochen.

Sie kam selbst zur Tür und erschrak heftig, als sich herausstellte, dass die Kriminalpolizei etwas von ihr wollte.

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