Drei

Er stand auf, schaltete die Fernsehnachrichten aus und seufzte tief. Es hatte eine ausführliche Berichterstattung über den Knochenfund im Kleifarvatn gegeben, und ein Interview mit dem zuständigen Beamten, der erklärte, dass der Fall eingehend untersucht würde.

Er ging zum Fenster und schaute Richtung Meer. Auf dem Bürgersteig bemerkte er das Ehepaar, das jeden Abend an seinem Haus vorbeispazierte, der Ehemann wie immer einen Meter voraus, während die Frau versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Sie unterhielten sich während des Spaziergangs, er sprach nach hinten und sie mit seinem Rücken. Seit vielen Jahren schon kamen sie an seinem Haus vorbei und hatten längst aufgehört, ihrer Umgebung irgendwelche Beachtung zu schenken. Früher allerdings hatten sie manchmal zu seinem Haus hochgeblickt und zu den anderen Häusern in der Straße am Meer, und in die Gärten. Manchmal waren sie sogar stehen geblieben, um sich neue Spielgeräte vor den Häusern anzuschauen oder neue Zäune und Sonnenterrassen. Bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit unternahmen sie nachmittags oder abends diesen Spaziergang, immer zu zweit.

Seine Blicke schweiften über das Meer, und am Horizont sah er ein großes Frachtschiff. Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, obwohl es schon Abend war. Die hellste Zeit des Jahres stand bevor, aber danach würden die Tage wieder kürzer werden, bis schließlich kaum noch etwas von ihnen übrig blieb. Das Frühjahr war schön gewesen. Mitte April waren die ersten Goldregenpfeifer auf der Wiese vor seinem Haus herumspaziert. Sie waren mit den Frühlingswinden aus Europa gekommen.

Als er zum ersten Mal mit dem Schiff ins Ausland reiste, war der Sommer gerade zu Ende gewesen. Damals waren die Frachtschiffe nicht so groß, und es gab keine Container. Er erinnerte sich an die Seeleute, die im Laderaum mit Säcken hantierten, die einen halben Zentner wogen. Erinnerte sich an ihre derben Sprüche und ihr Seemannsgarn. Sie kannten ihn, weil er im Sommer am Hafen gearbeitet hatte, und sie machten sich einen Spaß daraus, zu erzählen, wie sie die Zollbeamten austricksten.

Einige von diesen Geschichten waren so abenteuerlich, dass er genau wusste, dass sie erfunden waren. Andere waren spannend und dramatisch, auch ohne dass etwas hinzugedichtet werden musste. Und einige Geschichten bekam er nie zu hören, obwohl sie sagten, dass er bestimmt nichts weitererzählen würde, er, der Kommunist mit Abitur! Nichts weitererzählen.

Sein Blick fiel wieder auf den Fernseher. Es kam ihm so vor, als habe er sein ganzes Leben lang auf diese Nachricht gewartet.


Solange er zurückdenken konnte, war er Sozialist gewesen, wie alle anderen Familienmitglieder mütterlicher- und väterlicherseits. Unpolitisch zu sein wäre undenkbar gewesen, und er wuchs mit dem Hass auf alle Reaktionäre auf.

Sein Vater hatte sich schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Arbeiterkampf engagiert. Bei ihm zu Hause wurde viel über Politik diskutiert, meist ging es um das amerikanische Militär in Keflavík, das von der kleinen Schicht der Begüterten gehätschelt und getätschelt wurde.

Es waren die isländischen Kapitalisten, die am meisten von der Anwesenheit der Soldaten profitierten.

Und dann seine Freunde, die alle einen ähnlichen Hintergrund hatten. Ihre Ansichten waren radikal, und einige von ihnen waren rhetorisch äußerst begabt. Er erinnerte sich gut an die politischen Zusammenkünfte. An ihre Hitzigkeit und Leidenschaft, wenn sie das Wort ergriffen. Er besuchte diese Veranstaltungen zusammen mit seinen Schulkameraden, die genau wie er in der Jugendorganisation der Partei aktiv waren. Sie lauschten ihrem Vorsitzenden, der mitreißende, markige Reden gegen die Kapitalisten vom Stapel ließ, die das Proletariat ausbeuteten — und gegen das amerikanische Militär, das diese Bonzen in der Tasche hatte. Wie oft hatte er sich das angehört, und immer aus der gleichen tiefen und glühenden Überzeugung heraus. Er ließ sich von alldem, was er hörte, begeistern und mitreißen, denn er war als patriotischer Isländer und aufrechter Sozialist erzogen worden, der genau wusste, was er zu glauben hatte. Er wusste, dass die Wahrheit auf seiner Seite war.

Bei diesen Zusammenkünften diskutierten sie häufig über die amerikanischen Streitkräfte in Keflavík und die abgefeimten Winkelzüge der isländischen Kapitalisten, die um jeden Preis den Amerikanern die Genehmigung zuschanzen wollten, auf isländischem Boden einen militärischen Stützpunkt einzurichten.

Er wusste genau, wie das Land an die Amerikaner verschachert worden war, damit die isländischen Kapitalisten so fett werden konnten wie die Maden im Speck. Er hatte als Jugendlicher am Austurvöllur miterlebt, wie die Söldner des Kapitalismus mit Tränengas und Keulen aus dem Allthinghaus herausstürzten und auf die Demonstranten einknüppelten. Diese Landesverräter sind Lakaien des amerikanischen Imperialismus! Wir stehen unter der Knute amerikanischer Plutokraten!

Dem Nachwuchs mangelte es nicht an schlagkräftigen Parolen.

Er gehörte selber dem unterdrückten Volk an. Er ließ sich von der Begeisterung, von den zündenden Reden und der gerechten Idee, dass alle gleich seien, mitreißen. Der Direktor sollte mit seinen Arbeitern in der Fabrik stehen.

Weg mit der Klassengesellschaft! Er glaubte aufrichtig und unerschütterlich an den Sozialismus. Er spürte ein inneres Bedürfnis, für die Sache einzutreten, um andere zu überzeugen und für diejenigen zu kämpfen, die schlechter gestellt waren, die Arbeiter und die Unterdrückten.

Völker, hört die Signale.

Er beteiligte sich mit viel Engagement an den Diskussionen bei diesen Zusammenkünften und beschaffte sich einschlägige Lektüre bei der Jugendorganisation oder suchte in Bibliotheken und Buchläden danach. Es gab genug davon. Er steckte voller Tatendrang und war in seinem Herzen zutiefst davon überzeugt, dass die Wahrheit seine Waffe war. Vieles von dem, worüber in der Jugendorganisation diskutiert wurde, erfüllte ihn mit dem Gefühl der gerechten Sache.

Nach und nach erlernte er die Antworten auf die Fragen nach dem dialektischen Materialismus, dem Klassenkampf und den bewegenden Kräften der Geschichte, nach Kapital und Proletariat. Je mehr er las und sich für das, was er las, begeisterte, desto versierter wurde er darin, seine eigenen Beiträge auszuschmücken, indem er die geistige Elite der Revolution zitierte. Nach einiger Zeit war er seinen Altersgenossen nicht nur in Bezug auf die Texte der marxistischen Theorie, sondern auch rhetorisch so weit voraus, dass der Vorstand der Jugendorganisation auf ihn aufmerksam wurde. Wenn es um die Wahlen in den Vorstand und die einzelnen Kommissionen ging oder wenn Resolutionen verfasst werden mussten, wurde viel Pulver verschossen. Er wurde gefragt, ob er bereit sei, sich im Vorstand zu engagieren. Er war damals in der Unterprima, wo sie einen Debattierclub gegründet hatten, der »Rote Fahne« hieß. Sein Vater hatte entschieden, dass er als Einziger der vier Geschwister eine höhere Schulbildung erhalten sollte. Dafür war er ihm sein ganzes Leben dankbar gewesen.

Trotz allem.

Die Jugendorganisation war sehr aktiv, sie gab ein Mitteilungsblatt heraus, und es fanden viele Veranstaltungen statt. Der Vorsitzende wurde sogar nach Moskau eingeladen. Als er von dort zurückkam, konnte er aus eigener Anschauung über den Proletarierstaat berichten. Der Aufbau war grandios. Die Leute waren so zufrieden. Alle hatten genug von allem. Kolchosen und Planwirtschaft ließen einen Fortschritt erkennen, der alles andere in den Schatten stellte. Der Aufbau der Industrie nach dem Krieg übertraf die kühnsten Erwartungen. Fabriken schossen aus dem Boden, die im Besitz des Staates, der Arbeiter selber waren und von ihnen geführt wurden. Neue Wohnsiedlungen entstanden in den Außenvierteln der Stadt.

Und die ärztliche Versorgung war kostenlos. Alles, was sie gelesen, alles, was sie gehört hatten, war also wahr. Was für Zeiten!

Zwar waren auch andere Genossen nach Russland gereist und hatten von ganz anderen und schlimmen Erfahrungen berichtet, aber davon ließ sich der Nachwuchs der Partei nicht beeinflussen. Solche Leute waren Handlanger des Kapitals. Sie begingen Verrat an der Sache, am Kampf um eine gerechtere Gesellschaft.

Die Veranstaltungen des Debattierclubs »Rote Fahne« waren gut besucht und bewirkten, dass sich weitere Leute der Bewegung anschlossen. Er wurde einstimmig zum Vorsitzenden gewählt, was die Aufmerksamkeit von einflussreichen Mitgliedern der Sozialistischen Partei weckte.

In seinem letzten Jahr am Gymnasium, das er mit Bravour absolvierte, stand fest, dass er das Zeug dazu hatte, einer der führenden Köpfe in der Partei zu werden.


Er wandte sich vom Fenster ab und ging zum Klavier, über dem sein Abiturfoto hing. Die Jungen in schwarzen Anzügen, die Mädchen in schwarzen Kleidern. Er betrachtete die Gesichter unter den weißen Mützen. Das Schulgebäude glänzte in der Sonne, und die weißen Mützen leuchteten.

Er hatte den zweitbesten Notendurchschnitt beim Abitur gehabt, und es hatte nicht viel zum ersten Platz gefehlt. Er strich über das Bild und dachte wehmütig an die Jahre im Gymnasium zurück. An die Zeit, als seine Überzeugung so felsenfest war, dass nichts sie erschüttern konnte.


In seinem letzten Jahr auf dem Gymnasium wurde ihm die Mitarbeit beim Parteiorgan angeboten. In den Sommerferien hatte er im Hafen beim Löschen der Schiffe mitgeholfen, Arbeiter und Seeleute kennen gelernt und mit ihnen diskutiert. Viele von ihnen vertraten reaktionäre Ansichten und nannten ihn einen Kommunisten. Schon bevor er seine Arbeit bei der Zeitung aufnahm, hatte er sich bereits für den Journalismus interessiert und wusste, dass das Parteiorgan eine wichtige Grundlage für die Parteiarbeit als solche bedeutete. Zusammen mit dem Vorsitzenden der Jugendorganisation trafen sie sich im Haus des stellvertretenden Parteivorsitzenden. Der schmächtige Vize saß in einem tiefen Sessel, putzte sich die Brille mit einem Taschentuch und dozierte mit leiser Stimme über einen sozialistischen Staat auf Island. Alles, was er da in dem kleinen Wohnzimmer zu hören bekam, war so wahr und so richtig, dass er jedes Wort in sich aufsaugte und ihn bis ins Mark erschaudern ließ.

Er war ein begabter Schüler. Was auch immer er sich vornahm, Geschichte, Mathematik, er brauchte sich nie anzustrengen. Was er einmal im Kopf hatte, blieb darin und war jederzeit verfügbar. Gedächtnis und Lernfähigkeit kamen ihm bei seiner journalistischen Arbeit zustatten, und er gewöhnte sich rasch an seine neue Tätigkeit. Er arbeitete zügig, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und konnte lange Interviews führen, bei denen er sich abgesehen von ein paar Sätzen nichts zu notieren brauchte. Ihm war klar, dass er in seiner journalistischen Arbeit nicht objektiv war, aber wer war das schon.

Er hatte vor, sich im Herbst an der Universität einzuschreiben, war aber gebeten worden, weiterhin für die Zeitung tätig zu sein. Das brauchte er sich nicht zweimal zu überlegen. Mitten im Winter bestellte der stellvertretende Vorsitzende ihn zu sich nach Hause. Die Sozialistische Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik bot einigen isländischen Studenten Stipendien zum Studium an der Universität Leipzig an. Falls er das Stipendium annähme, müsste er selbst für die Reisekosten aufkommen, aber Unterkunft und Lebenshaltungskosten würden vom Gastland getragen.

Er war gespannt darauf, nach Osteuropa oder in die Sowjetunion gehen, um mit eigenen Augen den Aufbau nach dem Krieg zu sehen. Er wollte reisen und andere Länder kennen lernen — und Sprachen lernen. Er wollte den real existierenden Sozialismus erleben. Vor dem Abitur hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich um einen Studienplatz an der Universität Moskau zu bewerben, aber er hatte immer noch nichts in die Wege geleitet, als er zu diesem Treffen bestellt wurde. Der stellvertretende Parteivorsitzende putzte sich wieder die Brille mit dem Taschentuch und wies ihn darauf hin, dass ein Studienplatz in Leipzig eine einmalige Chance für ihn sei, einen kommunistischen Staat von innen heraus kennen zu lernen, mit eigenen Augen den Sozialismus in der Realität zu sehen und eine Ausbildung zu machen, mit der er dem Land später von Nutzen sein konnte.

Der stellvertretende Parteivorsitzende setzte seine Brille auf.

»Und unseren Zielen. Du wirst dich dort wohl fühlen.

Leipzig ist historisch bedeutsam und steht auch in Verbindung mit unserer eigenen Kulturgeschichte. Halldór Laxness reiste dorthin, um seinen Freund Jóhann Jónsson zu besuchen. Und unsere isländischen Volkssagen, die Jón Árnason gesammelt hat, wurden 1862 in Leipzig bei J.C. Hinrichs herausgegeben.«

Er nickte zustimmend. Er hatte alles gelesen, was Halldór Laxness über den Sozialismus im Ostblock geschrieben hatte, und er bewunderte ihn für seine Überzeugungskraft.

Die Familie überlegte, ob er auf einem Frachtschiff anheuern sollte, um sich das Geld für die Überfahrt zu verdienen.

Einer seiner Onkel väterlicherseits kannte einen Mann bei der Schifffahrtsgesellschaft und hatte ihm bislang auch immer die Ferienarbeit am Hafen beschafft. Es gab keine Probleme mit der Schiffspassage, und die ganze Familie war im siebten Himmel. Keiner war in der Welt herumgekommen. Keiner von ihnen war jemals im Ausland gewesen, und schon gar nicht zu einem Universitätsstudium.

Es schien alles wie in einem Märchen zu sein. Das Wunder wurde in Telefongesprächen und Briefen ausgiebig diskutiert. Aus ihm wird noch was werden, sagten die Leute.

Zum Schluss wird er wohl gar noch Minister! Zuerst legte das Schiff auf den Färöern an, dann in Kopenhagen, Rotterdam und Hamburg, wo er abmusterte. Von da aus nahm er den Zug nach Berlin und schlief ein paar Stunden nachts auf dem Bahnhof. Noch in derselben Nacht bestieg er den Zug nach Leipzig. Er wusste, dass niemand ihn in Empfang nehmen würde. Auf einem Zettel in seiner Jackentasche stand eine Adresse, und er würde so lange nach dem Weg fragen, bis er am Ziel war.


Er stand vor dem Abiturfoto, seufzte tief auf und betrachtete das Gesicht seines Freundes, mit dem er in Leipzig war. Im Gymnasium waren sie in dieselbe Klasse gegangen.

Wenn er damals nur schon gewusst hätte, was geschehen würde!

Er überlegte, ob die Polizei tatsächlich die Wahrheit über den Mann im See herausfinden würde. Er tröstete sich damit, dass viel Zeit verstrichen war und niemand mehr ein Interesse an dem hatte, was damals passiert war.

Der Mann im Kleifarvatn ging niemanden mehr etwas an.

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