Zweiunddreißig

Als sie von Selfoss nach Reykjavik zurückfuhren, unterhielten sich Elínborg und Erlendur zunächst über das, was Hannes gesagt hatte. Es war Abend geworden, und auf dem Pass war nicht viel Verkehr. Aber dann wurde Erlendur schweigsam. Er dachte an den schwarzen Falcon.

Es konnte damals wohl kaum viele davon auf Reykjaviks Straßen gegeben haben, obwohl der Falcon nach dem, was Elínborgs Mann Teddi ihm gesagt hatte, ziemlich beliebt gewesen sein musste. Er dachte auch an Tómas, dessen ungarische Verlobte in der DDR verschwunden war. Sie würden ihn bei allernächster Gelegenheit besuchen müssen. Ihm war aber immer noch nicht klar, welche Verbindung zwischen dem Skelett im See und den Leipziger Studenten in den sechziger Jahren bestand. Dann wanderten seine Gedanken zu Eva Lind, die unaufhaltsam dem Verhängnis entgegenschlitterte, und zu seinem Sohn Sindri, der für ihn wie ein Fremder war. All das ging ihm durch den Kopf, und es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu ordnen. Elínborg blickte ihn von der Seite an und fragte, an was er dächte.

»Nichts«, sagte er.

»Irgendwas hast du doch«, sagte Elínborg.

»Nein«, sagte Erlendur, »es ist nichts.« Elínborg zuckte mit den Schultern. Erlendur war mit seinen Gedanken bei Valgerður. Er hatte einige Tage lang nichts von ihr gehört. Ihm war klar, dass sie Zeit brauchte, und schließlich hatte er selbst ja auch keine Eile. Was sie an ihm fand, war ihm ein komplettes Rätsel. Er konnte nicht begreifen, was Valgerður an einem einsamen, schwermütigen Kerl in seinen düsteren vier Wänden in einem Wohnblock schätzte. Er fragte sich manchmal, ob er ihre Freundschaft überhaupt verdiente.

Auf der anderen Seite wusste er aber haargenau, was er an Valgerður mochte, und zwar vom ersten Augenblick an. Sie stand für so vieles, was er nicht war und gerne gewesen wäre. Sie war in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von ihm. Sie war schön, sie lächelte gern, und sie war immer guter Dinge. Trotz der Eheprobleme, mit denen sie zu kämpfen hatte und von denen Erlendur wusste, dass sie ihr schwer zu schaffen machten, versuchte sie, sich nicht unterkriegen zu lassen. An all den Problemen, die sie hatte, sah sie immer auch positive Seiten, und sie war nicht imstande, etwas zu hassen oder sich etwas auf die Nerven gehen zu lassen. Sie ließ sich diese gütige, uneigennützige und großherzige Lebenseinstellung durch nichts verderben, nicht einmal durch ihren Mann, von dem Erlendur glaubte, dass er geistig minderbemittelt sein musste, eine Frau wie Valgerður zu betrügen. Erlendur wusste ganz genau, was er an ihr fand. Er lebte auf, wenn er mit ihr zusammen war.

»Verrat mir, an was du denkst«, sagte Elínborg. Sie langweilte sich.

»An nichts«, sagte er, »ich denke an gar nichts.« Sie schüttelte den Kopf. Erlendur war in diesem Sommer ungewöhnlich bedrückt gewesen, obwohl er sogar mehr Zeit als je zuvor außerhalb der Arbeit mit ihnen verbracht hatte. Sie hatte mit Sigurður Óli darüber gesprochen, und sie nahmen an, dass er wegen Eva Lind so niedergeschlagen war, denn das Mädchen hatte die Verbindung zu ihm fast abgebrochen. Sie wussten, welche Sorgen er sich um sie machte und wie sehr er versucht hatte, ihr zu helfen, aber es hatte den Anschein, als sei das Mädchen nicht imstande, mit sich selber zurechtzukommen. Sie gehört einfach zu den Versagern, war Sigurður Ólis gleich bleibender Kommentar. Elínborg hatte zwei oder drei Mal versucht, mit Erlendur über Eva Lind zu reden, und gefragt, wie es um sie stünde, aber er hatte alles abgeblockt.

In tiefem Schweigen gelangten sie vor Elínborgs Reihenhaus. Sie stieg nicht gleich aus, sondern wandte sich ihm zu.

»Was ist los?«, fragte sie.

Erlendur gab ihr keine Antwort.

»Wie geht es jetzt weiter mit dem Fall? Müssen wir uns nicht mit diesem Tómas unterhalten?«

»Das müssen wir«, entgegnete Erlendur.

»Denkst du an Eva Lind?«, fragte Elínborg. »Bist du deswegen so schweigsam und ernst?«

»Mach dir keine Sorgen meinetwegen«, sagte Erlendur.

»Wir sprechen uns morgen.« Er blickte ihr hinterher, als sie die Treppen hinaufging und das Haus betrat.

Zwei Stunden später, als Erlendur in seinem Sessel saß und nachdenklich vor sich hin starrte, ging auf einmal die Türklingel. Er stand auf, fragte, wer da sei, und betätigte dann den Türöffner. Er machte in seiner Wohnung Licht, ging in die Diele, öffnete die Wohnungstür und wartete. Kurze Zeit später erschien Valgerður.

»Du möchtest vielleicht lieber in Ruhe gelassen werden?«, sagte sie.

»Nein, komm rein«, sagte er.

Sie schlüpfte an ihm vorbei, und er nahm ihr den Mantel ab. Im Wohnzimmer sah sie ein aufgeschlagenes Buch auf dem Tisch neben dem Sessel und fragte, was er im Augenblick läse, und er antwortete, es sei ein Buch über Lawinen.

»Und alle sterben eines grauenvollen Todes«, sagte sie.

Sie hatten nicht selten über sein Interesse an spezifisch volkskundlichem Wissen, an historischen Schriften und an Dokumentarfilmen und Tatsachenberichten gesprochen, die von Bergnot und tragischen Unfällen in Eis und Schnee handelten.

»Nicht alle«, sagte er. »Einige überleben glücklicherweise.«

»Liest du vielleicht deswegen solche Bücher über Tod in den Bergen und Lawinen?«

»Was meinst du damit?«, fragte Erlendur.

»Deswegen, weil einige überleben?« Erlendur musste lächeln.

»Vielleicht. Wohnst du noch bei deiner Schwester?«

Sie nickte. Dann sprach sie darüber, dass sie jetzt wegen der Scheidung mit einem Rechtsanwalt reden müsste, und sie fragte Erlendur, ob er ihr einen empfehlen könne. Sie hatte noch nie in ihrem Leben mit einem Rechtsanwalt zu tun gehabt. Erlendur bot ihr an, sich im Dezernat zu erkundigen, wo es genug Kollegen gab, die ihm einen Tipp geben konnten.

»Hast du noch ein Schlückchen von dem Grünen?«, fragte sie, während sie sich aufs Sofa setzte.

Er nickte und holte den Chartreuse und zwei Gläser. Erinnerte sich dabei, dass er irgendwann einmal gehört hatte, dass es dreißig verschiedener Kräuter und Samen bedurfte, um die richtige Geschmacksnuance zu erzielen. Er setzte sich neben sie und sprach über die Kräuter.

Sie erzählte ihm, dass sie sich tagsüber mit ihrem Mann getroffen hatte. Er hatte Besserung gelobt und darauf gedrängt, dass sie wieder zu ihm zurückkehren sollte. Als sich aber herausstellte, dass sie entschlossen war, ihn zu verlassen, sei er wütend geworden und habe zum Schluss gänzlich die Kontrolle über sich verloren und angefangen, sie anzubrüllen und Verwünschungen auszustoßen. Sie hatten sich in einem Restaurant verabredet, und er überschüttete sie mit Vorwürfen und Beschimpfungen, ohne Rücksicht auf die anderen Gäste im Lokal zu nehmen, die die Szene entgeistert beobachteten. Sie war aufgestanden und hinausgegangen, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

Als sie ihre Geschichte beendet hatte, saßen sie schweigend nebeneinander und tranken die Gläser aus. Sie bat um ein weiteres.

»Und was wird jetzt mit uns beiden?«, fragte sie.

Erlendur, der sein Glas in einem Zug geleert hatte, kam es so vor, als risse das Getränk ihm die Kehle auf. Er füllte die Gläser wieder und dachte an ihren Duft, der ihn gestreift hatte, als sie zur Tür hereinkam. Er war wie ein Hauch eines längst vergangenen Sommers, und er spürte eine seltsame Sehnsucht in sich aufsteigen, die weiter in die Vergangenheit zurückreichte, als ihm selber bewusst war.

»Aus uns wird das, was wir möchten«, sagte er.

»Was hast du vor?«, fragte sie. »Du bist so geduldig gewesen, dass ich mir schon überlegt habe, ob es überhaupt Geduld ist, ob es nicht genauso gut sein kann … dass du lieber nichts mit mir zu tun haben willst.« Sie schwiegen. Die Frage hing in der Luft.

Was hast du vor?

Er leerte das zweite Glas. Das war die Frage, die er sich von dem Moment an gestellt hatte, in dem er ihr begegnet war. Er hatte keine Ahnung, ob er geduldig war. Es war ihm völlig schleierhaft, wie er gewesen war. Er hatte ihr helfen wollen, so viel stand fest. Vielleicht hatte er ihr nicht genügend Aufmerksamkeit oder Zuneigung gezeigt. Er wusste es nicht.

»Du wolltest dich nicht Hals über Kopf in etwas hineinstürzen«, sagte er. »Und ich genauso wenig. In meinem Leben hat es seit langem keine Frau gegeben.«

Er verstummte. Er sehnte sich danach, ihr zu sagen, dass er die allermeiste Zeit ganz allein in dieser Wohnung gehockt hatte, mit nichts als Büchern um sich herum, und dass allein die Tatsache, dass sie jetzt auf dem Sofa saß, ihn unglaublich froh machte. Sie war so ganz anders als alles, was er gewöhnt war, wie eine leichte Sommerbrise. Und dass er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Wie er ihr sagen könnte, dass er, seitdem er ihr begegnet war, an nichts arideres dachte und sich wünschte, mit ihr zusammen zu sein.

»Ich wollte nicht abweisend wirken«, sagte er. »Aber so etwas braucht seine Zeit, ganz besonders für mich. Und du hast natürlich … ich meine, so eine Scheidung ist …« Sie sah, dass er sich schwer tat, über solche Dinge zu reden. Immer, wenn sie auf ihre Beziehung zu sprechen kamen, wurde er verlegen, er geriet ins Stocken und wurde einsilbig. Er redete an und für sich schon nicht viel, und vielleicht fühlte sie sich deswegen in seiner Gegenwart so wohl. Bei ihm gab es keine Verstellung. Er täuschte nie etwas vor. Er hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, anders zu sein, als er war. Er war durch und durch aufrichtig und ehrlich in allem, was er sagte und tat. Das spürte sie und fand darin die Sicherheit, die ihr so lange gefehlt hatte. Sie fand einen Mann in ihm, dem sie vertrauen konnte.

»Entschuldige«, sagte sie lächelnd. »Ich wollte das nicht in irgendwelche Vertragsverhandlungen ausarten lassen. Aber manchmal ist es gut zu wissen, wo man steht. Das verstehst du sicher.«

»Vollkommen«, sagte Erlendur, der spürte, dass die Spannung zwischen ihnen ein wenig nachließ.

»Es braucht seine Zeit, und wir werden einfach sehen«, sagte sie.

»Ich glaube, das ist sehr vernünftig«, nickte er.

»Also schön«, sagte sie und erhob sich. Erlendur stand ebenfalls auf. Sie sagte irgendetwas darüber, dass sie sich mit ihren Söhnen treffen musste, aber er hörte nur mit halbem Ohr hin. Er dachte an etwas anderes. Sie ging zur Tür, und er half ihr in den Mantel. Sie spürte, dass er unschlüssig war. Sie öffnete die Wohnungstür und fragte, ob alles in Ordnung sei. Erlendur blickte sie an. »Geh nicht«, sagte er. Sie hielt in der Tür inne. »Bleib bei mir«, sagte er. Valgerður zögerte. »Bist du sicher?«

»Ja«, sagte er, »geh nicht.«

Sie stand unbeweglich da und schaute ihn lange an. Er trat zu ihr, führte sie wieder zurück in den Flur, schloss die Tür und begann, ihr den Mantel auszuziehen, ohne dass sie protestierte.

Sie liebten sich ohne Hast und in völliger Harmonie. Beide waren anfangs etwas zurückhaltend und unsicher, aber das legte sich. Sie sagte ihm, er sei der zweite Mann in ihrem Leben, mit dem sie geschlafen hatte.

Sie lagen im Bett, und er blickte zur Decke, während er ihr erzählte, dass er manchmal in die Ostfjorde fuhr, die Heimat seiner Kindheit, und sich in ihrem früheren Wohnhaus einquartierte, das nur noch aus nackten Wänden und einem halb eingefallenen Dach bestand. Nur wenig deutete darauf hin, dass seine Familie dort gelebt hatte. Trotzdem gab es noch Reste von entschwundenem Leben. Ein Stück kariertes Linoleum, an das Muster konnte er sich erinnern. Kaputte Schränke in der Küche. Er sagte ihr, es sei gut, dorthin zu kommen und sich mit seinen Erinnerungen zur Ruhe zu legen und wieder einen Ort in der Welt zu finden, der voller Licht und Stille war.

Valgerður drückte seine Hand.

Dann begann er, ihr die tragische Geschichte eines jungen Mädchens zu erzählen, das sein Zuhause und seine Mutter verließ, ohne genau zu wissen, wonach es suchte. Diese junge Frau hatte es nicht einfach gehabt, sie war willensschwach und hatte Angst vor sich selbst und ihrem Platz in der Welt, was vielleicht verständlich war, weil sie nie das bekommen hatte, wonach sie sich am meisten sehnte. Sie hatte das Gefühl, dass etwas in ihrem Leben fehlte. Es war, als fühlte sie sich um etwas betrogen. Sie torkelte in einem merkwürdigen Selbstzerstörungstrieb vorwärts und verstrickte sich darin mehr und mehr, bis sie am Ende in den eigenen Vernichtungsmechanismen festsaß. Als sie gefunden wurde, erhielt sie wieder ein Zuhause und wurde gesund gepflegt, aber kaum hatte sie ausreichend Kraft gesammelt, verschwand sie wieder ohne Vorwarnung. Sie ließ sich erneut treiben und suchte manchmal Schutz bei ihrem Vater. Er setzte sich nach besten Kräften für sie ein und versuchte, sie vor den entsetzlichen Schicksalsschlägen des Lebens zu schützen, aber sie hörte nie auf ihn. Zerstörung schien ihr vorbestimmt zu sein.

Valgerður sah ihn an.

»Keiner weiß, wo sie jetzt ist. Sie ist noch am Leben, weil ich bestimmt erfahren hätte, wenn ihr etwas passiert wäre. Ich warte auf eine Nachricht. Ich habe versucht, ihr zu helfen, aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob ihr überhaupt irgendjemand helfen kann.«

»Sei dir da nicht so sicher«, sagte Valgerður nach einigem Schweigen.

Auf dem Nachttisch klingelte das Telefon. Erlendur starrte hin und wollte nicht abnehmen, aber Valgerður meinte, so spät am Abend sei es bestimmt etwas Dringendes. Seiner Meinung nach konnte es nur Sigurður Óli mit irgendwelchem Quatsch sein, aber trotzdem streckte er seine Hand nach dem Hörer aus.

Erst nach geraumer Zeit begriff er, dass der Mann am anderen Ende der Leitung Haraldur war. Er rief aus dem Altersheim an. Er hatte sich heimlich in eins der Büros geschlichen und wollte Erlendur treffen.

»Was willst du von mir?«, fragte Erlendur.

»Ich will dir sagen, was damals geschehen ist«, sagte Haraldur.

»Warum?«, fragte Erlendur.

»Willst du es hören oder willst du nicht?«, entgegnete Haraldur. »Wir können es natürlich auch einfach vergessen.«

»Reg dich ab«, sagte Erlendur. »Ich komme morgen. Ist das in Ordnung?«

»Dann komm«, brummte Haraldur und legte auf.

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