Kapitel Elf Über die Zeit

Als ich endlich so weit war, den Zeitzug zu benutzen, war mir der Innere Zirkel dicht auf den Fersen. Glücklicherweise konnte ich sie abhängen, indem ich richtig schnell lief und all meine Kenntnisse über Abkürzungen und Geheimgänge im Herrenhaus ausnutzte. Sie hätten es wirklich besser wissen müssen, als mir zu befehlen, unter keinen Umständen den Zeitzug zu benutzen. Ich hatte schon immer dieses Problem mit Autoritätspersonen, selbst jetzt, wo ich selbst eine war. Ich ließ ihre erhobenen Stimmen hinter mir und rannte schnell in den hinteren Teil des Herrenhauses, wo sich der alte Hangar befand. Dort bewahrte die Familie die ausrangierten technischen Mirakel auf, die wir heutzutage aus weiser Voraussicht lieber nicht mehr verwenden.

Durch meinen silbernen Torques hindurch stellte ich eine Verbindung mit Seltsam her.

»Hallo, du!«, sagte Seltsam. »Wusstest du, dass der Seneschall dich sucht? Und der Rest deines Inneren Zirkels?«

»Diese Tatsache ist mir nicht entgangen«, sagte ich. »Du musst mir eine Ablenkung verschaffen. Spielst du mit?«

»Ja, klar! Ich könnte etwas Spaß gebrauchen. Deine Familie ist wirklich ganz toll, Eddie, aber die meisten von ihnen sind wirklich sehr ernst.«

»Glaub mir, das wusste ich. Okay, ich brauche dich, um die Nachricht zu übertragen, dass jedes Familienmitglied seinen neuen Torques bekommt. Der Innere Zirkel und ich haben das gerade beschlossen. Bist du immer noch damit einverstanden?«

»Ja, sicher, je mehr, desto lustiger, sage ich immer.«

»Gut, dann verbreite die gute Nachricht mal und sag jedem, dass sie genau jetzt ins Sanktum kommen sollen.« Ich grinste. »Das sollte die Korridore prima blockieren und den Zirkel davon abhalten, sich in das einzumischen, was ich gerade vorhabe.«

»Oje«, sagte Seltsam. »Willst du wieder etwas Verzweifeltes und Gefährliches tun?«

»Natürlich. Pass auf den Laden auf, während ich weg bin, Seltsam.«

»Bitte, nenn mich Ethel.«

»Nur über meine absolut tote Leiche.«


Ich schaffte es, die Hauptkorridore, die sich schon mit jubelnden Familienmitgliedern füllten, zu vermeiden, bis ich endlich in den hinteren Teil des Herrenhauses kam. Zu meiner Überraschung wartete Molly dort bereits auf mich. Sie begrüßte mich mit einer liebevollen Umarmung und einem selbstzufriedenen Lächeln.

»Woher wusstest du, dass ich hier sein würde?«, fragte ich.

»Ehrlich Süßer, ich bin eine Hexe, schon vergessen? Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber mit Penny zu reden, hat etwas mehr Zeit in Anspruch genommen. Aber ich glaube, ich hab's geschafft, etwas Verstand in ihren hübschen kleinen Kopf zu prügeln. Niemand ist sturer als ein heimlicher Romantiker. Besonders keiner, der es auf sich genommen hat, das Unerlösbare zu erlösen.«

»Also hat sie zugestimmt, Mr. Stich nicht mehr zu treffen?«

»Naja, nicht ganz«, sagte Molly. »Das Beste, was ich erreichen konnte, war das Versprechen, ihn nicht mehr allein zu treffen.«

Ich nickte widerwillig. »Penny ist schon immer halsstarrig gewesen. Ein Familienerbe. Ich habe sowieso keine Ahnung, was sie in ihm sieht.«

»Ich denke, es ist wie bei diesen traurigen, verzweifelten Frauen, die Serienkiller im Gefängnis heiraten wollen. Frauen glauben immer, sie können einen Mann ändern und mit der Kraft ihrer Liebe das Gute in ihm zum Vorschein bringen. Einige sehen das als Herausforderung, vermute ich. Und Mr. Stich hat dieses dunkle, gefährliche Verletzten-Ding, das für ihn spricht. Ich weiß, ich weiß, sieh mich nicht so an, ich weiß, dass er seit über einem Jahrhundert Frauen abschlachtet und zermetzelt - aber da ist mehr an ihm dran als nur das, Eddie. Ich habe ihn gute Dinge tun sehen. Und du auch.«

»Er ist Mr. Stich. Er tötet Frauen. Das ist, was er tut. Wenn er Penny etwas antut …«

»Das wird er nicht. Er hat nie einen meiner Freunde angerührt.«

»Wenn er sie tötet, dann töte ich ihn. Egal, ob er dein Freund ist oder nicht.«

»Wenn es so weit ist, dann helfe ich dir«, sagte Molly. »Also, warum sind wir hier, Eddie?«

Ich wies auf den langen Hangar aus Glas und Stahl, der groß und stolz hinter dem Herrenhaus stand, auch wenn er noch ein gutes Stück entfernt war. Es handelte sich um eine geräumige Konstruktion aus Stahlträgern mit einem gewölbten Glasdach, groß wie mehrere Fußballfelder. Die Familie macht keine halben Sachen, selbst wenn es um Museen geht, die kaum noch einer besucht. Ich hakte Molly unter und führte sie zum offenen Eingang.

»Ich habe einen sehr nützlichen Verbündeten in der Zukunft geortet«, sagte ich. »Unglücklicherweise ist er so weit von uns entfernt, dass wir ihn persönlich holen müssen. Und dafür brauchen wir den Zeitzug.«

»Nur wir beide?«, fragte Molly.

»Nun«, sagte ich. »Ich habe nach Freiwilligen gefragt, aber die Antwort war enttäuschend. Offenbar hatte jeder andere mehr Verstand. Zeitreisen sind immer gefährlich und keiner hat seit Ewigkeiten den Zeitzug benutzt. Wahrscheinlich aus gutem Grund. Es ist nicht gerade … das verlässlichste Gerät, das die Familie je gebaut hat. Wenn du also lieber hierbleiben willst, dann verstehe ich das ziemlich gut. Ich würde selbst hierbleiben, wenn ich jemanden fände, der bescheuert genug ist, das an meiner Stelle zu tun.«

Molly kuschelte meinen Arm fest an ihre Seite. »Glaubst du wirklich, ich würde dich ohne mich irgendwohin gehen lassen?«

Ich grinste. »Ich glaube, das hat eher etwas mit all den neckischen Sachen zu tun, die ich benutze.«

»Du romantischer kleiner Teufel, du. Sag mir mehr schmeichelhafte Sachen mit deiner Silberzunge, ja?«

»Für immer vereint, wie ist es damit?«

»Für immer und immer und immer.«

Ich führte sie in den langen Hangar hinein. Es ist ein riesiger Ort, vollgepackt mit all den frühen technologischen Wundern, die über die Zeitalter von den Waffenmeistern der Familie als fixe Ideen gebastelt wurden. Man musste es zugeben: Sowohl das Museum als auch seine Ausstellungsstücke hatten schon bessere Tage gesehen. Die inneren Wände waren zerbrochen und trübe, gedämpftes Sonnenlicht schien durch die Glasscheiben, die von Alter und Vernachlässigung düster und fleckig geworden waren. Es war nur mehr ein Lagerraum für Sachen, deren Zeit abgelaufen war.

Seltsame und wunderliche Artefakte, die einmal ihrer Zeit voraus gewesen und jetzt überholt und vergessen waren.

Wie zum Beispiel die 1880er Mondlanderakete, die nur einmal benutzt worden war. Und das überdimensionale Grabschiff, eigentlich nur eine Stahlkabine mit einem verdammt großen diamantenbesetzten Bohrer, der sich an der Nase des Schiffs erhob. Es war konstruiert worden, um das Innere der Erde in jener Zeit zu erforschen, als die Leute noch daran glaubten, dass die Erde hohl sei. Das riesige Schiff vor uns war eigentlich Gräber II, das gebaut worden war, damit die Familie nach Gräber I suchen konnte. Am Ende war es nie benutzt worden, weil wir den Tunnel, den es gegraben hatte, wieder hatten zuschütten müssen, als etwas wirklich Großes und Widerliches aus den Tiefen versucht hatte, es als Ausgang zu benutzen.

»Und wir hatten mal so eine riesige mechanische Spinne«, erzählte ich, als ich Molly die Exponate zeigte. »Wir bekamen sie von einem verrückten amerikanischen Genie, damals im Wilden Westen. Ich bin aber nicht ganz sicher, was damit passiert ist. Ich glaube, sie ist weggelaufen.«

»Jungs und ihre Spielzeuge«, sagte Molly und lächelte entzückt. »Als Nächstes wirst du mit der Größe deiner Maschinen angeben. Warum behaltet ihr all das Zeug, wenn ihr es doch nie wieder benutzt?«

»Weil die Familie nichts mehr loslässt, was ihr einmal gehört. Außerdem: Das ist Geschichte. Es ist interessant, um nicht zu sagen, lehrreich. Und man weiß nie, wann man so etwas wieder brauchen kann. Besser, etwas zu haben und nicht zu gebrauchen, als etwas zu brauchen und nicht zu haben. Wie den Zeitzug. Ich erinnere mich nur daran, dass er hier ist, weil ich gern von solchen Dingen gelesen habe, als ich noch ein Kind war.«

Wir waren nicht allein im Hangar. Ungefähr ein Dutzend Männer und Frauen in dreckigen Overalls wuselten zwischen den Exponaten hin und her, bastelten daran herum oder polierten und säuberten sie so gründlich, dass sie wahrscheinlich nur einen Zentimeter im Leben schafften. Keiner von ihnen achtete auf uns, solange wir einen respektvollen Abstand einhielten. Molly wies auf sie und hob eine Augenbraue.

»Enthusiasten«, sagte ich. »Sie alle melden sich freiwillig, um hier in ihrer Freizeit zu arbeiten. Alle sind besessen von einer bestimmten Periode oder einem Gerät. Sie halten die Exponate aus Spaß an der Freud' in Ordnung. Wenn du auch nur das leiseste Interesse am Objekt ihres Stolzes oder ihrer Freude zeigst, kauen sie dir ein Ohr ab.«

»Also, dann lass mich mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, sagte Molly. »Dieser Zeitzug, den du benutzen willst: Seit Ewigkeiten hat ihn keiner aus diesem Hangar geholt, er ist verdammt gefährlich, selbst wenn er super funktioniert und die einzige Garantie, dass er überhaupt funktioniert, sind irgendwelche Amateurtechniker? Hab ich noch was vergessen? Das erfüllt mich nicht gerade mit vollem Vertrauen, Eddie.«

Wir hatten den Zeitzug erreicht, und die schiere Größe des Dings ließ alle anderen Ausstellungsstücke zwergenhaft klein erscheinen. Der Zeitzug selbst bestand aus einer großen, schwarzen, altmodischen Dampflok, glänzend und schimmernd wie die Nacht, mit luxuriösen Silber- und Messingbeschlägen, die alle zu einem warmen Glänzen gewienert und poliert worden waren. Ein halbes Dutzend Pullmann-Waggons, in warmem Schokoladenbraun und Sahneweiß angestrichen, waren hinter den Kohlewagen gehängt. Ein schneller Blick hinter die zugezogenen Fenster der Luxus-Waggons enthüllte eine völlig andere Sitzwelt, deren Qualität den Orientexpress zu seinen besten Zeiten beschämt hätte. Die Familie hatte noch nie an halbe Sachen geglaubt.

Die große schwarze Lokomotive türmte sich über uns auf wie ein schlafendes Monster, das nur darauf wartete, geweckt zu werden. Im Führerhaus erschien auf einmal ein großes, schlaksiges Individuum und lächelte strahlend auf uns herab.

»Ach hallo!«, sagte er. »Besucher, wie schön! Wir bekommen ja nicht viel Besuch, der alte Ivor und ich. Ivor ist die Maschine, wisst ihr.«

»Ja«, sagte ich. »Ich hatte so das Gefühl, das sei sie. Molly, erlaube mir, dir den einzigen wirklichen Experten für Dampfloks der Familie vorzustellen: Tony Drood. Der Letzte in einer langen Reihe solcher Enthusiasten, stimmt's, Tony?«

»Aber ja«, sagte er und kletterte dann behände die glänzende Stahlleiter an der Seite des Führerhauses herunter zu uns. Er musste Ende fünfzig sein, auch wenn sein Haar verdächtig schwarz geblieben war. Er trug ziemlich dreckige Arbeitskleidung und seine Hände und sein Gesicht trugen Schmutzflecken von der Arbeit, mit der er gerade beschäftigt war. Endlich stand er vor uns, lächelte und legte verlegen den Kopf etwas schief. »Eine Ehre, euch beide zu treffen, Eddie und Molly. Ich kann mich nicht erinnern, wann uns das letzte Mal jemand Wichtiges besuchen kam, was, Ivor, alter Junge?«

Er hob die Hand und tätschelte die gewölbte schwarze Stahlwand.

»Ivor ist sehr … beeindruckend«, sagte Molly und Tony strahlte sie an, als hätte sie gerade einen Dorn aus seiner Pfote gezogen.

»Beeindruckend ist er in der Tat, Miss Molly, und das ist nicht gelogen. Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht, dass er fleckenfrei bleibt und jederzeit perfekt funktionstüchtig ist, damit es losgehen kann, sobald ich Bescheid bekomme.«

»Jederzeit bereit, überall hinzufahren?«, fragte ich. »Selbst in die ferne Zukunft?«

»Jede Zeit steht dir zur Verfügung«, sagte Tony ein wenig großspurig. »Ivor kann dich an den Anfang der Welt bringen oder jede Zeitlinie die Zukunft hinauf. Du weißt natürlich, dass es parallele Zukunftsstränge gibt? Aber natürlich wisst ihr das - wir haben ja alle Star Trek gesehen. Auch wenn ich immer die Originalserie am besten fand. Wo war ich? Ach ja, Ivor ist voll funktionsfähig und ganz scharf drauf, loszufahren! Er ist sozusagen der Millennium Falcon unter den Dampfloks!«

»Aber er ist schon etwas … altmodisch, oder?«, meinte Molly.

Tony warf ihr einen bösen Blick zu. »Hör nicht auf sie, Ivor! Sie ist ein Banause und weiß es nicht besser. Miss Molly, Sie sollten wissen, dass diese Maschine in einer Zeit gebaut wurde, in der man Fachwissen hatte und sein Handwerk ebenso wie Effizienz noch beherrschte. Das ist kein modernes, seelenloses Gerät, das ist Ivor, der Zeitzug! Ein komfortabler und zivilisierter Weg, in der Zeit zu reisen. Ich sage Ihnen, Miss Molly, Ivor könnte die Familie immer noch stolz machen, wenn er nur eine winzige Chance bekäme!«

»Lustig, dass du das sagst, Tony«, sagte ich. »Wie sich herausgestellt hat, bist du in der Lage, mir und der Familie einen großen Dienst zu erweisen. Ich denke, es ist allerhöchste Eisenbahn, dass Ivor ein kleiner Trip erlaubt wird.«

Tony grinste so breit, dass es ihm in den Wangen wehtun musste und rang tatsächlich mit den Händen vor Begeisterung. »Sag nur ein Wort, Edwin! Ein Leben lang habe ich auf die Chance gewartet, mit dem alten Jungen rauszufahren und zu zeigen, was er drauf hat! Keiner in der Familie hat eine Nutzung des Zeitzugs autorisiert, seit mein Großvater das letzte Mal mit ihm fuhr und das war am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.« Sein Gesicht wurde lang und er sah etwas schuldbewusst zu Molly und mir. »Das war schon eine unglückliche Sache damals. Irgendwie schon ein Desaster, um ehrlich zu sein. Die vorvorvorletzte Matriarchin, Catherine Drood war's. Sie hatte die fixe Idee, dass einer der Alten wieder erwachte, irgendwo unten auf irgendeiner obskuren Insel auf der Südhalbkugel der Erde. Und das Einzige, was ihr einfiel, war, dass Großvater mit einem Team von Experten den neu entwickelten Zeitzug in die jüngste Vergangenheit fahren sollte, um den Alten zu vernichten, bevor er so richtig aufwachen konnte. Natürlich ging das alles fürchterlich schief. Es stellte sich heraus, dass die Energien von Ivors Ankunft den Alten überhaupt erst weckten. Eins führte zum anderen und am Ende hatten Großvater und sein Team keine andere Wahl, als die ganze verdammte Insel in die Luft zu sprengen, damit der Alte wieder in seiner Gruft verschwand und diese versiegelt wurde. Der Name der Insel war Krakatau.

Wie auch immer, Ivor hat die ganze Schuld gekriegt, was wirklich unfair war. Er ist seitdem in Ungnade gefallen.«

»Stopp mal«, sagte Molly. »Wenn keiner den Zug seit dem neunzehnten Jahrhundert gefahren hat, heißt das, dass du ihn auch nie selbst gefahren hast?«

»Naja, so gesehen nicht«, sagte Tony. »Aber ich weiß alles, was ich wissen muss! Die Pflege und die Bedienung von Ivor sind heilig und werden treuhänderisch weitergegeben, Miss Molly; von Vater zu Sohn, seit Generationen. Eine Familie in der Familie, könnte man sagen. Seid sicher, dass ich jede einzelne Bedienungsanleitung gelesen habe, und die Tagebücher meines Großvaters, und ich weiß genau, wie Ivor innen und außen zusammengesetzt ist. Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Molly! Der alte Ivor zerrt schon an den Zügeln und will loslegen! Stimmt's, alter Junge?«

Er tätschelte den schwarzen Stahl wieder vertraulich und Molly und ich zuckten zusammen, als Ivor einen plötzlichen Dampfstoß aus einem Ventil schickte, als wolle er antworten. Vielleicht war es eine Antwort. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass die Familie etwas gebaut hatte, das einen eigenen Verstand besaß.

Nein, lassen Sie mich gar nicht erst von diesem empfindungsfähigen Wasserspender anfangen, der erkennen sollte, wann man durstig war. Er ertränkte drei Leute, bevor wir ihn zu Boden ringen konnten.

»Also los«, sagte ich munter. »Dann lass mal Dampf in den Kessel oder was auch immer du tun musst. Und dann volle Kraft voraus in die Zukunft!«

Tony sah mich mit einem Ausdruck an, der ziemlich leer war. »Du meinst - jetzt sofort?«

»Keine bessere Zeit als jetzt«, erwiderte ich. »Und … da gibt's ein paar Leute, die vielleicht mit uns reden wollen, bevor wir losfahren und ich habe ehrlich gesagt, keine Lust, mit ihnen zu reden. Also je schneller wir aufbrechen, desto besser. Das ist doch kein Problem, oder?«

»Aber nein, Edwin! Gar nicht! Alle Zeitreiseregeln besagen, dass wir nur ein paar Sekunden nach dem Aufbruch wieder hier sein können. So würdest du nicht verpassen, mit den anderen zu reden!«

»Wie erfreulich!«, meinte ich. »Los geht's, Tony.«

»Sagen Sie nichts weiter, Sir!«, sagte Tony und salutierte begeistert vor mir. Er hastete die Leiter ins Führerhaus hoch und explodierte dabei fast vor Freude und nervöser Energie. Das war sein Moment, die große Chance, die endlich gekommen war, und er konnte nicht abwarten loszulegen. Jeder, der weniger enthusiastisch gewesen wäre, hätte mir wahrscheinlich eine ganze Menge Fragen gestellt, auf die ich überhaupt keine guten Antworten gehabt hätte. Ich fühlte mich ein wenig schuldig, weil ich Tony austrickste, aber nur ein bisschen. Ich hatte schon zu viele andere Dinge, wegen derer ich mich schuldig fühlen musste. Ich brauchte den Krieger namens Todesjäger; die Familie brauchte ihn, und das war alles, was zählte. Molly und ich folgten Tony die enge Stahlleiter hinauf und in das überraschend geräumige Führerhaus. Wir traten zurück, als Tony von einem Stahlhebel zum anderen hastete, sie mit ansteckender Begeisterung und angemessener Fröhlichkeit vor- und zurückschob. Nichts geht über das Beobachten eines Enthusiasten, der damit angibt, was er am besten kann. Er lehnte sich vor, um eine Reihe von altmodischen Messgeräten zu kontrollieren, die sich über dem Hauptkessel befanden und tippte ein paar mit seinem Zeigefinger an, bevor er sich breit lächelnd umdrehte.

»Ich halte immer einen bestimmten Druck aufrecht«, sagte er stolz. »Teilweise, weil es gut für den Kessel ist, teilweise, um auch wirklich bereit zu sein, falls uns der Ruf ereilt … Erlaubt mir, ein paar Minuten lang ein wenig Kohle nachzuschaufeln und dann können wir losfahren! Oh ja!«

»Wo sind die Schienen?«, fragte Molly und lehnte sich gefährlich weit aus dem Fenster des Führerhauses, bevor ich sie zurückziehen konnte.

»So wie ich es verstehe, gibt es keine«, sagte ich. »Ivor reist in der Zeit, nicht im Raum.« Ich sah zu Tony hinüber. »Du kannst die Waggons hier lassen. Wir werden sie nicht brauchen.«

Sein Gesicht wurde lang. »Aber … sie sind sehr bequem! Eigentlich geradezu kuschelig. Ich poliere den Stahl jeden Tag!«

»Trotzdem«, sagte ich fest.

Tony schmollte und ging dann nach hinten, um die Waggons abzuhängen. Ich sah die verschiedenen Messgeräte an, aber sie sagten mir nichts. Und trotzdem konnte ich etwas fühlen. Mir war, als baue sich ein bestimmter Druck auf, als sammle sich eine kontrollierte Macht. In Ivors Führerhaus zu stehen, war, als stünde man im Maul eines großen Monsters, das langsam erwachte. Tony kam ins Führerhaus zurückgesprungen, öffnete die Klappe zum Schlepptender und begann, etwas, das ganz so aussah wie Kohle, in die offene Heizkammer zu schaufeln. Molly und ich sahen ihm eine Weile dabei zu.

»Entschuldige«, sagte Molly. »Aber … wie genau hilft uns das Druckaufbauen in einem Dampfkessel dabei, in der Zeit zu reisen?«

»Oh, das ist keine Kohle, Miss Molly«, sagte Tony und schaufelte noch kräftiger. »Das sind kristallisierte Tachyonen.«

Mollys skeptischer Gesichtsausdruck verstärkte sich. »Aber … Tachyonen sind doch Partikel, die nicht langsamer als Lichtgeschwindigkeit sind, also …«

»Frag nicht«, sagte ich freundlich. »Ich finde es immer besser, nicht zu fragen, wenn man mit so etwas zu tun hat. Die Antworten regen einen nur auf. Allein schon, mir die Probleme vorzustellen, die mit Zeitreisen einhergehen, macht mir Kopfschmerzen. Ich will ganz bestimmt keine Vorlesung über Quantendampfmechanik hören und du bestimmt auch nicht.«

Es dauerte nicht lang, bis das, was man für Dampf halten konnte, sich zu vollem Druck aufgebaut hatte. Tony legte schließlich seine Schaufel weg, schlug die Klappe zum Ofen zu und wischte sich den Schweiß mit einem rot gepunkteten Taschentuch von der Stirn.

»Alles klar, Miss Molly und Herr Edwin. Aber jetzt brauchen wir ein genaues Ziel, Ivor und ich, wenn wir in zukünftige Zeitlinien reisen. Wir brauchen korrekte räumliche und temporale Koordinaten.«

Ich nahm Merlins Spiegel heraus und instruierte ihn, Ivor zu zeigen, wo und wann er Giles Todesjäger finden konnte. Der Spiegel wand sich sofort aus meiner Tasche, dehnte sich gleichzeitig aus und schoss durch die Luft, bis er schließlich über dem anderen Ende des Hangars hing und den ganzen Eingang ausfüllte.

»Ich denke, er will uns zeigen, wo es langgeht«, sagte ich.

»Das Ding jagt mir langsam richtig Angst ein«, sagte Molly. »Nichts sollte all das können, was dieser Handspiegel da kann. Nicht einmal, wenn Merlin Satansbrut ihn gemacht hat.«

»Pscht«, sagte ich. »Er könnte dich hören.« Ich wandte mich zu Tony um. »Fahr mit Ivor auf das Portal zu, das der Spiegel da geöffnet hat. Dann wird der ihm alle Koordinaten geben, die er braucht.«

»Ich weiß nicht«, sagte Tony zweifelnd.

»Tu's einfach«, sagte ich. »Das ist nicht verrückter als alles andere hier.«

»Ein Mann nach meinem Herzen!«, sagte Tony. »Volldampf voraus, Ivor! Warp Sechs und spar nicht mit Tachyonen!«

Der Zeitzug setzte sich in Bewegung und ließ uns für einen Moment kurz taumeln. Ivor tuckerte laut und mit Mühe und blies so etwas wie Dampf aus seinem Schornstein aus. Tony schoss vor und zurück, warf hier und dort einen Hebel um und beobachtete gleichzeitig aufmerksam all die Messgeräte und Anzeigen. Man hatte nicht unbedingt das Gefühl, vorwärts zu fahren, aber der Hangar verschwand langsam hinter uns, je weiter wir in der Zeit vorrückten. Molly und ich hielten uns an den Seiten des Führerhauses fest und sahen über Ivors spitzen Bug, dass wir unaufhaltsam auf Merlins Spiegel zufuhren, der immer noch vor uns in der Luft schwebte und größer und größer zu werden schien, größer als der Hangar eigentlich sein konnte. Es gab kein Anzeichen für eine Oberfläche des Spiegels, keine Reflexion, kein Anzeichen der Zukunft, in die wir wollten, … nur endlose Nacht, unberührt von Mond oder Sternen. Und dann ruckte der Zeitzug nach vorn, Tony jubelte laut vor Begeisterung und wir tauchten in Merlins Spiegel ein, der uns im nächsten Moment verschluckt hatte.


Zuerst war es wie in einem Tunnel. Dunkelheit um uns herum, während eine kleine, altmodische Petroleumlampe das Führerhaus in goldenes Licht tauchte. Das einzige Geräusch war Ivors kraftvolle Maschine, als wir in die Dunkelheit eintauchten. Und dann kamen einer nach dem anderen die Sterne heraus, einzeln oder zu zweit, dann zu Dutzenden, bis wir von großen, wogenden Ozeanen von Licht umgeben waren. Jetzt war es, als führen wir durchs Weltall, aber nicht durch eines, das ein Astronaut gesehen hätte. Statt der bekannten Sternbilder gab es große Meere von Sternen, die in einem Licht strahlten, das beinahe zu rein und schön war, als dass man es ausgehalten hätte. Kometen segelten an Ivor vorbei, in bunten Farben, wie die Süßigkeiten, die wir als Kinder gemocht hatten. Sie segelten in eleganten Bögen vorbei, die zu Ivors gerader und stetiger Fahrt in scharfem Gegensatz standen.

Seltsame Planeten, die zu keinem normalen Sonnensystem gehörten, drifteten vorbei; merkwürdig und unheimlich.

»Wenn das das Weltall ist«, brachte Molly schließlich hervor, »und ich bin fast der Ansicht, dass es das nicht ist, … wie kommt es, dass wir atmen können?«

»Ivor hat eine Menge Talente und viele Geheimnisse«, sagte Tony großspurig. »Sie sind ganz sicher, Miss Molly, solange Sie im Führerhaus bleiben.«

»Aber wo genau sind wir?«, fragte ich.

Tony zuckte mit den Achseln. »Ich habe alle Bücher gelesen, aber ich muss sagen, dass keiner so recht sicher ist, wodurch Ivor genau hindurchreist. Mein Großvater, der Letzte, der Ivor wirklich gefahren hat, sagte, dass es Zeit und Raum sind, wie man sie von der anderen Seite sieht. Was auch immer das heißen mag. Es gibt andere Theorien, die vermuten, dass Ivor durch das Universum unter uns fährt. Oder möglicherweise das darüber. Glaubt das, was euch am sichersten vorkommt, das ist es, was ich meine.«

Ich sah Molly an. »Gespräche wie diese haben die Familie überzeugt, von Zeitreisen lieber die Finger zu lassen.«

»Pah!«, sagte Tony. »Die haben einfach keinen Sinn fürs Abenteuer.«

»Moment«, sagte Molly. »Was ist das da?«

Wir alle sahen in die Richtung ihres ausgestreckten Zeigefingers. Eine große, gelbe Form wischte schnell durch den sternenübersäten Himmel direkt auf uns zu. Als es näher kam, entpuppte es sich als ein riesiger gelber Drache. Beunruhigend groß, hundertmal so groß wie Ivor, sah er aus wie eine grellgelbe Banane, am ganzen langen Körper mit neonpinkfarbenen Fleckzeichnungen übersät. Der Kopf war flach und knochig, mit einer Reihe von glühenden roten Augen über einem klaffenden Maul, das mit spitzen, haiähnlichen Zähnen vollgepackt war. Große, hautähnliche Flügel breiteten sich auf jeder Seite des bulligen Rumpfes aus. Er hatte kurze Greifarme, die am Hals unter dem Maul begannen und mit bösartigen, gebogenen Krallen bewehrt waren. Der Drache schoss in einer langen Ellipse an uns vorbei und aus der Nähe gesehen war allein sein Kopf größer als Ivor.

»Ich warte immer noch auf eine Antwort«, sagte Molly. »Irgendeine. Was zur Hölle ist das für ein Ding?«

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte ich ein wenig unwirsch. »Ich habe nicht daran gedacht, das Buch zur Beobachtung von Raumdrachen mitzunehmen. Er lebt offenbar hier und es sieht nicht gerade aus, als freue er sich über Besuch. Lasst uns fest daran glauben, dass er erst kürzlich gefressen hat.«

»Das ist wirklich ein riesiger Bastard«, sagte Tony. »Glaubt ihr, dass er versuchen könnte, Ivor zu schaden?«

»Vielleicht hat er noch nie Dosenfutter gesehen«, meinte Molly.

»Er ist größer als wir und er hat wirklich fiese Zähne und Klauen«, sagte ich. »Ich würde drauf wetten, dass er kein Vegetarier ist.«

»Ist Ivor bewaffnet?«, fragte Molly. »Hast du irgendwelche Waffen an Bord?«

»Es gibt ein paar Verteidigungssysteme«, meinte Tony und sah mich an. »Unglücklicherweise sind die alle in den Waggons.«

»Ich wusste irgendwie, dass alles meine Schuld ist«, erwiderte ich.

Der Drachen schwang sich herum und kam direkt auf uns zugeflogen; die riesigen Kiefer öffneten sich weiter und weiter, als plane er, Ivor im Ganzen zu verschlucken. Vielleicht brüllte oder heulte er, aber ich hörte nichts. Die absolute Stille ließ die Situation nur noch albtraumhafter erscheinen. Ich zog meinen Revolver und feuerte die Waffe wieder und wieder auf den massigen Kopf ab. Jeder Schuss traf, aber die Kugeln waren einfach zu klein, um der monströsen Kreatur wirklich zu schaden. Tony riss mit beiden Händen einen langen Stahlhebel komplett herum und Ivor tat mit neuer Kraft einen Satz nach vorn. Der Drache schoss an uns vorbei, beinahe unmöglich groß, und eine gelbe Pfote kratzte über Ivors schwarze Stahlflanke. Riesige Schauer von schweigenden Funken flogen in die Finsternis, als diamantenscharfe Klauen lange Furchen in Ivors Seite rissen.

Der stieß einen langen Dampfstrahl aus wie einen Schrei.

Das Führerhaus ruckte von einer Seite zur anderen und Molly und ich mussten uns an den Seiten der Kabine festhalten, um nicht herausgeschleudert zu werden. Tony schrie lauthals einige Obszönitäten und riss wütend an seinen Hebeln herum. Molly schrie mich an. »Lenk das verdammte Ding ab, während ich mir einen Zauber überlege!«

»Ihn ablenken? Was willst du, das ich tue? Meine Hosen runterlassen und ihm meinen Hintern präsentieren?«

»Mach einfach was!«

Ich schnappte mir die Seite des Führerhauses mit beiden Händen und lehnte mich zwecks besserer Sicht nach draußen. Der riesige gelbe Drache wandte sich schon wieder um und flog einen neuen Angriff. Ich zog wieder den Revolver, zielte sorgfältig und schoss die glühenden Augen des Drachen heraus, eines nach dem anderen. Die schrecklichen Kiefer der Kreatur öffneten sich in einem Aufheulen von Wut und Schmerz noch weiter, das ich wenn schon nicht hören, so dennoch spüren konnte. Es fühlte sich wie Fingernägel auf der Tafel meiner Seele an. Der Drache schüttelte seinen Kopf hin und her, als wolle er versuchen, den plötzlichen Schmerz und die Blindheit loswerden, aber er kam immer noch auf uns zu, direkt in unsere Richtung. Er wurde einfach immer größer und größer und versperrte uns die Vordersicht, bis seine gelbe Gestalt die Sicht komplett ausfüllte.

Und dann lehnte sich Molly aus ihrer Seite des Führerhauses hinaus, stieß mit einem einzelnen Finger in Richtung des Drachen und sprach einige unerfreuliche Worte der Macht. Der schreckliche Laut der Worte schien sich in der Stille endlos fortzupflanzen und der Drache schien auf einmal gar nicht mehr so groß und beeindruckend. Zappelnd und bebend schrumpfte er schnell, wurde kleiner und kleiner, und als er wieder dicht bei Ivor war, war er nur noch so groß wie ein Insekt. Es flatterte um unsere Köpfe, summte wütend und Molly langte nach vorn und zerquetschte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger.

Und das war's.

Molly wischte sich die Hand an der Hüfte ab und lächelte mich süß an. »Du hättest dich daran erinnern können«, sagte sie. »Im Raum ist alle Größe relativ.«

»Manchmal machst du mir Angst«, erwiderte ich.


Wir fuhren weiter durch einen Raum, der keiner war, und sahen viele seltsame und wundersame Dinge. Planeten kamen und gingen an uns vorbei. Ein Planet öffnete sich wie ein Auge und starrte uns kalt an, als wir vorbeiflogen, ein anderer hatte ein Dutzend Ringe, die sich wie verrückt um ihn herum drehten, alle mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und in unterschiedliche Richtungen. Er sah aus wie ein großes Spielzeug-Uhrwerk, das man zu Beginn des Universums in Gang gesetzt hatte und das nun langsam ablief. Ein anderer Planet öffnete sich auf einmal wie eine Blume und Hunderte von langen Tentakeln sprossen heraus. Sie hangelten und griffen nach Ivor, um den Zug zu sich heranzuziehen. Tony schickte Ivor weiter auf seinem Kurs hierhin und dorthin. Mit bedachtem Verwenden der Hebel wich er geschickt jedem Tentakel aus, der uns erreichen und sich um uns wickeln wollte. Ein paar schlugen harmlos an Ivors Flanken und Ivor schien bei der Berührung zu zittern. Aber wir ließen den Planeten bald hinter uns und er schloss sich wieder; schmollend zog er die Tentakel wieder zurück.

Ein anderer Planet verschwand einfach komplett, als wir herankamen und erschien erst erneut, nachdem wir uns wieder in sicherer Entfernung befanden.

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange die Reise dauerte. Es gab genügend Sichtungen und Ereignisse, die das Vergehen der Zeit markierten, aber wir hatten keinen wirklichen Sinn für die Dauer. Es hätten Minuten oder Tage oder Wochen sein können. Ich fühlte mich nie müde oder hungrig oder gelangweilt. Aber endlich begannen die Sterne vor uns zu tanzen und zu wirbeln, flogen in komplizierten Mustern um uns herum und verbanden sich schließlich zu einem enormen Regenbogen unter uns, der aus so leuchtenden und lebendigen Farben bestand, dass sie das Auge blendeten. Es gab Schattierungen und Farbtöne, die in der täglichen und öden Welt keine Entsprechung hatten. Es war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Molly und ich klammerten uns aneinander, damit wir angesichts etwas so unmenschlich Schönem einen Halt hatten. Tony hielt sich an Ivor fest.

»Was ist das?«, sagte Molly endlich atemlos.

»Das ist der Sternenbogen«, sagte Tony, seine Stimme schwach und voller Ehrfurcht. »Ich habe davon in Großvaters Tagebuch gelesen, aber ich hätte mir nie vorgestellt …«

»Ich habe davon gehört«, sagte ich. »Aber ich hätte nie erwartet, ihn zu sehen. Es wird erzählt, dass man ihm bis zum Ende des Universums folgen kann und dort vielleicht seinen Herzenswunsch erfüllt bekommt.«

»Oh Eddie«, sagte Molly. »Könnten wir nicht …«

»Ja«, sagte ich. »Könnten wir. Aber wir müssen woanders hin. Wir haben Pflichten. Und Verantwortung.«

»Ja«, sagte Molly und ließ den Sternenbogen nicht aus den Augen. »Wenn wir nur könnten …«

»Wenn wir nur könnten«, erwiderte ich. »Das sind immer die schlimmsten Worte. Tony, bring uns hier heraus.«

Er beschleunigte und langsam ließen wir den Sternenbogen hinter uns. Manchmal denke ich, dass das Traurigste war, was ich je hatte tun müssen.


Endlich erschien wieder Merlins Spiegel vor uns und wir röhrten hindurch. Mit einem Mal waren wir wieder in der Realität angelangt, die wir kannten und zurück in der Zukunft, die ich schon gesehen hatte. Der Zeitzug schien für einen Moment wie ein Stein zu fallen, dann erschien eine große eisige Ebene unter uns und plötzlich fraß sich Ivor durch dicken Schnee. Molly, Tony und ich wurden hin und her geworfen, als Ivors Geschwindigkeit mit fiesen Schocks und Sprüngen langsamer wurde. Tony rang mit beiden Händen die Kontrollen nieder, er schrie und fluchte und endlich kam der Zeitzug zum Stillstand.

Es war plötzlich sehr kalt, unser Atem dampfte dick in der Luft. Mein nacktes Gesicht und die Hände brannten in der plötzlichen Kälte, und ich lugte aus dem Führerhaus hinaus, um mich zu orientieren. Diesmal waren wir wirklich auf der fremdartigen Welt mit dem rosafarbenen Himmel und den drei grell scheinenden Sonnen. Die Schneewüste erstreckte sich so weit das Auge reichte. Dünne Nebelschwaden wurden von der eisigen Luft hin und her geweht.

»Du bringst mich wirklich an die schönsten Orte, Eddie«, sagte Molly, schlug ihre eiskalten Hände aneinander und blies hinein.

»Hey, das ist immerhin eine völlig neue Alienwelt!«, antwortete ich.

»Hättest du nicht eine wärmere aussuchen können?«

»Jedenfalls sind wir hier richtig«, sagte ich.

»Warum bist du so sicher?«

»Weil ich die Leichen wiedererkenne.«

Sie waren genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte, ein Dutzend tote Männer und Frauen, die über den blutigen Schnee verteilt waren. »Das ist das Werk von Giles Todesjäger«, sagte ich. »Er ist wirklich ein Mordskämpfer.«

»Könnte auch ein Mordsmassenmörder sein, nach allem, was du weißt«, sagte Molly. »Wo ist er überhaupt?«

Ich sah mich um, aber von dem Krieger der Zukunft war nichts zu sehen. Ich begann gerade, mich zu fragen, wie akkurat Ivor und Merlins Spiegel wohl wirklich waren. Wir waren einen langen Weg gekommen und nur ein paar Tage Differenz, nach weiß der Geier wie vielen Jahrhunderten, war zu erwarten. Aber einem Mann auf der Flucht konnte in ein paar Tagen viel passieren, und das meiste davon war schlecht. Aber … Ivor und der Spiegel waren alles, was ich hatte, und so war ich nicht gerade in der Position, mich zu beschweren. Molly und ich kletterten aus dem Führerhaus heraus und wanderten auf die Ebene hinaus. Mit jedem Schritt versanken wir tief im dicken Schnee. Es war bitterkalt, beinahe nicht auszuhalten, so weit weg von Ivors Führerhaus. Aber die pure Anstrengung, die es bedeutete, mir einen Weg durch den Schnee zu bahnen, ließ mich schwitzen. Jeder Atemzug schmerzte in meinen Lungen, und meine Stirn tat weh, als hätte jemand draufgeschlagen.

Aber es war immer noch eine fremde Welt, über der drei helle Sonnen von einem leuchtend pinkfarbenen Himmel schienen. Ich setzte Molly das auseinander, aber sie grunzte nur unbeeindruckt und schlang die Arme so eng um sich, als wolle sie die Wärme daran hindern, sie zu verlassen. Ich winkte fröhlich zu Tony zurück und er winkte zurück, aber er machte keine Anstalten, seine geliebte Maschine zu verlassen.

Ich trottete durch den Schnee auf die Leichen zu. Sie waren überall, Hunderte von ihnen, die mit verrenkten Gliedern in seltsamen Posen im blutdurchtränkten Schnee lagen. Einigen fehlten die Glieder, anderen die Köpfe. Einige waren ausgeweidet und zerhackt. Aber so aus der Nähe stellte sich heraus, dass meine Identifikation falsch war. Das waren keine Männer in futuristischer Rüstung, ihre Rüstung war Teil von ihnen. Diese Leute waren eine Art Cyborgs, Kompositionen aus Mensch und Maschine. Stahlkabel und kantige, technische Teile, die von totem weißem Fleisch zusammengehalten wurden. Kameras in Augenhöhlen, Gewehre, die direkt in die Hand implantiert waren. Keine zwei Leichen waren gleich, aber sie alle waren offensichtlich Teil des gleichen Prozesses gewesen. Sie sahen so hässlich aus wie die Sünde. Wer auch immer sie zusammengebaut hatte, hatte die Funktion über die Ästhetik gestellt. Die Gesichter waren allerdings durchaus menschlich und das Blut nur allzu vertraut.

»Widerliche Verletzungen«, sagte Molly und hielt neben mir an. Sie beugte sich über einen der Toten, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Sie gab sich Mühe, ihn nicht zu berühren. »Aber keine Schusswunden. Diese armen Bastarde sind zu Tode gehackt worden. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Mr. Stich uns hier eins ausgewischt hat.«

»Giles schien das Schwert zu bevorzugen, glaub's oder nicht«, sagte ich. »Er hat ein verdammt großes mit sich herumgetragen, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«

»Man benutzt Schwerter in der Zukunft?«, fragte Molly ungläubig. »Warum hat man dann die Technologie für solche Cyborgs entwickelt?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wer weiß schon, was hierzulande normal ist.«

Ich sah eine weggeworfene Waffe im Schnee liegen und beugte mich herab, um sie aufzuheben. Die Pistole wog für ihre sperrige Größe unheimlich leicht in meiner Hand. Sie bestand hauptsächlich aus einem stumpfen grünen Metall, über und über besetzt mit glänzenden Kristallen und blinkenden farbig leuchtenden Anzeigen. Aber sie hatte einen Lauf und einen Auslöser und so zielte ich über die Ebene hinweg und feuerte. Ein greller Energieblitz schoss aus der Waffe und schlug ungefähr hundert Meter weiter einen massiven Krater aus dem Schnee. Der Boden bebte für einen Moment unter unseren Füßen und Molly griff nach meinem Arm. All der Schnee, der vaporisiert worden war, ließ dicke spiralförmige Nebelschwaden über dem Krater zurück.

Ich klemmte die Strahlenpistole unter den Arm und grinste. »Oh, Onkel Jack wird das Ding lieben.«

»Wenn du dich zurückhalten kannst, uns alle in die Luft zu jagen«, meinte Molly trocken. »Tu's weg, Eddie, du kannst später damit spielen.«

Ich sah nach einer Sicherung, aber die Waffe schien keine zu haben, also steckte ich sie einfach vorsichtig in meine Jackentasche. Molly kniete sich neben einen der toten Cyborgs.

»Meinst du, wir sollten einen von denen mitnehmen? Der Waffenmeister kann vielleicht alles Mögliche mit dieser Technologie anfangen.«

Ich dachte kurz darüber nach, aber schüttelte dann energisch den Kopf. »Das fühlt sich zu sehr nach Leichenraub an, denke ich.«

»Warmduscher«, sagte Molly. Sie richtete sich wieder auf, doch der Cyborg packte sie plötzlich mit einer toten Hand am Arm.

Molly schrie auf, außer sich. Sie zerrte erbittert an ihrem Arm, doch der Cyborg hatte sie fest im Griff. Ich trat schnell vor und trat fest auf die Brust des Dings. Die Rüstung tat mir durch meinen Schuh hinweg weh, aber der Aufprall riss Mollys Arm aus dem Griff des Cyborgs. Jetzt schnappte es nach meinem Bein, aber ich war schon zurückgetreten. Molly strampelte so schnell fort von diesem Ding, wie der Schnee es zuließ und fluchte laut. Der Cyborg setzte sich im blutigen Schnee auf und sah uns beide mit einer toten, ausdruckslosen Miene an. Silberne Muster aus Stromkreisläufen bedeckten seine Braue und führten eine Seite des Gesichts herab. Er hob einen Arm, zeigte auf uns und ein dünnes schwarzes Gehäuse erhob sich geschmeidig aus seinem Handrücken. Ich warf mich selbst in den harschigen Schnee und ein Energieblitz zuckte dort, wo ich gestanden hatte, durch die Luft. Nah genug, dass sich alle Haare auf meinem Körper aufstellten.

Ich rollte mich auf die Seite und kam mühsam auf die Beine. Der Cyborg stand mit ruckartigen, zuckenden Bewegungen aus dem Schnee auf und drehte seinen Kopf hin und her. Er suchte ein neues Ziel. Und trotz allem hatte ich nie das Gefühl, das Ding würde leben. Der Mensch war ganz klar tot, seine Augen waren starr und blinzelten nicht, es war nur die Maschine in ihm, die ihn auf den Beinen hielt - vielleicht ausgelöst durch Mollys Nähe.

Ich murmelte die aktivierenden Worte und rüstete hoch, einen Moment später flutete die silberne seltsame Materie um mich herum. Sofort war ich vor der Kälte der fremden Welt geschützt, und ich fühlte mich stärker, schneller und fokussierter. Ich rannte mit Leichtigkeit durch den tiefen Schnee direkt auf den Cyborg zu. Er drehte sich schnell um und schoss aus nächster Nähe auf mich. Der Energiestrahl traf mich direkt in meine gerüstete Brust, aber er prallte harmlos ab. Ich entspannte mich etwas. Ich war ziemlich sicher gewesen, dass mich die Rüstung schützen würde, aber es war angenehm, das nun auch zu wissen. Ich packte den bewaffneten Arm des Cyborgs und riss ihn mit einem Ausbruch roher gerüsteter Kraft aus seinem Gelenk. Der Cyborg wankte, aber er schrie nicht und er fiel auch nicht. Er hob jetzt den anderen Arm, also riss ich ihm den auch heraus. Er fiel immer noch nicht, also packte ich mit beiden Händen den Kopf und drehte ihm den auch noch sauber vom Hals.

Die Augen starrten mich ohne zu blinzeln an. Der Mund bewegte sich ein paar Mal und war dann still. Ich sah die mechanische Leiche an. Sie stand still da und bewegte sich nicht. Ich warf den Kopf weg.

Molly applaudierte, das Geräusch war flach und klein in der weiten Leere. »Hardcore, Eddie.«

»Er war ja schon tot«, sagte ich. »Oder wenigstens hoffe ich das. Ich sag dir was: Machen wir um die anderen Leichen einen großen Bogen, ja?«

Molly schnüffelte laut und umarmte sich wegen der Kälte immer noch selbst. »Ich mag diesen Ort nicht. Wirklich nicht. Meine Sinne sind übernatürlich, aber auf unsere Welt geeicht, auf die Energie, die allen lebendigen Wesen innewohnt. Und hier empfange ich nichts. Ich weiß, ich weiß, das ist eine außerirdische Welt, aber trotzdem. Ich sollte etwas empfangen, aber Eddie, hier ist nichts Lebendiges. Nichts. Und nicht nur hier, an diesem Ort … Du hast uns auf eine tote Welt gebracht, Eddie. Diese Cyborgs, oder was auch immer sie bekämpft haben, hat alles auf diesem Planeten getötet.«

»Das kannst du nicht wissen«, sagte ich. »Vielleicht war's schon eine tote Welt, bevor die herkamen.«

»Nein. Das weiß ich. Sie haben alles Lebendige hier getötet, damit sie diese Welt als Schlachtfeld benutzen konnten. Was ist das für eine Zukunft, in die du uns gebracht hast, Eddie? Und welcher Mensch würde so etwas kreieren?«

Ich zuckte unbehaglich mit den Achseln. »Ich weiß es nicht! Du kannst doch eine ganze zukünftige Zivilisation nicht nach einer einzigen Welt beurteilen.«

»Ich frage mich, wer diese Leute waren«, sagte Molly. »Und gegen wen sie gekämpft haben?«

»Giles sagte etwas über den Dienst an einem Kaiser«, sagte ich.

»Dann ist das hier bestimmt die Rebellenarmee und nicht die imperialen Streitkräfte.« Molly lächelte zum ersten Mal leicht.

»Ich wusste gar nicht, dass du ein Star Wars-Fan bist«, sagte ich und war froh, das Thema wechseln zu können.

»Nur die Classic-Episoden.«

»Ich habe das mit den Rebellen in diesen Filmen nie verstanden«, sagte ich. »Ich meine, die hatten Rebellen-Stützpunkte auf allen möglichen Rebellenplaneten, und Rebellen-Raumschiffe und Rebellenarmeen und -waffen - aber wer hat eigentlich dafür gezahlt? Wo kam das alles her? Die hatten doch nicht an jeder Straßenecke Freiwillige stehen, die mit Sammelbüchsen gerappelt und gesagt haben: Bitte unterstützen Sie die Rebellion! Darth Vader hätte die alle erschossen.«

Und dann sahen wir uns beide an, als das Geräusch herannahender Motoren an unser Ohr drang. Wir sahen über die Schneewüste, wo der Horizont in den Nebeln verschwand. Da war Giles Todesjäger und pflügte mit einer affenartigen Geschwindigkeit durch den Schnee. Schneller, als ich es selbst mithilfe meiner Rüstung geschafft hätte. Und über und hinter ihm folgten ein Dutzend Luftschiffe; fremdartige, elegante Gefährte, die von unbekannten Waffen strotzten und alle zielten auf den rennenden Flüchtling herab. Aber trotz der knisternden Energiestrahlen, die wieder und wieder von den Schiffen auf ihn herunterkrachten, schienen sie der hektisch Haken schlagenden Gestalt unter ihnen nie auch nur nahe zu kommen. Giles Todesjäger war immer irgendwo anders.

Die Luftschiffe flogen über ihn hinweg, schwebten durch den pinkfarbenen Himmel und zogen eine weite Schleife, die sie wieder zurückbrachte, um erneut auf ihn zu feuern. Giles hatte mich und den Zug noch nicht gesehen. Er hielt den Kopf unten, konzentrierte sich nur aufs Rennen und darauf, seinen Feinden zu entkommen. Aus den Nebeln hinter ihm kam eine kleine Armee von jadegrün gerüsteten Figuren, die entschlossen durch den schweren Schnee stapften und glühende Energiestrahlen auf den Mann abfeuerten, der vor ihnen davonrannte. Sie waren dabei nicht erfolgreicher als die Gleiter, aber jetzt erschienen rund um Giles lauter Krater, die die Luft mit dem Nebel des vaporisierenden Schnees erfüllten.

Ich schrie nach Giles und benutzte dabei die silberne Maske, um meine Stimme zu verstärken. Sein Kopf fuhr herum und er wechselte die Richtung, um genau auf mich und den Zeitzug zu zulaufen und pflügte sich dabei durch den tiefen Schnee, als wäre der gar nicht da. Seine Bewegungen waren unmenschlich schnell. Aber selbst mit seiner Geschwindigkeit und Entschlossenheit war klar, dass wenigstens ein paar seiner Verfolger ihn von uns abschneiden würden, bevor er uns erreichen konnte. Und die Gleiter kamen zurück.

»Geh zurück zu Ivor«, sagte ich zu Molly. »Beschütz den Zug, was auch immer passiert, er ist unser einziger Weg nach Hause.«

»Verdammt richtig«, sagte Molly. »Das ist wirklich ein lausiger Urlaubsort und leben will ich hier schon gar nicht.«

Sie wandte sich wieder der Dampfmaschine zu und bahnte sich einen Weg durch den Schnee, während ich über die gefrorene Ebene zu Giles rannte. Meine gerüsteten Beine stampften durch den Schnee und ließen ihn entlang meines Weges zur Seite fliegen. Die Verfolger sahen mich kommen und schrien einander an. Gott weiß, was sie dachten, das ich bin. Ein paar feuerten ihre Energiewaffen auf mich ab, aber sie kamen mir nicht einmal nahe. Und dann gab es eine Explosion direkt hinter mir und ich blieb abrupt stehen, um mich umzusehen.

Die Gleiter hatten den Zeitzug entdeckt, und attackierten ihn mit ihren Strahlern. Ein ganzer Haufen Krater war rund um Ivor aus dem Schnee geblasen worden und sie kamen näher und näher. Ein schimmernder Schutzschild erschien plötzlich rund um Ivor und ich grinste. Molly hatte sich wohl gefangen. Energiestrahlen prallten vom Schild ab, aber jeder Einschlag traf ihn wie einen Hammer und setzte sich wellenförmig durch die Schutzenergien hinweg fort. Und dann trafen einige Strahlen den Schild auf einmal - und einer von ihnen ging hindurch. Er glitt über Ivors schwarze Stahlflanke und er kreischte schrill durch seinen Schornstein.

Ich wandte ihm wieder den Rücken zu. Es gab nichts, was ich tun konnte. Entweder würde Molly einen Weg finden, ihren Schild zu verstärken, oder sie würde es nicht. Ich vertraute ihr, dass sie das konnte, also tat ich auch meinen Teil. Ich musste zu Giles und ihn sicher zur Maschine bringen. Ich lief schneller, die silbernen Arme pumpten an meiner Seite und bewegten sich jetzt so schnell, dass ich nicht einmal mehr den Schnee als Hindernis empfand, durch den ich mich kämpfte. Weiter vorn war Giles plötzlich stehen geblieben. Eine ganze Gruppe seiner bewaffneten Feinde hatte sich zwischen ihn und den Zeitzug manövriert. Und mehr und mehr kamen aus allen Richtungen hinzu. Es schienen Hunderte von ihnen zu sein, die triumphierend mit hohen und dünnen Stimmen durch die bitterkalte Luft schrien. Giles sah sich um, ruhig und gemessen. Dann zog er sein langes Schwert. Er war jetzt umzingelt, von einer ganzen Armee, die ihn offensichtlich tot sehen wollte, aber ich konnte nicht die geringste Spur von Besorgnis auf seinem Gesicht sehen.

Nur etwas, das auch zufriedene Erwartung hätte sein können.

Ich kämpfte mich nach vorn und durch den schwächsten Teil des Kreises und schickte dabei Bewaffnete durch die Luft. Schließlich hielt ich krachend neben Giles an und er sah neugierig zu mir hin, sein Schwert bereit.

»Hi«, sagte ich. »Edwin Drood, mal wieder zu deinen Diensten. Ich sagte ja, ich komme wieder.«

»Ja«, erwiderte Giles. »Aber das war vor zwei Tagen und drei Nächten. Ich bin meinen Feinden seither ausgewichen, und habe darauf gewartet, dass du auftauchst.«

»Ja, na ja, tut mir leid«, sagte ich. »Ich hatte zu tun, du weißt, wie das ist. Und Zeitreisen sind nicht gerade eine exakte Wissenschaft.«

»Das wissen wir«, sagte Giles. »Deshalb sind sie ja auch verboten.« Er betrachtete meine Rüstung. »Nettes Outfit. Wie kommt man da raus, mit einem Dosenöffner?«

»Zeig ich dir später. Deine Kutsche wartet, sollen wir?«

Giles sah sich um. »Diese Gentlemen haben da andere Vorstellungen.«

»Ach was, zur Hölle mit denen.«

Giles grinste. »Genau das denke ich auch.«

Die Bewaffneten hatten schließlich die Nase voll davon, uns reden zu hören und drangen jetzt von allen Seiten auf uns ein. Es waren ganze Haufen von ihnen, aber seltsamerweise hielten sie jetzt Schwerter und Äxte anstelle ihrer Energiewaffen. Das würde Giles mir später erklären müssen. Immerhin waren das diesmal Männer in Rüstungen und keine Cyborgs. Also würden sie wohl tot bleiben, wenn man sie umbrachte. Ich ließ aus meinen gerüsteten Händen lange, silberne Klingen wachsen und Giles und ich stürzten uns auf sie.

Es waren bestimmt über hundert; alle schwer bewaffnet und sie kamen von allen Seiten auf einmal. Sie hatten keine Chance. Ihre Schwerter und Schlachtäxte glitten harmlos von meiner Rüstung ab und meine Klingen aus seltsamer Materie schnitten leicht durch jeden Schutz, den sie aufbieten konnten. Ich hackte mit unmenschlicher Geschwindigkeit und Stärke um mich herum. Blut spritzte durch die eisige Luft und dampfte in den Momenten, bevor es den Schnee traf. Männer fielen kreischend und sterbend überall um mich herum. Ich trat sie beiseite, um an meine nächsten Opfer zu kommen. Giles trat und wirbelte herum und schlitzte mit einer Geschwindigkeit, die fast an meine herankam. Seine lange Klinge blitzte in der Luft, während er Männer mit beinahe klinischer Präzision niedermähte. Keiner schaffte es, sich ihm zu nähern. Wir kämpften Rücken an Rücken, manchmal auch Seite an Seite und wir waren nicht zu stoppen. Die Toten stapelten sich um uns herum auf dem aufgewühlten Schnee, der sich vor Blut und Innereien bald dunkelrot färbte. Kreischen und erschrockene Schreie erfüllten die Luft; doch das waren ihre, nicht unsere.

Trotz ihrer Überzahl war es kein Kampf. Es war ein Abschlachten.

Eigentlich töte ich auf meinen Missionen nicht. In der Regel muss ich das nicht. Die Rüstung verleiht mir eigentlich alle Macht, die ich brauche. Ich habe mich selbst immer als Agent gesehen, nicht als Killer. Das letzte Mal, dass ich hatte kämpfen und töten müssen, war auf der Nazca-Ebene gewesen. Dort hatte ich nicht gezögert, weil die Drohnen der Abscheulichen nicht mehr menschlich gewesen waren. Sie zu töten war das Gleiche, als träte man auf Insekten. Das hier war anders. Giles und ich waren von einer kleinen Armee umgeben, die uns hatte töten wollen. Ivor hatten sie schon verletzt. Unter solchen Umständen übernimmt einfach das Familientraining. Ich tat, was ich tun musste. Ich stach Menschen nieder und rannte sie über den Haufen und die ganze Zeit tat ich mein Bestes, um nichts zu fühlen. Gar nichts. Ich musste vielleicht töten, aber ich hatte mich noch nie dazu bringen können, das auch zu mögen.

Giles dagegen mochte es. Er grinste die ganze Zeit fröhlich und lachte manchmal sogar laut, wenn ihm ein besonders erfolgreicher oder anmutiger Angriff gelungen war. Giles war ein Krieger und tat, wozu er geboren war. Das war es ja auch, weswegen ich hierher gekommen war.

Die Bewaffneten begannen schließlich, sich zu ihren Strahlenwaffen zurückzuziehen. Aber die gleißenden Blitze prallten harmlos an meiner Rüstung ab und schalteten mit Querschlägern ihre eigenen Leute aus. Keiner von ihnen konnte Giles treffen. Er tanzte und drehte sich im Zentrum der Angreifenden, schlug mit tödlicher Grazie zu, und manchmal fing er sich einen Strahl auf seinen Energieschild ein, den er auf dem Arm montiert hatte. Ich hatte noch nie einen Kämpfer wie ihn gesehen. Und zum Schluss - gaben die letzten Bewaffneten schließlich auf und rannten weg, statt sich uns zu stellen. Sie flohen in ein Dutzend verschiedenen Richtungen über die vereiste Ebene und wir ließen sie davonkommen. Giles senkte ruhig sein Schwert und ich ließ meine Klingen wieder in den silbernen Händen verschwinden. Wir standen nebeneinander und atmeten beide hart vor Anstrengung. Giles schüttelte schwere Blutstropfen von seiner Schwertspitze. Sein Brustharnisch war mit Blut bespritzt, aber es war nicht seins. Auf meiner Rüstung war keines zu sehen, aber das lag nur daran, dass es auf der seltsamen Materie nicht hielt. Giles nickte mich heiter an. Er war schon wieder zu Atem gekommen.

»Also, war das gut für dich? Lach mal, Edwin, der Feind ist tot und wir sind am Leben. Es gibt kein besseres Gefühl in der Welt. Du hast das Zeug zu einem Krieger, Edwin Drood. Ein wenig langsam und vorsichtig, aber effizient genug, um zu bestehen.«

»Wenn du mir dann zum Zeitzug folgen würdest«, sagte ich ein wenig außer Atem. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir hier abhauen.«

»Klingt gut«, sagte Giles. »Ich könnte eine Pause brauchen.«

Wir gingen hinüber zu Ivor, der immer noch von Mollys Schutzschild umgeben war. Die Gleiter flogen immer wieder über ihn hinweg, Energiestrahlen fuhren hinab und um die Lok herum. Keiner von ihnen schien hindurchzukommen. Aber der Schnee um die Lokomotive herum war jetzt verschwunden und war bis auf den Felsen darunter verdampft.

»Je früher wir hier rauskommen, desto besser«, sagte Giles beiläufig. »Der Kaiser wird Verstärkung hersenden, sobald er davon erfährt, dass ich noch am Leben bin. Er wird eine Armee schicken, wenn es das ist, was mich tötet.«

»Hattest du nicht gesagt, dass du dem Kaiser dienst?«

»Das habe ich. Aber ich bin im Moment bei Hof in Ungnade gefallen. Das ist kompliziert.«

»Irgendwie war mir klar, dass es das ist. Ist vielleicht eine Frau darin verwickelt?«

»Ja, woher weißt du das?«

Ich musste lächeln. »In sowas ist immer eine Frau verwickelt.«

Als wir dicht genug am Zeitzug waren, dass Molly uns sehen konnte, lenkte sie die Gleiter mit projizierten Illusionszaubern ab. Um uns herum erschienen ein Dutzend Ivors und jeder war scheinbar mit einem Schutzschild ausgestattet. Aber die Gleiter verfügten wohl über eine Art Sensoren, denn sie wurden nicht einen Augenblick irregeführt. Sie schossen weiter auf den Schutzschild ein, der den echten Ivor umgab. Auf einmal erschienen ungefähr ein Dutzend gelber Drachen über uns, die sich ganz furchtbar mit dem knatschrosa Himmel bissen. Sie stürzten sich auf die Gleiter, die reflexartig auf sie schossen. Energieblitze flammten über den Illusionen auf und schalteten tatsächlich ein paar der anderen Gleiter aus. Es gab ein paar Explosionen und zerstörte Luftschiffe fielen wie brennende Vögel aus dem Himmel.

Mittlerweile hatten Giles und ich den Zeitzug erreicht und Molly öffnete eine Tür im Schutzschild, gerade so kurz, dass wir hindurchschlüpfen konnten. Ich rüstete ab und hielt inne, bevor ich die Leiter zum Führerhaus hinaufkletterte. Der eine Energiestrahl, der durch den Schutzschild geschlagen war, hatte der Länge nach eine tiefe Furche in Ivors schwarze Stahlflanke gegraben und Massen von Dampf oder so etwas in der Art traten aus dieser offenen Wunde aus. Ich hastete die Leiter ins Führerhaus hoch, Giles dicht hinter mir. Tony eilte von einer Anzeige zur nächsten und studierte besorgt die Anzeigen, während Molly im Schneidersitz auf dem Boden saß und konzentriert am Schutzschild arbeitete.

»Ich grüße euch alle«, sagte Giles fröhlich. »Arbeitet mein Translator? Gut. Erlaubt mir, mich vorzustellen. Ich habe die Ehre, Giles VomAcht Todesjäger zu sein, Oberster Krieger des Kaisers Ethur, zu Euren Diensten.«

»Ganz toll«, sagte Molly ohne aufzusehen. »Und jetzt halt die Klappe, damit ich mich auf das Einzige konzentrieren kann, dass uns davor bewahrt, zu einem Haufen Schrott zerblasen zu werden.«

»Ah«, sagte Giles. »Du bist ESPlerin!«

»Nein, ich bin eine Hexe.«

»Oh, eine von denen …«

Bedenkt man die Art, wie er das sagte und nahm dann den Ausdruck auf Mollys Gesicht, war klar, dass diese Konversation nicht gut ausgehen würde und deshalb wandte ich mich an Tony.

»Wie schlimm ist der Schaden an der Maschine?«

»Schlimm, schlimm genug. Gott allein weiß, was der Strahl für einen Schaden an den Eindämmungen angerichtet hat.«

»Kannst du uns trotzdem wieder hier raus und nach Hause bringen?«

»Ich weiß es nicht! Falls wir es versuchen und die Felder sich ausbeulen, finden sie über die ganze Geschichte verteilt Einzelstücke von uns.«

»Kümmern wir uns nicht um das ›falls‹«, erwiderte ich. »Siehst du die Dinger dahinten am Horizont? Für mich sehen die ganz wie Verstärkung aus. Es sind ganz viele und ich denke wirklich nicht, dass wir noch hier sein sollten, wenn sie ankommen. Wir müssen weg, Tony, sofort.«

Er warf mir einen zornigen Blick zu und brachte dann all die Stahlhebel in die Ausgangsposition zurück, einen nach dem anderen. Ivor schauderte und schüttelte sich. Tony begann, die kristallisierten Tachyonen in die Brennkammer zu schaufeln. Giles sah nachdenklich auf ihn herab.

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr so weit aus der Vergangenheit kommt …«

»Noch ein Wort von dir und du kannst aussteigen und schieben!«, sagte Tony und schaufelte, was das Zeug hielt.

»Während der Arbeit bitte nicht mit dem Fahrer sprechen«, sagte ich zu Giles. »Das macht ihn nur nervös.«

Wieder traf ein ganzes Bündel von Energiestrahlen den Schutzschild auf einmal und Molly schrie vor Schmerzen auf, die Augen zusammengekniffen vor Anstrengung, den Schild aufrechtzuerhalten. Ein Blutstropfen erschien unter ihrem linken Augenlid. Tony schlug die Klappe der Brennkammer zu und öffnete die Drosselung bis zum Anschlag. Dabei murmelte er eine Mischung aus Gebeten, Obszönitäten und Ermutigungen an Ivor in sich hinein. Ivor tat einen Satz nach vorn, der uns alle taumeln ließ, und machte sich dann auf den Weg zu Merlins Spiegel, der wieder vor uns in der Luft schwebte. Einer der Gleiter schoss darauf. Der Strahl wurde prompt zurückgeworfen und holte ihn selbst vom Himmel. Wahrscheinlich konnte alles, das Merlin Satansbrut gebaut hatte, sich selbst verteidigen.

Die anderen Gleiter feuerten jetzt intensiver auf Ivor, als er begann, sich zu bewegen und unsicher durch den dicken Schnee zu fahren begann. Aber keiner traf, obwohl Mollys Gesicht jetzt schweißbedeckt war und noch mehr Blut aus ihren zusammengepressten Augen rann. Ivor wurde langsam schneller und die verschneite Ebene verschwand hinter uns, als Merlins Spiegel nach vorn zu hüpfen und uns zu verschlingen schien. Mit einem Mal ließen wir die Alienwelt hinter uns und fuhren durch die andere Seite von Raum und Zeit zurück in Richtung Heimat.


Molly entspannte sich mit einem großen, schaudernden Seufzer und lehnte sich erschöpft an die innere Wand des Führerhauses. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, aber scheinbar blutete sie nicht mehr. Ich setzte mich neben sie und wischte ihr mit meinem Taschentuch zärtlich den Schweiß und das Blut vom Gesicht. Sie lächelte leicht, nur um mich wissen zu lassen, dass sie über meine Anwesenheit glücklich war.

Ivor hatte sichtlich Mühe. Seine Geschwindigkeit schien zu schwanken und aus seinem Inneren kamen besorgniserregende Geräusche. Tony werkelte endlos über den verschiedenen Anzeigen, korrigierte immer wieder die Stellung seiner Hebel und redete pausenlos leise und motivierend auf seine Lok ein. Giles stand geduldig in einer Ecke, die Arme vor der Brust verschränkt und sah interessiert auf den Ozean aus Sternen, der uns umgab. Nach einer Weile war Molly wieder in der Lage, die Augen zu öffnen und als ich mir sicher war, dass sie keinen Schaden davongetragen hatte, stand ich auf und ging hinüber, um mit Giles zu sprechen. Ich dachte, ich sollte ihn vielleicht willkommen heißen - aber das war nicht einfach. Auch wenn unsere Translatoren immer noch gut funktionierten, lagen doch ganze Zeitalter zwischen uns und es war manchmal schwer, Worte oder Begrifflichkeiten zu finden, die wir gemeinsam hatten. Wir waren uns nicht einmal sicher, wie viele Jahrhunderte uns trennten.

»Ich bringe dich auf die Erde zurück. An den Beginn des 21. Jahrhunderts nach Christus.«

Giles zuckte nur mit den Achseln. »Tut mir leid, das sagt mir nichts. Ich komme aus dem Herzen des Reiches. Die Innerste Welt, im 31. Jahrhundert des Neuen Zeitalters. Und davor habe ich auf einer kleinen Koloniewelt in den äußeren Bereichen der Galaxis gelebt.«

»Und du hast für den Kaiser gearbeitet?«, fragte ich vorsichtig.

»Na ja, offiziell tue ich das immer noch. Ich bin der Oberste Krieger und durch öffentliche Verkündung der Führer der kaiserlichen Heerscharen in der Schlacht. Der Kaiser wird mich wieder aufnehmen, wenn wir diese kleine Meinungsverschiedenheit ausgeräumt haben.«

»Wird er dich nicht vermissen?«

»Ethur? Er wird einige Zeit froh sein, mich nicht zu sehen. Wenn er erst eine Chance gehabt hat, sich zu beruhigen, werden meine Anhänger hinter den Kulissen alles wieder ausbügeln - und dann wird er mich wieder an den Hof zurückzitieren, ohne sein Gesicht zu verlieren. Irgendetwas wird passieren, mit dem nur der Oberste Krieger fertig werden kann, so etwas geschieht immer. Und dann wird er mich mit offenen Armen empfangen. Das wird er müssen, denn er braucht mich. Er regiert vielleicht das Reich, aber ich bin derjenige, der es befriedet.« Er sah mich nachdenklich an. »Du kannst mich doch wieder zurückbringen, oder?«

»Aber sicher«, sagte ich prompt und gab mir Mühe, selbstsicher zu klingen. »Das ist ja das Besondere an Zeitreisen. Man kann sich an den Ausgangspunkt in Raum und Zeit zurückbringen, plusminus ein paar Sekunden.«

»Mir wären ein paar Monate lieber«, sagte Giles.

»Kein Problem«, sagte ich. »Stimmt's, Tony?«

Aber der hörte nicht auf mich, sondern kümmerte sich immer noch hingebungsvoll um seine Maschine. Ich überlegte, was ich sonst sagen konnte, womit ich das Thema wechseln konnte.

»Also - warum ein Schwert, Giles?«

»Weil es eine ehrenhafte Waffe ist«, sagte Giles, als läge die Antwort offen auf der Hand.

»Na wundervoll«, sagte Molly. »Wir haben einen Bekloppten aufgelesen.«


Nach verschiedenen Ereignissen und Abenteuern kamen wir alle wieder nach Hause. Der Zeitzug schoss brüllend aus Merlins Spiegel und kam mit quietschenden Rädern im hinteren Teil des Hangars zum Stehen. Wieder zu Hause, in einer Wolke, die ganz genauso aussah wie Dampf. Die Maschine stellte sich von alleine ab, bebte, schüttelte sich noch einmal und war endlich still. Im schwarzen Stahl knackte es laut, während er langsam abkühlte. Merlins Spiegel schrumpfte auf seine gewöhnliche Größe zusammen und steckte sich ein wenig schüchtern wieder in meine Jackentasche. Ich musste mich wirklich langsam fragen, wer von uns beiden hier die Entscheidungen traf. Ich sollte in einer ruhigen Minute wirklich die Bedienungsanleitung lesen. Ich half Molly beim Aussteigen und sie lehnte sich müde an mich. Tony war schon heruntergekommen, und betrachtete besorgt den langen Riss in Ivors Seite. Die Maschine machte traurige kleine puffpuff-Laute aus ihrem Schornstein. Giles sprang aus dem Führerhaus hinunter und sah sich interessiert um. Ich wollte gerade anfangen, ihm zu erklären, was es mit der Halle auf sich hatte und hörte sofort wieder auf, als ich feststellte, dass es hier noch stiller und verlassener war als üblich. Kein Enthusiast arbeitete an seinem Projekt, niemand werkelte an einem bestimmten Gerät, keine Spur von irgendjemandem, irgendwo.

Das ließ mich ganz stark annehmen, dass wir nicht nur ein paar Sekunden, nachdem wir abgefahren waren, wieder angekommen waren.

Zwei Männer erschienen im Hangartor und kamen direkt auf uns zu. Beide sahen sehr vertraut aus. Mir wurde plötzlich kalt, als ich sah, dass sie beide dasselbe Gesicht hatten. Es waren der lebende Jacob und der Geist, die da nebeneinander herliefen. Jemand hatte offenbar den lebenden Jacob beiseite genommen und ihm moderne Klamotten gezeigt. Er trug eine ausgeblichene Röhrenjeans, ein T-Shirt, das den legendären Aufdruck Hurra, ich lebe noch trug und eine schwarze Motorradlederjacke. Es stand ihm. Jacobs Geist hatte seinen Anzug aufgegeben und trug wieder seine ausgebeulten Shorts und ein T-Shirt, auf dem Gespenster tun es mit Geist stand. Er sah ziemlich undurchsichtig und solide aus, doch Teile von ihm schienen sich immer wieder aufzulösen und seine Haare flogen um ihn herum, als befände er sich unter Wasser. Beide, der lebendige und der tote Jacob, sahen sehr ernst aus. Sie blieben vor mir stehen und ich sah von einem zum anderen.

»Okay«, sagte ich. »Das macht mir jetzt richtig Angst.«

»Was?«, runzelte der lebendige Jacob die Stirn. »Ach, wir. Habe festgestellt, dass ich der Einzige bin, dem man hier trauen kann.«

»Richtig«, grollte Jacob der Geist. »Die Dinge haben sich in deiner Abwesenheit sehr verschlechtert, mein Junge.«

»Wo zur Hölle bist du all die Zeit gewesen?«, fragte der lebende Jacob.

»Wie lange waren wir denn weg?«

»Achtzehn Monate«, sagte der Geist.

»Was?« Ich wirbelte herum und starrte Tony böse an. »Du hast geschworen, dass du uns nur ein paar Sekunden, nachdem wir gefahren sind, wieder zurückbringen würdest!«

»Das ist nicht Ivors Schuld!«, schrie Tony zurück. »Er wurde von diesem Energiestrahl verletzt! Es ist ein Wunder, dass er uns überhaupt heil wieder zurückgebracht hat!«

»Wir reden später«, sagte ich. Ich drehte mich widerwillig zu den beiden Jacobs um. »Achtzehn Monate? Wirklich? Heulender Jesus … Okay, dann klärt mich mal auf, was alles passiert ist. Nein, einen Moment, wie kann ich euch nennen? Ihr könnt nicht beide Jacob bleiben.«

»Das haben wir schon vor Ewigkeiten geklärt«, sagte der Geist. »Ich bin Jacob und das ist Jay. Und seit du weg bist, ist alles den Bach runtergegangen. Die Abscheulichen haben sich mit Trumans neuem und wiedererstandenem Manifestem Schicksal zusammengetan, um Nester und Türme auf der ganzen Welt zu bauen. Es gibt jetzt Tausende. Die Familie hat unter Harrys Herrschaft ernsthaft versucht, sie auszurotten, aber für jeden Einzelnen, den wir vernichten, sprießen ein Dutzend andere in die Höhe. Die Abscheulichen werden wohl bald damit beginnen, ihre Massenbeschwörung abzuhalten, um die Hungrigen Götter in unsere Realität zu bringen.«

»Und dann sind wir am Arsch«, sagte Jay.

»Moment mal, Moment«, sagte ich. »Was soll das heißen, unter Harrys Führung?«

»Als du weg warst, hat er die Kontrolle über die Familie übernommen«, sagte Jay. »Mit Unterstützung der Matriarchin. Sie haben den Inneren Zirkel entlassen und Harry hat seitdem ziemlich allein entschieden. Er und sein Freund, dieses Höllengezücht.«

»Und die Familie verliert den Krieg«, sagte Jacob grimmig. »Sag mir wenigstens, dass du ein paar wirklich wirkungsvolle Waffen aus der Zukunft mitgebracht hast.«

»Ich hab eine Strahlenwaffe«, sagte ich ein bisschen defensiv. »Der Waffenmeister sollte in der Lage sein, irgendetwas Sinnvolles daraus zu entwickeln. Und ich habe diesen Gentleman hier als Tutoren mitgebracht: Der Krieger Giles Todesjäger. Er weiß eine Menge darüber, wie man Krieg führt.«

»Ich habe noch keinen verloren«, sagte Giles heiter. Er nickte hinüber zu Jacob. »Ein ziemlich gutes Hologramm. Auch wenn du deinen Fokus sicher neu justieren müsstest.«

»Sag es ihm nicht. Wir sollten ihn den merkwürdigeren Mitgliedern unserer Familie nach und nach und ganz vorsichtig vorstellen. Also, wie schlimm steht es?«

»Wirklich schlimm«, sagte Jay. »Die Familie ist über die ganze Welt verteilt und zerstört Nester, sobald wir sie geortet haben, aber es gibt einfach zu viele. Selbst mit unserer neuen Rüstung ist das eine hoffnungslose Aufgabe. Wir haben einfach keine Ahnung, wie viele Eklige es gibt und wie viele Nester im Untergrund. Sie müssen das über Jahrzehnte geplant haben.«

»Wie lange, bis sie ihre Beschwörungen beginnen?«

»Drei, vier Tage höchstens«, sagte Jacob. »Ihr seid gerade rechtzeitig zum Ende zurückgekommen.«

»Na ja, könnten wir nicht den Zeitzug nehmen, und in der Zeit nochmal achtzehn Monate zurückgehen?«, meinte Molly. »Um das alles ungeschehen zu machen?«

»Ivor geht nirgendwohin«, sagte Tony rundheraus. »Ich habe Monate an Arbeit vor mir, bevor er wieder losfahren kann.«

»Na gut«, sagte ich. »Ich habe also nur noch ein paar Tage Zeit, die bösen Jungs daran zu hindern, die Welt zu zerstören und die Familie vor sich selbst zu beschützen. Wenn ich das nicht schon mal gemacht hätte, würde ich mir jetzt echt Sorgen machen.«

Загрузка...