Kapitel Dreizehn Die Wahrheit - und noch ein paar andere Dinge - kommen ans Licht

Ich warf jeden hinaus, so schnell ich konnte, ohne dabei allzu offensichtlich zu sein. Ich schickte Giles Todesjäger mit dem Seneschall weg, damit sie neue Trainingsprogramme für die Familie erstellen konnten. Mit den beiden hätte ich gegen jede Armee auf unsere gewettet. Harry und Roger staksten alleine hinaus, zweifellos, um irgendwo anders wieder Unruhe zu stiften. Keiner von ihnen sah mich auch nur an, während er ging. Und nach einer diskreten Pause sagten Molly und ich auch auf Wiedersehen zu Freddie und Seltsam und suchten uns einen stillen Ort, an dem wir sicher und privat miteinander reden konnten.

Die Leute starrten uns hinterher, als wir durch die Korridore gingen. Keiner jubelte oder buhte uns tatsächlich aus, sie beobachteten uns nur und behielten ihre Gedanken für sich. Die meisten sahen aus, als würden sie nur darauf warten, dass man ihnen sagte, was sie am besten tun sollten. Ich wusste genau, wie sie sich fühlten. Molly und ich kamen schließlich zum Hauptspeisezimmer im hinteren Teil des Herrenhauses. Es war komplett leer zwischen den Schichten, die Tischreihen standen still und mit makellos weißen Tischtüchern gedeckt da. Es war schwer zu glauben, dass wir achtzehn Monate nicht hier gewesen waren. Molly und ich setzten uns gegenüber hin und ich bemerkte plötzlich, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was ich sagen sollte. Was sagen Sie, wenn die Frau, die Sie lieben, stirbt?

»Es ist nicht, als hätten wir das nicht schon gehabt«, sagte Molly freundlich. »Erinner' dich daran, als du von der seltsamen Materie befallen warst und dachtest, du hättest nur ein paar Tage zu leben? Wir haben auch nicht herumgesessen und haben uns die Augen aus dem Kopf geheult, wir haben einfach weitergemacht. Wir haben es überlebt. Wir werden auch das überleben.«

»Wie fühlst du dich?«, sagte ich. »Ich meine, wirklich. Fühlst du dich … irgendwie anders?«

»Ich kann etwas … anderes in mir spüren«, sagte sie langsam. »Wie nach einem ausgiebigen Essen. Ein Gefühl der Völle. Als wäre ich auf einmal mehr. Meine üblichen magischen Schutzmechanismen hüllen es für den Moment ein.« Sie lächelte kurz. »Aber auf der anderen Seite würde ich das ja sagen, oder? Wenn ich vom Verstand oder dem Körper her schon eine Drohne der Abscheulichen wäre.«

»Nein. Ich kenne den Unterschied. Ich könnte unterscheiden, ob du … du bist.«

»Ja«, sagte sie. »Du könntest das vielleicht.«

»Lass uns über etwas anderes reden. Wenigstens vorläufig. Gib uns eine Chance, dem Hauptproblem wenigstens nahe zu kommen. Vielleicht lösen wir es ja sogar.«

»In Ordnung. Was hast du im Sinn, Eddie?«

»Naja … was war das da mit dem Himmel und der Hölle und dem Satz: Ich bin halt ein bisschen rumgekommen?«

»Ah«, erwiderte sie. »Ja, ich hatte befürchtet, dass das irgendwann rauskommt. Du bist wirklich gut gewesen, Eddie, wirklich. Du hast nie viele Fragen gestellt, was ich getan habe und was ich versprochen habe, um meine magischen Kräfte zu bekommen. Vielleicht weil du Angst vor den Antworten hattest. Nein, entspann dich, Süßer, ich habe meine Seele an niemanden verkauft. Ich habe im Lauf der Jahre eine ganze Reihe Abkommen und Handel abgeschlossen, mit verschiedenen Mächten. Einige höllisch, andere himmlisch, ein paar außerirdisch. Und ich habe mit Lebensjahren für diese Magie bezahlt. Sieh mich nicht so an, Eddie, ich wollte nie wirklich alt werden. Obwohl - jetzt sieht es ja so aus, als wäre das sowieso irrelevant. Ich habe meine verschiedenen Schuldner mit Lebensjahren meines möglichen Alters bezahlt, und jetzt scheint es so, als würde ich gar nicht so weit kommen. Das Ding, das in mir wächst, wird mich wohl lange vor meiner Zeit umbringen.«

»Nicht, solange es mich gibt«, sagte ich. »Ich werde dich nie aufgeben, Molly. Es muss etwas geben, das wir tun können. Das ist das Droodsche Herrenhaus, wir wirken die ganze Zeit Wunder für alle Welt. Da habe ich das Recht, auch eines für mich zu erwarten. Weißt du, ich könnte dir einen Torques besorgen. Genau genommen ist es für jeden, in dem kein Droodsches Blut fließt, verboten, aber ich bin sicher, dass Seltsam uns helfen würde. Ich müsste wahrscheinlich nicht mal erklären, warum. Er ist sehr verständnisvoll - für ein unverständliches, andersdimensionales Wesen.«

»Das ist ein netter Gedanke, Eddie, aber ich glaube nicht, dass das funktionieren würde. Der Torques hat Sebastian auch nicht geholfen … nur dabei, seine Lage zu verstecken.«

»Okay, vergiss die Idee. Was ist mit dem Waffenmeister? Er hat genügend Wunder für die Familie erfunden, er kann auch eines für mich erfinden. Für dich.«

»Aber dann müssen wir's ihm sagen, alles. Können wir ihm völlig vertrauen? Ich will nicht in einem Käfig enden wie die anderen. Nicht, solange es noch Arbeit gibt.«

»Kannst du im Feld kämpfen?«, fragte ich.

»Wenn nicht, dann weißt du, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Körperlich fühle ich mich gut. Kein bisschen anders. Meine Magie schützt mich vor allem, was da anfangen könnte, sich zu ändern. Geistig …« Molly legte den Kopf schief, als würde sie auf etwas lauschen. »Es ist, als wäre da eine andere Stimme in meinem Kopf, sehr weit weg, aber doch deutlich, schwach, aber hartnäckig.«

»Und was sagt sie?«, fragte ich so beiläufig ich konnte.

»Rauch Crack und bete Satan an. Nein, ich weiß es nicht. Sie ist zu weit weg. Sie klingt nicht wie etwas … Böses.«

Plötzliche Hilflosigkeit durchflutete mich. Ich wollte aufstehen und im Raum herumlaufen, die Tische und Stühle umschmeißen und in der Gegend herumwerfen. Ich musste etwas tun, irgendetwas … Aber ich zwang mich sitzen zu bleiben, still und ruhig. Ich konnte Molly nicht zeigen, wie besorgt ich war. Also saßen wir nur da, und sahen uns über den leeren Tisch hinweg an.

»Was sollen wir tun?«, fragte ich endlich. »Wir können es keinem sagen. Wir können keinem vertrauen. Nicht in dieser Sache.«

»Wir bleiben ruhig und konzentriert«, sagte Molly. »Eigentlich glaube ich, dass ich ganz gut damit zurechtkomme, meinst du nicht? Ich dachte, ich hätte schon Panikattacken, oder würde hyperventilieren. Du bist derjenige, der aussieht, als würde er gleich einen hysterischen Anfall kriegen.«

Ich lächelte knapp. »Ich kann nichts vor dir verbergen, oder?«

Molly streckte ihre Hände nach mir aus und ich nahm sie in meine. Sie sah mich ernst an. »Du musst für mich stark bleiben, Eddie, damit ich stark sein kann. Wir können damit fertig werden. Wir können.«

»Weißt du«, sagte ich ein wenig sehnsüchtig, »als ich meine Familie vor dem Herz gerettet und den ganzen alten Bösartigkeiten ein Ende gesetzt hatte, dachte ich wirklich, die Dinge werden besser. Ich hätte es besser wissen müssen. Was sollen wir nur tun, Molly?«

»Wir zerstören die Abscheulichen und all ihre Werke«, sagte Molly bestimmt und drückte fest meine Hände. »Und unterwegs werden wir die Augen nach etwas aufhalten, das eine Heilung sein könnte. Wenn wir das nicht schaffen, dann … wirst du mich töten, solange ich ich selbst bin. Bevor ich etwas werde, was wir beide hassen würden.«

»Ich könnte das nie tun«, sagte ich.

»Du musst, Eddie. Nur für den Fall, dass ich nicht stark genug bin, es selbst zu tun.«

Wir sahen uns für eine lange Weile an und hielten uns aneinander fest wie Ertrinkende an einem Strohhalm.

»Warum hast du mich nicht verraten?«, fragte Molly schließlich. »Warum hast du nicht jedem gesagt, dass ich infiziert und eine Gefahr für die Familie bin? Du weißt, das hättest du tun sollen. Es ist deine Pflicht.«

»Ich entscheide, was meine Pflicht ist und was nicht. Das Wichtigste für mich ist, dich zu retten. Ich habe dich hierhergebracht, das Geschehen erst möglich gemacht; also ist es meine Schuld.«

»Oh, Eddie. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so schnell bereit ist, sich selbst die Schuld für die Probleme anderer zu geben!«

»Ich werde tun, was nötig ist, um dich zu retten, Molly. Wenn du sonst nichts glaubst, glaub das. Es muss eine Antwort geben.«

»Und wenn es keine gibt?«

»Dann werde ich eine schaffen.«


Wir sprachen noch eine Weile, aber sagten nichts Wichtiges mehr. Nur die üblichen, beruhigenden Dinge, die man sich sagt, wenn man im Dunkeln Angst hat. Und am Ende mussten wir gehen, sodass ich meine Arbeit aufnehmen konnte. Die ganze Familie verließ sich auf mich, nicht nur Molly. Und ich habe immer schon meine Pflicht gegenüber der Familie geachtet. Verfluchte Bande. Ich schickte Molly hinunter zum Waffenmeister, zu Onkel Jack. Mit ihm konnte sie über das Problem im Allgemeinen reden und sehen, was er dazu zu sagen hatte.

Und ich … ging zu meiner Großmutter.

Laut Harry war sie krank; zu krank, um irgendjemanden empfangen zu können. Aber das war ein alter Trick der Matriarchin, den sie anwandte, wenn sie mit niemandem sprechen wollte. Also machte ich mich auf den Weg zu ihrer privaten Suite im obersten Stock, und war überhaupt nicht überrascht, als ich dort zwei weitere von Harrys muskelstrotzenden Schlägern die Tür bewachen sah. Sie sahen mich kommen und beide rüsteten sofort hoch. Es schien, als sei auch schon zu ihnen gedrungen, was ich mit den anderen Dumpfbacken angestellt hatte. Ich schlenderte auf sie zu und tat mein Bestes, um beiläufige Sorglosigkeit auszustrahlen. Beide bewegten sich minimal, aber deutlich, um sich mir in den Weg zu stellen.

»Tut mir leid«, sagte der Linke. »Die Matriarchin darf nicht gestört werden. Wir haben unsere Befehle.«

»Sie darf überhaupt nicht gestört werden«, sagte der Rechte. »Unter keinen Umständen.«

»Das habe ich doch gesagt, Jeffrey«, sagte der Erste.

»Naja, ich darf nie was sagen«, sagte der Zweite. »Du übergehst mich immer, Earnest.«

»Hör zu«, meinte Earnest. »Können wir später darüber reden?«

»Du willst nie über etwas reden«, sagte Jeffrey.

Earnest seufzte laut hinter seiner goldenen Maske. »Du bist doch nicht immer noch sauer wegen der Party, oder?«

»Party? Welche Party?«

»Du bist sauer, du bist immer noch stinkig deshalb.«

»Du bist einfach abgehauen und hast mich allein stehen lassen!«, meinte Jeffrey hitzig. »Du weißt doch, dass ich da keinen kannte!«

»Ich hab doch gesagt, dass es mir leid tut, oder? Was soll ich sonst sagen?«

»Lass mich den Leuten drohen. Ich darf ihnen nie drohen.«

»Das liegt daran, dass du das nicht richtig machst«, sagte Earnest.

»Ich könnte es aber! Ein bisschen Übung und ich wäre fantastisch darin!«

»Okay, okay! In Ordnung. Also, du drohst demnächst. Ich stehe hier und sehe zu. Vielleicht lerne ich ja noch was dabei.«

»Entschuldigung«, sagte ich.

Jeffrey drehte sich um und sah seinen Partner an. »Du wirst Bemerkungen machen, oder? Laute und sarkastische Bemerkungen.«

»Nein, werde ich nicht!«

»Doch, wirst du! Du kritisierst mich immer. Du lässt mich überhaupt keinen Spaß haben!«

»Ich überlass dir doch die Drohungen, oder? Hör zu, du darfst ihn sogar als Erster schlagen. Wie wär das?«

»Wirklich?«, fragte Jeffrey. »Ich darf ihn als Erster hauen?«

»Natürlich darfst du! Na los, viel Spaß!«

»Danke, Earnest! Das bedeutet mir wirklich viel! Du bist echt ein guter Freund …«

»Oh, Mann, mach schon, du großes Weichei. Tritt ihm den Schädel ein.«

Ich entschied, dass ich davon jetzt so viel gehört hatte, wie ich ertragen konnte. Ich nahm Merlins Spiegel aus der Tasche, schüttelte ihn zu voller Größe aus, aktivierte die Transportfunktion und klappte dann den Spiegel erst über den einen, dann den anderen Türsteher und schickte den einen so in die Arktis, den anderen in die Antarktis. Dann ließ ich den Spiegel wieder schrumpfen und lächelte in den leeren Korridor hinein. »Wenn ihr in die Vodyanoi-Brüder lauft, dann bestellt ihnen einen schönen Gruß von mir«, sagte ich.

Ich klopfte höflich an die Tür der Matriarchin und drückte die Klinke, aber es war abgeschlossen. Ich wartete eine Weile, doch niemand öffnete. Ich klopfte wieder, diesmal mit etwas mehr Nachdruck. Jetzt hörte ich auf einmal die Stimme der Matriarchin von der anderen Seite.

»Ja bitte? Wer ist da?«

»Ich bin's, Eddie, Großmutter. Ich bin zurück. Kann ich hereinkommen und mit dir reden?«

»Die Tür ist abgeschlossen. Und ich habe keinen Schlüssel.«

Ich hob eine Augenbraue. »Okay, Großmutter. Ich krieg die Tür schon auf. Du solltest zurücktreten.«

»Wag es nur nicht, meine Tür einzutreten, Edwin Drood! Sie ist eine wertvolle Antiquität!«

Ich seufzte leise in mich hinein. »In Ordnung, Großmutter. Gib mir einen Augenblick.«

Ich kniete nieder und sah mir das Schloss an. Altmodisch, plump und überhaupt kein Problem. Ich rüstete meine rechte Hand auf, konzentrierte mich und eine dünne Verlängerung der seltsamen Materie verschwand im Schloss. Sie passte sich genau den Gegebenheiten an und wurde zu einem Schlüssel. Die Aufgaben und Fähigkeiten eines Droodschen Frontagenten sind zahlreich und vielfältig. Ich schloss die Tür auf, rüstete ab, schubste die Tür auf und ging ins Wartezimmer der Matriarchin.

Sie stand genau in der Mitte des Wartezimmers, ganz allein. Ohne die übliche Anzahl von wartenden Familienmitgliedern, Freunden und Speichelleckern schien der Raum sehr groß und leer. Die Matriarchin selbst schien irgendwie kleiner und schmächtiger zu sein. Sie tat ihr Bestes, um aufrecht und stolz dazustehen, aber das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich, dass es sie anstrengte. Sie war formell gekleidet, aber ihre lange graue Mähne hing ungepflegt herab, anstatt dass sie sie hochgesteckt hatte. Sie nickte steif zu mir herüber, eine bleistiftdünne alte Lady, die nicht mehr viel außer ihrer Würde besaß.

»Edwin, es ist schön, dich zu sehen.«

»Dich auch, Großmutter. Darf ich fragen: Wie kommt es, dass du in deinen eigenen Räumen eingesperrt bist?«

»Ich wurde gefangen gehalten!«, sagte sie wütend. Sie spie die Worte geradezu aus. »Harry hat mich für Monate unter Bewachung gehalten und mir verboten, mit dem Rest der Familie zu kommunizieren!«

»Warum sollte er das tun?«

»Weil ich herausgefunden habe, was er ist.« Martha sah mich misstrauisch an. »Wusstest du es, Eddie? Du hast immer schon Dinge gewusst, von denen du keine Ahnung hättest haben sollen. Nein, natürlich nicht. So etwas hättest du mir gesagt. Komm mit in meine privaten Räume, Edwin. Ich glaube, es ist nicht sicher, hier zu reden. Man weiß nie, wer einem dieser Tage zuhört.«

Sie führte mich in ihr Schlafzimmer. Die Vorhänge waren geschlossen, was den Raum auf eine gemütliche Weise schummrig wirken ließ. Alistair lag immer noch flach auf dem Rücken in seinem Bett, und war immer noch wie eine Mumie in Bandagen gewickelt. Eine einzige Decke lag auf ihm, die sich kaum unter seinen Atemzügen hob. Er reagierte nicht, als die Matriarchin und ich hereinkamen und die Tür hinter uns schlossen. Martha sah ihn ausdruckslos an.

»Keine Sorge, er schläft. Er weiß nicht einmal, dass wir hier sind. Er schläft jetzt die meiste Zeit. Es wird immer schwieriger, ihn zu seinen Mahlzeiten zu wecken. Er sollte eigentlich auf der Krankenstation liegen, aber ich hasse den Gedanken daran, ihn dort allein zu lassen mit all den Schläuchen. Jeder andere wartet nur darauf, dass er stirbt, aber sie kennen meinen Alistair nicht. Du wirst schon sehen, eines Tages wacht er wieder auf und ist wieder er selbst. Wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft. Setz dich, Edwin.«

Wir setzten uns in die bequemen Sessel vor dem leeren Kamin, einander gegenüber. Die Matriarchin betrachtete mich einen Moment intensiv.

»Du hast dich verändert, Edwin. Du bist älter geworden. Aber auf der anderen Seite hast du ja auch viel durchgemacht, nicht wahr? Du bist erwachsen geworden. Ich wusste, dass das eines Tages passieren würde. Es steht dir gut. - Aber so viel ist passiert, während du nicht hier warst. Eineinhalb Jahre, Edwin! Wo warst du die ganze Zeit?«

»Ich bin durch die Zeit gereist, Großmutter. Ich bin in die Zukunft gereist und habe einen mächtigen Krieger gefunden, um der Familie zu helfen. Es war geplant, nur ein paar Sekunden anzukommen, nachdem wir abreisten, aber …«

Die Matriarchin schnaubte laut. »Der Zeitzug. Ich hätte es wissen müssen. Es gibt gute Gründe, warum wir dieses dumme Ding nicht benutzen. Ich hätte dir sagen können, dass man sich nicht darauf verlassen kann, aber du fragst ja nie jemanden, nicht wahr? Du warst einfach sicher, dass du es besser weißt. Ich hätte schon vor Jahren anordnen sollen, dass er auseinandergenommen wird, aber ich hatte das dringende Gefühl, dass die Familie ihn eines Tages brauchen würde.«

»Was ist los mit dir, Großmutter?«, fragte ich geduldig.

»Ich wurde praktisch seit dem Moment, in dem du verschwandest, in diesen Räumen gefangen gehalten. Harry kam, um mich zu sehen. Er sagte es sei notwendig, dass er die Leitung der Familie übernehme, solange du fort seiest und ich war bereit, ihm dafür meinen Segen zu geben. Du musst das verstehen, Edwin; er sagte das Richtige, versprach mir das Richtige. Er ließ mich glauben, dass er die traditionellen Werte der Familie verkörpere. Ganz anders als du. Aber obwohl er all die Dinge sagte, die ich hören wollte, habe ich ihm nicht vollständig vertraut. Ich habe diese Familie zu lange geführt, um alles für bare Münze zu nehmen, was man mir erzählt.

Also hatte ich ein stilles und sehr diskretes Gespräch mit dem Seneschall. Nur um sicherzugehen. Der Seneschall wollte mir nicht sagen, was er wusste, aber ich zwang ihn dazu. Und so fand ich die Wahrheit über Harry heraus. Dass er ein Abtrünniger ist und eine Abscheulichkeit! Geht mit seinem eigenen, höllengezeugten Halbbruder ins Bett! Und er wagte es, mich anzusehen und mir zu sagen, er glaube an die alten Familienwerte! Ich zitierte ihn zu mir und konfrontierte ihn mit dem, was ich wusste - und er versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Er seufzte nur und zuckte mit den Achseln und sagte, es mache keinen Unterschied. Er habe die Familie unter Kontrolle und brauche mich nicht mehr. Er sperrte mich in meinen eigenen Räumen ein und stellte seine Wachen vor meine Tür. Sie sorgten für meine Bedürfnisse und achteten darauf, dass es Alistair und mir an nichts mangelte - aber nichts, was ich sagte oder versprach oder drohte, konnte ihre Meinung ändern. Sie sind Harrys Kreaturen. Ich habe seit über einem Jahr mit keiner lebenden Seele gesprochen.

Oh, Harry hält mich über alles, was passiert, auf dem Laufenden. Ich bekomme regelmäßig Berichte und ich werde um nützliche Kommentare gebeten - die ich auch gebe. Meine Pflicht der Familie gegenüber hat sich nicht geändert. Aber du musst mich hier herausholen, Eddie. Harry ist dem Job nicht gewachsen. Die Familie verliert diesen Krieg. Ihr braucht meinen Rat und meine Erfahrung!«

»Ja«, sagte ich. »Das tun wir. Aber ich bin zurück und ich bin wieder am Zug, Großmutter. Und ich werde das auf meine Art tun. Bist du jetzt bereit, mit mir zu kooperieren?«

»Natürlich. Ich hatte lange Zeit, um über alles nachzudenken. Du und ich werden uns über viele Dinge nie einig sein, aber die Bedürfnisse der Familie gehen vor. Und jetzt braucht sie uns beide.« Sie sah auf die regungslose Gestalt auf dem Bett. »Er wird mich nicht vermissen. Er reagiert nicht einmal mehr auf meine Stimme. Jeder andere Pfleger ist genauso gut, bis er wieder erwacht.« Sie sah wieder zu mir. »Ich habe dir nicht vergeben, was du ihm angetan hast. Das werde ich nie. Aber die Pflicht kommt zuerst. Ich habe das immer gewusst.«

»Dann sollten wir hinunter in den Lageraum gehen«, sagte ich. »Damit du dort das Kommando übernehmen kannst. Du kannst das weit besser, als ich es je könnte. Und sie könnten da unten etwas Führung gebrauchen.«

Die Matriarchin sah mich direkt an. »Ich führe den Lageraum und du den Krieg. Wir können alles andere besprechen, nachdem wir den Krieg gewonnen haben.«

Ich grinste. »Ich freue mich schon drauf, Großmutter. Aber wir sollten etwas klarstellen. Du brauchst mich jetzt, wo Harry dich enttäuscht hat. Das ist der wahre Grund, warum du all dem zustimmst. Du hast mir nicht verziehen, dass ich dich vom Thron gestoßen und die Art und Weise geändert habe, wie es in der Familie läuft. Und ich habe dir all die Kinder nicht vergeben, die über die Jahre dem Herzen geopfert wurden. Wir können zusammenarbeiten und das werden wir auch tun, weil die Familie und die Welt das brauchen. Aber versteh mich richtig, Großmutter: Mach einen Versuch, meine Autorität zu untergraben oder versuch auch nur, die Kontrolle wieder an dich zu reißen und ich sorge dafür, dass du umgehend wieder hier landest und eingesperrt wirst. Auf Dauer.«

Sie lächelte mich an, dieses alte, vertraute, und kalte Lächeln. »Siehst du Edwin, du hast verstanden, wie man diese Familie leiten muss. Ich werde aus dir schon noch einen Drood machen. Ich erkläre mich mit all deinen Bedingungen einverstanden. Solange es dauert.«

Ich schüttelte langsam den Kopf. »Selbst wenn ich einen Streit mit dir gewinne, habe ich das Gefühl, ich hätte ihn verloren. Eine letzte Frage, bevor wir gehen. Es wird immer deutlicher, dass es einen langjährigen Verräter geben muss, der mitten in der Familie sitzt. Jemand, der möglicherweise von den Abscheulichen infiziert ist, vielleicht sogar die Person, die seinerzeit dafür verantwortlich war, dass sie überhaupt hergeholt wurden. Hast du eine Idee, wer das sein könnte? Kommt dir irgendjemand in den Sinn?«

Sie starrte mich schockiert an. »Einen langjährigen Verräter? Unentdeckt seit dem Zweiten Weltkrieg? Unmöglich!«

»Leider nicht, Großmutter. Bist du sicher, dass dir niemand einfällt?«

»Ja. Es ist undenkbar …! Aber auf der anderen Seite ist so viel passiert, das ich einmal für undenkbar hielt. Ich werde die alten Familienchroniken konsultieren und sehen, ob dort etwas eine Erinnerung wachruft.«

»Okay. Dann lass uns gehen. Der Lageraum wartet.«

»Nein«, sagte Martha. Der autoritäre alte Kommandoton war jetzt wieder in ihrer Stimme. »Da ist immer noch etwas, was unbedingt sofort getan werden muss, zum Wohl der Familie. Du musst den Ausschluss von Harry und die Hinrichtung seines Liebhabers, diesem Höllengezücht, veranlassen. Man darf ihnen nicht gestatten, die Familie mit ihrer Anwesenheit länger zu infizieren.«

»Nein«, sagte ich und meine Stimme war so kalt und autoritär wie ihre. »Harry ist ein guter Frontagent, mit einer Menge Erfahrung. Wir brauchen ihn noch. Ich werde ihn nicht zum Vogelfreien erklären, nur weil er … Ich meine, komm schon, Großmutter, wir hatten doch schon schwule Leute in der Familie, seit Ewigkeiten. Das musst du doch bemerkt haben.«

»Natürlich habe ich das bemerkt! Mich kümmert doch nicht, dass er homosexuell ist! Deine Generation glaubt ständig, sie hat den Sex in all seinen Spielarten erfunden. Mich kümmert es einen feuchten Dreck, dass Harry schwul ist, mich kümmert, dass er es mit seinem Halbbruder ist! Inzest wie dieser ist bei den Droods strikt verboten, Edwin. Er muss es sein, oder wir wären schon längst Opfer der Inzucht geworden. Die Lebendigkeit und Kraft der Droodschen Blutlinie müssen strikt bewahrt werden, deshalb werden Heiraten immer so sorgfältig erwogen und wenn nötig auch verboten. Und darüber hinaus nimmt er auch noch ein Ding aus der Hölle als Liebhaber! Ich kann nicht glauben, dass du einer Höllenbrut Zugang zu diesem Haus gestattet hast!«

»Roger ist James' Sohn«, sagte ich vorsichtig. »Er ist immerhin dein Enkel, genau wie Harry und ich.«

»Er ist ein Dämon und man darf ihm nicht vertrauen«, sagte Martha rundheraus. »Töte ihn, Edwin. Zum Wohl der Familie und der Welt.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich.

»Das habe ich dir immer gesagt, als du noch ein Kind warst und ich nicht die geringste Absicht hatte, das zu tun, was du wolltest«, sagte Martha trocken.

»Vielleicht hast du recht«, sagte ich. »Ich werde wohl wirklich langsam erwachsen.«

Wir standen beide auf. Die Matriarchin trat vor und für einen Moment glaubte ich, sie wolle mir die Hand formell schütteln. Stattdessen legte sie die Hände auf meine Schultern, drückte sie kurz und lächelte mich an.

»Mach mich stolz, Eddie.«

»Ich werde mein Bestes tun, Großmutter.«

»Das weiß ich.«

»Großmutter …«

»Ja, Eddie?«

»Du warst diejenige, die dem Premierminister gesagt hat, wo und wann er mich finden kann, als ich zu meiner alten Wohnung wollte, nicht wahr?«

»Aber natürlich, mein Lieber. Siehst du, du fängst ja doch an, wie ein Drood-Führer zu denken.«


Wir holten eine Schwester, die sich zu Alistair ans Bett setzte, und dann gingen die Matriarchin und ich hinunter in den Lageraum. Den ganzen Weg blieben die Leute stehen und gafften uns an - und brachen dann in spontanen Applaus aus. Einige jubelten sogar. Keiner hatte Martha seit eineinhalb Jahren in der Öffentlichkeit gesehen und jetzt war sie hier neben mir unterwegs. Die Nachricht verbreitete sich rasant und zu dem Zeitpunkt, als wir unten am Lageraum ankamen, hatten sich schon Massen von Menschen in den Korridoren und Gängen versammelt und jubelten uns zu. Die Matriarchin ignorierte sie alle mit einem steifen Rücken und hocherhobenem Kopf und sie liebten sie dafür. Einiges vom Jubel und dem Applaus war aber auch an mich gerichtet und ich deutete ein paar Kopfnicker und Lächler an und versuchte sehr sorgfältig, mir das nicht zu Kopf steigen zu lassen.

Als wir endlich in den Lageraum kamen, lief eine spürbare Welle von Erleichterung durch den großen Raum. Männer und Frauen erhoben sich an ihren Konsolen und Arbeitsstationen, um uns zuzujubeln und zu klatschen. Ein paar pfiffen sogar. Martha verbeugte sich einmal in den Raum hinein und machte dann eine schnelle Schnittgeste. Der Applaus stoppte auf der Stelle. Ich glaube nicht, dass ich das selbst zu meinen besten Zeiten geschafft hätte. Die Matriarchin stieß mit scharfer und autoritärer Stimme ein paar rasche Befehle aus, die vor allem ruhig und professionell klangen. Schon bald waren die Leute wieder an der Arbeit und mit neuer Begeisterung und Selbstvertrauen über ihre verschiedenen Stationen gebeugt. Botengänger flitzten hin und her wie die Verrückten und sammelten die Informationen ein, um die Matriarchin auf dem Laufenden zu halten, während andere sicherstellten, dass sie eine frische Kanne Tee und ein neues Paket gefüllte Kekse bekam. Manchmal glaube ich, diese Familie läuft nur, wenn es Tee und gefüllte Kekse gibt.

Ich stand im Hintergrund und sah zu. Es ist immer eine Freude, einen wirklichen Profi am Werk zu sehen.

Die Leute von der Kommunikation hatten schon bald die Verbindung mit den Regierungsoberhäuptern der ganzen Welt hergestellt - jede Regierung, jedes Land und jedes Individuum, das etwas zu sagen hatte. Monitore rund um den Lageraum zeigten Gesichter, die grimmig dreinschauten, und die Translatorprogramme gaben ihr Bestes, als die Matriarchin sich mit gewohnt ruhiger Autorität an sie wandte. Einige der Adressaten schienen froh zu sein, dass sie zurück war. Martha ging von Monitor zu Monitor und sprach mit jedem persönlich. Durch eine sorgfältig kombinierte Mischung aus ruhiger Vernunft, Süßholzraspeln, unterschwelligen Drohungen und hin und wieder der Erinnerung daran, dass sie wusste, wer alles eine Leiche im Keller hatte, hatte die Matriarchin schon bald alle wichtigen Leute dieser Welt so weit, dass sie sich überschlugen, um mit uns gegen die Abscheulichen zu kooperieren. Sie versprachen Geld, Verstärkung, Militärressourcen und - und das war das Wichtigste - sie waren alle damit einverstanden, uns von den Füßen zu bleiben, solange wir taten, was nötig war. Martha schaltete schließlich einen nach dem anderen ab und streckte sich dann, langsam, wohlig, wie eine Katze. Sie setzte sich mit königlicher Würde an ihre Kommandostation und lächelte mich kurz an.

»Und das ist der Grund, Edwin, warum die Familie das Sagen haben muss. Weil wir diejenigen sind, die das Equipment haben, das wirklich ganze Bild zu sehen und dabei unabhängig genug sind, dass die Leute unseren Rat als objektiv betrachten. Wir können jeden überzeugen, unabhängig von der Politik, das zu tun, was zum Wohle aller ist. Du kannst Politikern nie trauen, das Richtige zu tun, Edwin, weil sie tief in ihrem Herzen nichts anderes im Sinn haben, als an der Macht zu bleiben. Sie leben in der Gegenwart, es ist an uns, langfristig zu denken.«

Ich lächelte nur, nickte und sagte nichts. Später war noch Zeit für philosophische Streitereien, wenn wir erst einmal geschafft hatten, dass es ein ›Später‹ geben würde. Ich blieb nur so lange, bis ich sicher war, dass sie die Dinge fest im Griff hatte, dann verließ ich den Lageraum und ging hinunter in die Waffenmeisterei, wo Molly auf mich wartete.


Ich war froh, die Waffenmeisterei wieder so lärmend und hochgefährlich vorzufinden, wie sie gewöhnlich war; voller Knalle, greller Blitze und den gelegentlichen unglücklichen Transformationen. Fröhliches Chaos und Durcheinander herrschten um mich herum, als ich durch das Gewölbe ging und nach Molly und Onkel Jack suchte. Jetzt, wo die Laborpraktikanten ihre Rüstung zurückbekommen hatten, waren sie auch wieder zu ihren üblichen, waghalsigen Methoden zurückgekehrt und dachten wieder in ihren gewohnten produktiven und selbstzerstörerischen Bahnen.

Am Schießstand wechselte sich ungefähr ein Dutzend gerüsteter Gestalten dabei ab, neue Gewehre aneinander auszuprobieren. Die Rüstung absorbierte alle Arten von Geschossen, von Projektilwaffen, Fluchschleudern bis zu handlichen Granatwerfern. Der Lärm in dem begrenzten Areal war ohrenbetäubend.

Ich erinnerte mich noch daran, dass der Waffenmeister einmal eine Waffe erfunden hatte, die kleine Schwarze Löcher verschoss. Es brauchte sechs Leute, um ihn zu Boden zu ringen und ihm das verdammte Ding aus der Hand zu winden, bevor er demonstrieren konnte, wie es funktionierte.

Eine junge Dame probierte gerade die neueste Version eines Teleportationsgewehrs. Ich blieb stehen, um mir das anzusehen. Die Familie versucht schon seit Jahren, die Fehler des Dings auszumerzen. Die Grundidee ist recht einfach: Man richtet die Waffe auf etwas und es verschwindet. Praktisch tendierte das Gewehr dazu, nach hinten loszugehen und wir hatten so schon eine Menge Praktikanten verloren. Diese Praktikantin hier war fest an einen Bolzen im Boden gekettet, als sie ihr Gewehr auf einen Zieldummy abfeuerte. Das linke Bein der Puppe verschwand und sie kippte vornüber. Die Praktikantin schrie triumphierend auf und tanzte einen kleinen Siegestanz. Auf einmal erschien das Bein wieder, und flog mit voller Kraft auf sie zu. Wo auch immer die Teleporterwaffe das Ding hingeschickt hatte, dort hatte man es offenbar nicht haben wollen.

Jemand anderes versuchte, einen Tarnumhang zum Funktionieren zu bringen, aber alles, was der Mantel bewirkte, war, den Träger halb transparent erscheinen zu lassen. Wir konnten sehen, wie seine Organe arbeiteten. Schönheit ist wirklich etwas sehr Oberflächliches. Eine große Explosion schickte ein halbes Dutzend gerüstete Gestalten quer durch die Luft. Keiner sah sich um. Zwei mutigere oder vielleicht auch selbstmörderisch eingestellte Praktikanten duellierten sich mit atomar betriebenen Würgehölzern hinter tragbaren Strahlenschilden. Na, lieber die als ich. Und einer mit einem dritten Auge auf der Stirn blätterte hektisch in seinen Notizen, um herauszufinden, was falsch gelaufen war.

Alles beim Alten in der Waffenmeisterei.

Ich fand Molly im Gespräch mit dem Waffenmeister, der wie üblich an seiner Arbeitsstation saß. Oder wenigstens hörte Molly zu, während er sprach. Offenbar war Onkel Jack sehr enttäuscht darüber, dass sein Test, die Drohnen in der Familie zu finden, so schlecht funktioniert hatte. Er unterbrach sich, um mich düster anzustarren, als ich herankam.

»Wurde auch Zeit, dass du wieder auftauchst. Ich habe dich gewarnt, es kommt nichts Gutes dabei raus, wenn man mit Zeitreisen rumspielt.«

»Ich hab dir eine Energiewaffe mitgebracht«, sagte ich.

Er schnaubte laut. »Ich hab sie gesehen. Das Ding ist Schrott. Ich habe schon Besseres während meiner Teepausen in Gedanken entworfen. Und mich kümmert nicht, was andere sagen, mein Test war perfekt geeignet!«

»Wie hat er funktioniert?«, fragte ich geduldig.

Er schnaubte erneut, diesmal sogar noch abfälliger. »Als ob du das verstehen würdest, selbst wenn ich dir das in einsilbigen Worten und zusammen mit einer Diashow erklären würde.«

»Versuch's doch mal.«

»Er prüfte, sehr gründlich, die Anwesenheit von andersdimensionalen Energien im Testobjekt. Im Prinzip suchte er nach allem, was nicht in unsere Realität gehörte.«

Ich nickte. »Ja, das hätte funktionieren müssen.«

Der Waffenmeister zog eine Grimasse und fummelte geistesabwesend an einer übergroßen Granate auf dem Tisch vor ihm herum, bis ich sie ihm wegnahm.

»Wir müssen den Test an jedem Einzelnen wiederholen«, sagte er unglücklich, »Und diesmal die Torques berücksichtigen! Die sind ja auch andersdimensionale Dinge, ich hätte erkennen müssen, dass sie dazu benutzt werden könnten, die Resultate zu verstecken oder zu verzerren.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich werde wohl alt. Sonst geht mir so etwas nicht durch die Lappen.«

»Du baust immer noch die besten Spielzeuge der Welt, Onkel Jack«, versicherte ich ihm.

Er lächelte kurz. »Also, hast du diesmal eine Chance bekommen, mein neues Teleportationsarmband auszuprobieren?«

»Ah …«, sagte ich.

»Das ist nicht fair!«, meinte der Waffenmeister verbittert. »Ich arbeite jede Stunde von Gottes schönen Tagen und auch an ein paar, von denen er nichts weiß, erfinde Waffen und Geräte für diese Familie und dann kümmert sich keiner auch nur einen Deut darum, sie auch mal in einem verdammten Einsatz auszuprobieren!«

»Hör zu, ich war beschäftigt, okay?«, sagte ich. »Da in der Zukunft waren scheußlich viele Leute darauf aus, mich zu töten.«

»Gut«, sagte der Waffenmeister.

»Das Wichtigste«, sagte ich schnell, bevor er wieder mit einer seiner Jammertiraden begann, »ist rauszufinden, warum Sebastians Torques ihn gar nicht erst vor den Abscheulichen beschützte. Selbst, wenn es passiert wäre, bevor er seinen neuen Torques bekam; die Rüstung hätte die Infektion in ihm erkennen und daran arbeiten müssen, sie zu zerstören. Stattdessen scheint es so, dass Sebastian in der Lage war, den Torques dazu zu benutzen, seine Infektion vor deinem Test und dem Rest der Familie zu verstecken.«

»Sieh mich nicht so an«, sagte der Waffenmeister steif. »Die Familienrüstung war immer ein Rätsel. Keiner war je ganz sicher, was sie eigentlich kann. Das gilt für die alte und für die neue. Das Herz wollte nicht darüber reden. Vielleicht würde Seltsam … du solltest ihn fragen, Eddie.«

»Das habe ich schon«, sagte ich. »Er war keine große Hilfe.«

»Hmmm.« Der Waffenmeister lehnte sich in seinem Stuhl zurück und runzelte nachdenklich die Stirn. »Na ja, theoretisch … Die Infektion ist sowohl mental als auch geistig und körperlich. Wenn der Verstand sich ändert - oder wenn du willst, neu programmiert wird -, dann passt sich der Körper an die Bedürfnisse des Verstandes an. Die Torques haben uns immer vor telepathischen Angriffen und dämonischen Besessenheiten bewahrt, aber das hier ist etwas anderes. Die Abscheulichen sind nun mal nichts weiter als dreidimensionale Ausbuchtungen weit mächtigerer Wesenheiten in unsere Realität. Die Vielwinkligen oder Hungrigen Götter kommen von einem Ort, wo die Regeln der Realität ganz anders sind - und vielleicht sogar den unseren überlegen. Wenn die Abscheulichen wirklich aus einer höheren Realität stammen, kann ihre Gegenwart vielleicht ausreichen, um unsere Naturgesetze mit ihren eigenen zu überschreiben, wenn auch selbstverständlich nur begrenzt. Man könnte jede Infektion als einen neuen Brückenkopf in unsere Realität sehen. Jede neue Drohne hilft dabei, die örtlichen Gesetze zugunsten ihrer eigenen außer Kraft zu setzen. Hmmm, ja … Ein sehr besorgniserregender Gedanke, das. Aber er bringt mich auf ein paar Ideen, mit denen ich meinen Test modifizieren kann. Jetzt weiß ich, wonach ich suchen muss.«

»Wir haben nicht viel Zeit, Onkel Jack.«

»Ich weiß, ich weiß! Du erwartest immer Wunder in einer unmöglichen Zeit von mir! Es ist kaum zu glauben, dass ich überhaupt noch dunkle Haare habe. Ich hätte wahrscheinlich auch ein Magengeschwür, wenn ich nur genug Zeit hätte, eines zu entwickeln. Also, du hast den neuen Test Ende des Tages. Und jetzt geh weg und geh jemand anderem auf die Nerven.«

»Eigentlich«, sagte Seltsam und seine Stimme dröhnte auf einmal ganz in der Nähe, »kann ich jetzt, wo ich weiß, wonach ich suchen muss, den Test für dich durchführen.«

»Du lieber Gott, Seltsam, lass das!«, sagte ich, als wir alle zusammenzuckten. »Hast du schon wieder gelauscht? Nach dieser langen Unterhaltung, die wir beide über menschliche Konzepte wie Privatsphäre, Gute Manieren und Kümmer' dich um deine Angelegenheiten, wenn du niemanden mordsmäßig verärgern willst geführt haben?«

»Aber das ist wichtig, Eddie, ist es wirklich, ich versprech's! Ich habe schon deine ganze Familie gecheckt und ihre Gäste und ich habe eine Menge Drohnen gefunden!«

»Wie viele?«, fragte ich und eine plötzliche Vorahnung schickte mir einen Schauer den Rücken herunter.

»Siebenundzwanzig«, sagte Seltsam.

Molly und ich sahen uns an und dann den Waffenmeister. Er schien in sich zusammenzusinken. »Das ist doch nicht möglich«, nuschelte er. »Ich kann doch nicht so viele übersehen haben.«

»Bist du sicher, Seltsam?«, fragte ich. »Du musst dir da wirklich sicher sein.«

»Das gehört nicht zu den Dingen, die ich falsch machen könnte«, sagte Seltsam traurig. »Die andersdimensionale Herangehensweise ist wirklich ziemlich eindeutig. Ein Torques konnte euch nicht beschützen, weil die Hungrigen Götter aus einer höheren Realität kommen, als es meine ist. Sie machen mir Angst, Eddie. Sie können mich einfach so als Partysnack verspeisen.«

»Hören jetzt bitte mal alle auf mit der Panik?«, rief ich. »Das geht mir ungeheuer auf die Nerven. Ich habe hier das Sagen, also bin ich auch der Einzige, der hier Panik haben darf. An alle anderen: Ich sage euch, wann ihr dran seid. Reiß dich mal zusammen, Seltsam, oder ich fange an zu glauben, dass du gar nicht so toll bist, wie du immer erzählst. Was zählt, ist, dass wir das Ganze immer noch gewinnen können. Also Seltsam, jetzt gehst du zum Seneschall, gibst ihm die betreffenden Namen und sagst ihm, er soll die betreffenden Drohnen in Verwahrung nehmen. In ganz sichere Verwahrung. Sag ihm, er soll das ruhig machen und diskret - keine öffentliche Gewalt, außer es ist absolut nötig. Wir wollen den Rest der Familie nicht aufregen. Ich will alle siebenundzwanzig lebend und in der Lage, Fragen zu beantworten.«

»Ja, Eddie. Und was Molly angeht -«

»Nicht jetzt, Seltsam«, sagte ich bestimmt. »Wir werden später darüber reden.«

»Ja, Eddie.«

»Ist etwas nicht in Ordnung mit dir, Molly?«, fragte der Waffenmeister. »Du siehst sehr blass aus. Und Seltsam klang, als mache er sich Sorgen um dich.«

»Oh, das ist nur etwas, das während unserer Zeitreise passiert ist«, sagte Molly leichthin. Sie lenkte ihn mit Details über den gelben Drachen und dem Sternenbogen ab, während ich ein wenig spazierenging, um meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Ich hatte gehofft, irgendeinen Weg finden zu können, Mollys Problem mit Onkel Jack zu besprechen, aber dieser neue Notfall hatte Vorrang. Siebenundzwanzig infizierte Familienmitglieder, und alle arbeiteten sie im Geheimen, um uns zu untergraben und betrügen. Kein Wunder, dass der Krieg während meiner Abwesenheit so schlecht gelaufen war. Es musste einen eigentlichen Verräter geben, der tief in der Familie saß und seine Infektion weitergegeben hatte. Oder konnte es sein, dass derjenige vielleicht gar nichts davon wusste? Dieser Gedanke erinnerte mich an eine alte Sorge, um die ich mich seit meiner Rückkehr noch nicht gekümmert hatte. Ich sah mich um. Molly hatte Onkel Jack dazu gebracht, über ihre Geschichten zu kichern. Die Laborpraktikanten waren alle in ihre eigenen gefährlichen Dinge vertieft. Also suchte ich mir eine stille Stelle, versteckt hinter einem Explosionsschild und nahm Merlins Spiegel heraus.

»Zeig mir Penny Drood und Mr. Stich«, befahl ich ihm. »Wo sind sie gerade?«

Mein Spiegelbild verschwand und wurde von einem Blick in Pennys Zimmer ersetzt. Sie saß elegant auf der Kante ihres Bettes und eines ihrer langen Beine schwang leicht hin und her. Wie immer trug sie einen hautengen Pulli über schmalen grauen Hosen und sah so cool und beherrscht aus wie man sie kannte. Und dann schien sich die Sicht etwas zu erweitern und zeigte mir Mr. Stich, der auf der anderen Seite des Raums stand und Penny nachdenklich betrachtete. Er trug einen dunklen Anzug und sah beinahe aus wie jedermann - bis man ihm ins Gesicht und in die Augen sah. Selbst so ruhig erkannte man Mr. Stich als das, was er wirklich war. Er hätte genauso gut auch ein über die Augenbrauen tätowiertes Kainsmal tragen können. Aber Penny lächelte ihn an, als wäre er einfach ein Mann von vielen.

»Du solltest nicht so weit von mir weg stehen. Ich vertraue dir.«

»Das solltest du nicht«, sagte Mr. Stich.

»Nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht haben? Wenn du mir hättest wehtun wollen, dann hättest du das schon vor langer Zeit tun können. Aber du bist schon seit über einem Jahr hier im Herrenhaus, und du hast niemanden verletzt. Du bist stärker, als du denkst, ich wünschte, ich könnte dich dazu bringen, das zu glauben.«

Mr. Stich lächelte kurz. »Wenn es jemand könnte, dann du.«

»Warum willst du mir deinen richtigen Namen nicht sagen? Mr. Stich ist doch kein Name, es ist ein Titel, eine Berufsbeschreibung.«

»Du könntest mich immer Jack nennen.«

»Nein, könnte ich nicht«, sagte Penny entschieden. »Das warst du früher, aber das bist du nicht. Ich denke nicht, dass dir bewusst ist, wie sehr du dich in der Zeit hier verändert hast. Du hast Studenten und Anhänger. Deine Vorlesungen sind immer voll, du hast einen Platz hier, bei uns. Bei mir. Du hast mir Seiten deines Ichs gezeigt, die du noch nie jemandem gezeigt hast. Du hast mich näher an dich herangelassen, als irgendjemanden sonst.«

»Ja«, sagte Mr. Stich. »Das habe ich.«

Er ging zu ihr hinüber und setzte sich neben sie auf das Bett. Sein Rücken war gerade und ein wenig steif, und er hielt seine Hände zusammengelegt im Schoß. Penny zwang einen ihrer Arme durch seinen, kuschelte sich an ihn und legte ihren Blondkopf auf seine Schulter. Er saß sehr still.

»Du bedeutest mir wirklich etwas«, meinte er. »Auf meine Art.«

»Das ist in Ordnung«, meinte Penny. »Es ist in Ordnung, dass einem jemand etwas bedeutet; es ist in Ordnung, dass man liebt.«

»Ja«, sagte Mr. Stich. »Ich kann lieben. Ich habe geliebt. Aber es endet immer böse.«

Penny hob den Kopf und sah ihn gespielt böse an. »Du bist die negativste Person, die ich kenne! Es muss gar nicht immer schlimm enden. Wir sind die Droods und wir existieren nur, um sicherzustellen, dass die Dinge eben nicht schlimm enden! Das ist unser Job.«

»Mein Job ist ganz anders«, sagte Mr. Stich. »Ich habe … so schreckliche Dinge getan, Penny.«

»Jeder kann sich ändern«, widersprach Penny. »Jeder kann erlöst werden. Daran habe ich immer geglaubt. Der Mr. Stich, den ich kennen- und liebengelernt habe … ist ganz anders als die Geschichten, die ich gehört habe. Ich liebe dich und du kannst mich auch lieben.«

»Ich wünschte, es wäre so einfach, Penny.«

»Es ist so einfach! Und ein Teil des Verliebtseins ist das Zusammensein. So wie jetzt. Wie lang ist es her, dass du dir gestattet hast, einer Frau so … nahe zu sein?«

»Eine lange Zeit. Ich will dich nicht verletzen, Penny.«

»Das wirst du nicht! Das ist Liebe, zwei Leute, die zusammen sind. Nur … lass dich gehen. Tu, was du willst. Ich will dich. Das ist in Ordnung, wirklich.«

»Ich liebe dich, Penny«, sagte Mr. Stich. »Lass mich dir zeigen, wie sehr ich dich liebe.«

Penny lächelte und drehte sich um, um ihn in die Arme zu nehmen und versteifte sich dann. Sie sah herab auf die lange Klinge, die Mr. Stich ihr in den Bauch gestoßen hatte. Es blutete noch kaum. Er drehte die Klinge um und zog sie weiter, schnitt tiefer und sie schrie auf und griff mit beiden Händen seine Schultern. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war purer Unglaube. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, aber sie hatte nicht genug Kraft, also hing sie nur an seiner Schulter, als er die lange Klinge aus ihr herauszog und erneut zustieß. Blut sprudelte aus der ersten Wunde und durchtränkte den Pulli und spritzte auf die Vorderseite von Mr. Stichs Jackett. Sein Gesicht war … auf ruhige Art und Weise traurig. Penny verkrampfte sich und schrie wieder auf. Blut sprühte aus ihrem Mund und verteilte sich über Mr. Stichs Gesicht.

Ich hatte Merlins Spiegel in dem Moment anwachsen lassen, in dem ich das Messer gesehen hatte und war bereits während seiner zweiten Attacke hindurch und auf dem Weg zu Mr. Stich, aber ich wusste, dass es zu spät war. Mr. Stich ließ Penny los und wich zurück, als ich auf das Bett zustürzte. Ich ließ ihn gehen, ich wollte nur Penny helfen. Ich schrie bereits in Gedanken nach Seltsams Hilfe, und er sagte mir auch, dass sie auf dem Weg sei, aber ich wusste, es war umsonst. Ich beugte mich über Penny und versuchte, die Wunden mit den Händen zu schließen. Blut durchtränkte meinen Ärmel bis zum Ellbogen. Sie sah mich zuckend und schaudernd an und versuchte, etwas zu sagen, aber das Einzige, was aus ihrem Mund kam, war noch mehr Blut. Das Bett triefte jetzt schon. Sie starb in meinen Armen, immer noch etwas stammelnd. Ich ließ sie los. Dann stand ich auf und ging ein wenig vom Bett weg. Ich war über und über mit Blut besudelt. Ich sah Mr. Stich an, der immer noch still neben der Tür stand. Er hätte weglaufen können, hätte fliehen können, aber er hatte es nicht getan.

»Ich habe versucht, es ihr zu sagen«, sagte er. »Versucht, sie zu warnen. Das … ist das einzige Vergnügen, dass ich mit einer Frau haben kann, jetzt. Ein Teil von dem, was ich mit meiner Unsterblichkeit erkauft habe … damals, als ich mein Schlachtfest gefeiert habe und ganz London meinen Namen kannte. Das … ist die einzige Liebe, die ich zeigen kann. Alles, was mir geblieben ist. Ich habe so sehr versucht … ihr fernzubleiben. Aber ich bin … was ich bin.«

»Ich hab's dir gesagt«, meinte ich und ich konnte die kalte, die eiskalte Wut in meiner Stimme hören. »Ich habe dir gesagt, was passiert, wenn du dich nicht beherrschst.«

Ich rüstete hoch, ließ eine lange Klinge aus meiner Hand wachsen und schlug ihm mit einem einzigen wilden Streich den Kopf von den Schultern. Er bewegte sich nicht und versuchte nicht einmal, dem Schlag auszuweichen. Meine goldene Klinge fuhr direkt durch seinen Hals. Der Kopf fiel von den Schultern und rollte davon, die Augen blinzelten noch und auch die Lippen schienen noch Worte zu formen. Ich stand vor dem kopflosen Körper, atmete schwer vor Wut und Trauer, die immer noch in mir brannten, und registrierte nur langsam, dass der Rumpf nicht gefallen war. Er stand einfach so da, neben der Tür. Kein Blut sprudelte aus dem Halsstumpf. Und noch während ich dorthin starrte, schritt der Rumpf langsam nach vorn und streckte die Hände aus. Ich wich schnell zurück, aber er war nicht an mir interessiert. Eine Hand langte nach unten und griff den abgetrennten Kopf am Haar. Ich gab irgendeinen Laut von mir, ich habe keine Ahnung was. Der Körper hob den Kopf auf, und setzte ihn wieder auf den Stumpf. Die Wunde heilte in einem Augenblick und hinterließ keine Spur.

Mr. Stich sah mich ausdruckslos an. »Glaubst du, das hätte vor dir noch niemand versucht? Ich wurde schon geköpft, erschossen, vergiftet, durchs Herz hindurch erstochen - ich kann nicht sterben. Das ist es, was ich mit dem Tod der fünf Huren damals 1888 in London erkauft habe. Unsterblichkeit, ob ich sie nun will oder nicht. Ich bin Jack, der Blutige Jack, Jack the Ripper, jetzt und für immer. Und die einzige Liebe, die ich kenne, die einzige Freude, die ich jemals von einer Frau empfangen kann, ist die durch das Messer. Schick mich in die Schlacht, Eddie. Vielleicht finden die Abscheulichen einen Weg, mich zu töten.«

Die Tür sprang auf, als die Sanitäter hereinstürzten - zu spät. Mr. Stich ging fort, als sie sich um die Leiche scharten, und sah nicht einmal zurück.


Es gab nichts, was ich tun konnte, also transportierte ich mich zurück in die Waffenmeisterei. Es war ja nicht so, als hätte ich woanders hingehen können. Molly schrie auf, als sie mich so blutüberströmt sah und eilte auf mich zu. Sie ließ die Hände über mich wandern, um zu sehen, wo ich verletzt war. Onkel Jack begann, nach den Sanitätern der Waffenmeisterei zu rufen, bis Molly ihm klarmachte, dass ich in Ordnung war. Ich konnte nicht sprechen, ich konnte nichts sagen. Ich hielt Molly eng an mich gedrückt und sie gestattete das, auch wenn das Blut jetzt auch sie bedeckte. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Haar, in ihrer Schulter und sie murmelte sanfte, beruhigende Worte in mein Ohr. Bis ich endlich in der Lage war, sie loszulassen und einen Schritt zurückzugehen.

Molly nahm mich an der Hand und führte mich wie ein Kind zum nächstbesten Stuhl. Ich ließ mich fallen und fühlte mich erschöpft und ausgelaugt. Und endlich, mit einer Stimme, die überhaupt nicht wie meine klang, war ich in der Lage, ihnen zu erzählen, was gerade passiert war. Onkel Jack versorgte mich mit etwas medizinischem Brandy und tätschelte verlegen meine Schulter, während ich trank. Dann trat er beiseite, um den Seneschall zu rufen, um die Details zu erfahren. Molly saß neben mir und hielt meine Hand.

Nach einer Weile kam Onkel Jack mit zwei Labormänteln zurück, die Molly und ich anziehen konnten, damit wir aus den blutigen Klamotten kamen. Molly half mir, mich auszuziehen, denn meine Hände zitterten immer noch. Wir ließen unsere Kleider in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden liegen. Die Laborkittel waren frisch und sauber und rochen nach Desinfektionsmittel.

»Rede mit mir«, sagte ich. »Erzähl mir was. Egal was, spielt keine Rolle. Ich brauche etwas zu tun, damit ich nicht an Penny denken muss.«

»Naja«, sagte Molly und warf Onkel Jack einen Blick zu. »Es gibt ein Problem mit dem Blauen Elf.«

»Wann gibt es das nicht«, sagte ich. »Was hat er denn jetzt angestellt?«

»Er wird vom Seneschall unter konstanter, aber geheimer Beobachtung gehalten, seit er hier ist«, sagte der Waffenmeister. »Und sieh mich nicht so an, Eddie, ich weiß, dass du dich für ihn verbürgt hast, aber sein Ruf eilt ihm nun mal voraus. Und überhaupt, er ist ja ein halber Elb, und Elben haben immer eigene Pläne. Also, es sieht so aus, als hätte er eine Menge Zeit in der alten Bibliothek damit verbracht, lange Gespräche mit William und Rafe über die Ursprünge, die Macht und die Fähigkeiten des Drood-Torques zu führen. Als er aus den beiden rausgeholt hatte, was sie wussten, ging er an die Quelle und stellte seine Fragen Seltsam. Sehr detaillierte Fragen. Der Seneschall sagt, er ist jetzt gerade unten.«

»Okay«, meinte ich. »Dann wollen wir mal hören.«

Ich benutzte wieder Merlins Spiegel und als mein Bild darin verschwand, dachte ich für einen Moment, dass es mir wieder Penny und Mr. Stich zeigen würde. Mein Herz blieb fast stehen, aber dann zeigte mir der Spiegel den Blauen Elf, der allein im Sanktum stand und sich ruhig mit dem scharlachroten Glühen Seltsams unterhielt. Blue tat sein Bestes, völlig entspannt und frei auszusehen, und vielleicht konnte nur jemand, der ihn so gut kannte wie ich erkennen, wie angespannt er wirklich war. Molly und Onkel Jack drängten sich hinter mir und sahen der Szene über meine Schulter hinweg zu.

»Aber was willst du denn nun von mir?«, fragte Seltsam geduldig. »Wir hatten so viele faszinierende Gespräche, Blue und ich hatte viel Freude daran, aber ich kann mich nicht länger mit dir im Kreis drehen. Nicht, wenn so viel zu tun ist. Sag mir nur, was du willst. Ich versichere dir, bei mir gibt es keine menschlichen Empfindsamkeiten, die man beleidigen könnte.«

»Also schön«, sagte der Blaue Elf. »Wenn es so wichtig ist … ich will einen Torques. Einen goldenen Reif für mich ganz allein, wie jeder sonst.«

»Aber du gehörst nicht zur Familie«, sagte Seltsam. »Du bist nicht blutsverwandt mit den Droods. Und es wurde mir eindringlich klargemacht, dass nur sie einen Torques tragen können. Keine Ausnahmen. Warum solltest du einen Torques wollen? Du bist halb Elb, mit eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten.«

»Ja«, sagte Blue. »Die habe ich. Ich hoffte, es würde nicht dazu kommen, aber …« Er bewegte seine Hände in einem bestimmten Muster, die langen, eleganten Finger malten unnatürliche Muster in die dunkelrote Luft. »In meinem Fall wurde eine Ausnahme gemacht. Gib mir einen Torques.«

»Das war ein sehr verführerischer Zwangszauber«, sagte Seltsam. »Leider wirkt er gegen meinesgleichen nicht.«

Der Blaue Elf bewegte seine Hände jetzt hektischer, diesmal murmelte er auch eindringlich in altem Elbisch vor sich hin. Die Luft schien unter dem Aufprall der uralten Worte zu zittern und schimmernde Spuren folgten den Gesten des Blauen Elfs, die ausladende Magie ausspuckten. Und dann hob etwas Unsichtbares den Blauen Elf hoch und warf ihn durch das ganze Sanktum. Er traf mit genug Verve auf der hinteren Wand auf, einen einfachen Menschen zu töten und rutschte dann langsam daran herunter. Er blieb wie ein Häufchen Elend auf dem Boden liegen. Er atmete schwer und seine Hände lagen jetzt still an seiner Seite.

»Oh weh«, sagte Seltsam. »Und wir kamen doch so gut miteinander aus! Aber niemand verhext mich. Was soll ich nur mit dir machen? Etwas passend Unangenehmes, denke ich, pour discourager les autres. Immerhin muss man ein Exempel statuieren. Vielleicht kehre ich dein Inneres nach außen, bei lebendigem Leib natürlich, und übertrage das mithilfe des Monitors an alle. Das könnte dir einen ganz neue Sicht auf die Dinge eröffnen.«

Ich entschied, dass ich genug gesehen hatte, öffnete den Spiegel und transportierte mich ins Sanktum. Molly folgte mir schnell, bevor der Weg sich wieder schloss.

»Ah Eddie«, sagte Seltsam. »Hast du wieder mal gelauscht? Und das, nach allem, was du mir über dieses Thema gesagt hast?«

»Ich habe hier das Kommando«, meinte ich. »Und deshalb darf ich das Gegenteil tun von dem, was ich sage. Eigentlich glaube ich sogar, dass es eine Voraussetzung für diesen Job ist. Was war das damit, den Blauen Elf von innen nach außen zu kehren? Ich habe noch nie gehört, dass du jemandem drohst.«

»Er hat versucht, mich zu verhexen«, sagte Seltsam. »Niemand verhext mich. Ich helfe, weil ich will und aus keinem anderen Grund.«

»Natürlich«, sagte ich. »Aber in Zukunft gilt: Wenn jemand bestraft werden muss, entscheide ich das. Klar?«

»Du verstehst gar keinen Spaß mehr«, sagte Seltsam.

Ich ging hinüber zum Blauen Elf, der jetzt langsam und schmerzhaft wieder auf die Beine kam. Er sah kurz zur Tür hinüber, aber Molly hatte sich bereits in den Weg gestellt. Er seufzte leise und zupfte ein wenig an seiner Kleidung herum, um sich wieder etwas präsentabler zu machen.

»Hallo, Eddie«, sagte er ruhig. »Molly. Ich wusste nicht, dass ihr wieder zurück seid.«

»Offensichtlich«, sagte ich. »Warum versuchst du, Seltsam zu zwingen, dir einen Torques zu geben?«

Er zuckte mit den Achseln und versuchte sein charmantestes Lächeln aufzusetzen. »Ein Rückfall in meine ureigene Natur, fürchte ich, mein altes Selbst kommt wohl wieder durch. Du weißt ja, wie das ist.«

»Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für eine gepflegte Konversation«, sagte ich und irgendetwas schwang in meiner Stimme mit, das ihn stramm stehen ließ. »Na los, raus damit, Blue. Sag mir die Wahrheit. Oder ich bin geneigt, dich Seltsam zu überlassen.«

»Die Zeit hat dich nicht sanfter gemacht«, sagte der Blaue Elf. »Also schön. Ich fürchte, ich war nicht vollständig ehrlich mit dir, als ich hier ankam. Ich kam nur hierher, um mir selbst zu helfen und nicht dir. Ich wollte einen Torques. Ich wollte eine goldene Drood-Rüstung - damit ich sie zu den Elben bringen kann. Ich wollte sie und ihre Geheimnisse dem Elbenrat im Austausch gegen meine Aufnahme ins Elbenreich überlassen. Ich habe es satt, wie ein Mensch zu leben, in der menschlichen Welt. Ich war nie sonderlich gut darin. Und nach meiner Nahtod-Erfahrung dachte ich mehr und mehr über die andere Seite meiner Herkunft nach. Und es schien mir, dass sie vielleicht freundlicher zu mir wären als ihr. Am Ende zählt doch nur die Familie, Eddie. Das Bedürfnis, irgendwohin zu gehören. Das solltest du verstehen.«

»Deine schiere Existenz ist für die Elben verdammungswürdig«, sagte Molly. »Außerhalb des Elbengeschlechts Nachkommen zu zeugen, ist ihr größtes Tabu. Sie würden dich töten, wenn sie dich nur sehen, Torques oder nicht.«

Er nickte langsam. »Und ihr werdet mich nicht töten?«

»Ich sollte es tun. Aber ich habe heute schon einen Freund verloren.«

»Ich habe versucht dich zu warnen, Eddie. Sogar Halbelben haben immer eigene Pläne.«

»Das ist wahr, das hast du getan. Also, du hast die Wahl. Du kannst gehen oder bleiben.«

»Das ist alles?«, fragte der Blaue Elf nach einem Moment.

»Ja«, sagte ich. »Ich habe nicht mehr die Energie, auf dich wütend zu sein. Aber wenn du bleibst und an unserer Seite im kommenden Krieg zu kämpfen, dann könntest du Aufnahme gewinnen. Und einen Platz hier. Freunde können auch eine Art Familie sein.«

»Du beschämst mich mit deiner Großzügigkeit«, sagte der Blaue Elf. »Ich bleibe und ich werde kämpfen. Wenn du mich jetzt entschuldigst …«

Ich nickte Molly zu und sie trat von der Tür weg, um ihn gehen zu lassen. Sie wartete, bis sich die Tür fest hinter ihm geschlossen hatte und sah mich an.

»Bist du verrückt? Du kannst ihm nicht vertrauen! Er ist halber Elb.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Das ist ja auch der Grund, warum ich ihn in der Nähe haben will. Damit ich ihn im Auge behalten kann.«

»Ihr Menschen, mit euren Subtilitäten«, sagte Seltsam. »Ihr seid viel beängstigender als ich jemals sein könnte.«


Als Nächstes gingen Molly und ich zu den Isolierstationen in der Krankenstation im Nordflügel. Keiner von uns wollte gehen, aber wir mussten sehen, wie sich die infizierten Abscheulichen machten. Achtundzwanzig waren es jetzt, einschließlich Sebastian. Neunundzwanzig, einschließlich Molly. Ich wollte eigentlich allein gehen, aber Molly bestand darauf, mich zu begleiten und ich brachte es nicht übers Herz, Nein zu sagen. Nicht, wo sie so hart kämpfte, ihre Menschlichkeit zu bewahren.

Die Familie hat schon immer ihre eigenen Ärzte und Schwestern im eigenen Krankenhaus ausgebildet. Einerseits wollen wir nicht, dass die Welt erfährt, dass wir verletzlich sind, selbst mit unseren wunderbaren Rüstungen, und andererseits, weil wir die Einzigen sind, die für die Folgen der Probleme ausgestattet sind, die Droods draußen im Einsatz zu bewältigen haben. Unsere Ärzte müssen in der Lage sein, alle Arten von physischen, spirituellen und unnatürlichen Unfällen diagnostizieren und behandeln zu können, angefangen von Werwolfbissen über Langstreckenflüche bis hin zum Post-Besessenen-Stress-Syndrom.

Die Ausstattung unserer Krankenstation ist immer voll auf der Höhe der Zeit und geht manchmal sogar noch ein bisschen darüber hinaus, aber der Ort ist eigentlich immer derselbe, traditionell blass, pastellfarbene Wände, schnoddrige Matronen und ein sanfter, aber alles durchdringender Geruch nach gekochtem Kohl. Molly und ich gingen schnell durch die Gänge und nickten kurz dem Ärztestab zu. Ein paar sahen so aus, als hätten sie Einwände gegen unsere Anwesenheit, aber wir waren schon wieder weg, bevor sie etwaige Einwände in Worte fassen konnten. Die meisten Krankenbetten waren besetzt, wesentlich mehr als eigentlich normal war. Einige Familienangehörigen starben ganz offenbar, trotz allem, was unsere Ärzte für sie tun konnten. Ein kleiner, kalter Teil von mir war froh zu sehen, dass Harry ein genauso schlechter Anführer war wie ich, aber ich verdrängte den Gedanken.

Die Isolierstationen waren in einem eigenen Anbau untergebracht. Im Grunde bestanden sie aus einer Reihe von schwer bewaffneten Wohntanks mit eigenem Lüftungssystem und Wänden aus Stahlglas, die entworfen wurden, um auch die problematischeren Patienten unter Kontrolle halten zu können. So wie Frontagenten, die eine Krankheit aus einer anderen Dimension mitgebracht haben oder jene, die ernsthaft besessen sind. Der einzige Eingang zu jedem Tank besteht aus einer streng bewachten Luftschleuse, deren Kombinationscode vorsichtshalber täglich gewechselt wird. Es gibt nur sechs Tanks, wir haben nie mehr gebraucht. Jetzt waren sie von einer Wand zur anderen mit den kürzlich eingefangenen Drohnen vollgestopft.

Molly und ich gingen langsam auf die Isoliertanks zu und nickten den schwer bewaffneten Wachen vor jeder Luftschleuse zu. Einige der Drohnen kamen heran, um mit den Fäusten auf das schwere Stahlglas einzuschlagen. Ihre Stimmen waren durch die eingebauten Gegensprechanlagen zu hören. Sie sagten, sie seien unschuldig und nicht infiziert und dass alles ein Irrtum sei. Sie riefen mich beim Namen und baten mich um Hilfe. Andere schrien Drohungen und Flüche. Aber die meisten standen oder saßen ruhig mit ausdruckslosen Gesichtern da und warteten darauf, was als Nächstes passierte. Sie warteten darauf, dass wir nicht aufpassten, nur für einen Moment.

Im letzten Tank kam Sebastian Drood nach vorn und sah uns spöttisch an, als wir vor der Luftschleuse stehen blieben. Als der Gefährlichste hatte er eine Zelle für sich. Er sah jetzt völlig normal aus, auch wenn da etwas an seinem Gesicht nicht stimmte, als hätte er vergessen, wie man menschlich dreinschaute. Oder vielleicht glaubte er, das sei nicht mehr notwendig. Er nickte mir höflich zu und lächelte Molly an.

»Liebste Molly«, meinte er. »Wie fühlt es sich an, eine von uns zu sein?«

»Ich werde nie eine von euch sein«, sagte sie entschieden. »Egal, was passiert.«

»Ah«, meinte er und zuckte lässig mit den Achseln. »Das sagst du jetzt. Aber so geht es uns am Anfang allen. Wir verraten uns nicht, obwohl wir wissen, das wir das tun sollten, weil wir anders sind. Wir sind stark, wir können damit fertig werden. Wir geben nie auf. Aber nach einer Weile willst du es gar nicht mehr bekämpfen. Du begrüßt es sogar. Weil das Menschsein so ein kleines Ding ist, das man hinter sich lassen kann.« Er wandte sich plötzlich mir zu. »Du hast es niemandem gesagt, Eddie, nicht wahr? Darauf habe ich gezählt. Und zu dem Zeitpunkt, an dem du erkennen wirst, wie hoffnungslos es ist, wird es zu spät sein. Bist du deshalb hier, Eddie? Um mich zu töten, damit ich niemandem sagen kann, was ich der lieben Molly angetan habe? Werde ich auf der Flucht getötet?«

»Sag, was du willst, keiner wird dir glauben«, sagte ich. »Eine Drohne würde alles sagen, jede Lüge erzählen, um die Familie zu untergraben.«

»Warum bist du dann hier?«, fragte Sebastian. »Hoffst du vielleicht auf eine Heilung? Verschwende nicht deine und meine Zeit. Es gibt keine. Wenn einmal einer zu uns gehört, dann ist er für immer einer von uns.«

»Du könntest dir selbst einen Gefallen tun«, sagte ich. »Dir eine bessere Behandlung verdienen, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.«

»Und verschwende deine Zeit nicht mit Lügen«, warf Molly ein. »Ich würde es wissen.«

»Ja«, sagte Sebastian. »Das würdest du. Also gut, fragt.«

»Wer war der ursprüngliche Verräter?«, fragte ich. »Wer hat die Familie überzeugt, die Abscheulichen wieder herzuholen, damals 1941?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Sebastian fröhlich und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen das Stahlglas. »Und falls ihr glaubt, ihr könntet mich mit Wahrheitszaubern oder einem elektrischen Stachelstock zum Viehantreiben oder was auch immer sonst bei modernen Verhören ›in‹ ist, zum Reden bringen - ja, ich weiß, wir haben einen Verstand, aber wir sind strikt in Abteilungen geordnet. Jede Drohne weiß nur, was sie wissen muss und wann sie es wissen muss. Grundlegende Sicherheit. Ich hätte vielleicht erfahren können, wer der Verräter war, aber im Moment bin ich von diesem Bereich des Wissens abgeschnitten. Oder - um genau zu sein, von jedem Wissensbereich, der euch helfen könnte. Das gilt auch für alle anderen Drohnen hier.«

»Es gibt Wege, wie man die Wahrheit ans Licht holen kann«, sagte ich. »Alte Wege. Natürlich sind sie sehr zerstörerisch, sowohl körperlich als auch mental.«

»Du liebe Zeit«, sagte Sebastian und grinste breit. »Drohungen mit Tod und Folter einem hilflosen Gefangenen gegenüber? Sind die Droods so tief gesunken?«

»Die Sicherheit der Welt geht vor«, erwiderte ich.

»Oh, ja ja, das tut sie. Aber kannst du die Welt retten, indem du dich selbst verdammst? Könnt ihr die Monster bekämpfen, indem ihr selbst zu Monstern werdet?« Sebastians Stimme klang unverhohlen höhnisch, auch wenn sein Gesicht vollkommen ausdruckslos war. Er schien sich nicht mehr die Mühe zu geben, menschlich wirken zu wollen. »Die Hungrigen Götter kommen, Eddie, und es gibt keine verdammte Möglichkeit, uns aufzuhalten. Keiner hat uns je aufgehalten …. - Hallo, Freddie.«

Molly und ich wirbelten herum, als Freddie unsicher auf uns zukam. Er nickte Molly und mir kurz zu, aber seine Aufmerksamkeit war auf Sebastian gerichtet. Ich erkannte Freddie kaum wieder. All seine typische Extravaganz und sein Glamour waren durch die Ereignisse zerstört worden. Er sah kleiner aus, nach weniger, und er starrte Sebastian mit angewiderter Faszination an.

»Hallo, Seb«, sagte er schließlich. »Bist du noch Seb? Erinnerst du dich an mich? Erinnerst du dich daran, mein Freund zu sein?«

»Natürlich erinnere ich mich an dich, Freddie. Ich habe mich nicht geändert, nicht wirklich. Ich bin nur ehrlicher zu mir über das, was ich bin. Ich erinnere mich an unsere Freundschaft, an all unsere guten Zeiten; sie interessieren mich nur nicht mehr. Das haben sie eigentlich nie getan. Das war alles Teil der Aufgabe. Du warst nur ein Mittel zum Zweck, fürchte ich, ein einfacher Weg, um ins Herrenhaus zu kommen. Ich wusste, es würde einfacher sein, wenn ich dich dabei hätte, um für mich zu sprechen. Eddie hatte vielleicht die Vogelfreien wieder heimgeholt, aber er hatte guten Grund, mir nicht zu trauen.«

»Warst du damals schon infiziert?«, fragte ich.

»Das werde ich dir nicht sagen. Und jetzt sei still, ich rede mit Freddie. Ich konnte nicht glauben, dass du gleich wieder abhaust, Freddie, gleich, nachdem ich dich hierhergebracht habe. Ich brauchte dich und deine extreme Persönlichkeit, um die Leute von mir abzulenken. Deshalb habe ich so einen Aufstand gemacht, um dich wieder zurückzuholen und dich zu einem Berater Harrys zu machen. Du hattest in deinem ganzen Leben nie einen nützlicheren Gedanken als diesen in deinem hübschen Kopf. Aber ich habe dich verführt um sicherzugehen, dass du diesmal bleibst. Du bist derart schillernd, dass mich nie jemand ansah, wenn du in der Nähe warst.«

»Hast du jemals etwas für mich empfunden?«, fragte Freddie beinahe flüsternd.

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Sebastian. »Vielleicht. Manchmal. Ab und zu … Ich bin mal mehr, mal weniger menschlich. Aber es macht keinen Unterschied. Das ist jetzt alles vorbei. In der Welt, die kommt, werden menschliche Gefühle keinen Platz mehr haben. Ihr werdet uns lieben, weil wir euch dazu zwingen werden, um den Übergang zu erleichtern. Aber wir werden uns nichts daraus machen. Wir sind die Hungrigen Götter, die Vielwinkligen. Und ihr seid nur Nahrung.«

Freddie wandte sich ab, als hätte Sebastian ihn geschlagen und ging dann langsam wieder weg. Er blickte nicht zurück.

»Das war grausam«, sagte ich zu Sebastian.

»Man muss grausam sein, um freundlich sein zu können«, sagte Sebastian kurz. »Und jetzt geht. Ich habe euch nichts mehr zu sagen. Wenn ihr noch mehr darüber wissen wollt, wie es ist, eine Drohne zu sein, dann fragt Molly. Natürlich werdet ihr kaum sicher sein können, dass sie die Wahrheit sagt - je länger es dauert.«

Er lachte uns aus. Ich nahm Molly am Arm, zog sie von der Kabine weg und wir gingen durch die Isolierstation fort. Alle Drohnen kamen diesmal nach vorn und starrten uns durch das Stahlglas eindringlich an. Ihre Mienen waren jetzt alle gleich und sie sahen Molly an, nicht mich. Sie blickte starr geradeaus, gedankenverloren und ich denke, sie bemerkte das veränderte Verhalten gar nicht. Ich hoffte es jedenfalls.

»Ich wusste gar nicht, dass Sebastian und Freddie schwul sind«, sagte sie endlich.

»Ich denke nicht, dass Freddie je so wählerisch war«, erwiderte ich, froh über ein anderes Thema reden zu können. »Er würde sein Ding auch in Schlamm stecken, wenn der sich nur genügend bewegte. Und Sebastian würde wahrscheinlich tun, was er für nötig hält. Freddie war schon immer ein notorischer Romantiker und hat es nie ausgehalten, keine Beziehung zu haben. Egal mit wem. Sebastian hat das nur benutzt, damit er Freddie als Tarnung verwenden konnte. Armer Idiot.«

»Sebastian weiß von meinem Zustand«, sagte Molly. »Früher oder später wird er es jemandem sagen. Wenn er glaubt, es ist für ihn von Vorteil. Und früher oder später wird jemand darauf hören und es glauben. Das weißt du.«

»Bis dahin dauert es noch etwas«, sagte ich. »Und wir haben nur drei, vier Tage, bis die Eindringlinge kommen. Die Familie wird zu beschäftigt sein, um sich um Sebastians Tiraden zu kümmern.«

Wir hielten inne, als eine der bewaffneten Wachen auf uns zukam. Molly spannte sich und griff nach meinem Arm und ich tat mein Bestes, um unbesorgt und wie immer auszusehen.

»Wir haben eine Meldung von dem Mann, der Sebastian bewacht«, sagte die Wache. »Anscheinend hat er euch doch noch etwas zu sagen. Etwas Wichtiges. Aber er will es nur euch beiden sagen.«

»Vielleicht ist das nur ein Trick«, sagte Molly. »Er will uns mit falschen Informationen in die Irre führen.«

Ich konnte mir denken, wie gerne sie aus der Isolierstation herauswollte, aber ich konnte nicht einfach gehen. Sebastian wusste etwas; es gab immer die Chance, dass er mehr verriet, als er eigentlich wollte, wenn man ihn nur reden ließ. Also gingen wir zu seiner Zelle zurück. Molly ging steif neben mir her. Als wir ankamen, lächelte er uns süßlich zu und lehnte lässig an der schweren Stahlglaswand.

»Ich bin schon vor langer Zeit infiziert worden«, sagte er, diesmal ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. »Ihr habt keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn der Wechsel wirklich anfängt, sich auszuwirken. Es ist, als wäre man Teil von etwas Größerem, etwas wesentlich Wichtigerem und Bedeutenderem. Ich fühlte, dass auf einmal alles einen realen Sinn, ein Ziel hat, das erste Mal in meinem Leben. Menschlich zu sein ist so begrenzt. Warum sollte ich bedauern, das hinter mir zu lassen, wenn ich so viel mehr sein kann? Wenn die Hungrigen Götter durchkommen, werde ich ein Teil von ihnen sein und über eure Vernichtung jubeln.«

»Aber du verlierst dich selbst«, sagte ich. »Du gibst alles auf, was du aus dir selbst gemacht hast. Das hat dir doch immer so viel bedeutet, Sebastian.«

»Ich wusste nie, wie klein ich eigentlich bin, bis ich von den Göttern berührt wurde«, antwortete er. »Warum soll ich eine Raupe bleiben, wenn ich ein Schmetterling sein kann?«

»Schmetterlinge töten normalerweise niemanden sonst in der Wiese«, wandte Molly ein.

Sebastian lächelte ihr zu. »Sie würden, wenn sie könnten. Und du wirst das auch tun, Molly.«

»Du sagtest, du hast uns noch etwas Wichtiges mitzuteilen«, unterbrach ich ihn. »Raus damit oder wir sind weg.«

»Ach ja. Du warst sehr clever, Eddie, dass du die Drohnen bei Nazca entdeckt und eingekesselt hast. Aber von jetzt an werdet ihr jedes Mal, wenn ihr uns nahe kommt, mehr Leute verlieren. Egal, wie viele Schlachten ihr gewinnt, wir werden immer mehr von euch nehmen, bis niemand mehr da ist. Ihr werdet nicht wagen, uns zu bekämpfen, weil es euch zu unseren Ebenbildern macht.«

Ich lächelte zurück. »Naja, das musst du ja sagen, nicht wahr?«


Ich ging mit Molly in unserem Raum zurück. Wir brauchten beide eine Auszeit. Zeit zum Nachdenken. Ich streckte mich auf dem Bett aus, aber anstatt sich neben mich zu legen, stand Molly am Fenster und sah auf den Park hinaus. Die Stille im Zimmer schien immer intensiver und eindringlicher zu werden, je länger sie dauerte, aber keiner von uns wusste, wie man sie brechen könnte. Ich hatte gesagt, dass ich ihr helfen, sie retten würde, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte gesagt, dass ich sie sogar vor meiner eigenen Familie beschützen würde, aber wir wussten beide, dass das Schicksal der Menschheit Vorrang haben musste. Wir wussten beide eine Menge, aber keiner von uns wollte der Erste sein, der diese Dinge aussprach.

»Wie fühlst du dich?«, fragte ich schließlich, nur um etwas zu sagen, das diese schreckliche Stille durchbrach.

»Ich kann die Änderungen fühlen«, sagte sie und sah weiterhin aus dem Fenster. »Körperliche Änderungen. Mein Körper fühlt sich anders an. Unsicher. Und ich habe seltsame Gedanken im Kopf, die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Meine Magie hält diese Dinge unter Kontrolle. Noch. Ich kenne so viele Zaubersprüche, so viele verbotene Geheimnisse und Magien, aber ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine dieser Waffen gegen mich selbst gebrauchen müsste.«

»Es muss jemanden geben, der dir helfen kann«, sagte ich. »All diese Orte, an denen du warst, all deine Kontakte …«

»Der Preis, den sie verlangen würden, wäre schlimmer als das Leiden«, meinte sie.

»Dann eben jemand in der Familie«, meinte ich. »Wir müssen die Änderungen nur bis nach dem Krieg stoppen oder zumindest verlangsamen. Bis wir wirklich daran arbeiten können.«

»Wen könnten wir fragen? Wem könnten wir ein solches Geheimnis anvertrauen?«

»Dem Waffenmeister. Onkel Jack würde das verstehen. Wir mussten seinen Bruder James töten und er hat es verstanden.«

»Das war, um die Familie zu retten«, entgegnete Molly. »Und ich werde zu einer wirklichen und realen Gefahr für die Familie. Wen gibt es noch?«

»Ich weiß es nicht! Der Blaue Elf? Er schuldet mir was. Vielleicht könnte er nach einer Heilung fischen. Er hat eine für sich selbst gefunden.«

»Wir können ihm nicht vertrauen. Alle Elben haben eigene Pläne.«

»Naja … vielleicht könnte Giles dich mitnehmen, zurück in seine Zukunft«, sagte ich verzweifelt. »Wer weiß schon, welche Arten von Heilungen oder medizinische Technologien sie dort haben?«

»Du hast den Mann doch gehört«, sagte Molly traurig. »Seine ist eine rein technische Zukunft. Seine Leute wären wahrscheinlich nicht mal in der Lage zu erkennen, was mit mir nicht in Ordnung ist. Und überhaupt, wir können doch die Abscheulichen und die Hungrigen Götter nicht auf die Zukunft loslassen. Sie müssen hier und jetzt gestoppt werden.«

Ich musste lächeln. »Höre ich richtig? Die berüchtigte Molly Metcalf entwickelt tatsächlich Skrupel und Moral auf ihre letzten Tage?«

Sie wandte sich um und brachte ein kleines Lächeln für mich zustande. »Jeder muss irgendwann einmal erwachsen werden. Mich hat es nur die Infektion durch einen andersdimensionalen Parasiten gekostet, der meinen Körper übernommen hat und meine Seele frisst.«

Ich setzte mich auf und sah sie nachdenklich an. »Jetzt bist du doch eine von ihnen. Bist du eigentlich schon Teil ihres Kollektivbewusstseins? Kannst du sie hören? Kannst du die Kommunikation der Abscheulichen abhören?«

Molly runzelte die Stirn und konzentrierte sich. »Da ist etwas. Am Rand meiner Gedanken. Weit weg, ein Hintergrundgeräusch. Aber es ist nur Gemurmel, ein bedeutungsloser Mischmasch von Geräuschen. Nicht menschlich. Fremd. Vielleicht verstehe ich es, wenn ich mehr … wie sie werde. Werden meine Gedanken dann so klingen? So fremd, so profund anders - jenseits allen menschlichen Verständnisses?« Sie sah mich eindringlich an. »Wir müssen sie aufhalten, Eddie. Während ich noch ich selbst bin. Vielleicht - wenn wir sie alle aus unserer Realität verdrängen, dann wird die Infektion mit ihnen verschwinden.«

»Ja«, sagte ich sanft. »Vielleicht.«

»Ich habe Angst, Eddie. Ich habe Angst davor, immer weniger ich zu sein und zu etwas zu werden, dem es egal ist, was es verloren hat. Mir wird sogar egal sein, dass ich dich nicht mehr liebe. Wenn es keine Heilung gibt, wenn es keine Hoffnung mehr gibt, Eddie, dann bring mich um, solange ich noch weiß, wer du bist. Wenn du mich liebst, dann töte mich.«

»Ja«, sagte ich. »Das kann ich tun.«

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