»Tut mir leid, Giles«, sagte ich. »Aber es sieht so aus, als würdest du ins kalte Wasser geworfen. Ich habe keine Zeit, dich ordentlich einzuweisen und dir eine Tour durchs Herrenhaus zu geben. Also tu einfach dein Bestes, dir alles anzusehen, während wir loslegen.«
Er lächelte kalt, eine große, dunkle Gestalt, die in ihrer futuristischen Rüstung eine gefährliche Ausstrahlung hatte. »Ich habe in meiner Zeit genug außerirdische Welten und Kulturen kennengelernt, ich denke, ich kann mit allem fertig werden, das ihr hier habt. Trinken die Leute Wein, haben sie Sex? Und gibt es Prahler, Schurken und Leute, die getötet werden müssen? Dann denke ich, passe ich prima hierhin.«
»Der Mann hat's drauf«, sagte Molly.
»Naja, ich liebe euch, aber ich muss gleich wieder gehen«, sagte Jay munter. »Es gibt Arbeit, die ich erledigen muss, zusammen mit Rafe und William in der alten Bibliothek. Wenn es um die Abscheulichen geht, ist Wissen Munition und wir sind bedauernswert schlecht dran mit beidem.«
Er verneigte sich knapp vor Giles und verließ beinahe fluchtartig den Hangar.
»Und du hast auch Arbeit vor dir«, sagte Jacob der Geist und warf mir einen ominösen düsteren Blick zu. »Harry, dieser schlechte Abklatsch eines Menschen, und der nutzlose Haufen von Kröten und Jasagern, die er gegen deinen Inneren Zirkel ausgetauscht hat, entscheiden gerade wichtige Dinge im Sanktum und machen ein richtiges Schlamassel daraus. Du musst dabei sein, Junge, bevor Harry diese Familie noch weiter reinreitet.«
»Du scheinst dich wieder gefangen zu haben«, sagte ich. »Irgendwie konzentrierter. Sowohl im Körper als auch im Geist.«
Das Gespenst zuckte schnell mit den Achseln und blaue Bläschen von Ektoplasma schwebten von seinen Schultern in die Höhe. »Mein lebendes Gegenstück um mich zu haben, hat mir sicher geholfen, mich daran zu erinnern, was ich war. Es geht doch nichts über eine massive Notlage und den beinahe sicheren Untergang der ganzen verdammten Welt, um sich klasse zu konzentrieren. Auf der anderen Seite - meine Erinnerungen an diese gemeinsame Zeit sind immer noch beinahe nichtexistent. Ich denke, ich habe mir das freiwillig angetan. Vielleicht, damit ich meinem lebenden Selbst nicht sagen muss, wie es stirbt.«
»Glaubst du immer noch, dass es hier in dieser Zeit, sterben muss, um uns zu helfen?«
»Oh ja. Ein glorreicher Tod … aber immer noch kein Frieden für die Hinterhältigen. Er wird sterben und zu mir werden, und ich - ich werde Jahrhunderte lang auf diesen Ort und diesen Zeitpunkt warten. Und alles, was ich sagen kann, ist, dass es besser einen verdammt guten Grund dafür geben sollte.«
»Du weißt also immer noch nicht, warum du hier bist?«, fragte Molly.
Jacob schenkte ihr sein typisch fieses Lächeln. »Zur Hölle, nein. Wer weiß das schon?«
»Du bist kein Hologramm, nicht wahr?«, fragte Giles.
»Dazu würde ich mich nie herablassen«, antwortete Jacob. »Ich bin zu hundert Prozent aus Ektoplasma und stolz darauf. Ich kann an guten Tagen durch Wände gehen, auch wenn ich das meist nicht tue, weil es so unangenehm ist. Was ist los, Krieger, gibt's keine Geister in der Zukunft?«
»Nein«, sagte Giles. »Wir sind zivilisiert.«
»Lasst uns mal ins Sanktum gehen«, unterbrach ich. »Und wenn es nur aus dem Grund ist, dass mir dieses Gespräch Kopfschmerzen bereitet. Molly, Giles, bleibt dicht bei mir und bringt keinen um, bis ihr glaubt, es ist unbedingt nötig. Jacob, kommst du?«
»Das würde ich nicht mal für's Jenseits verpassen wollen«, sagte der alte Geist und grinste unangenehm.
Ich benutzte Merlins Spiegel, um uns in den Korridor direkt vor dem Sanktum zu transportieren. Es schien, dass nicht einmal ein Spiegel, der von Merlin erschaffen worden war, durch Seltsams andersdimensionale Barrieren kam. Also traten wir durch den vergrößerten Spiegel in den Korridor und fanden uns auf der Stelle einem Dutzend Männern gegenüber, die die Türen bewachten. Es waren alles große, muskulöse Typen, die genauso gut auch das tätowierte Wort Vorstadtschläger auf ihren niedrigen Stirnen hätten tragen können. Ein paar davon gibt es immer, in jeder Familie. Ich gebe schlechter Hygieneerziehung die Schuld daran. Die Wachen traten uns schnell in den Weg und hatten ihre bedrohlichsten Mienen aufgesetzt. Einer ließ uns gegenüber sogar seine Muskeln spielen.
»Eintritt verboten«, sagte einer der Schläger kalt. »Der Patriarch darf nicht gestört werden.«
»Ein Jammer«, sagte ich. »Ich will ihn nämlich stören. Du erkennst mich nicht, oder?«
»Nein«, sagte der Schläger kurz.
»So schnell bist du vergessen«, murmelte Molly.
»Ist mir aber auch egal«, sagte er. »Spielt keine Rolle, wer ihr seid. Eintritt verboten, ohne Ausnahme. Und jetzt verpisst euch, oder wir tun euch weh.«
»Keiner droht mehr ordentlich«, beschwerte sich Molly. »Man kann einfach nicht mehr erwarten, dass sich jemand die Mühe macht, ein anständiger Spießgeselle zu sein.«
»Ich habe für sowas wirklich nicht die Geduld«, sagte ich. »Jacob, glaubst du, du könntest …«
Der Geist warf sein grinsendes altes Gesicht nach vorn, mit glühenden Augen und all die Schläger gingen unwillkürlich einen Schritt zurück. Jacob verwandelte sich in sein schreckliches Selbst und plötzlich war der Korridor erfüllt von Tod und Schrecken und der kalten, unentrinnbaren Umarmung des Grabes. Es war, als stelle man plötzlich fest, man erwache mit einer Leiche im Bett; so, als wüsste man auf einmal, dass alles, was man liebte, stirbt.
Manchmal war es wirklich zu einfach, zu vergessen, was Jacob wirklich war: Ein Wiedergänger, der nur durch einen unmenschlichen Willen aufrecht erhalten wurde.
Jacob ging einen Schritt nach vorn, und die Schläger gaben einfach auf und rannten schreiend den Flur herunter. Jacob lachte leise und ich verzog mein Gesicht. In diesem grauenhaften Geräusch war nichts Menschliches. Und dann war Jacob plötzlich wieder da, mein alter Freund und Helfer. Aber nachdem ich gesehen hatte, was er wirklich war - oder wenigstens sein konnte -, musste ich mich fragen, ob ich ihn je wieder so sehen konnte wie früher.
Er musste das irgendwie gespürt haben, weil er sich umwandte und mich unsicher ansah. Er versuchte, zu lächeln, aber es war nicht sehr überzeugend.
»Manchmal fühle ich mich, als wäre ich nur die Spitze eines Eisbergs, Eddie, und dass ich, wenn ich jemals herausfinde, wie viel mehr von mir es wirklich gibt, ich nicht mehr ich selbst bin. Deshalb brauche ich mein lebendes Selbst in der Nähe. Es erinnert mich daran, wie es ist, menschlich zu sein. Einfach nur menschlich.«
»Na toll«, sagte ich absichtlich leise. »Noch etwas, um das wir uns sorgen müssen.«
Jacob schaffte etwas, das wie sein altes Grinsen aussah. »Es ist nicht gerade leicht, ein Geist zu sein. Dann wäre es ja jeder.«
»Faszinierend«, sagte Giles. »Damit habt ihr der psychologischen Kriegsführung eine ganz neue Richtung gegeben.«
»Können wir jetzt bitte da reinplatzen und Harrys Tag ruinieren?«, sagte Molly. »Ich fühle den wachsenden Drang, jemandem eine reinzuhauen.«
»Tja«, erwiderte ich. »Das ist wohl einer dieser Tage.«
Ich trat die Türen des Sanktums auf und wir alle stürmten in die große, offene Halle. Das karmesinrote Glühen von Seltsam füllte beinahe die Hälfte der großen Halle, aber es strahlte nicht mehr das gleiche Behagen und die Sicherheit aus wie früher. Harry unterbrach das Gebrüll, mit dem er gerade seine Tutoren bedachte und wirbelte herum, um uns anzusehen. Er erkannte mich sofort, aber anstelle der Überraschung, die ich erwartet hatte, nachdem ich achtzehn Monate ohne Rückkehr-Garantie fortgewesen war, sah ich in seinem Gesicht nichts außer kaltem, berechnendem Ärger. Hinter ihm allerdings klappten die Unterkiefer seiner Tutoren in sehr zufriedenstellender Manier herunter, auch wenn ich nicht viel von Harrys Auswahl hielt. Natürlich waren der Seneschall da und Roger Morgenstern, und Sebastian und Freddie Drood. Die letzten beiden gaben sich große Mühe, hinter den Ersteren nicht gesehen zu werden. Aber, um Harry Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er erholte sich schnell. Er rückte seine stahlumrandete Brille zurecht, als wolle er mich genauer betrachten und starrte mich mit einem bösen Blick bedrohlich an.
»Wo zur Hölle bist du gewesen?«, verlangte er zu wissen. »Das ist typisch für dich, Eddie, nicht da zu sein, wenn man dich braucht. Und wo sind meine Wachen, eigentlich sollen sie … unnötige Leute draußen halten, wenn ich arbeite.«
»Deine Wachen kommen schon wieder«, sagte ich. »Irgendwann. Sie können ja nicht weit laufen, wenn sie das Grundstück nicht verlassen wollen. Einer von ihnen hat dich Patriarch genannt. Wann ist das denn passiert, Harry?«
Er schnaubte laut. »Einer musste ja die Zügel in die Hand nehmen, nachdem du abgehauen bist, um mit dem Zeitzug zu spielen.« Er sah Giles abschätzig an. »Es hat also achtzehn Monate gebraucht, um den da zu finden? Einen Barbaren mit einem Schwert?«
»Ich bin Giles Todesjäger«, sagte der Krieger aus der Zukunft, und da war etwas sehr Gefährliches und Kaltes in seiner Stimme, dass Harry auf der Stelle schweigen ließ. »Ich bin Oberster Krieger des Kaisers Ethur, Kommandant seiner Armeen und Eroberer von Welten. Edwin, ein Wort von dir genügt, und ich werde ihn vor dir knien lassen. Oder ich könnte ihm seinen Kopf abschneiden. Darin bin ich wirklich gut, und es wird ihn vielleicht daran hindern, weiter so dumm daherzureden.«
»Ein netter Gedanke«, sagte ich. »Aber das heben wir uns für später auf. Du kannst diesen Patriarchen-Quatsch vergessen, Harry. Ich bin wieder da und du kannst zurück auf die Ersatzbank.«
»Glaubst du wirklich, das geht so einfach?«, fragte Roger und trat neben Harry. »Harry hat diese Familie jetzt über ein Jahr geleitet. Die Familie hat ihn akzeptiert. Was macht dich glauben, dass dich irgendeiner wieder an der Macht haben will?«
»Als ich in diesen Raum trat, war er voll schierer, unterdrückter Hysterie und Panik«, sagte ich ruhig. »Nicht gerade das, was man von einem Patriarchen erwartet. Und mal ehrlich, Harry, ist das das Beste an Tutoren, was du finden konntest? Ich würde mich nicht mal auf ihren Rat verlassen, wenn ich in der Nase bohren wollte. Zur Hölle, kann ich mich nicht mal für fünf Minuten von der Familie abwenden, ohne dass hier alles zum Teufel geht?«
»Fünf Minuten?«, sagte Harry. »Achtzehn Monate! Wir wussten nicht, ob du lebst oder tot bist, oder gefangen oder zum Feind übergelaufen oder ob du überhaupt zurückkommst! Und jetzt kommst du hier einfach mit einem blasierten Lächeln und ein paar herablassenden Worten reinspaziert und was zeigst du uns? Einen Mann!«
»Einen Todesjäger«, verbesserte Giles. »Ein wichtiger Unterschied.«
»Er ist groß«, sagte Sebastian.
»Hab ich gesehen«, meinte Freddie.
»Und er hat ein richtig großes Schwert.«
»Das sind die Besten.«
»Was ist mit meinem Inneren Zirkel passiert?«, fragte ich laut. »Ich habe sie sorgfältig ausgesucht, um alle Stimmen in der Familie zu repräsentieren. Ich bin nicht überrascht, dass der Seneschall hier ist - hallo, Cyril! - und Molly und Jacob sind bei mir, aber wo bitteschön sind die sehr vernünftige Penny und unser außerordentlich erfahrener Onkel Jack?«
»Der Waffenmeister ist zurück im Labor, wo er hingehört«, sagte Harry. »Und Penny ist sehr damit beschäftigt, sich mit den Tutoren zu befassen, die du gnädigerweise auf die Familie losgelassen hast. Sie sind immer noch beliebt genug, denke ich, wenn auch nicht sonderlich nützlich. Als ich das Kommando übernehmen musste - und es gab keinen anderen - habe ich entschieden, dass ich meine eigenen Tutoren haben will. Leute, denen ich vertrauen kann, die die Dinge wie ich sehen und die das vertreten, was ich entscheide. In einem Notfall gibt es kein Herumdiskutieren. Glaub also nicht, dass du hier reinspazieren und einfach so wieder alles übernehmen kannst. Du hattest deine Chance und hast sie vertan.«
»Während du es viel besser gemacht hast? Sag bloß!«
»Du warst doch gar nicht hier! Du weißt nicht, was in den vergangenen anderthalb Jahren passiert ist! Ich habe einen Krieg gegen einen Feind geführt, der die ganze Welt bedroht! Nicht nur ein Nest, einen Turm, sondern tausend von diesen verdammten Dingern. Hunderttausende - wir können sie gar nicht mehr zählen, so schnell vermehren sie sich. Sieh dich doch nur an; stehst da und schnauzt mich an. Du hast gar kein Recht, mich zu verurteilen! Du hast kein Recht, einfach hier reinzuplatzen und zu erwarten, dass wir dir zu Füßen fallen und darum betteln, dass du uns rettest! Ich leite die Familie jetzt zu Recht. Ich habe es mir verdient. Ich bin der Patriarch. Wenn du den Posten willst, dann musst du ihn mir wegnehmen.«
»Siehst du, das ist der Unterschied zwischen uns beiden, Harry«, sagte ich. »Ich wollte das nie. Aber ich kannte immer meine Pflicht gegenüber der Familie. Und deshalb muss ich dich ersetzen - zum Wohl der Familie.«
Harry rüstete hoch und zu meiner Überraschung war das Metall, das aus seinem Halsreifen floss, golden, nicht silbern. Er lachte über meinen Gesichtsausdruck, sein eigener war hinter der formlosen goldenen Maske versteckt.
»Ich habe den silbernen Look nie gemocht. Also habe ich mit Seltsam gesprochen und er sah keinen Grund, warum die seltsame Materie nicht golden sein könnte. Also habe ich ihm gesagt, er soll die Farbe wechseln. Gold ist die Farbe der Tradition, der Kontinuität; eine Erinnerung an die Tage, in denen unsere Familie stark war. Und sie wird es wieder sein!«
»Seltsam!«, rief ich. »Hörst du zu?«
»Ja, Eddie.« Die Stimme, die aus dem karmesinroten Glühen kam, klang seltsam ausdruckslos und so, als sei sie weit entfernt. »Es ist schön, dich wiederzusehen. Du warst weit weg, das kann ich an dir erkennen. Und die Welt hat sich geändert, als du weg warst. Nicht einmal ich bin mehr, was ich war, so weit verteilt. Nur mein Schutz sichert die Familie noch. Es sind die Abscheulichen, Eddie, sie infizieren die lebendige Welt wie ein Virus, wie Krebs. Und je mehr sie übernehmen, desto mehr setzen sie mir Grenzen. Ich sorge für die Rüstungen der Droods, und die Kraft für die Familienwaffen und die -verteidigungen - aber jeden Tag fällt mir das ein bisschen schwerer. Die Hungrigen Götter kommen … und nicht einmal ich kann hoffen, gegen sie bestehen zu können, wenn sie sich erst in ihrer schauderhaften Glorie gezeigt haben.«
Ich hatte Seltsam noch nie so müde gehört, so niedergeschlagen - beinahe besiegt. Er schien immer so machtvoll zu sein; so weit über der Menschheit stehend, dass es mir niemals in den Sinn gekommen war, dass es andere Kräfte, andere Wesen geben könnte, die auch weit über ihm standen.
Ich sah Harry an, der stolz und groß in seiner goldenen Rüstung dastand.
»Nimm sie runter«, sagte ich. »Wir haben für so eine Scheiße keine Zeit. Wir müssen wichtige Dinge besprechen, Familiendinge.«
»Nein«, sagte er sofort. »Nichts ist wichtiger als das. Nichts kann passieren, nichts entschieden werden, bis wir festgelegt haben, wer das Kommando hat. Ich habe bemerkt, dass du deine Rüstung nicht hochgefahren hast, Eddie. Was ist los? Hast du nicht die Eier, dich einem fairen Kampf zu stellen?«
»Ein Duell?«, fragte ich. »Mitten in dieser Situation möchtest du ein Duell austragen?«
»Das entspricht der Tradition«, sagte der Seneschall und lächelte nur ein wenig.
»Noch ein Grund, warum ich mit der Tradition nie klargekommen bin«, sagte ich. »Aber wenn es dich glücklich macht, Harry …«
Ich murmelte die aktivierenden Worte und meine Rüstung quoll aus meinem Torques, um mich einzuschließen. Ich fühlte mich sofort stärker, konzentrierter und selbstsicherer. Ein schneller Blick an mir herab zeigte mir, dass meine Rüstung jetzt so golden war wie seine. Ich ballte langsam die goldenen Fäuste und ging auf Harry los. Er kam in meine Richtung und wir umkreisten uns vorsichtig. Alle Anwesenden traten ein paar Schritte zurück, um uns viel Platz zu lassen. Ich sah, wie Molly Giles am Arm nahm und ihm eindringlich ins Ohr flüsterte, dass er sich nicht einmischen dürfe. Er nickte. Er sah aus, als wüsste er alles über Duelle.
Der Seneschall ging einen Schritt nach vorn, vielleicht, um etwas Ermutigendes zu Harry zu sagen, oder um mich abzulenken, und Giles wischte unglaublich schnell nach vorn und durchquerte die Halle in einem Moment. Sein langes Schwert flog in seine Hand, als er den Seneschall gegen die Wand drückte und dann die Schneide der langen Klinge gegen Cyrils Hals legte. Es geschah so schnell, dass der Seneschall keine Gelegenheit hatte, seine Rüstung hochzufahren. Er sah in Giles kalte Augen, schloss die eigenen und stand dann sehr still da. Er sagte nichts. Ein dünner Blutfaden rann von der Stelle über seinem Adamsapfel aus seinen Hals hinab, an der die rasiermesserscharfe Klinge des Schwerts die Haut zerteilt hatte.
»Tu's nicht«, sagte Giles.
Harry nutzte den Moment, in dem meine Aufmerksamkeit abgelenkt war, und warf sich gegen mich. Wir standen Kopf an Kopf, beide zu wütend, um vorsichtig vorzugehen. Wir tauschten Schläge aus, die normale Menschen getötet hätten, aber keiner von uns fühlte sie. Wir verkrallten uns ineinander, schwankten vor und zurück, als wir rangen; aber wir beide kannten alle Tricks. Wir stießen wieder und wieder aneinander, unsere übermenschlichen Kräfte und Geschwindigkeit waren absolut ebenbürtig. Ich schubste ihn von mir weg und ließ aus meinen Händen lange, goldene Klingen wachsen. Harry tat das Gleiche und wir stachen wild auf einander ein. Wir stießen und hackten und wirbelten so schnell umeinander herum, dass es dem menschlichen Auge schwerfiel zu folgen. Unsere Rüstungen hatten uns jetzt im Griff, unsere Leidenschaft und unser Hass übertrugen sich auf die übermenschlichen Reaktionen.
Ich riss seine linke Klinge mit roher Kraft beiseite und schnitt in seine Brust. Die übernatürlich scharfe Klinge schnitt durch seine Rüstung, um ihn zu erreichen, sie war das Einzige, die das bewirken konnte. Ich hörte ihn vor Überraschung und Schmerz stöhnen, und dann musste ich mich schnell ducken, als seine Hinterhand als Antwort beinahe meinen Kopf abgeschnitten hätte. Wir wirbelten und tanzten, stampften so hart mit den goldenen Füßen auf den Holzboden, dass wir ihn beinahe durchbrachen. Wir kämpften weiter, ein einziger goldener Wirbel in scharlachrotem Licht. Aber selbst so waren wir zu ebenbürtig, und der Austausch der übernatürlich verstärkten Schnitte und Wunden half nicht, dass Duell zu einem Ende zu bringen.
Ich hatte schon mehr als er durchgemacht und deshalb war ich müde. Meine Arme schmerzten und ich spürte, dass auf der Innenseite meiner Rüstung Blut an mir herunterlief. Ich musste das beenden, solange ich noch konnte. Also benutzte ich einen alten Trick; den, den ich benutzt hatte, um seinen Vater zu schlagen. Ich parierte seine Klingen mit meinen, zwang sie hoch und aus dem Weg und griff dann mit beiden Händen seinen Hals an. Meine Klingen zogen sich in die goldenen Handschuhe zurück, sodass ich einen guten Griff auf seinen goldenen Hals bekam. Der Aufprall schickte uns beide krachend auf den Boden und ich landete oben, beide Hände an seinem Hals. Seine Hände verschluckten die Klingen unwillkürlich, als er instinktiv nach meinen Handgelenken griff, und versuchte, meine Hände fortzuzwingen. Die Rüstung um seinen Hals hätte meine gerüsteten Hände aufhalten müssen, aber so aus der Nähe, gezwungen von meinem Willen, verschmolzen unsere Rüstungen miteinander, sodass meine bloßen Hände schließlich um seinen bloßen Hals lagen, innerhalb der Rüstung.
Er machte ein Geräusch des Schocks und der Überraschung, als sich meine Hände schlossen. Ich drückte zu. Er bäumte sich unter mir auf und versuchte, sich zu wehren, aber er konnte meine Hände nicht fortschieben. Er würgte und verkrampfte sich, aber ich ließ ihn nicht atmen.
Bis er endlich aufhörte, sich zu wehren und auf den Boden neben ihm schlug. Das alte Zeichen eines Duellanten, dass er aufgab. Ich ließ los und er atmete wieder. Ich blieb über ihn gebeugt, bereit, sofort wieder loszulegen, falls er nur so tat. Für eine Weile blieben wir so, er auf dem Boden, ich über ihm, wir beide schwer atmend. Ich hätte ihn getötet, wenn er nicht aufgegeben hätte, und er wusste das.
»Hast du so meinen Vater getötet?«, sagte er endlich.
»Das ist typisch für dich, Harry«, sagte ich. »Immer auf die Vergangenheit fixiert. Ein Führer sollte in die Zukunft sehen. Ich hätte dich töten können, aber das wollte ich nicht. Zunächst einmal, weil es wahrscheinlich mehr Probleme gemacht als gelöst hätte und zweitens, weil die Familie erfahrene Frontagenten wie dich braucht. Jetzt mehr denn je. Also vergiss diesen Patriarchen-Scheiß. Werd' wieder ein Teil meines Inneren Zirkels. Gib mir dein Wort, dass du mir folgst, meinen Befehlen gehorchst, um der Familie willen - und das alles ist vorbei.«
»Und wenn ich nein sage?«
»Du kennst die Antwort darauf. Alles oder nichts, Harry. Deal?«
»Deal«, sagte er still. Es klang bitter. »Um der Familie willen.«
Wir beide rüsteten ab. Ich gab ihm meine Hand und half ihm auf.
»Nein!«, sagte Roger plötzlich und trat vor. »Du musst ihm nicht nachgeben, Harry! Du musst keinen Mist von irgendwem annehmen, nicht, solange ich hier bin!«
Ohne Vorwarnung übernahm seine höllische Hälfte und wickelte sich um ihn wie ein weiter Mantel. Er schien in keiner Weise mehr menschlich zu sein. Schatten versammelten sich um ihn, eine lebendige Dunkelheit, die das karmesinrote Licht zu verschlingen schien. Ein starker Geruch von Blut und Schwefel lag in der Luft und der Schwall einer fast unerträglichen Hitze ließ uns alle zurückfahren, selbst Harry. Roger lächelte und sein Mund war voller spitzer Zähne. Seine Augen waren schwarze Löcher in seinem Gesicht. Seine Präsenz im Sanktum war … schwer, wie ein unerträgliches Gewicht, das die Welt niederdrückte. Er sah aus wie das, was er wirklich war: Etwas aus der Hölle. Selbst Harry konnte ihn nicht direkt ansehen. Roger lachte leise; ein böses, hasserfülltes Geräusch, dass nichts von menschlichem Humor enthielt und uns alle zusammenzucken ließ. Roger erhob sich in die Luft und negierte damit die Naturgesetze, als wären sie nicht vorhanden. Er hing in der Luft, mit spöttisch ausgestreckten Armen, als sei er an ein unsichtbares Kreuz genagelt.
»Jesus ist gar nichts gegen mich«, sagte er in einer Stimme, die klang wie ein grunzendes Tier. »Du glaubst, dass du jemand bist, Eddie Drood, aber ich werde dir zeigen, was wahre Macht ist.«
Bevor ich auch nur etwas sagen konnte, schwebte Molly ihm entgegen. Sie hielt sich mühelos in der Luft vor ihm, ihr Gesicht kalt und entschlossen, als sie sich zwischen mich und die Höllenbrut schob. Ich wollte sie zurückhalten, aber ich hatte keine Stimme. Unnatürliche Energien, die man genauso gut fühlen wie sehen konnte, begannen um die beiden zu tanzen. Sie zündelten und knisterten wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte. Etwas sammelte sich zwischen ihnen, etwas Schreckliches. Schon ihnen so nahe zu sein, fühlte sich an, als schnitten rasiermesserscharfe Klingen in meine Seele. Sterbliche sollten so etwas nicht sehen, so etwas nicht fühlen. Verbotene Magien und unmenschliche Praktiken …
Roger winkte mit der Hand und ein Loch entstand im Boden des Sanktums. Die hölzernen Bohlen schienen ohne Anlass zu verrotten und das Loch wuchs beständig, wie ein Krebs im Körper der Welt. Gespickte Messingtentakel, schon jetzt glitschig von menschlichem Blut, schossen daraus hervor, schnappten sich Molly und fesselten ihr die Arme an den Körper. Sie schrie auf, als verdürbe die Berührung der Dinger sie und wehrte sich heftig. Blut flog durch die Luft, als die Metalldornen sich in ihr Fleisch bohrten. Und dann verschwanden die Tentakel wieder im Boden und nahmen sie mit, und das Loch verschwand. Der Boden war wieder massiv, unberührt, als wäre nichts passiert. Roger drehte sich langsam um, er hing immer noch frei in der Luft und lächelte mich mit seinem furchtbaren Lächeln an.
»Ich komme aus der Hölle«, sagte er. »Und das trage ich überall mit mir herum. Also bin ich nie fern von zu Hause. Ich habe deine kleine Freundin gerade in die Hölle geschickt, Eddie Drood. Sie auf ewig verdammt zu ewigem Leiden in den Flammenseen und zu den Foltern der Schwefelklüfte, weil ich mich gerade danach fühlte. Wie denkst du darüber, Eddie Drood?«
»Nachdem ich dich getötet habe, werde ich in die Hölle hinabsteigen und sie zurückholen«, sagte ich. »Was auch immer dazu nötig ist, was auch immer das kostet. Aber zuerst werde ich dich mit diesen goldenen Händen zerschmettern und dich schreien lassen, und dann, nach all den schrecklichen Dingen, die ich dir angetan habe, wird es für dich eine Erleichterung sein, wieder zur Hölle zu fahren!«
»Wow«, sagte Molly. »Das ist echt stark, Eddie.«
Wir alle sahen uns verwirrt um und da stand sie, unberührt und unverletzt, genau da, wo das Loch gewesen war. Ich rannte hinüber und nahm sie in die Arme. Wir hielten uns gegenseitig fest und nichts anderes spielte mehr eine Rolle.
»Ich dachte wirklich, ich hätte dich verloren«, sagte ich.
»Glaubst du echt, ich würde irgendwo hingehen und dich einfach hierlassen?«, fragte sie.
Als wir uns endlich voneinander trennten und uns umsahen, starrte Roger uns fassungslos an. Und auf einmal sah seine höllische Präsenz nicht mehr halb so furchteinflößend aus.
»Du kannst nicht hier sein!«, sagte er. »Das geht nicht! Ich habe dich zur Hölle geschickt!«
»Da war ich schon«, sagte Molly.
Sie schnippte trocken mit den Fingern und ein Loch öffnete sich in der Decke über uns. Ein himmlisches Licht brach hindurch wie ein heiliger Scheinwerfer und richtete sich auf Roger. Es spießte ihn auf wie ein Insekt auf die Nadel eines Sammlers. Er schrie grausam auf und warf sich hilflos und in Agonie im Griff des himmlischen Lichtes umher, und wir alle mussten uns abwenden. Das Licht war einfach zu strahlend, zu rein, als dass menschliche Augen hätten hineinsehen können. Sogar im selben Zimmer zu sein, tat weh, als würde es alles wegbrennen wollen, was fehlerhaft war. Molly schnippte wieder mit den Fingern und das Licht verschwand ebenso schnell wieder wie das Loch in der Decke. Roger fiel auf den Boden und lag still. Er atmete schwer. Er sah wieder aus wie ein Mensch. Harry rannte nach vorn, kniete neben Roger und zog ihn in seine Arme. Er wiegte ihn hin und her wie ein verletztes Kind und murmelte beruhigende Worte. Rogers Gesicht war starr vor Panik und Leid und einem unbeschreiblichen Schrecken. Ich sah Molly an.
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin halt ein bisschen rumgekommen. Du wärst überrascht, wer mir alles einen Gefallen schuldet. Wirklich.«
»Wir reden später darüber«, sagte ich. »Sind alle anderen in Ordnung?«
Ich sah mich um. Sebastian und Freddie hatten sich in einer entfernten Ecke zusammengekauert und hatten anscheinend versucht, sich gegenseitig in die Taschen zu kriechen. Der Seneschall sah blass und erschüttert aus, aber nicht einmal der Anblick von Himmel und Hölle hatte ihn aus der Fassung gebracht. Jacob der Geist war verschwunden. Und Giles Todesjäger grinste breit, als ob er gerade eine richtig gute Show gesehen hätte. Während ich noch darüber nachdachte, flogen die Türen des Sanktums wieder auf, und eine ganze Bande von Droods kam hereingelaufen, angeführt von den Schlägern, die die Tür bewacht hatten. Sie hatten scheinbar Aufwind bekommen und ermutigt von ihrer Verstärkung schienen sie entschlossen, uns allen eine Lektion zu erteilen. Unglücklicherweise machten sie den taktischen Fehler, unbewaffnet hereinzuplatzen. Giles schoss sofort nach vorn und war schon in dem Moment bei ihnen, als sie hereinkamen, und das war für jemanden ohne Drood-Rüstung unfassbar schnell. Er zog gar nicht erst sein Schwert, warf sich einfach nur in die Neuankömmlinge, stoppte sie, wo sie waren und schlug sie alle mit eleganter, beinahe klinischer Präzision nieder. Er schlug mit überraschendem Können um sich und jeder Schlag saß und ließ einen Mann zu Boden gehen. In wenigen Augenblicken war er der Einzige, der noch stand, und war umgeben von stöhnenden und bewusstlosen Leuten. Er atmete nicht einmal schwer.
»Also, das nenn' ich ja mal einen Kämpfer«, sagte der Seneschall. Ich hatte vorher noch nie erlebt, dass er beeindruckt war. »Das hast du gut gemacht, Edwin. Das ist genau, was wir brauchen.«
»Danke, dass du sie nicht abgemurkst hast«, sagte ich zu Giles. »Sie gehören zur Familie.«
Er nickte kurz. »Ich weiß. Ich habe die Reifen um ihren Hals gesehen. Ich töte nur, wenn es nötig ist. Und diese traurigen Exemplare da waren es definitiv nicht wert.
»Das ist teilweise ein Grund, warum du hier bist«, sagte ich. »Ich brauche dich, um meine Familie zu trainieren und sie in Krieger zu verwandeln. Und um einen Krieg zu führen, der unmöglich zu gewinnen ist und gegen den mächtigsten Feind geht, den du jemals gesehen hast.«
»Ich habe schon Armeen aus schlechterem Material gemacht«, sagte Giles. »Ich kann aus dem unbeschriebensten Blatt noch einen Kämpfer machen. Ich bin ein Todesjäger. Wir gewinnen Kriege. Dafür sind wir gemacht. Wie viel Zeit habe ich?«
»Gute Frage«, erwiderte ich. Ich sah den Seneschall an. »Klartext, Cyril. Ich muss genau wissen, was in meiner Abwesenheit passiert ist. Fürs Erste nur die Höhepunkte, den Rest schnapp ich dann schon im Laufe der Dinge auf.«
Der Seneschall nickte langsam. »Willkommen zurück, Edwin. Der Familie fehlte deine … Entschlossenheit. Du musst verstehen, dass Harry die Unterstützung der Matriarchin hatte. Ich hatte keine Wahl.«
»Sag mir einfach, was passiert ist«, sagte ich. »Wir können die Schuld später verteilen. Du kannst damit anfangen, wie alles so schrecklich schiefgehen konnte. Als ich hier wegging, waren wir am Gewinnen. Irgendwie.«
»Das Manifeste Schicksal hatte ein paar Leute auf der Nazca-Ebene«, sagte der Seneschall. »Lange bevor du mit deinem Team da ankamst. Truman wollte seine neuen Verbündeten im Auge behalten. Aber jeder, den er dorthin schickte, endete entweder als Besessener oder Infizierter der Abscheulichen. Sie kamen zu Truman zurück, um das Gift, dass sie infiziert hatte, zu verbreiten. Sie haben seine Organisation infiltriert und sind in seine neue Basis eingedrungen. Dort haben Sie weitere angesteckt. Sie sind seine engsten Tutoren geworden und haben ihm Gift in die Ohren geträufelt. Sie haben Truman überzeugt, neue Nester zu errichten und das Bauen neuer Türme zu unterstützen.
Von den Ressourcen des Manifesten Schicksals gespeist und unter dem Schutz von Truman selbst haben die Abscheulichen ihren Einfluss über die ganze Welt ausgebreitet, haben ihre infizierten Agenten in Organisationen und Regierungen in aller Welt eingeschleust. Angeblich haben sie für das Manifeste Schicksal gesprochen und es als eine Alternative zur Drood-Familie angepriesen. Natürlich sind sie schnell zugelassen worden, haben sich schnell in führende Positionen hinaufgearbeitet, sofort überall Chaos und Unentschlossenheit verbreitet und die Menschheit von innen gespalten. Es gibt jetzt überall Nester, in jedem Land. Oft errichten sie sie im Inneren von Ghoulstädten, um zu verstecken, was sie bauen. Sobald sie eine bestimmte Gesamtzahl erreicht haben, die aber nur sie kennen, wird die große Beschwörung beginnen und die Eindringlinge werden durchkommen.«
»Moment mal«, sagte ich. »Sie haben nicht Truman selbst infiziert? Warum nicht? Dann hätten sie doch seine ganze Organisation kontrollieren können.«
»Sieht so aus, als könnten sie das nicht«, meinte der Seneschall. »Nach all den Operationen, die er seinem Gehirn zugemutet hat, scheint es, als sei er immun gegen ihren Keim.«
»Vielleicht können wir das benutzen. Wenn wir ihn erreichen könnten, sodass er die Wahrheit erkennt - vielleicht könnten wir von ihm sogar lernen, wie man jeden anderen immun macht.«
»Vielleicht«, sagte der Seneschall freundlich. »Wenn ich dann fortfahren dürfte …«
»Oh ja, sprich einfach weiter, Cyril. Lass dich nicht von mir unterbrechen.«
»Wir wissen, dass die, die die Abscheulichen infizieren, selbst zu Abscheulichen werden«, sagte der Seneschall. »Sie verhalten sich wie Insekten; ein Bienenstock, in dem jeder weiß, was alle wissen. Die Nester kommunizieren untereinander, von einer Ghoulstadt zur anderen, in einer Art, die wir weder abfangen geschweige denn verstehen können. Wir erobern und zerstören jedes Nest, das wir lokalisieren können und brennen ihre Städte ab, aber sie sind besser im Verstecken als wir im Finden. Wir gewinnen die Schlachten, aber verlieren den Krieg.«
»Tut mir leid, euch zu unterbrechen«, sagte Seltsam. »Aber der Lageraum hat gerade eine wichtige Meldung empfangen. Callan ist in der Leitung. Er sagt, er hat endlich Trumans neue Operationsbasis lokalisiert. Soll ich ihn durchstellen?«
»Verdammt nochmal, ja!«, sagte ich. »Das ist die erste gute Nachricht, die ich kriege - Callan! Hier ist Edwin Drood, ich bin wieder da. Was hast du gefunden?«
»Na das wird ja auch verflucht noch mal Zeit«, sagte Callan, und seine unverwechselbare Stimme drang aus Seltsams dunkelrotem Leuchten. »Da hattest du dir ja mal 'ne richtig miese Zeit für einen Urlaub ausgesucht. Hast du mir wenigstens ein Geschenk mitgebracht? Niemand bringt mir je ein Geschenk mit. Schau mal, ich würde gern mit dir quatschen, aber ich weiß nicht, wie lange ich den Kontakt aufrechterhalten kann. Trumans Basis strotzt nur so von Sicherheitskräften und einige davon sind definitiv keine Menschen. Du würdest nicht glauben, was für Sicherheitsmaßnahmen er hier getroffen hat.«
»Verstanden«, sagte ich. »Wo ist er?«
»Das wirst du nicht glauben. Ich hab's im Blick und kann's nicht glauben. Um genau zu sein, befinde ich mich gerade außerhalb von Stonehenge und versuche fieberhaft, etwas zu wahren, was man einen sicheren Abstand zum äußeren Steinring nennen kann. Truman hat seine neue Basis in den Bunkern tief unter den Megalithen aufgeschlagen. Wieder einmal hat er sich eine uralte, eingemottete Regierungseinrichtung zunutze gemacht; aus dem Zweiten Weltkrieg, glaube ich. Die Bunker waren als letzte Zuflucht gedacht, in die die Regierung fliehen sollte, falls die Nazis eingefallen wären und sie aus London vertrieben hätten.«
»Moment«, sagte ich. »Ich dachte, solange die Seele Albions sicher in Stonehenge sei, könne keiner England erobern.«
»Vielleicht hat die Regierung nicht so ganz darauf vertraut«, meinte Callan. »Bist du bereit, die wirklich schlechten Nachrichten zu hören? Truman hat die Seele. Er hat sie unter dem Hauptopferstein ausgegraben und sie in seinem Privatbüro verschlossen.«
»Callan«, sagte ich vorsichtig. »Wie sicher ist diese Information?«
»Ich bin selbst hingegangen und habe nachgesehen, und ich bin hier, um dir jetzt zu sagen, dass ich das nicht wieder tun werde. Hinter all die Sicherheitslinien zu kommen und die schwer bewaffneten Wachen zu überwinden hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet und hat mich von dem leichten, aber doch vorhandenen Anflug von Verstopfung geheilt, den ich hatte. Wenn ich noch stärker gezittert hätte, dann hättest du Cocktails in mir mixen können. Warte nur ab, ob ich mich wirklich jemals wieder als freiwilliger Frontagent melde.«
»Wie konnte Truman nur an die Seele kommen?«, fragte ich. »Die Familie hat seit Jahrhunderten immer neue Sicherheitsvorkehrungen dafür getroffen.«
»Ich weiß«, sagte Callan. »Es gibt nur eine Antwort, und die ist echt nicht schön. Jemand in der Familie muss ihm die notwendigen Worte gegeben haben, die die Zauber außer Kraft gesetzt haben. Und dieser Jemand muss ziemlich weit oben stehen. Ein Verräter in der Familie!«
»Unmöglich!«, sagte der Seneschall. »Das ist undenkbar!«
»Nicht nach dem Null-Toleranz-Debakel«, sagte ich. »Sie waren bereit, die Familie zu zerstören, nur um ihr eigenes Image aufrechtzuerhalten.«
»Genau wie du«, sagte Harry.
»Ach, halt die Klappe, Harry«, sagte ich. »Lass die Erwachsenen reden. Empfehlungen, Callan?«
»Stell eine schlagkräftige Kampfgruppe zusammen, bring sie sofort her und ich werde Truman mit ihnen da treffen, wo es wehtut. Jetzt sofort, wo wir noch das Überraschungselement nutzen können.«
»Nein!«, sagte ich schnell. »Ich kenne deine Vorstellung von Taktik, Callan; nach vorn stürmen und auf Gott vertrauen. Halt deine Position, beobachte weiter und sag Bescheid, wenn es etwas Neues gibt. Ich werde einen Angriffsplan ausarbeiten und mich dann wieder melden. Bis dahin bleibst du mit uns in Verbindung. Das ist ein Befehl.«
»Du kannst einen echt sauer machen, weißt du das?«
»Seltsam, unterbrich die Verbindung und dann rede mit mir.«
»Ja, Eddie. Callan spricht immer noch mit dem Lageraum. Er ist gar nicht glücklich.«
»Ich würde ihn nicht wiedererkennen, wenn er das wäre«, sagte ich. »Erzähl mir was über die Seele Albions, Seltsam.«
»Ich weiß nur, was die Familie weiß, Eddie. Nach euren Aufzeichnungen fiel vor Tausenden von Jahren ein andersdimensionaler Kristall von den Sternen herab auf die Erde. Vor sehr langer Zeit - so lange, dass die Geschichte schon zur Legende wurde - hat jemand mit der Seele ein Wirken durchgeführt und nutzte seine Macht, um sicherzustellen, dass England nie erobert würde … Solange die Seele an ihrer Stelle unter Stonehenge bliebe.«
»Könnten wir die Seele nicht benutzen, um die Eindringlinge zu stoppen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Seltsam. »Die vollen Fähigkeiten des Kristalls wurden nie getestet. Es könnte England schützen, wenn er rechtzeitig wieder zurückgelegt würde.«
»Okay«, sagte ich. »Was ist mit dir, Seltsam? Könntest du sie aufhalten? Es gibt ein paar Hinweise in der alten Bibliothek, dass das Herz eingegriffen hat, um sie zu stoppen, damals, zu den Zeiten der Römer.«
»Nein. Das musst du verstehen, Eddie, es ist so wenig von mir hier, relativ gesehen. Selbst mit all der seltsamen Materie, die ich schon hergeholt habe, um eure Rüstungen zu machen. Wenn ich wirklich die Vielwinkligen aufhalten wollte, müsste ich mich hier ganz manifestieren und das wäre genauso katastrophal, als kämen die Eindringlinge. Seltsame Materie gehört nicht hierher, sie stört das natürliche Gleichgewicht. Du hast ja keine Ahnung, wie weit ich hier von dem entfernt bin, was du für Leben hältst.«
»Wie lange glaubst du, dauert es noch, bis die Abscheulichen so weit sind, die Eindringlinge zu rufen?«, fragte Molly, nur um zu zeigen, dass niemand sie aus der Diskussion heraushalten konnte.
»Drei, vielleicht vier Tage«, sagte Seltsam. »Ich kann den Druck fühlen, den die fertigen Türme auf die natürlichen Barrieren zwischen den Dimensionen ausüben. Ich kann die Hungrigen Götter fühlen, sie versammeln sich um dieses kleine Universum herum und machen ihre schrecklichen Pläne.«
»Ich fange an, mir zu wünschen, ich hätte dich nie gefragt«, sagte ich. Ich sah Giles an. »Wie ist es, Oberster Krieger? Kannst du eine Armee in drei, vier Tagen bilden?«
»Normalerweise nicht«, sagte Giles. »Aber das ist ganz eindeutig weder eine normale Familie, noch eine normale Welt. Ich mag sie. Sie ist so extrem. Wenn der Rest auch nur ansatzweise so ist wie ihr, dann kann ich in den nächsten paar Tagen etwas durchaus Interessantes schaffen.«
»Eigentlich habt ihr nicht mehr so lange«, sagte Sebastian.
Wir alle wandten uns um. Sebastian kauerte nicht mehr in seiner Ecke. Er stand allein und aufrecht vor uns, lächelte uns an und da war etwas in seinem Lächeln und seinen Augen, bei dem ich eine kalte Hand sich um mein Herz schließen fühlte. Er sah nicht mehr wie Sebastian aus.
»Seb?«, fragte Freddie, der immer noch in der Ecke saß. »Was machst du da, Schätzchen? Jetzt ist nicht gerade die richtige Gelegenheit, um auf sich aufmerksam zu machen. Das sieht dir wirklich nicht ähnlich.«
»Du kennst mich nicht«, erwiderte Sebastian. »Keiner von euch kennt mich wirklich. Aber auf der anderen Seite war Sebastian am einfachsten zu spielen. Unglücklicherweise ist seine Zeit jetzt vorbei. Genau wie eure.«
»Mein Gott«, sagte Harry. »Er ist infiziert. Er ist ein Abscheulicher. Wie konnten wir das übersehen? Er ist der Verräter in der Familie!«
»Nicht der Einzige«, sagte Sebastian mit seinem immer noch unmenschlichen Lächeln. »Es tut mir leid, aber ihr wart alle sehr naiv. Und jetzt ist es für euch alle an der Zeit zu sterben.«
Er schauderte und schüttelte sich, während sein ganzer Körper konvulsivisch zuckte und in plötzlichen Schüben zu wachsen schien. Er ragte schließlich über zweieinhalb Meter hoch auf, mit breiten Schultern und einem mächtigen Brustkorb, und sein Torso war mit dicken Muskelsträngen bepackt. Seine unnatürlich rote Haut schien bis zum Bersten gespannt. Zwei weitere Arme brachen aus seiner Seite und alle vier Hände wuchsen zu stark gekrümmten Klauen. Sein Gesicht war breit und monströs, ohne eine Spur von Menschlichkeit.
»Die Hungrigen Götter verurteilen dich zum Tode, Eddie Drood!«, sagte er in einer fürchterlich normalen Stimme.
»Erschießt ihn«, sagte ich.
Harry, der Seneschall und ich rüsteten sofort hoch und warfen uns dem entgegen, was einst Sebastian gewesen war. Wir droschen mit unseren goldenen Fäusten auf ihn ein, aber er stand nur da und nahm das hin. Harry und ich ließen lange Klingen aus unseren Händen wachsen und hieben damit auf ihn ein, aber die Schnitte heilten so schnell wir sie schlugen. Das Ding, das einmal Sebastian gewesen war, lachte uns aus und schlug nur einmal mit seinen vier schweren Fäusten auf uns ein, und es war selbst mit der Geschwindigkeit unserer Rüstungen schwierig, ihnen auszuweichen. Es war der Torques, wissen Sie. Sebastian hatte seinen immer noch. Er konnte die Rüstung nicht über seinem monströsen Körper tragen, aber sie beschützte ihn dennoch. Warum hatte sie ihn dann aber nicht vor einer Infektion der Abscheulichen bewahrt? Warum hatte sie stattdessen die Infektion vor dem Rest von uns verborgen?
»Tötet ihn nicht!«, schrie ich zu anderen hinüber. »Wir brauchen ihn lebend, damit er Fragen beantworten kann!«
»Ihn nicht töten?«, fragte Harry. »Ich kann den Bastard nicht einmal verletzen.«
Giles trat aus dem Nichts vor und schwang sein Schwert. Die lange Klinge kam in einem breiten Bogen angerauscht und rammte sich in Sebastians dicken, muskulösen Nacken. Die Stahlklinge prallte wirkungslos ab und ließ den Nacken unverletzt. Der Schwung riss Giles fast das Schwert aus der Hand. Er zuckte mit den Achseln, steckte das Schwert in seine Scheide und zog seine Energiewaffe. Er schoss Sebastian aus nächster Nähe in den Kopf. Es gab ein grelles Aufblitzen der abgefeuerten Energien und als wir wieder etwas erkennen konnten, war die Hälfte von Sebastians Kopf weggeplatzt. Er taumelte zur Seite und fiel beinahe. Stücke von verkohltem Hirn fielen aus seinem Schädel. Der Seneschall, Harry und ich schnappten ihn uns und rangen ihn nieder. Wir verwendeten alle Kraft, die die Rüstungen uns gaben, um ihn fest und auf dem Boden zu halten. Er bäumte sich immer noch auf und zuckte unter uns, obwohl sein halber Kopf weg war. Molly und Roger traten vor und tauchten ihn in beruhigende Zaubersprüche und lähmende Beschwörungen. Sebastian entspannte sich mit einem tiefen Seufzer und lag still.
Und nur ich sah, was als Nächstes geschah.
Molly, die sich auf ihre Zaubersprüche konzentriert hatte, kam ihm zu nahe, und eine Klauenhand schoss vor. Sie streifte Mollys Seite nur. Es schnitt oder verletzte sie nicht, aber durch meine goldene Maske sah ich, wie etwas zwischen ihnen ausgetauscht wurde. Etwas kam aus Sebastian heraus und drang in Molly ein, und es dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Molly schrie auf, eher vor Schreck als vor Schmerz und fiel, sich die Seite haltend, hintenüber. Ich schrie ebenfalls, weil ich wusste, was gerade passiert war, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte. Ich lehnte mich vornüber und schlug Sebastian direkt in sein offenliegendes Gehirn. Blut und verkohltes Hirn flogen aus seinem Kopf und er heulte fürchterlich auf vor Schmerz. Ich holte wieder aus, um erneut mit meiner goldenen Faust zuzuschlagen, aber der Seneschall packte meinen Arm mit seiner gerüsteten Hand.
»Langsam, Junge«, sagte er. »Ich versteh's ja, aber du wolltest ihn lebend, erinnerst du dich?«
Ich nickte kurz. Ich traute meiner Stimme nicht. Sebastian war jetzt still und der Seneschall und Harry hielten ihn ohne Mühe fest. Er war wieder zu normaler menschlicher Größe zusammengeschrumpft und sein verletzter Kopf heilte schon wieder langsam. Giles stand mit seiner Knarre in der Hand da und war bereit, jederzeit wieder zu schießen, wenn nötig. Ich schrie zu Seltsam hinüber, einige Sicherheitsleute herzuholen und dann ging ich nach Molly sehen. Sie stand etwas abseits und hatte ihre Arme um ihren Körper geschlungen, als versuche sie, sich selbst oder etwas in sich zusammen zu halten. Ich sprach sie an, aber sie schien mich nicht zu hören.
Sebastian lachte und ich wandte mich zu ihm. Er kämpfte nicht, aber er hatte sein zerstörtes Gesicht zu mir gedreht.
»Mein Torques ist echt, Eddie«, sagte er in einer hohen, höhnischen Stimme. »Er konnte Sebastian nicht beschützen und deiner wird dich nicht beschützen. Deine Leute auch nicht. Ich habe unerkannt unter euch gelebt, und keiner hat irgendetwas vor mir versteckt. Oh, was ich für Geheimnisse kenne! Und welche ich schon ausgeplaudert habe! Die Droods, die wegen mir in den Tod gingen!« Harry schlug ihn ins Gesicht und brach mit einem trockenen Knacken seine Nase. Sebastian hielt inne, um Blut zu spucken, aber er grinste mich immer noch an. »Die Hungrigen Götter kommen, und es gibt nichts, was sie noch aufhalten kann!«
»Bringt ihn hier weg«, sagte ich. »Sperrt ihn in einen Käfig, der sicher ist und holt die Wahrheit aus ihm heraus. Nehmt ihn auseinander, bis auf die genetische Ebene, wenn es sein muss, aber findet raus, wie er tickt. Ich will alles wissen, was es über ihn zu wissen gibt.«
»Genehmigst du auch extreme Maßnahmen?«, fragte der Seneschall. »Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber … das sieht dir nicht ähnlich, Eddie.«
»Tu's einfach«, sagte ich.
Sebastian hatte Molly infiziert. Etwas Außerirdisches und Abscheuliches wuchs jetzt in ihr, fraß an ihrem Verstand und ihrer Seele, um auch sie in eine Abscheuliche zu verwandeln. Ich wusste es, aber ich konnte es niemandem sagen, ich wagte es nicht. Sie würden sie auch in einen Käfig sperren und sie auseinandernehmen und das konnte ich nicht zulassen. Nicht Molly. Also sagte ich es niemandem. Interessanterweise tat Sebastian das auch nicht. Vielleicht dachte er auch, dass niemand es gesehen hätte.
Die zusätzlichen Sicherheitsleute kamen herbeigeeilt, bereits in Rüstung, und der Seneschall und Harry übergaben ihnen Sebastian. Er wehrte sich nicht, aber als sie ihn davonzerrten, schrie er zurück zu uns, seine Stimme war voller schrecklichem Gelächter.
»Wenn wir in unserer ganzen Pracht kommen, werdet ihr uns lieben! Wir werden euch dazu bringen, uns zu lieben! Und uns anzubeten und für uns zu arbeiten, obwohl wir euch und eure ganze Welt verschlingen werden! Ihr werdet uns lieben und anhimmeln und willig in unser Schlachthaus gehen! Alles, was lebt, wird uns gehören!«
»Wer hat dich infiziert?«, fragte der Seneschall. »Du weißt, dass wir es letztendlich aus dir herausholen werden. War es jemand aus der Familie?«
Aber Sebastian lachte und lachte nur, bis sich die Türen mit einem Rumms hinter ihm schlossen.
Für eine Weile sagte keiner von uns im Sanktum etwas. Wir waren alle geschockt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Freddie kam aus seiner Ecke, mit blassem und abgespanntem Gesicht und sah uns an, als hätten wir Antworten für ihn.
»Er war mein Freund«, sagte er. »Wir haben zusammengearbeitet. Wie konnte er nur infiziert werden, ohne dass ich es gesehen habe? Wie konnte er Sebastian so gut spielen, dass ich es nicht bemerken konnte?«
»Die Berührung der Abscheulichen korrumpiert«, sagte der Seneschall. »Ein Teil von ihm war immer noch Sebastian und wollte mit uns zusammenarbeiten. Aber gegen Ende war Sebastian vielleicht nur noch der Mantel, den die Drohne an- und ausziehen konnte.«
Ich sah Molly an. Ich sagte immer noch nichts.
»Wir müssen genau wissen, wann er infiziert wurde«, sagte Harry. »Damit wir genau wissen, seit wann er hier für den Feind spioniert hat. Wie viel er ihnen gesagt hat. Wie viele unserer Pläne er verraten hat.«
Ich warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich hatte den Waffenmeister gebeten, einen Test auszuarbeiten, um herauszufinden, wer von uns infiziert wurde!«
»Das hast du«, sagte Harry. »Und der Waffenmeister hat einen Test entwickelt. Wir alle haben uns ihm unterzogen und bestanden. Also wurde Sebastian infiziert, nachdem er getestet wurde, oder …«
»Oder der Test ist verdammt nutzlos«, sagte ich. »Der Waffenmeister hat im Laufe der Jahre so viele Wunder für uns entwickelt, dass wir dazu tendieren zu vergessen, dass er von Zeit zu Zeit versagt. Sebastian deutete an, dass noch mehr in der Familie infiziert sind. Vielleicht sogar hier im Herrenhaus. Vielleicht sogar der Original-Verräter, der damals auch dafür gesorgt hat, dass die Abscheulichen sich überhaupt erst auf unserer Welt etablieren konnten. Und er sagte, dass sein Torques für ihn arbeitet, und ihn beschützt und nach der Infektion vor Entdeckung schützt. Seltsam?«
»Guck mich nicht an«, sagte Seltsam. »Es hätte nicht möglich sein dürfen. Ich habe eure neuen Torques und Rüstungen nach dem genauen Vorbild und den Fähigkeiten der alten entworfen, die euch das Herz zur Verfügung gestellt hat. Ich kann nur vermuten, dass er schon infiziert war, bevor ich die neuen Torques ausgeteilt habe und dass seiner von der Infektion verändert wurde. Vergesst nicht, die Abscheulichen sind in unserer Realität nur Vorboten der Hungrigen Götter selbst. Und sie sind riesig und mächtig und schrecklich genug, um sogar mir Angst zu machen.«
»Wir müssen wieder jeden von uns testen«, sagte ich. »Ich werde mit dem Waffenmeister sprechen und sehen, ob wir den Test etwas aufpeppen können.«
»Jeden testen?«, fragte Harry. »Selbst dich?«
»Jeden«, antwortete ich. Ich sah Molly nicht an. »Wir müssen wissen, wer wer ist.«
»Sebastian sagte, dass es viele seiner Art unter uns gibt«, sagte Freddie. »Sie verstecken sich hinter vertrauten Gesichtern und beobachten uns …«
»Der Teufel lügt immer«, sagte ich.
»Außer wenn einen die Wahrheit mehr treffen kann«, sagte Molly.
»Bist du in Ordnung, Molly?«, fragte Seltsam. »Du scheinst irgendwie …«
»Sie ist in Ordnung«, sagte ich.
»Ja«, bestätigte Molly. »Ich bin in Ordnung.«
»Also«, sagte ich. »Truman hat die Seele Albions. Dafür muss er aktiv mit jemandem aus der Familie zusammengearbeitet haben. Seneschall, irgendwelche Ideen?«
»Es gibt immer noch Mitglieder der Null-Toleranz-Fraktion, die offen innerhalb der Familie agieren«, sagte der Seneschall langsam. »Einige könnten auch immer noch Verbindungen zu Truman unterhalten. Innerhalb der Fraktion gibt es solche, die mit seiner Hilfe wieder an die Macht und an eine Position innerhalb der Familie kommen wollen.«
»Einschließlich der Matriarchin?«, fragte ich und er nickte widerwillig.
»Und auf welcher Seite stehst du in diesem Fall, Seneschall?«, fragte Harry.
Der richtete sich zu voller Größe auf, sein pockennarbiges und verunstaltetes Gesicht war kalt und verschlossen. »Ich beschütze die Familie, gegen alles, das sie bedroht.«
»Die Matriarchin«, sagte ich nachdenklich. »Liebe Großmutter Martha. Sie hätte Truman mit den notwendigen Worten versehen können, um die Schutzzauber um die Seele zu öffnen.«
»Das hätte sie tun können«, erwiderte der Seneschall. »Aber ich habe keine Hinweise darauf, dass das passiert ist oder ich hätte etwas unternommen. Meiner Meinung nach sieht Truman die Seele als sein As im Ärmel, das ihn vor den Eindringlingen beschützt, wenn sie sich gegen ihn wenden.«
»Ich kriege wieder eine Meldung von Callan«, unterbrach uns Seltsam. »Ich glaube wirklich, das musst du hören, Eddie.«
»Okay, stell ihn durch«, antwortete ich. »Callan, hoffentlich hast du was Gutes für uns.«
»Das kommt drauf an, was du gut nennst«, sagte Callan. »Truman hat herausgefunden, dass wir hier sind. Und anstatt uns sofort umzubringen, will er, dass ich dir eine Nachricht überbringe. Er ist bereit, die Seele Albions zu zerstören, es sei denn, die Drood-Familie begibt sich unter sein Kommando. Besonders will er Zugang und Kontrolle zu den verbotenen Waffen, die unter den Armageddon-Kodex fallen. Scheinbar glaubt er, er kann sie benutzen, um die Eindringlinge aus unserer Realität fernzuhalten, nachdem er sie dazu benutzt hat, die Welt zu erobern. Der Idiot! Ich hätte jetzt wirklich gern die Erlaubnis, mich zurückzuziehen, bitte. Ich mag das Gefühl nicht, dass er genau weiß, wo wir sind. Ich kann förmlich spüren, wie sich die Geier versammeln.«
»Du bleibst, wo du bist«, sagte ich. »Sprich mit Truman, versprich ihm alles, halt ihn hin. Solange er glaubt, dass es immer noch eine Chance gibt, wird er nichts unternehmen. Ich werde mich wieder bei dir melden, sobald wir eine Entscheidung getroffen haben. Seltsam, Verbindung kappen.«
»Er spricht immer noch mit dem Lageraum«, sagte Seltsam. »Auch wenn ›brüllen‹ der zutreffendere Ausdruck wäre. Du liebe Zeit, was für eine Sprache …«
»Alles der Reihe nach«, sagte ich. »Wir müssen rausfinden, wer die Verräter in der Familie sind.«
»Wir haben keine Zeit für eine Hexenjagd«, meinte Harry. »Nicht, wenn es so viele wichtige Entscheidungen zu treffen gilt.«
»Klar, dass du sagen würdest, Harry«, sagte ich. »Ich denke, ich fange damit an, einen netten kleinen Schwatz mit der Matriarchin zu halten. Ich denke, sie wird mit mir reden, wenn ich ihr erst von Sebastian erzähle.«
»Du kannst nicht zu ihr«, sagte Harry. »Sie ist krank. Sie empfängt niemanden.«
»Sie wird mich empfangen«, antwortete ich. »Seltsam, zeig mir, was die Familie während meiner unbeabsichtigten Abwesenheit unternommen hat, um gegen die Abscheulichen vorzugehen. Fürs Erste nur die Höhepunkte. Den Rest nehme ich später nebenher mit. Zeig mir nur, was ich wissen muss.«
Visionen erschienen in Seltsams karmesinrotem Leuchten. Wechselnde Szenen von golden gerüsteten Familienmitgliedern in Schlachten mit Drohnen der Abscheulichen in den albtraumartigen Straßen der Ghoulstädte. Ich sah Dutzende von gerüsteten Gestalten gegen Hunderte von Drohnen vorgehen und jeden töten, der nicht zur Familie gehörte. Die Drohnen waren oft schrecklich missgestaltet, Monster, die nur entfernte Ähnlichkeit mit den Menschen hatten, die sie einmal gewesen waren. Die Droods schlugen sie mit goldenen Fäusten nieder und rissen die Drohnen Glied für Glied auseinander. Ein schneller Tod war die einzige Gnade, die sie zu geben hatten. Sie stürmten durch die engen Straßen, ihre goldene Rüstung schimmerte hell in dem grellen, schmerzhaften Licht der Ghoulstädte. Sie zerstörten Gebäude, rissen sie nieder und schleiften sie mit brutaler Gewalt, um sicherzugehen, dass sie nichts, was sich noch darin verstecken mochte, übersahen. Zuletzt steckten sie die Ruinen in Brand.
Ganze Städte gingen in Flammen auf. Es wird ja erzählt, dass Feuer reinigt.
Manchmal waren die Drohnen bereits tot und verfielen, und wurden nur von den unnatürlichen Energien in ihrem Innern aufrechterhalten. Manchmal sahen sie auch aus wie du und ich. Sie kamen auf die Straßen, bettelten und weinten und wiesen laut auf ihre Unschuld hin. Aber sie waren schon so verändert, dass sie vergessen hatten, wie normale Menschen zu klingen und sich so zu benehmen. Besonders die Kinder. Die gerüsteten Droods töteten sie alle. Sie mussten Abscheuliche sein, sonst wären sie nicht in einer Ghoulstadt gewesen.
Manchmal ließen Familienmitglieder die Rüstung fallen, um sich zu übergeben oder zu weinen oder nur auf dem Bürgersteig zu hocken und sich wie zusammengeschrumpft vor- und zurückzuwiegen.
Wir haben uns nie als Killer gesehen. Das ist nicht die Art der Droods. Wir haben es immer vorgezogen, hinter den Kulissen zu operieren, mit kleinen Änderungen hier und da. Um zu verhindern, dass die ganze Familie so etwas wie das hier tun musste. Geheime Kriege sind eine Sache, Massenmord eine andere. Aber wir waren Droods, und wir waren immer in der Lage gewesen, die schwierigen, notwendigen Dinge zu tun. Um die Menschheit zu beschützen.
Ich konnte nur hoffen, dass wir keinen Geschmack daran fanden.
Ich sah meine Familie die Türme in den Ghoulstädten vernichten; große, unnatürliche Strukturen, teilweise technischer Natur und teilweise organisch. Manchmal schrien die Türme, wenn sie fielen. Sie fielen und fielen und doch gab es irgendwie immer mehr von ihnen …
Die Visionen endeten. Ich stand schweigend da und dachte nach. Der Seneschall räusperte sich bedeutsam.
»Wir sind weiterhin gehandicapt, weil wir all das vor der breiten Öffentlichkeit geheimhalten wollen. Wir können nicht erlauben, dass sie wissen, was geschieht. Wir halten die Regierungen und die Politiker bis zu einem gewissen Grad auf dem Laufenden und sie kooperieren. Mehr oder weniger. Weltweite Panik und Chaos sind nicht gerade in unserem Interesse.«
»Jetzt hast du gesehen, wie schlimm es steht«, sagte Harry. »Die Chancen, die wir haben. Vielleicht hat Truman recht. Vielleicht sollten wir den Armageddon-Kodex öffnen.«
»Nein«, sagte ich. »Noch nicht.«
»Sag mir, dass du einen wirklich guten Plan hast«, meinte der Seneschall.
»Naja«, sagte ich. »Ich habe zumindest einen Plan.«