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Die Berliner Kindheit ist ein Erinnerungsbuch, es ist der Versuch, “der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt” [Vorwort, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 385]. Mit diesen Worten kündigt Benjamin im Vorwort zur Pariser Fassung der Berliner Kindheit seine persönliche Geschichte eines Hineinwachsens in eine Kultur an, deren historische Unwiederbringlichkeit ihm schmerzlich bewusst war. [180]

Bei Benjamins literarischer Rückkehr in seine kindliche Vergangenheit verlieren die Berliner Interieurs, Häuser, Straßen und Orte das vertraute Gesicht. Daher werden in diesem Erinnerungsbuch auch so wenig architektonische Sehenswürdigkeiten, so wenig faktische kulturelle und soziale Gegebenheiten des Berlins um die Jahrhundertwende sichtbar, wie sie wohl für den Erwachsenen bedeutsam wären. Schon die Titel der einzelnen Kapitel – “Der Strumpf” findet sich in gleichberechtigtem Beieinander mit der “Siegessäule”, “Der Nähkasten” mit dem “Kaiserpanorama”, “Das Telefon” mit dem “Tiergarten” – verweisen auf das, was für das Kind die wirklichen Sehenswürdigkeiten sind.

Der erinnernde Benjamin besieht die Welt, wie es bei Szondi in der schönen Formulierung heißt, “mit dem zweifach fremden Blick: mit dem Blick des Kindes, das wir nicht mehr sind, mit dem Blick des Kindes, dem die Stadt noch nicht vertraut war” [Szondi 1978b, 296]. Um diese Formulierung positiv zu wenden: Benjamin erinnert nicht einfach die Stadt seiner Kindheit, sondern die Stadt als eine ganze Welt, so wie sie sich in ihren Wörtern, einzelnen Dingen, Wohnungen und Straßen, mit ihren gelegentlichen Sommerreisen und alljährlichen Sommerwohnungen dem Kind entdeckt.

Gegenstand der Schilderung ist weniger das Was der Entdeckung als vielmehr der Vorgang des Entdeckens selbst. Zu dem zentralen Ereignis der Berliner Kindheit wird dementsprechend, dass das Kind alle erdenklichen Türen öffnet, jederlei Art von Schwellen überschreitet, die verschiedensten Räume betritt – oder doch zumindest in deren Inneres hineinspäht, hineinlauscht oder hineintastet. Stets steht hinter diesen einzelnen realen Gesten eine allgemeine psychologische Geste, nämlich die Erkenntnis als Entdeckung, Enthüllung, Entschleierung, Enträtselung, Entzauberung etc. Dabei ist es ganz gleich,

– ob das Kind den Riegel der Ofentüre beiseite schiebt [Wintermorgen, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 397—398]; [181]

– ob es den Fingerhut “gegens Licht [hielt]”, so dass dieser “am Ende seiner finstern Höhlung [glühte], in der unser Zeigefinger so gut Bescheid wußte” [Der Nähkasten, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 425];

– ob es in die aus Kissen und Bettdecken gebildete Höhle des Bettes hineinkriecht [Das Fieber, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 402—406];

– ob sich die durch zwei Schwellen “doppelt verwahrte Erkerwohnung” an der Steglitzer Straße, Ecke Genthiner Straße, die “Kostbares in sich zu bergen hatte”, vor dem Kind “auftut” [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 400];

– ob in der großmütterlichen Wohnung im Blumeshof 12 eine Reihe von Räumen “sich eröffneten”, nämlich ein Spindenzimmer, ein anderes Hinterzimmer, ein drittes Hinterzimmer und als “wichtigster von diesen abgelegenen Räumen” die Loggia, die ihrerseits “den Blick auf fremde Höfe mit Portiers, Kindern und Leierkastenmännern freigab” [Blumeshof 12, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 412];

– ob das Kind auf der Suche nach Ostereiern mit einem Anspruch von Wissenschaftlichkeit “die düstere Elternwohnung als ihr Ingenieur [entzauberte]” [Verstecke, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 418];

– ob es sich – bereits jenseits der Geschlossenheit der bürgerlichen Interieurs – im “Innern” des Gartenpavillons in die Farben vertieft, ähnlich wie beim Tuschen, “wo die Dinge mir ihren Schoß auftaten, sobald ich sie in einer feuchten Wolke überkam” [Die Farben, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 424];

– ob aus der weihnachtlich geschmückten Stadt, “aus ihrem Innern”, mit dem Weihnachtsmarkt zugleich “noch etwas anderes hervor[quoll]: die Armut” [Ein Weihnachtsengel, Berliner Kindheit, GS , VII.1, 420];

– ob sich am Winterabend “ein dunkles, unbekanntes Berlin” vor dem Kind “ausbreitete” [Winterabend, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 414];

– ob das Kind sich im Sommer “die Gegend, die im Schatten der königlichen Bauten lag, zu eigen machte” und mit der Pfauenfeder etwas sucht, “was mir die Insel ganz zu eigen gegeben, sie ausschließlich mir eröffnet hätte” [Pfaueninsel und Glienecke, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 408, 409];

– oder ob es sich in Glienecke “neue Territorien erobert”, indem es die “Scheidung” zwischen unkundigen und kundigen Radfahrern überwindet und in den Rang derer “rückt”, “die die Halle verlassen und im Garten radeln durften” [Pfaueninsel und Glienecke, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 409];

– ob es “ins Innere” des Kaiserpanoramas tritt und hier durch “je ein Fensterpaar in [die] schwach getönte Ferne” der Reisebilder sieht [Kaiserpanorama, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 389, 388];

– ob es beim Lesen in den Knabenbüchern “im Gestöber der Lettern den Geschichten nachzugehen [beginnt], die sich am Fenster mir [im Blick auf das Schneegestöber] entzogen hatten” [Knabenbücher, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 396];

– ob es schließlich “im Hintergrund” des Ladens für Schreibbedarf in der “Krummen Straße” die “anstößigen Schriften” ausfindig macht [Krumme Straße, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 415].

Zu der Reihe der entdeckten und angeeigneten Objekte – der Objekte, denen die Geste der Erkenntnis gilt – gehört etwa der Apfel, der sich nach seiner

“Reise durch das dunkle Land der Ofenhitze” bei dem Kind einfindet, “vertraut und doch verändert wie ein guter Bekannter, der verreist war” [Wintermorgen, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 398];

– dazu gehören die in den “dunklen Schlund” der Betthöhle hineingesprochenen Wörter, die “als Geschichten aus [der Stille] wiederkehrten” [Das Fieber, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 405];

– dazu gehört auch der “große Glaswürfel” im Salon der Erkerwohnung an der Steglitzer Ecke Genthiner, “der ein ganzes lebendiges Bergwerk in sich schloß, worin sich kleine Knappen, Hauer, Steiger mit Karren, Hämmern und Laternen pünktlich im Takte eines Uhrwerks regten” und – dies ist schon nicht mehr der evozierte Blick des Kindes, sondern derjenige des Schreibenden – dem “Kind des reichen Bürgerhauses noch den Blick auf Arbeitsplätze und Maschinen gönnte” [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit , GS, VII.1, 399].

Man könnte die Auflistung fortsetzen. So bietet der Blumeshof 12 dem Kind nicht nur Geborgenheit. [182] Die Wohnung birgt, nachdem das Kind sie auf ausgedehnten Streifzügen “durchwandert” hat, allerlei Entdeckungen.

Der Großmutter auf ihrem Erker guten Tag zu sagen, wo neben ihrem Nähkorb bald Obst und Schokolade vor mir stand, mußte ich durch das riesige Speisezimmer, um dann das Erkerzimmer zu durchwandern. [Blumeshof 12, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 413]

Aber “der erste Weihnachtsfeiertag erst zeigte, wozu denn eigentlich diese Räume geschaffen waren”: für die Bescherung. Und so wie sich das Kind nur schrittweise den Geschenken “im Hintergrunde des großen Zimmers” nähert, so nimmt es diese erst im schrittweisen Rückzug aus der Wohnung in Besitz.

Erst draußen auf der Diele, wo das Mädchen sie uns mit Packpapier umwickelte und ihre Form in Bündeln und Kartons verschwunden war, um uns an ihrer Statt als Bürgschaft ein Gewicht zu hinterlassen, waren wir ganz der neuen Habe sicher. [Blumeshof 12, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 413]

Außer den alltäglichen Süßigkeiten und der weihnachtlichen Bescherung enthält der Blumeshof 12 auch noch “Weltbürgerlichkeit”, und dies macht seine Einzigartigkeit aus. Über die Ansichtskarten, welche die Großmutter aus aller Welt sendet, vermittelt sich die Nähe der Ferne. Denn in all den bereisten Orten “stand die Luft von Blumeshof”, und

die große bequeme Handschrift, die den Fuß der Bilder umspielte, oder sich in ihrem Himmel wölkte, zeigte sie so ganz und gar von meiner Großmutter bewohnt, daß sie zu Kolonien des Blumeshof wurden. Wenn dann ihr Mutterland sich wieder auftat, betrat ich dessen Dielen so voll Scheu, als hätten sie mit ihrer Herrin auf den Wellen des Bosporus getanzt und als verberge sich in den Persern noch der Staub von Samarkand. [Blumeshof 12, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 411]

Die virtuellen Realitäten, die das Kind betrachtend, zuhörend, lesend konstruiert, sie sind vielleicht die faszinierendsten all seiner Entdeckungen – und für das Kind nicht weniger real als die alltäglichen Realitäten. In der Weise, wie die Ansichtskarten der Großmutter die Welt in sich einschließen, wie das Kaiserpanorama Sehnsucht erweckende Reisebilder enthält [Kaiserpanorama, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 388], wie aus dem Gedächtnis der Tante Lehmann nicht nur die vielen “Nester und Gehöfte der Mark, wo [die] Sippe einst verstreut gesessen hatte”, sondern auch die “Verschwägerungen, Wohnsitze, Glücks– und Unglücksfälle all der Schönfließ, Rawitschers, Landsbergs, Lindenheims und Stargards” aufleben [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 399], so bergen auch die “Knabenbücher” die Möglichkeit für den Entwurf einer inneren Welt, einer Welt, die sich im Übrigen nicht nach gängigen geographischen Parametern, sondern nach Parametern eines durcheinander geratenen Alphabets und der Alliteration ordnet:

Die fernen Länder, welche mir in ihnen [den Geschichten] begegneten, spielten vertraulich wie die Flocken [des Schneegestöbers draußen] umeinander. Und weil die Ferne, wenn es schneit, nicht mehr ins Weite, sondern ins Innere führt, so lagen Babylon und Bagdad, Akko und Alaska, Tromsö und Transvaal in meinem Innern. [Knabenbücher, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 396—397]

Dass die Entdeckung der mit allerlei Dingen gefüllten näheren Räume in aller Regel derjenigen der entlegeneren Räume der Stadt, ihrer Umgebung und der gesamten Welt vorausgeht, diese natürliche Ordnung tritt in der Anordnung der einzelnen Miniaturen der Berliner Kindheit außer Kraft.

Dies ist nicht verwunderlich, hat sich doch Benjamin in seinem Vorwort zur letzten Fassung der Berliner Kindheit gegen jegliche Erwartungen des Lesers an eine chronologische Narration verwahrt. [183] Bedeutsamkeit gewinnt für Benjamins Erinnerung statt einer “Kontinuität der Erfahrung” die “Tiefe der Erfahrung” des Kindes, welches die Dinge erkennt und sie buchstäblich entdeckt. Und diese Dinge, die sich vor Benjamin auftaten, als er noch Kind war, erweisen sich für ihn nun, da er das Kind nicht mehr ist, als ein Schlüssel zur Tiefendimension der vergangenen Erfahrung, in der die Zukunft bereits potentiell enthalten ist. Benjamin ergründet seine Kindheitserfahrung, um in den Dingen, die sich dem Kind entdeckten, Vorzeichen der Zukunft zu entdecken. Er unternimmt daher nicht einfach eine Reise in die Vergangenheit – so wie es das traditionelle Genre der Memoiren vorsieht —, sondern zugleich eine Reise in die Gegenwart, als diese noch Zukunft war. [184]

Von der Verwandlung früher Vorzeichen in spätere Zeichen gibt das Kapitel “Der Strumpf” eine besonders schöne Anschauung. [185] Der Text erzählt von der Kommode, gegen deren Widerstände das Kind so lange ankämpft, bis die Kommodentür ihm “entgegen schnappt”. Das Kind “schafft sich bis in ihren hintersten Winkel Bahn”, um von dort ein eingerolltes Strumpfpaar hervorzuholen und sodann in dessen Inneres “die Hand so tief wie möglich zu versenken”:

Es war “Das Mitgebrachte”, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre [der Kommode] Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, begann der zweite Teil des Spieles, der die Enthüllung brachte. Denn nun machte ich mich daran, “Das Mitgebrachte” aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte “Das Mitgebrachte” herausgeholt, aber “Die Tasche”, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da. [Der Strumpf, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 416—417]

Der Text führt vor, dass sich das Geheimnis des Strumpfes nicht mit einem Mal, sondern im Zuge einer serialen Bewegung entdeckt, in einem sich immer weiter verschachtelnden Raum, dessen Inneres sich in das Außen eines weiteren Inneren verwandelt. Das Eindringen in das Innere der Dinge und dessen Bloßlegung, d. h. dessen Entdeckung, verfügen als äußerlich verschiedene Handlungen über eine gemeinsame Sinnpotenz: die Erkenntnis. Das Kind findet im Strumpf, den es auswickelt, diesen selbst und die Lehre der Auswechselbarkeit von Außen und Innen. “Die Tasche”, die “Das Mitgebrachte” enthalten hatte, entpuppt sich als ihr eigener Inhalt. Und diese kindliche Lehre wendet sich in die spätere poetologische Erkenntnis, dass die Form des Kunstwerkes sein Inhalt ist , und dass daher dessen Analyse in statischen Oppositionspaaren problematisch erscheint:

Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen wie die Kinderhand den Strumpf aus “Der Tasche” holte. [Der Strumpf, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 417]

Um nun die Probe aufs Exempel zu machen und Benjamins Lehre der Auswechselbarkeit von Form und Inhalt auf seinen eigenen Text der Berliner Kindheit anzuwenden: Benjamin, der sich seine Berliner Kindheit vergegenwärtigt, trägt (so wie “Die Tasche”, wie die Form) seine Vergangenheit (als “Das Mitgebrachte”, als Inhalt) in sich. Er entdeckt dieses “Mitgebrachte”, diesen Inhalt (seine Vergangenheit) in dem Sinne, dass er, als er noch Kind war, bereits die Gegenwart des Erwachsenen (als “Das Mitgebrachte”, als Inhalt) in sich trug (so wie “Die Tasche”, wie die Form). Anders gesagt: Der Benjaminsche gegenwärtige “Inhalt” erweist sich als die “Form”, die seine vergangene Kindheitserfahrung angenommen hat. Die persönliche Vergangenheit wird so zu einer Fortsetzung der Gegenwart. Das, was Benjamin auf seiner Zeitreise (von der Gegenwart) in die Vergangenheit entdeckt, sind jene Bilder, die potentiell seine späteren Gedanken in sich bargen. Auf seiner Reise (aus der Vergangenheit) in die Gegenwart entdeckt er jene Gedanken, die von Anfang an (wenn auch unsichtbar) in den frühen Bildern geborgen waren. Benjamin sucht durch die Erinnerung nicht seine Berliner Kindheit selbst dingfest zu machen, sondern die Urbilder seiner Gedanken, so wie er diese in den Bildern der Kinderzeit entdeckt. Der erinnernde Benjamin ist jenen “Bildern und Allegorien” auf der Spur, die schon in der Luft seiner Kindheit lagen und “die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens” [Loggien, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 386].

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