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Es dürfte deutlich geworden sein, dass Benjamin mit der Berliner Kindheit ein Buch schreibt, wie man es sich verschiedener von traditionellen Memoiren kaum denken könnte – dort die Chronologie der Ereignisse, hier die Entfaltung des nichtlinearen Denkens. Benjamins Interesse gilt in der Berliner Kindheit vor allem der Welt im Moment ihrer Entdeckung, es gilt jenen Bildern, die auftauchten, als die Welt dem Kind noch unbekannt war und es die ersten Schritte unternahm, um sie zu entdecken. Ein Rückblick auf Benjamins Moskau-Texte legt nahe, dass diese ungewöhnliche und alles andere als triviale Erzählstrategie der Berliner Kindheit auf Benjamins Moskau-Erfahrung zurückgeht, als er, dem die unbekannte Moskauer Welt gegenüberstand, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand. [186]

Bei seiner Ankunft im “asiatischen” [187] Moskau 1926 trifft Benjamin auf eine Stadt, die ihm gänzlich unvertraut ist, und in die er sich allererst einleben muss. Im Bewusstsein seiner unvermeidlichen “europäischen” Befangenheit steuert Benjamin einer vorschnellen Konzeptionalisierung seiner Moskau-Erfahrung entgegen. Ihm geht es nicht um ein (“überlegenes”) konzeptionelles Verständnis, sondern um ein konkret-gegenständliches Verständnis (“dicht unter die Menschen und Dinge gemischt”) der fremden Stadt. Er braucht die Erfahrung der Nähe, die Erfahrung des körperlich-sinnlichen Kontaktes, um zu einem synästhetischen Bild von Moskau zu kommen.

Ein zentrales Verfahren Benjamins ist es dabei, sich “ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung [zu] schicken”. Diese synchrone Bewegung in und mit der Menge erfährt Benjamin nicht nur zu Fuß, wenn er sich ganz dem “Drängen und Sichwinden” der Passanten, deren “Serpentinengang” [“Moskau”, 1., GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 313] überlässt, sondern auch in der Trambahn:

Beförderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung schicken. Auch wie einander technischer Betrieb und primitive Existenzform ganz und gar durchdringen, dies weltgeschichtliche Experiment stellt eine Trambahnfahrt im kleinen an. Die Schaffnerinnen stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen wie Samojedenfrauen auf dem Schlitten. Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei solcher Gelegenheit ein böses Wort vernommen.) Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. Erfährt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil verrammelt. Da man nun hinten einzusteigen hat, aber vorn den Wagen verläßt, so hat man sich durch diese Masse durchzufinden. Meist spielt sich die Beförderung freilich schubweise ab; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz geräumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein Massenphänomen. [“Moskau”, 9, GS, IV.1, 330—331, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 389, 313]

Dank der Synchronisierung seiner Bewegung mit derjenigen der Stadt gewinnt Benjamin nicht nur eine optische, sondern vor allem eine rhythmische, “taktische”, ja taktile Erfahrung. [188] Interessanter aber (im Blick auf die Erzählstrategie der Berliner Kindheit ) ist, dass sich Benjamin auf dem einmal eingeschlagenen Weg in der Lage eines Kindes wiederfindet, sucht er sich doch in das unbekannte Moskauer Alltagsleben einzureihen und sich dessen Praxis anzueignen. Und tatsächlich macht die fremde Stadt den Reisenden in gewisser Weise zu einem Kind und “traut” ihn den Dingen erst allmählich “an”. [189] Liest man Benjamins Moskau-Texte unter diesem Blickwinkel, dann eröffnet sich eine ganze Serie von Kindheits-Assoziationen. Dass es in der ersten Woche die “Technik, sich auf Glatteis zu bewegen”, neu anzueignen gilt [“Moskau”, 1, GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 298], davon ist im Essay noch ein zweites Mal die Rede: Benjamin findet sich auf dem Moskauer Glatteis buchstäblich in das “Kinderstadium” versetzt [“Moskau”, 2, GS , IV.1, 318]. Und wenn Benjamin die Moskauer Schlittenfahrten schildert, werden auch hier Kindheits-Erinnerungen explizit:

Dicht am Bürgersteig lenkt der Iswoschtschik entlang. Der Fahrgast thront nicht, sieht nicht höher hinaus als alle anderen und streift mit seinem Ärmel die Passanten. Auch dies ist für den Tastsinn eine unvergleichliche Erfahrung. Wo Europäer in geschwinder Fahrt Überlegenheit, Herrschaft über die Menge genießen, ist der Moskowiter im kleinen Schlitten dicht unter Menschen und Dinge gemischt. […] Kein Blick von oben herab: ein zärtliches, geschwindes Streifen an Steinen, Menschen und Pferden entlang. Man fühlt sich wie ein Kind, das auf dem Stühlchen durch die Wohnung rutscht. [“Moskau”, 9, GS , IV.1, 331]

Nicht von ungefähr erinnern ihn die auf der Straße Handel treibenden Frauen an Großmütter, die sich für ihre Enkel ein Mitbringsel ausgedacht haben:

Alle fünfzig Schritt stehen Weiber mit Zigaretten, Weiber mit Obst, Weiber mit Zuckerwerk. Sie haben ihren Waschkorb mit der Ware neben sich, manchmal auch einen kleinen Schlitten. Ein buntes Tuch aus Wolle schützt Äpfel oder Apfelsinen vor der Kälte, zwei Musterexemplare liegen obenauf. Daneben Zuckerfiguren, Nüsse, Bonbons. Man denkt, eine Großmutter hat vor dem Weggehen im Hause Umschau gehalten nach allem, womit sie ihre Enkel überraschen könnte. Nun bleibt sie unterwegs, um sich ein bißchen auszuruhen, an der Straße stehen. [“Moskau”, 2, GS , IV.1, 317—318, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 299, 301]

Während das Thema Kindheit in der letzten Passage nur anklingt, präsentiert es sich in den ersten beiden Passagen explizit. Benjamin empfindet sich buchstäblich in das “Kinderstadium” versetzt. Und vielleicht ist es auch das vorweihnachtliche Moskau, mit den auf der Straße feilgebotenen Tannen, den Kerzen, dem Baumschmuck, welches Benjamin in seine kindliche Vergangenheit entrückt haben mag. [190] Man darf mit gutem Grunde annehmen, dass diese durch die MoskauErfahrung unwillkürlich aufgerufenen Kindheitsassoziationen potentiell jene Erzählstrategie bergen, welche Benjamin dann in seinem Erinnerungsbuch realisieren wird. Von der Verknüpfung der Themen Moskau und Berlin sprechen bereits die letzten Passagen des Moskauer Tagebuches , die Benjamin unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Moskau nachtrug. Laut Benjamin erlaubt die Moskau-Erfahrung einen neuen und überraschenden Blick auf Berlin:

Es ist mit dem Bilde der Stadt [Berlin] und der Menschen dasselbe wie mit dem Bilde der geistigen Zustände: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der unzweifelhafteste Ertrag eines russischen Aufenthalts. Mag man auch Rußland noch so wenig kennen lernen – was man lernt, ist Europa mit dem bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fällt dem einsichtsvollen Europäer als erstes in Rußland zu. [ Moskauer Tagebuch , GS , VI, 399] [191]

Vor dem Hintergrund der Moskauer Eindrücke und erst im Kontrast zu der fremden Stadt gewinnt die eigene Stadt, gewinnt Berlin neue Züge. Dieser Blick auf die eigene Stadt mit gleichsam fremden Augen ist für Benjamin selbst “der unzweifelhafteste Ertrag” seines Moskau-Aufenthaltes.

Zu einem weiteren Ertrag des Moskau-Aufenthaltes muss man ohne Zweifel auch die Berliner Kindheit zählen, mit der Benjamin die Erfahrung seiner Pseudo-Kindheit in Moskau aktualisiert. Die Reise in die Fremde, in der er, der Erwachsene, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand, war Benjamin unwillkürlich zu einer Reise in die Zeit geraten. Im Laufe der Reflexion dieser positiv verbuchten Erfahrung wird Benjamin das künstlerische Verfahren jenes zweifach verfremdenden Blicks, von dem oben die Rede war, für sich neu entdecken. Und er wird dieses Verfahren für seine Erzählstrategie der Berliner Kindheit regelrecht verpflichten.

Hier, in seinem Erinnerungsbuch, verlegt Benjamin den Ort der Handlung in das Berlin seiner Kindheit. Aber um in ein solches Berlin zu geraten, bedarf es jener neuen Optik, die es erlaubt, das Gewohnte neu zu sehen oder, wie Benjamin selbst formulieren würde, “das Neue wiederzuerkennen”. Am Bestimmungsort seiner Reise in die Zeit findet er sich in weiter Ferne von der gegenwärtigen Stadt und zugleich in der Nähe jener Bilder, die sich im Laufe der kindlichen Entdeckung der Welt herausbildeten.

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