Kapitel Sechs

Richard schrieb seinen Tagebucheintrag im Kopf.

Liebes Tagebuch, begann er. Am Freitag hatte ich einen Job, eine Verlobte, ein Zuhause und ein Leben, das Sinn machte. (Na ja, soviel Sinn, wie ein Leben eben macht.) Dann fand ich ein verletztes Mädchen, das blutend auf der Straße lag, und wollte ein guter Samariter sein. Jetzt habe ich keine Verlobte, kein Zuhause, keinen Job mehr, und ich laufe gut hundert Meter unter den Straßen Londons herum, mit der voraussichtlichen Lebenserwartung einer selbstmordgefährdeten Eintagsfliege.

»Hier entlang«, sagte der Marquis.

»Sehen diese Tunnel nicht alle gleich aus?« fragte Richard und stellte seinen Tagebucheintrag erst einmal zurück. »Woher weiß man, welcher welcher ist?«

»Das weiß man nicht«, sagte der Marquis. »Wir haben uns hoffnungslos verirrt. Wir werden nie wieder auftauchen. In ein paar Tagen werden wir uns gegenseitig umbringen, um etwas zu essen zu haben.«

»Wirklich?«

»Nein.«

Richard fuhr fort, in sein geistiges Tagebuch zu schreiben.

Es gibt Hunderte von Menschen in diesem anderen London. Vielleicht Tausende. Menschen, die von hier stammen, oder Menschen, die durchs Netz gefallen sind. Ich bin mit einem Mädchen namens Door, ihrer Leibwächterin und ihrem geistesgestörten Großwesir unterwegs. Letzte Nacht haben wir in einem kleinen Tunnel geschlafen, der, wie Door sagte, früher zur Regency-Kanalisation gehört hat. Die Leibwächterin war wach, als ich eingeschlafen bin, und sie war wach, als sie mich geweckt haben. Ich glaube nicht, daß sie jemals schläft. Zum Frühstück gab es Topfkuchen; der Marquis hatte ein großes Stück in der Tasche. Wieso hat jemand ein großes Stück Topfkuchen in der Tasche? Meine Schuhe sind fast völlig getrocknet, während ich geschlafen habe.

Ich will nach Hause.

Dann unterstrich er im Geiste den letzten Satz dreimal, schrieb ihn in riesigen Buchstaben mit roter Tinte noch einmal und kreiste ihn ein, bevor er auf seinem imaginären Seitenrand mehrere Ausrufezeichen danebensetzte.

Wenigstens war der Tunnel, den sie jetzt entlanggingen, trocken. Es war ein High-Tech-Tunnel: lauter silbrige Rohre und weiße Wände.

Der Marquis und Door schritten zusammen voraus. Richard blieb meistens ein paar Schritte hinter ihnen. Hunter war mal hier, mal dort. Manchmal ging sie hinter ihnen, manchmal auf der linken oder rechten Seite, oft verschmolz sie ein kleines Stück vor ihnen mit den Schatten. Sie bewegte sich völlig geräuschlos, was Richard ziemlich beunruhigend fand.

Vor ihnen war ein Lichtstreifen zu sehen.

»Na also«, sagte der Marquis. »U-Bahn-Haltestelle Bank. Guter Ort, um mit der Suche zu beginnen.«

»Sie sind ja nicht ganz dicht«, sagte Richard. Das war nicht für die Ohren der anderen bestimmt, doch egal, mit welch sotto voce man sprach, in dieser Finsternis war alles laut und deutlich zu hören.

»Tatsächlich?« sagte der Marquis.

Der Boden begann zu grollen: eine U-Bahn, irgendwo ganz in der Nähe.

»Richard, laß gut sein«, sagte Door.

Doch da kam es schon aus seinem Mund: »Na ja«, sagte er. »Ihr seid doch wirklich albern. Es gibt keine Engel.«

Der Marquis nickte und sagte: »Ah. Ja. Jetzt verstehe ich Sie. Es gibt keine Engel. Ebenso, wie es kein Unter-London gibt, keine Rattensprecher und keine Schäfer in Shepherd’s Bush.«

»Es gibt keine Schäfer in Shepherd’s Bush«, stellte Richard kategorisch fest.

»Doch«, sagte Hunter aus der Dunkelheit gleich neben Richards Ohr. »Beten Sie darum, daß sie Ihnen nie begegnen. « Es klang so, als sei das ihr voller Ernst.

»Also«, sagte Richard. »Ich glaube trotzdem nicht, daß hier unten massenweise Engel herumlaufen.«

»Tun sie auch nicht«, erklärte der Marquis. »Nur einer. « Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht. Vor ihnen befand sich eine verschlossene Tür. Der Marquis trat zurück. »Mylady?« sagte er zu Door.

Sie legte einen Moment lang ihre Hand darauf. Die Tür öffnete sich lautlos.

»Vielleicht«, beharrte Richard, »reden wir von unterschiedlichen Dingen. Wenn ich Engel sage, meine ich Flügel, Heiligenscheine, Trompeten, Friede-auf-Erden-undden-Menschen-ein-Wohlgefallen. «

»Stimmt«, sagte Door. »Genau. So sind Engel.«

Sie gingen durch die Tür.

Richard schloß unwillkürlich die Augen. So viel Licht: Es durchbohrte seinen Kopf wie eine Migräne. Als seine Augen sich an die strahlende Helle gewöhnt hatten, stellte Richard fest, daß er sich in dem langen Fußgängertunnel befand, der die Haltestellen Monument und Bank miteinander verbindet. Pendler liefen durch die Tunnel, und keiner würdigte die vier auch nur eines Blickes.

Das aufdringliche Wimmern eines Saxophons hallte durch den Tunnel: ›I’ll Never Fall In Love Again‹ von Burt Bacharach und Hal David, halbwegs gekonnt gespielt.

Richard kämpfte gegen den Drang an, mitzusummen. Sie bewegten sich auf die Haltestelle Bank zu.

»Wen suchen wir noch mal?« fragte er, mehr oder weniger unschuldig. »Den Engel Gabriel? Raphael? Michael?«

Sie passierten einen U-Bahn-Plan. Der Marquis tippte auf die Station Angel: »Islington.«

Richard wechselte das Thema. »Wissen Sie, als ich vor ein paar Tagen in eine U-Bahn einsteigen wollte, hat sie mich nicht reingelassen.«

»Sie müssen denen nur klarmachen, wer das Sagen hat, das ist alles«, sagte Hunter hinter ihm sanft.

Door kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Diese hier wird uns reinlassen«, sagte sie. »Wenn wir sie finden.«

What do you get if you fall in love?


Get enough germs to catch pneumonia.


And after you do, she’ll never phone ya …

Sie gingen ein paar Stufen hinunter und bogen um eine Ecke.

Der Saxophonspieler hatte seinen Mantel auf dem Tunnelboden vor sich ausgebreitet. Auf dem Mantel lagen ein paar Münzen, die aussahen, als hätte er sie selbst dort hingelegt, um die Passanten davon zu überzeugen, daß jeder ihm etwas gab.

Niemand fiel darauf herein.

Der Saxophonspieler war außerordentlich groß; er hatte schulterlanges dunkles Haar und einen langen, gegabelten Bart, der tiefliegende Augen und eine hervorstechende Nase einrahmte. Er trug ein zerfetztes T-Shirt und ölfleckige Blue Jeans.

Als die Reisenden bei ihm ankamen, hörte er auf zu spielen, schüttelte den Speichel aus dem Mundstück, steckte es wieder auf und fing an, den alten Julie-London-Song ›Cry Me A River‹ zu spielen.

Now, you say you’re sorry …

Richard bemerkte zu seiner Überraschung, daß der Mann sie sehen konnte – und daß er alles daransetzte, so zu tun, als sähe er sie nicht. Der Marquis blieb vor ihm stehen. Das Wimmern des Saxophons erstarb mit nervösen Zuckungen. Ein kaltes Grinsen ließ die Zähne des Marquis aufblitzen.

»Sie sind Lear, nicht wahr?« fragte er.

Der Mann nickte argwöhnisch. Seine Finger streichelten die Klappen seines Saxophons.

»Wir suchen Earl’s Court«, fuhr der Marquis fort. »Haben Sie vielleicht einen Fahrplan dabei?«

Lear befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. »Wäre möglich. Wenn ja, was spränge für mich dabei raus?«

Der Marquis steckte die Hände tief in seine Manteltaschen. Dann lächelte er wie eine Katze, der man gerade den Schlüssel eines Heims für verwahrloste, aber fette Kanarienvögel anvertraut hatte.

»Es heißt«, sagte er träge, als würde er nur die Zeit totschlagen, »daß Blaise, Merlins Meister, einmal eine Melodie geschrieben hat, die so berückend ist, daß sie jedem, der sie hört, das Kleingeld aus den Taschen zaubert.«

Lears Augen verengten sich. »Das wäre mehr wert als nur einen Fahrplan«, sagte er. »Vorausgesetzt, diese Melodie ist wirklich in Ihrem Besitz.«

Der Marquis tat sehr überzeugend so, als würde ihm gerade klar: Himmel, da hat er recht! »Tja«, sagte er großmütig, »ich schätze, in dem Fall würden Sie mir etwas schulden, nicht wahr?«

Lear nickte, langsam, widerstrebend. Er faßte in seine Gesäßtasche und zog einen vielfach gefalteten Papierfetzen hervor und hielt ihn hoch.

Der Marquis griff danach. Lear zog die Hand weg. »Lassen Sie mich erst die Melodie hören, Sie alter Gauner«, sagte er. »Und ich hoffe für Sie, daß sie funktioniert. «

Der Marquis zog eine Augenbraue hoch. Seine Hand schnellte in eine der Innentaschen seines Mantels; als er sie wieder herauszog, waren eine Blechflöte und eine kleine Kristallkugel darin. Er schaute die Kristallkugel an, machte »hmmm«, als wolle er sagen: »Ach, da ist die gelandet«, und steckte sie wieder weg. Dann krümmte er die Finger, setzte die Flöte an die Lippen und begann zu spielen.

Es war eine seltsame, übermütige, Purzelbäume schlagende Weise. Sie gab Richard das Gefühl, er sei wieder dreizehn Jahre alt und hörte in der Schulpause die Top Twenty im Kofferradio seines besten Freundes, damals, als Popmusik noch die Rolle spielte, die sie nur in der Teenagerzeit spielen kann: Diese Melodie hatte alles, was er jemals in einem Musikstück hören wollte …

Eine Handvoll Münzen klirrte auf Lears Mantel. Der Marquis ließ die Flöte sinken.

»Dann schulde ich Ihnen wohl etwas, Sie alter Schurke«, sagte Lear.

»Ja. Das tun Sie.« Der Marquis nahm Lear den Zettel – den Fahrplan – aus der Hand, überflog ihn und nickte. »Und noch ein guter Rat: Übertreiben Sie es nicht. Sie ist sehr ergiebig.«

Und die vier gingen fort, den langen Korridor entlang, an den Wänden lauter Plakate, die für Filme und Unterwäsche warben, und hier und da ein offiziell aussehender Zettel, der Straßenmusikanten verscheuchen sollte, und sie lauschten dem Schluchzen des Saxophons und dem Geräusch von Geld, das auf dem Mantel landete.

Der Marquis führte sie zu einem Bahnsteig der Central Line. Richard ging zum Bahnsteigrand und sah hinab. Er fragte sich, wie immer, welche Schiene wohl unter Strom stand; und dann ertappte er sich dabei, wie er unwillkürlich eine winzige graue Maus anlächelte, die mutig über die Gleise pirschte, auf der stillen Suche nach weggeworfenen Sandwiches und heruntergefallenen Kartoffelchips.

»Treten Sie zurück«, sagte Hunter beschwörend zu Richard. »Stellen Sie sich dort hinten hin. An die Wand.«

»Was?« fragte Richard.

»Ich sagte«, sagte Hunter, »treten Sie – «

Und da brach es plötzlich über den Bahnsteig herein. Es war durchscheinend, traumgleich, ein geisterhaftes Etwas, von der Farbe schwarzen Qualms; wie Seide unter Wasser quoll es hoch, und mit einer erstaunlich schnellen Bewegung, obwohl es immer noch den Anschein hatte, als schwebte es beinahe in Zeitlupe dahin, wickelte es sich fest um Richards Knöchel.

Es brannte, sogar durch den Stoff seiner Levi’s hindurch. Das Etwas zog ihn an den Rand des Bahnsteigs, und er geriet ins Wanken.

Er nahm ganz entfernt wahr, daß Hunter ihren Stock in der Hand hatte und damit immer wieder fest auf den Fangarm einschlug.

Weit weg erklang ein kreischendes Geräusch, dünn und unbeseelt, wie von einem schwachsinnigen Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte.

Die Qualmtentakel ließ Richards Knöchel los und glitt zurück über den Bahnsteigrand, und dann war sie fort.

Hunter packte Richard am Kragen und riß ihn zurück an die Wand.

Dort sackte er in sich zusammen. Da, wo das Etwas ihn berührt hatte, hatte es die Farbe aus seinen Jeans gesogen, so daß sie aussahen wie schlecht gebatikt. Er zog das Hosenbein hoch: winzige blaurote Striemen bildeten sich auf der Haut seines Knöchels und seiner Wade.

»Was …«, versuchte er zu sagen, doch es kam nichts. Er schluckte. Probierte es noch mal. »Was war das?«

Hunter sah zu ihm herunter. Ihr Gesicht sah aus wie aus braunem Holz geschnitzt. »Ich glaube, es hat keinen Namen«, sagte sie. »Die leben zwischen den Bahnsteigen und den Gleisen. Ich habe Sie gewarnt.«

»Sowas … hab’ ich noch nie gesehen.«

»Bisher gehörten Sie auch noch nicht zur Unterseite«, sagte Hunter. »Warten Sie einfach an der Wand. Das ist sicherer.« Der Marquis sah auf seine große goldene Taschenuhr. Er steckte sie wieder in seine Westentasche, schaute auf den Zettel, den Lear ihm gegeben hatte, und nickte zufrieden. »Wir haben Glück«, verkündete er. »Der Earl’s-Court-Zug müßte hier in etwa einer halben Stunde durchkommen.«

»Earl’s Court liegt nicht an der Central Line«, erklärte Richard.

Der Marquis starrte Richard mit unverhohlener Belustigung an. »Sie sind wirklich von einer erfrischenden Intelligenz, junger Mann«, sagte er. »Es geht doch nichts über totale Ahnungslosigkeit, nicht wahr?«

Der Wind setzte ein. Eine U-Bahn hielt an der Haltestelle. Menschen stiegen aus, und andere Menschen stiegen ein, mit ihren alltäglichen Verrichtungen beschäftigt, und Richard beobachtete sie voll Neid.

»Zurückbleiben, bitte«, deklamierte eine Tonbandstimme. »Treten Sie von den Türen zurück. Zurückbleiben, bitte.«

Door warf Richard einen Blick zu. Dann, besorgt über das, was sie da sah, ging sie zu ihm und nahm seine Hand. Er war blaß, und sein Atem ging flach und schnell.

»Zurückbleiben, bitte«, dröhnte die Tonbandstimme wieder.

»Mir fehlt nichts«, log Richard tapfer niemand Speziellen an.



Der Innenhof des Krankenhauses, in dem Mr. Croup und Mr. Vandemar wohnten, war ein naßkalter und freudloser Ort. Struppiges Gras wuchs durch die zurückgelassenen Schreibtische, Gummireifen und Büromöbel hindurch. Alles in allem entstand der Eindruck, hier hätten vor zehn Jahren (vielleicht aus Langeweile, vielleicht aus Frust, vielleicht sogar als Grundsatzerklärung oder als Kunstperformance) ein paar Leute alles, was sich in ihren Büros befand, oben aus dem Fenster geworfen und dem Verfall überlassen.

Es fanden sich auch Glassplitter dort. Glassplitter im Überfluß. Außerdem mehrere Matratzen. Aus irgendeinem nur schwer erklärlichen Grund waren ein paar dieser Matratzen irgendwann einmal in Brand gesetzt worden. Niemand wußte, weshalb; niemanden kümmerte es. Gras wuchs durch die Sprungfedern empor.

Um den Zierbrunnen in der Mitte des Hofes herum, der schon seit langem weder eine besondere Zierde noch ein Brunnen war, hatte sich ein richtiges Ökosystem entwickelt. Ein zerborstenes, undichtes Wasserrohr in der Nähe hatte ihn mit Hilfe von ein wenig Regenwasser in einen Brutplatz für kleine Frösche verwandelt, die lustig umherplumpsten und sich der Abwesenheit aller flügellosen natürlichen Feinde erfreuten. Krähen, Amseln und sogar die eine oder andere Möwe betrachteten den Ort wiederum als katzenfreien Feinkostladen für Froschspezialitäten.

Nacktschnecken krochen träge unter den Sprungfedern der verbrannten Matratzen umher; Schnirkelschnecken hinterließen Schleimspuren auf den Glassplittern. Große schwarze Käfer huschten emsig über die kaputten grauen Plastiktelefone und die verstümmelten Sindy-Puppen.

Mr. Croup und Mr. Vandemar waren hinaufgestiegen, weil sie eine Luftveränderung brauchten. Langsam schritten sie den Rand des Mittelhofes ab, Glassplitter unter ihren Füßen zermalmend. In ihren verschlissenen schwarzen Anzügen sahen sie aus wie Schatten.

Mr. Croup war von kaltem Zorn gepackt. Er ging doppelt so schnell wie Mr. Vandemar, umkreiste ihn fast tänzelnd vor Zorn. Von Zeit zu Zeit warf sich Mr. Croup in offenbar unbezähmbarer Wut gegen die Krankenhausmauer und bearbeitete sie mit Fäusten und Füßen, als wäre sie ein kümmerlicher Ersatz für einen echten Menschen.

Mr. Vandemar hingegen ging einfach nur. Sein Schritt war zu unbeirrbar, zu gleichmäßig und zu unerbittlich, um ihn als Schlendern zu bezeichnen. Der Tod geht wie Mr. Vandemar. Mr. Vandemar beobachtete ungerührt, wie Mr. Croup gegen eine Glasscheibe trat, die an einer Wand lehnte. Sie zerbarst mit einem befriedigenden Klirren.

»Ich, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup, während er den Trümmerhaufen begutachtete, »ich jedenfalls habe jetzt fast die Nase voll. Fast. Diese unentschlossene, vertrödelte, schlafmützige, zimperliche, käsegesichtige Kröte – am liebsten würde ich ihm die Augen aus den Höhlen drücken …«

Mr. Vandemar schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte er. »Er ist unser Chef. Für diesen Auftrag. Wenn wir bezahlt worden sind, können wir uns vielleicht ein bißchen auf eigene Kosten amüsieren.«

Mr. Croup spuckte auf den Boden. »Dieser nichtsnutzige Narr läßt sich auch alles gefallen … Wir sollten die Schlampe abschlachten. Auslöschen, liquidieren, unter die Erde bringen und abschreiben.«

Ein Telefon begann laut zu klingeln. Mr. Croup und Mr. Vandemar schauten sich verwirrt um. Schließlich fand Mr. Vandemar das Telefon, halb unter einem Schotterhaufen oben auf einem Berg wasserfleckiger medizinischer Akten vergraben. Hinten ragten kaputte Drähte heraus. Er hob ab und reichte es Mr. Croup.

»Für Sie«, sagte er.

Mr. Vandemar mochte keine Telefone.

»Mister Croup hier«, sagte Croup. Dann, unterwürfig: »Oh. Sie sind es, Sir …«

Eine Pause.

»Im Moment läuft sie, ganz wie Sie es wünschten, frei wie ein Schmetterling herum. Ich fürchte, Ihre Idee mit dem Leibwächter war ein Schlag ins Abwasser … Varney? Ja, er ist ziemlich tot.«

Eine weitere Pause.

»Sir, ich bekomme langsam gewisse konzeptionelle Probleme mit meiner Rolle und der meines Partners bei all diesem Humbug.«

Es folgte eine dritte Pause, und Mr. Croup wurde bleicher als bleich.

»Unprofessionell?« fragte er milde. »Wir?«

Er ballte seine Hand zu einer Faust, die er ziemlich heftig in eine Backsteinmauer rammte. Seine Stimme war jedoch unverändert, als er sagte: »Sir. Darf ich Sie mit gebührendem Respekt daran erinnern, daß Mister Vandemar und meine Wenigkeit Troja niedergebrannt haben? Wir brachten die Schwarze Pest nach Flandern. Unser letzter Auftrag war es, ein ganzes Kloster in der Toskana des sechzehnten Jahrhunderts zu Tode zu foltern. Wir sind ausgesprochen professionell.«

Mr. Vandemar, der sich die ganze Zeit damit unterhalten hatte, kleine Frösche zu fangen und auszuprobieren, wie viele davon er sich gleichzeitig in den Mund stopfen konnte, bevor er gezwungen war, zu kauen, sagte mit vollem Mund: »Das hat Spaß gemacht …«

»Was ich damit sagen will?« fragte Mr. Croup, und er schnippte ein imaginäres Stäubchen von seinem abgetragenen schwarzen Anzug, den echten Staub geflissentlich übersehend. »Ich will damit sagen, daß wir Mörder sind. Wir sind Schwerverbrecher. Wir bringen Leute um.«

Er lauschte, dann: »Und was ist mit dem Oberweltler? Warum können wir den nicht töten?« Mr. Croup zuckte, und er spuckte noch einmal aus, und er trat gegen die Wand, während er mit dem rostfleckigen, ramponierten Telefon in der Hand dastand.

»Ihr Angst einjagen? Wir sind Mörder, keine Vogelscheuchen. « Eine Pause. Er holte tief Luft. »Ja, ich verstehe, aber es gefällt mir gar nicht.« Doch die Person am anderen Ende der Leitung hatte eingehängt. Mr. Croup blickte auf das Telefon hinunter. Dann nahm er es in die Hand und schlug es systematisch so lange an die Wand, bis nur noch Plastik- und Metalltrümmer davon übrig waren.

Mr. Vandemar ging zu ihm. Er hatte eine große schwarze Nacktschnecke mit leuchtend orangem Bauch gefunden, und er kaute darauf herum wie auf einer Lakritzzigarre. Die Schnecke, die nicht besonders schlau war, versuchte an Mr. Vandemars Kinn herunterzukriechen. »Wer war das?« fragte Mr. Vandemar. »Was zum Teufel glauben Sie, wer das war?« Mr. Vandemar kaute nachdenklich und sog die Schnecke dann in den Mund, wie einen Strang dicker, klebriger, schwarzoranger Spaghetti. »Ein Vogelscheuchenmann?« fragte er.

»Unser Arbeitgeber.«

»Das wäre mein nächster Versuch gewesen.«

»Vogelscheuchen«, spuckte Mr. Croup angewidert. Seine rote Rage verwandelte sich langsam in ein öliggraues Schmollen.

Mr. Vandemar schluckte das, was er im Mund hatte, hinunter und wischte sich die Lippen am Ärmel ab. »Am besten verscheucht man Vögel«, sagte Mr. Vandemar, »indem man sich von hinten anschleicht, die Hand um ihren kleinen Vogelhals legt und so lange zudrückt, bis sie sich nicht mehr bewegen. Dann kriegen sie eine Mordsangst. «

Und dann schwieg er; und ganz weit über sich hörten sie wütend krächzende Krähen fliegen.

»Krähen. Familie: corvidae. Sammelbegriff«, deklamierte Mr. Croup und schwelgte im Klang des Wortes: »ein Mord.«



Richard wartete, neben Door an die Wand gelehnt. Sie sagte sehr wenig; sie kaute an den Fingernägeln, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, bis es ihr in alle Himmelsrichtungen zu Berge stand, und versuchte dann, es wieder herunterzudrücken.

Sie war unbestreitbar anders als jeder andere Mensch, den er je kennengelernt hatte.

Als sie merkte, daß er sie ansah, zuckte sie mit den Schultern und verkroch sich noch tiefer in ihre Kleidungsschichten, in ihre Lederjacke. Ihr Gesicht schaute aus dem Inneren der Jacke hinaus in die Welt. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte Richard an ein obdachloses Kind, das er einmal gesehen hatte, letzten Winter, hinterm Covent Garden: Er war sich nicht sicher, ob es ein Mädchen oder ein Junge gewesen war. Seine Mutter bettelte, bat die Passanten um Kleingeld, damit sie ihrem Kind und dem Baby, das sie in ihren Armen trug, zu essen geben konnte. Doch das Kind starrte in die Welt hinaus und sagte nichts, obwohl es sicher hungrig und durchgefroren war. Es starrte einfach nur.

Hunter stand neben Door und ließ ihren Blick über den Bahnsteig schweifen. Der Marquis hatte ihnen gesagt, wo sie warten sollten, und sich aus dem Staub gemacht. Von irgendwoher hörte Richard, wie ein Baby zu weinen anfing. Der Marquis schlüpfte aus einer ›Hier-nur-Ausgang‹-Tür und kam auf sie zu. Er kaute an einer Zuckerstange.

»Amüsieren Sie sich gut?« fragte Richard. Ein Zug näherte sich.

»Ich kümmere mich nur darum, daß alles glattgeht«, sagte der Marquis. Er schaute auf den Zettel und seine Uhr. Dann deutete er auf eine Stelle auf dem Bahnsteig. »Das ist der Earl’s-Court-Zug. Stellen Sie sich alle drei hier hinter mir auf.«

Dann, als die U-Bahn – ein ziemlich langweilig aussehender Zug, wie Richard enttäuscht feststellte – in den Bahnhof rumpelte und ratterte, beugte der Marquis sich über Richard hinweg und sagte zu Door: »Mylady? Es gibt da etwas, das ich vielleicht schon früher hätte erwähnen sollen.«

Sie wandte ihm ihre seltsam gefärbten Augen zu. »Ja?«

»Nun ja«, sagte er, »der Earl wird vielleicht nicht allzu erfreut sein, mich zu sehen.«

Der Zug wurde langsamer und hielt. Der Waggon, neben dem Richard stand, war völlig leer: Das Licht war aus, es war trostlos und leer und dunkel. Andere Zugtüren öffneten sich zischend. Fahrgäste stiegen ein und aus. Die Türen des verdunkelten Waggons blieben geschlossen.

Der Marquis trommelte mit der Faust einen komplizierten Rhythmus an die Tür. Nichts geschah. Richard fragte sich gerade, ob der Zug ohne sie abfahren würde, als die Waggontür von drinnen aufgeschoben wurde. Sie öffnete sich etwa fünfzehn Zentimeter weit, und ein ältliches Gesicht lugte zu ihnen heraus.

»Wer klopft da?« fragte der Mann.

Durch den Spalt sah Richard Flammen und Menschen und Rauch. Durch das Glas in den Türen jedoch sah er immer noch einen dunklen und leeren Waggon.

»Lady Door«, sagte der Marquis milde, »und ihre Begleiter. «

Die Tür glitt vollständig auf, und sie waren im Earl’s Court.


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