Kapitel Siebzehn

Richard folgte dem Weg der brennenden Kerzen, der ihn durch die Gruft zum Großen Saal führte. Er erkannte den Ort wieder. Hier hatten sie den Wein des Engels getrunken: ein Achteck aus eisernen Pfeilern, die riesige schwarze Tür, der Tisch, die Kerzen.

Door war mit ausgebreiteten Armen und Beinen zwischen zwei Pfeilern festgekettet, neben der Tür aus Feuerstein und Silber. Sie starrte ihn an, als er hereinkam, die seltsam gefärbten Koboldaugen weit aufgerissen und voller Angst.

Der Engel Islington, der neben ihr stand, drehte sich um und lächelte Richard an, als dieser eintrat. Das ließ ihm mehr als alles andere das Blut in den Adern erstarren: das sanfte Mitgefühl, die Liebenswürdigkeit dieses Lächelns.

»Komm herein, Richard Mayhew. Komm herein«, sagte der Engel Islington. »Du meine Güte. Du siehst ja schlimm aus.« Besorgnis lag in seiner Stimme. Richard zögerte.

»Bitte.« Der Engel gestikulierte, lockte mit dem Finger, ermutigte ihn, hereinzukommen. »Ich glaube, wir sind bereits alle miteinander bekannt. Du kennst natürlich Lady Door und meine Mitarbeiter, Mister Croup und Mister Vandemar.«

Richard drehte sich um. Croup und Vandemar standen neben ihm, jeder auf einer Seite. Mr. Vandemar lächelte ihn an. Mr. Croup nicht.

»Ich hatte gehofft, daß du hier auftauchen würdest«, sagte der Engel. Er legte den Kopf zur Seite und fragte: »Nebenbei gefragt, wo ist Hunter?«

»Sie ist tot«, sagte Richard.

Er hörte, wie Door nach Luft schnappte.

»Ach, das arme Ding«, sagte Islington. Er schüttelte den Kopf. Offensichtlich bedauerte er den sinnlosen Verlust von Menschenleben, die Zerbrechlichkeit alles Sterblichen.

»Trotzdem«, sagte Mr. Croup. »Wo gehobelt wird, da fallen Köpfe.«

Richard ignorierte die anderen, so gut er konnte. »Door? Alles in Ordnung?«

»Mehr oder weniger, danke. Bis jetzt.« Ihre Unterlippe war geschwollen, und sie hatte eine Schramme auf der Wange.

»Ich fürchte«, sagte Islington, »Miss Door hat sich ein wenig unkooperativ gezeigt. Gerade haben wir darüber gesprochen, ob Mister Croup und Mister Vandemar sie nicht …« Er hielt inne. Es gab offensichtlich Dinge, die ihm tatsächlich zu geschmacklos waren, um sie auszusprechen.

»Foltern sollten«, kam ihm Mr. Vandemar zur Hilfe.

»Wir sind«, sagte Mr. Croup, »schließlich in der gesamten Schöpfung bekannt für unsere großartige Beherrschung der Folterkunst.«

»Können gut Leuten wehtun«, erklärte Mr. Vandemar.

Der Engel fuhr fort, als hätte er keinen von beiden gehört. »Doch Miss Door scheint mir kein Mensch zu sein, der sich leicht eines besseren belehren läßt.«

»Geben Sie uns genug Zeit«, sagte Mr. Croup. »Dann brechen wir sie.«

»In nasse kleine Teile«, sagte Mr. Vandemar.

Islington schüttelte den Kopf und lächelte nachsichtig über diese unverhohlene Begeisterung. »Keine Zeit«, sagte er zu Richard, »keine Zeit. Allerdings scheint sie mir ein Mensch zu sein, der etwas unternehmen würde, um die Schmerzen und Leiden eines Freundes zu beenden, eines anderen Sterblichen, wie du einer bist, Richard …«

Und schon schlug Mr. Croup Richard in den Magen.

Richard klappte zusammen. Er spürte Mr. Vandemars Finger im Nacken, die ihn wieder emporzogen.

»Aber das ist ungerecht«, sagte Door.

Islington wirkte nachdenklich. »Ungerecht?« sagte er, als ob er versuchte, sich daran zu erinnern, was das bedeutete.

Mr. Croup wandte sich Richard zu. »Er ist mittlerweile soweit jenseits von Recht und Unrecht, daß er sie nicht einmal an einem schönen, klaren Abend mit einem Teleskop erkennen könnte«, sagte er. »Nun, Mister Vandemar, wenn Sie den Anfang machen würden?« Mr. Vandemar nahm Richards linke Hand in die seine. Er fand Richards kleinen Finger und bog ihn mit einer schnellen Bewegung nach hinten, bis er brach.

Richard schrie auf.

Der Engel drehte sich langsam um. Etwas schien ihm Kopfzerbrechen zu bereiten. Er blinzelte mit seinen dunklen Augen. »Es ist noch jemand draußen. Mister Croup?«

Dort, wo Mr. Croup gewesen war, schimmerte es dunkel, und schon war er nicht mehr dort.



Der Marquis de Carabas preßte sich an den Granitfelsen und schaute die Eichentüren an, die zu Islingtons Höhle führten. Pläne und Szenarien wirbelten ihm durch den Kopf. Er hatte eigentlich gedacht, er würde wissen, was zu tun sei, wenn er diesen Punkt erreicht hatte, und jetzt stellte er mit Abscheu fest, daß er nicht die geringste Ahnung hatte. Es gab keine Gefallen mehr einzufordern, keine Hebel zu betätigen, keine Knöpfe zu drücken.

Und so starrte er die Türen an. Vielleicht würde ihm etwas einfallen. Zumindest hatte er das Überraschungsmoment auf seiner Seite.

Und dann spürte er eine Messerklinge an seiner Kehle, und er hörte Mr. Croups ölige Stimme an seinem Ohr.

»Ich habe Sie heute schon einmal getötet«, sagte dieser. »Warum sind manche Leute bloß so begriffsstutzig?«

Richard trug bereits Handschellen und war zwischen zwei Eisenpfeiler gekettet, als Mr. Croup zurückkehrte, der dem Marquis das Messer zwischen die Rippen bohrte.

Der Engel schaute den Marquis an und schüttelte dann sanft seinen schönen Kopf. »Sie haben mir gesagt, er sei tot«, sagte er mahnend.

»Ist er auch«, erwiderte Mr. Vandemar.

»War er«, verbesserte Mr. Croup.

Die Stimme des Engels war jetzt einen Hauch weniger sanft und weniger liebevoll. »Ich lasse es nicht zu, daß man mich anlügt«, sagte er.

»Wir lügen nicht«, entgegnete Mr. Croup beleidigt.

»Doch«, sagte Mr. Vandemar.

Mr. Croup fuhr sich aufgebracht mit seiner schmutzigen Hand durch das schmierige Haar. »Natürlich lügen wir. Aber nicht dieses Mal.«

Der Schmerz in Richards Hand machte keine Anstalten, abzuflauen. »Wie können Sie nur so etwas tun?« fragte er zornig. »Sie sind ein Engel.«

»Was habe ich Ihnen gesagt, Richard?« fragte der Marquis trocken.

Richard dachte nach. »Sie haben gesagt, auch Luzifer sei ein Engel gewesen.«

Islington begann zu lachen. »Luzifer? Luzifer war ein Idiot. Er hat es zum Herrscher über nichts und niemanden gebracht.«

Der Marquis grinste. »Und Sie haben es zum Herrscher über zwei Schurken und einen Raum voller Kerzen gebracht?«

Der Engel leckte sich die Lippen. »Sie haben mir gesagt, das sei meine Strafe für Atlantis. Ich habe ihnen erklärt, daß ich getan habe, was ich konnte. Die ganze Sache ist …«, er suchte nach dem passenden Wort, »unglücklich gelaufen.«

»Aber Millionen von Menschen sind dabei umgekommen«, sagte Door.

Islington faltete die Hände vor der Brust, als ob er Modell für eine Weihnachtskarte stünde. »So etwas kann passieren«, räsonierte er. »Jeden Tag gehen Städte unter.«

»Und Sie hatten nichts damit zu tun?« fragte der Marquis milde.

Trotz all der furchterregenden Dinge, die Richard in letzter Zeit erlebt hatte, war dies das Furchterregendste, was er je gesehen hatte: Die heitere Schönheit des Engels bekam Risse; seine Augen blitzten, und wahnsinnig und unbeherrscht schrie er sie an. »Sie hatten es verdient.«

Es war, als hätte man einen Deckel gelüftet, unter dem sich ein dunkles, sich windendes Etwas verbarg: ein Ort des Irrsinns und der Wut und der Bösartigkeit.

Es folgte ein Moment des Schweigens. Und dann senkte der Engel den Kopf, hob ihn wieder und sagte leise und bedauernd: »So etwas kommt vor.« Er zeigte auf den Marquis. »Legt ihn in Ketten.«

Croup und Vandemar befestigten Handschellen an den Handgelenken des Marquis und ketteten sie an die Pfeiler neben Richard fest. Der Engel hatte seine Aufmerksamkeit wieder Door zugewandt. Er ging zu ihr, streckte seine Hand aus, legte sie ihr unters Kinn und hob ihren Kopf, um ihr in die Augen zu schauen. »Deine Familie«, sagte er sanft. »Du kommst aus einer sehr bemerkenswerten Familie. Sehr bemerkenswert.«

»Warum haben Sie uns dann töten lassen?«

»Nicht alle«, sagte er. Richard dachte, er meinte Door, doch dann sagte er: »Ich mußte immerhin damit rechnen, daß du doch nicht so gut … funktionieren würdest.«

Er ließ ihr Kinn los und streichelte ihr mit langen, weißen Fingern übers Gesicht, und er sagte: »Deine Familie kann Türen öffnen. Sie kann Türen schaffen, wo keine waren. Sie kann Türen entriegeln, die verriegelt sind. Türen öffnen, die niemals geöffnet werden sollten.« Er fuhr mit den Fingern ihren Hals entlang, sanft, als ob er sie liebkoste, und dann schloß er die Hand um den Schlüssel.

»Als ich hier eingesperrt wurde, gaben sie mir die Tür zu meinem Gefängnis. Und sie nahmen den Schlüssel zu der Tür und hinterlegten ihn ebenfalls hier. Eine höchst raffinierte Foltermethode.«

Er zupfte sacht an der Kette und zog sie unter Doors Schichten von Seide und Baumwolle und Spitze hervor, bis ihr silberner Schlüssel zum Vorschein kam; und dann fuhr er mit den Fingern am Schlüssel entlang wie bei einem Liebesspiel.

Da wußte Richard Bescheid. »Die Black Friars haben ihn vor Ihnen beschützt«, sagte er.

Islington ließ den Schlüssel los. Neben Door befand sich die Tür aus Feuerstein und Silber. Dorthin ging der Engel. Er legte eine Hand darauf, weiß gegen die Schwärze der Tür.

»Vor mir«, bestätigte er. »Ein Schlüssel. Eine Tür. Ein Türöffner. Diese drei Dinge müssen vorhanden sein, versteht ihr – ein besonders ausgeklügelter Witz. Sie hatten sich gedacht, wenn sie der Meinung seien, daß ich mir die Begnadigung und meine Freiheit verdient habe, schicken sie mir einen Öffner und geben mir den Schlüssel. Ich habe nur beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und jetzt gehe ich eben ein bißchen früher.«

Er wandte sich wieder zu Door. Noch einmal streichelte er den Schlüssel. Dann schloß er die Hand darum und zog heftig daran. Die Kette riß. Door zuckte zusammen.

»Zuerst habe ich mit deinem Vater gesprochen, Door«, fuhr der Engel fort. »Er machte sich Sorgen um die Unterseite. Er wollte Unter-London vereinen, die Baronien und Lehnsgüter – vielleicht sogar irgendein Bündnis mit Ober-London schließen. Ich habe ihm gesagt, ich würde ihm helfen, wenn er mir helfen würde. Doch als ich ihm sagte, welche Hilfe ich benötigte, lachte er mich aus.« Er wiederholte die Worte, als könne er sie immer noch nicht glauben. »Er lachte. Mich aus.«

Door schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn getötet, weil er Ihnen Ihre Bitte abgeschlagen hat?«

»Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Islington sanft. »Ich habe ihn töten lassen.«

»Aber er hat mir gesagt, ich könnte Ihnen trauen. Er hat mir gesagt, ich solle herkommen. In seinem Tagebuch.«

Mr. Croup begann zu kichern. »Hat er nicht«, sagte er. »Hat er niemals. Das waren wir. Was hat er in Wirklichkeit gesagt, Mister Vandemar?«

»Traue Islington nicht«, sagte Mr. Vandemar mit der Stimme ihres Vaters. Sie klang täuschend echt. »Hinter all dem muß Islington stecken. Er ist gefährlich, Door – halte dich von ihm fern – «

Islington streichelte mit dem Schlüssel ihre Wange. »Ich dachte, meine Version würde dich ein bißchen schneller herbringen.«

»Wir haben das Tagebuch geholt«, sagte Mr. Croup. »Wir haben es korrigiert, und wir haben es wieder zurückgebracht.«

»Wohin führt die Tür?« rief Richard.

»Nach Haus«, antwortete der Engel.

»In den Himmel?«

Und Islington sagte nichts, aber er lächelte, wie eine Katze, die nicht nur die Sahne und den Kanarienvogel gefressen hat, sondern auch das Huhn, das es zum Abendessen geben sollte, und die Crème brulée, die als Dessert gedacht war.

»Und Sie glauben also, sie werden nicht merken, daß Sie wieder da sind?« feixte der Marquis. »Und es wird nur heißen: ›Ach, schaut mal, da ist ja noch ein Engel, hier, schnapp dir ’ne Harfe, und los geht’s mit den Hosiannas‹?«

Islingtons Augen leuchteten hell. »Die süße Qual der Schmeichelei, der Hymnen und Heiligenscheine und selbstsüchtigen Gebete ist nichts für mich«, sagte er. »Ich habe … meine eigenen Pläne.«

»Nun ja, Sie haben den Schlüssel«, sagte Door.

»Und ich habe dich«, erwiderte der Engel. »Du bist der Öffner. Ohne dich ist der Schlüssel nutzlos. Öffne die Tür für mich.«

»Sie haben ihre Familie umgebracht«, sagte Richard. »Sie haben sie durch ganz Unter-London gejagt. Jetzt wollen Sie, daß sie eine Tür für Sie öffnet, damit Sie einfach so in den Himmel einziehen können? Sie besitzen keine besonders gute Menschenkenntnis, was? Das macht sie nie.«

Da sah der Engel ihn an, mit Augen, die älter waren als die Milchstraße. Dann sagte er: »Oh je«, und wandte ihm den Rücken zu, als sei er nicht bereit, sich die unschönen Dinge mit anzuschauen, die gleich geschehen würden.

»Tun Sie ihm noch etwas mehr weh, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup. »Schneiden Sie ihm das Ohr ab.«

Mr. Vandemar hob die Hand. Sie war leer. Sein Arm zuckte fast unmerklich, und jetzt hielt er ein Messer in der Hand. »Hab’ Ihnen ja gesagt, daß Sie eines Tages herausfinden würden, wie Ihre eigene Leber schmeckt«, sagte er. »Heute ist Ihr Glückstag.«

Er ließ die Messerklinge sanft unter Richards Ohrläppchen gleiten. Richard verspürte keinen Schmerz – vielleicht, dachte er, hatte er an diesem Tag schon zu viele Schmerzen erlitten, vielleicht war die Klinge zu scharf, um wehzutun. Aber er fühlte das Blut naß von seinem Ohr seinen Hals hinuntertropfen.

Door beobachtete ihn, und er sah nur noch ihr koboldhaftes Gesicht und ihre riesigen, seltsam gefärbten Augen. Er versuchte, ihr telepathische Botschaften zu senden. Halt durch. Laß dich nicht kleinkriegen. Ich übersteh’ das schon.

Dann übte Mr. Vandemar ein wenig Druck auf das Messer aus, und Richard begann zu schreien.

»Sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören«, sagte Door. »Ich werde Ihnen die Tür öffnen.«

Islington machte eine knappe Handbewegung, und Mr. Vandemar seufzte mitleiderregend und steckte das Messer weg. Das warme Blut tropfte an Richards Hals herunter und sammelte sich in der Grube seines Schlüsselbeins.

Mr. Croup ging hinüber zu Door und schloß die Handschelle an ihrer rechten Hand auf. Sie stand da und rieb sich das Handgelenk, eingerahmt von den Pfeilern. Links war sie immer noch angekettet, doch jetzt hatte sie etwas Bewegungsfreiheit. Sie streckte die Hand nach dem Schlüssel aus.

»Vergiß nicht«, sagte Islington. »Ich habe deine Freunde.«

Door schaute ihn mit tiefster Verachtung im Blick an, jeder Zentimeter Lord Porticos älteste Tochter. »Geben Sie mir den Schlüssel«, sagte sie.

Der Engel reichte ihr den silbernen Schlüssel.

»Door!« rief Richard. »Tu das nicht. Laß ihn nicht frei. Was mit uns passiert, ist gleichgültig!«

»Also«, sagte der Marquis, »was mit mir passiert, ist durchaus nicht gleichgültig. Dennoch muß ich mich seinen Worten anschließen. Tun Sie es nicht.«

Sie schaute von Richard zum Marquis und ließ ihre Augen auf deren gefesselten Händen verweilen, auf den schweren Ketten, die sie an den schwarzen Eisenpfeilern festhielten. Sie sah sehr verletzlich aus; und dann wandte sie sich ab und ging so weit, wie ihre Kette es ihr erlaubte, bis sie vor der schwarzen Tür aus Feuerstein und angelaufenem Silber stand.

Das Schlüsselloch fehlte. Sie legte die Handfläche ihrer rechten Hand an die Tür und schloß die Augen. Als sie die Hand wegnahm, befand sich an der Stelle, wo ihre Hand gewesen war, ein Schlüsselloch. Ein weißes Licht drang dadurch hindurch in die von Kerzen erhellte Dunkelheit des Saals.

Das Mädchen steckte den silbernen Schlüssel in das Schlüsselloch. Einen Moment war es still, und dann drehte sie ihn um. Etwas klickte, ein glockenhelles Klingeln ertönte, und plötzlich war die Tür von Licht gerahmt.

»Wenn ich fort bin«, sagte der Engel zu Mr. Croup und Mr. Vandemar, voller Charme und Freundlichkeit und Mitgefühl, »können Sie sie alle umbringen, wenn Sie möchten.«

Er wandte sich wieder zur Tür, die Door gerade aufzog: Sie öffnete sich nur langsam, als laste ein großer Widerstand auf ihr. Door keuchte.

»Ihr Arbeitgeber verläßt uns also«, sagte der Marquis zu Mr. Croup. »Ich hoffe, Sie beide sind bereits ausgezahlt worden.«

Croup warf dem Marquis einen Blick zu und sagte: »Was?«

»Nun ja«, hakte Richard ein, als er begriff, worauf der Marquis hinauswollte. »Sie glauben doch nicht, daß Sie ihn je wiedersehen werden, oder?«

Mr. Vandemar blinzelte langsam und sagte: »Was?«

Mr. Croup kratzte sich am Kinn. »In diesem Punkt haben die Leichen in spe recht«, sagte er zu Mr. Vandemar. Er ging auf den Engel zu, der mit verschränkten Armen vor der Tür stand. »Sir? Es wäre vielleicht klug, wenn Sie mit uns abrechnen würden, bevor Sie den nächsten Abschnitt ihrer Reise antreten.«

Der Engel drehte sich um und blickte auf ihn herab, als sei er unbedeutender als das kleinste Fleckchen Schmutz. Dann wandte er sich ab. Richard fragte sich, was in ihm vorgehen mochte.

»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte der Engel. »Bald wird jede Belohnung, die eure widerwärtigen kleinen Hirne auszubrüten in der Lage sind, euer sein. Wenn ich den Thron bestiegen habe.«

»Und die Kohle gibt’s ein andermal, was?« sagte Richard.

»Mag keine Kohle«, sagte Mr. Vandemar. »Muß ich vorn aufstoßen.«

Mr. Croup drohte Mr. Vandemar mit dem Finger. »Er will uns verschaukeln«, sagte er. »Mister Croup und Mister Vandemar verschaukelt man nicht, Freundchen. Wir werden unser Geld schon eintreiben.«

Mr. Vandemar ging dorthin, wo Mr. Croup stand. »Und zwar bis auf den letzten Heller und Pfennig«, sagte er.

»Mit Zinsen«, bellte Mr. Croup.

»Und Fleischerhaken«, fügte Mr. Vandemar hinzu.

»Im Himmel?« rief Richard hinter ihnen.

Mr. Croup und Mr. Vandemar gingen auf den in Gedanken versunkenen Engel zu. »He!« sagte Mr. Croup.

Die Tür hatte sich geöffnet, einen Spalt nur, aber sie war offen. Licht strömte durch den Türspalt. Der Engel trat einen Schritt vor. Es war, als träumte er mit weit offenen Augen. Das Licht aus dem Türspalt badete sein Gesicht, und er trank es wie Wein.

»Fürchtet euch nicht«, sagte er. »Denn wenn die Unermeßlichkeit der Schöpfung mein ist und sich alle um meinen Thron versammeln, um mir ein Hosianna zu singen, werde ich die Würdigen belohnen und jene verstoßen, deren Anblick mir verhaßt ist.«

Und dann murmelte er halblaut noch etwas anderes. Richard hatte nicht genau verstanden, was er gesagt hatte, behauptete allerdings später, es hätte sehr nach: »Zuallererst Gabriel, diesen Mistkerl« geklungen.

Mit einer letzten Kraftanstrengung riß Door die schwarze Tür vollends auf.

Sie waren geblendet von dem, was durch die Tür zu sehen war: ein mahlstromartiger Strudel von Farbe und Licht. Richard kniff die Augen zusammen und wandte den Kopf von dem grellen Leuchten. Sieht so der Himmel aus? Das kommt mir eher wie die Hölle vor.

Und dann spürte er den Wind.

Eine Kerze flog an seinem Kopf vorbei und verschwand durch die Tür. Und dann noch eine. Und dann war die Luft voller Kerzen, die alle durch den Raum auf das Licht zuwirbelten. Es war, als würde der ganze Saal durch die Tür gesogen. Es war jedoch mehr als ein Wind. Das wußte Richard. Seine Handgelenke begannen zu schmerzen, dort, wo sie gefesselt waren – als sei er plötzlich doppelt so schwer. Und dann veränderte sich sein Blickwinkel. Wenn man durch die Tür schaute – schaute man nach unten: Es war nicht nur der Wind, der alles zur Tür zog. Es war die Schwerkraft. Der Wind war nur die Luft im Saal, die an den Ort auf der anderen Seite der Tür gesogen wurde. Er fragte sich, was sich dort befand – die Oberfläche eines Sterns oder der Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs oder etwas, das er sich gar nicht vorstellen konnte.

Islington griff nach dem Pfeiler neben der Tür und hielt sich verzweifelt daran fest.

»Das ist nicht der Himmel«, schrie der Engel. »Du verrückte kleine Hexe! Was hast du getan?«

Doors Hände umkrampften ihre Ketten. Sie sagte nichts, doch in ihren Augen leuchtete Begeisterung.

Mr. Vandemar hatte ein Tischbein zu fassen bekommen, während Mr. Croup Mr. Vandemar zu fassen bekommen hatte.

»Das war nicht der richtige Schlüssel«, sagte Door triumphierend über das Brüllen des Windes hinweg. »Das war nur eine Kopie. Die habe ich auf dem Markt von Hammersmith machen lassen.«

»Aber er hat die Tür geöffnet«, schrie der Engel.

»Nein«, sagte das Mädchen mit den seltsam gefärbten Augen. »Ich habe eine Tür geöffnet. So weit weg, wie ich konnte, habe ich eine Tür geöffnet.«

Im Gesicht des Engels war keine Spur von Freundlichkeit oder Mitgefühl mehr zu sehen; nur Haß, pur und ehrlich und kalt. »Ich werde dich töten«, sagte er.

»Wie Sie meine Familie getötet haben? Ich glaube nicht, daß Sie noch mal jemanden töten werden.«

Der Engel hing mit bleichen Fingern an seinem Pfeiler, doch sein Körper bildete einen rechten Winkel zum Raum und ragte bereits zum größten Teil durch die Tür. Er sah gleichzeitig komisch und furchtbar aus. Er leckte sich die Lippen. »Hör auf!« bettelte er. »Mach die Tür zu! Ich sage dir, wo deine Schwester ist … Sie ist noch am Leben …«

Door zuckte zusammen.

Und Islington wurde durch die Tür gesogen, eine winzige Gestalt, die im Fallen immer kleiner wurde, als der blendende Abgrund auf der anderen Seite sie verschlang.

Der Sog wurde stärker. Richard betete darum, daß seine Ketten und Handschellen hielten: Er spürte, wie er zur Öffnung gezogen wurde, und aus dem Augenwinkel sah er den Marquis an seinen Ketten baumeln, wie eine Marionette, die gleich von einem Staubsauger verschluckt wird.

Der Tisch, an dessen Bein Mr. Vandemar sich festhielt, flog durch die Luft und blieb in der offenen Tür stecken. Mr. Croup und Mr. Vandemar landeten auf der anderen Seite. Mr. Croup, der buchstäblich an Mr. Vandemars Rockschößen hing, holte tief Luft und begann langsam, eine Hand nach der anderen, Mr. Vandemars Rücken hochzuklettern.

Der Tisch knarrte.

Mr. Croup sah Door an, und er lächelte wie ein Fuchs auf LSD. »Ich habe Ihre Familie getötet«, sagte Mr. Croup. »Nicht er. Und jetzt werde ich – endlich – beenden, was ich …«

In diesem Moment gab der Stoff von Mr. Vandemars dunklem Anzug nach. Mr. Croup stürzte schreiend ins Leere, einen langen Streifen schwarzen Stoffs zwischen den Fingern. Mr. Vandemar schaute der armrudernden Gestalt Mr. Croups nach. Auch er sah zu Door hinüber, doch sein Blick enthielt keine Drohung. Er zuckte mit den Schultern, so gut man das eben kann, wenn man sich gleichzeitig auf Leben und Tod an einem Tischbein festhält, und dann sagte er milde: »Nacht«, und ließ das Tischbein los.

Schweigend tauchte er durch die Tür ins Licht, im Fallen schrumpfend, der winzigen Gestalt Mr. Croups hinterher. Bald waren sie nur noch ein schwarzer Punkt in einem Meer schäumenden Lichts, und dann war auch der fort.

Es machte irgendwie Sinn, dachte Richard: Schließlich waren sie ein Team.

Das Atmen wurde schwerer. Richard fühlte sich schwindelig und benommen.

Der Tisch in der Tür zersplitterte und wurde fortgesogen.

Eine von Richards Handschellen sprang auf, und sein rechter Arm riß sich frei. Er griff nach der Kette, die die linke Hand hielt, und umklammerte sie, so fest er konnte, dankbar, daß der gebrochene Finger sich an der Hand befand, die noch gefesselt war. Dennoch schossen rote und blaue Blitze des Schmerzes seinen linken Arm hinauf. Er hörte sich schreien. Er konnte nicht atmen. Weiße Lichtkleckse explodierten hinter seinen Augen.

Er spürte, wie die Kette langsam nachgab …

Dann hörte er nur noch das Geräusch der zuschlagenden schwarzen Tür.

Richard knallte heftig gegen den Pfeiler und sackte auf dem Boden zusammen. In der Halle herrschte Stille; Stille und völlige Dunkelheit, in der Großen Halle unter der Erde.

»Wo haben Sie sie denn hingeschickt?« Das war die Stimme des Marquis.

Und dann hörte Richard eine Mädchenstimme. Er wußte, sie mußte Door gehören, doch sie klang so jung wie die Stimme eines kleinen Kinds beim Schlafengehen. »Weiß ich nicht. Ganz weit weg. Ich … bin jetzt sehr müde. Ich …«

»Door«, sagte der Marquis. »Reißen Sie sich zusammen. « Es war gut, daß er das sagte, dachte Richard. Jemand mußte es tun. Und Richard wußte nicht mehr, wie man sprach.

Es klickte in der Dunkelheit: das Geräusch einer sich öffnenden Handschelle, gefolgt von dem Geräusch von Ketten, die gegen einen Metallpfeiler fielen. Dann das Geräusch eines Streichholzes, das angerissen wurde. Eine Kerze wurde angezündet: Sie brannte schwach und flackerte in der dünnen Luft.

Gibt Kerzenschein uns Licht, dachte Richard, und er wußte nicht mehr, warum.

Door ging auf wackligen Beinen zum Marquis, die Kerze in der Hand. Sie streckte eine Hand aus, berührte seine Ketten, und seine Handschellen öffneten sich klickend. Er rieb sich die Handgelenke.

Dann ging sie zu Richard hinüber und berührte seine verbliebene noch geschlossene Handschelle. Sie öffnete sich. Door seufzte und setzte sich neben ihn. Er streckte den Arm aus, schlang ihn um ihren Kopf und drückte sie an sich. Er wiegte sie langsam vor und zurück und summte ein wortloses Wiegenlied.

Es war kalt, kalt, dort in dem leeren Saal des Engels; doch bald streckte die Wärme der Bewußtlosigkeit ihre Arme aus und hüllte sie beide ein.

Der Marquis de Carabas beobachtete die schlafenden Kinder. Der Gedanke an Schlaf – selbst nur für kurze Zeit in einen Zustand zurückzukehren, der dem Tod so entsetzlich nah war – machte ihm mehr angst, als er je für möglich gehalten hätte. Doch schließlich legte er den Kopf auf den Arm und schloß die Augen.

Und dann war da niemand mehr.


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