Kapitel Drei

Am Sonntag morgen nahm Richard das wie ein Batmobil geformte Telefon, das ihm seine Tante Maude vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, aus der Schublade unten im Kleiderschrank und stöpselte den Stecker in die Wand.

Er versuchte Jessica anzurufen, jedoch ohne Erfolg. Ihr Anrufbeantworter war ausgeschaltet, ebenso ihr Handy. Er nahm an, sie sei zu ihren Eltern aufs Land gefahren.

Richards Eltern waren beide tot. Sein Vater starb, als Richard noch klein war, plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt. Seine Mutter ereilte danach ein sehr langsamer Tod, und als Richard von zu Hause weggegangen war, schwand ihre Lebenskraft einfach dahin: Sechs Monate nach seinem Umzug nach London hatte er den Schlafwagenzug zurück nach Schottland genommen und die letzten beiden Tage an ihrem Bett im Krankenhaus verbracht. Mal hatte sie ihn erkannt, dann wieder mit dem Namen seines Vater angesprochen.

Richard saß auf seiner Couch und brütete vor sich hin. Die Ereignisse der beiden letzten Tage erschienen ihm immer unwirklicher, immer unwahrscheinlicher. Real war die Nachricht, die Jessica auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Er spielte sie an jenem Sonntag wieder und wieder ab, jedesmal in der Hoffnung, daß Jessica diesmal nachgiebiger klänge, daß er Wärme in ihrer Stimme feststellen könne. Aber nein.

Er dachte daran, nach draußen zu gehen und eine Sonntagszeitung zu kaufen, doch er entschied sich dagegen. Arnold Stockton, Jessicas Chef, die Karikatur eines Selfmademans einschließlich des vielfachen Doppelkinns, besaß die Sonntagszeitungen, die nicht Rupert Murdoch gehörten. Seine eigenen Zeitungen schrieben über ihn. Wie auch die übrigen.

Richard nahm lieber ein ausgedehntes, heißes Bad, aß ein paar Sandwiches und trank einige Tassen Tee. Er schaute ein wenig Fernsehen und bastelte im Geiste Gespräche mit Jessica zusammen.

Am Ende dieser imaginären Unterredungen liebten sie sich jedesmal wütend, tränenreich und leidenschaftlich; und dann war alles wieder gut.



Am Montag morgen klingelte Richards Wecker nicht. Um zehn vor neun stürzte er, den Aktenkoffer in der Hand, auf die Straße und glotzte, um ein Taxi betend, wie ein Irrer hin und her.

Dann stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus; denn ein großes schwarzes Auto steuerte mit gelb leuchtendem ›TAXI‹-Schild in seine Richtung. Er winkte ihm zu.

»Taxi!«

Das Taxi schenkte ihm keinerlei Beachtung, glitt sanft an ihm vorbei, bog um eine Ecke und war weg.

Noch ein Taxi. Noch ein gelbes ›Frei‹-Licht. Diesmal stellte sich Richard mitten auf die Straße, um es anzuhalten.

Es umkurvte ihn und fuhr weiter.

Richard begann halblaut zu fluchen.

Dann rannte er zur nächsten U-Bahn-Haltestelle.

Er zog eine Handvoll Münzen aus der Hosentasche, drückte am Fahrkartenautomaten den Knopf für eine einfache Fahrt nach Charing Cross und schob sein Kleingeld in den Schlitz. Jede Münze, die er hineinsteckte, fiel sofort durch die Eingeweide des Automaten hindurch und landete klappernd in der Auffangschale darunter. Kein Tikket erschien.

Er versuchte es an einem anderen Fahrkartenautomaten. Und an noch einem.

Der Fahrkartenverkäufer telefonierte gerade, als Richard zu seinem Büro ging, um sich zu beschweren und sich sein Ticket von Hand zu kaufen; und obwohl – oder vielleicht weil – Richard mehrfach »Ey!« brüllte und verzweifelt mit einer Münze an die Plexiglasscheibe klopfte, ließ der Mann sich nicht stören.

»Scheiß drauf«, verkündete Richard, und er schwang sich über die Absperrung.

Niemand hielt ihn auf.

Niemanden schien es zu kümmern.

Er rannte atemlos und schwitzend die Rolltreppe hinunter und erreichte gerade, als der Zug einlief, den vollen Bahnsteig.

Als Kind hatte Richard Alpträume gehabt, in denen er einfach nicht da war. Wieviel Lärm er auch machte, was er auch anstellte, niemand bemerkte ihn.

So fühlte er sich jetzt, als all die anderen sich vordrängelten; er wurde geschubst und hin- und hergestoßen von Leuten, die einstiegen, und Leuten, die ausstiegen.

Er hielt dagegen, drängelte und schubste zurück, bis er fast drinnen war – einen Arm hatte er schon im Zug –, als die Türen sich zischend zu schließen begannen. Er zog die Hand zurück, doch sein Mantelärmel blieb stecken.

Richard hämmerte an die Tür und schrie, in der Hoffnung, der Fahrer würde die Tür zumindest so weit öffnen, daß er seinen Ärmel freibekam. Doch statt dessen setzte sich der Zug in Bewegung, und Richard sah sich gezwungen, schneller und schneller den Bahnsteig entlangzustolpern.

Er ließ seinen Aktenkoffer auf den Bahnsteig fallen und zerrte verzweifelt mit der freien Hand am Ärmel.

Der Ärmel riß, und er fiel vornüber, schlug sich die Hand am Bahnsteig auf und zerriß sich die Hose am Knie.

Schwankend stand er wieder auf, ging dann den Bahnsteig hinunter und holte seinen Aktenkoffer.

Er schaute seinen zerrissenen Ärmel an, seine aufgeschlagene Hand und seine zerfetzte Hose.

Dann stieg er erschöpft die Treppen hinauf und verließ die U-Bahn-Haltestelle. Niemand wollte auf dem Weg nach draußen seine Fahrkarte sehen.



»Tut mir leid, daß ich zu spät komme«, sagte Richard zu niemandem im besonderen.

Die Uhr an der Bürowand zeigte 10 Uhr 30.

Er ließ seinen Aktenkoffer auf seinen Stuhl fallen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht.

»Ihr werdet nicht glauben, was mir auf dem Weg hierher alles passiert ist«, fuhr er fort. »Es war ein Alptraum.«

Er sah hinunter auf seinen Schreibtisch. Irgend etwas fehlte. Oder genauer gesagt: Alles fehlte.

»Wo sind meine Sachen?« fragte er in den Raum hinein, ein bißchen lauter. »Wo sind meine Telefone? Wo sind meine Trolle?«

Er schaute in die Schreibtischschubladen. Auch sie waren leer: Nicht mal ein Mars-Einwickelpapier oder eine verbogene Büroklammer bezeugten, daß Richard jemals dort gewesen war.

Sylvia kam auf ihn zu, in ein Gespräch mit zwei ziemlich stämmigen Herrn vertieft. Richard ging ihr entgegen.

»Sylvia? Was geht hier vor?«

»Wie bitte?« fragte Sylvia höflich. Sie zeigte den beiden stämmigen Herren den Schreibtisch, den diese, jeder an einem Ende, hochhoben und aus dem Büro zu tragen begannen.

»Mein Schreibtisch. Wo bringen sie ihn hin?«

Sylvia starrte ihn leicht irritiert an. »Wie war doch gleich Ihr Name …?«

Das geht zu weit, dachte Richard. »Richard«, sagte er sarkastisch. »Richard Mayhew.«

»Hallo«, sagte Sylvia. Dann perlte ihre Aufmerksamkeit an Richard ab wie Wasser an einer eingefetteten Ente, und sie sagte: »Nein! Nicht dahin!« zu den Umzugsleuten, die Richards Schreibtisch davontrugen, und eilte ihnen nach.

Richard sah zu, wie sie verschwand. Dann ging er durchs Büro, bis er zu Garrys Schreibtisch kam.

»Garry. Was geht hier vor? Soll das ein Witz sein?«

Garry sah sich um, als hätte er etwas gehört. Dann schüttelte er den Kopf, nahm den Telefonhörer ab und begann zu wählen.

Richard knallte seine Hand aufs Telefon, so daß Garry nicht weiterwählen konnte. »Hör mal, das ist nicht lustig, Garry. Ich weiß nicht, was ihr hier alle für ein Spielchen treibt!« Garry sah zu ihm auf. Richard fuhr fort: »Wenn man mich gefeuert hat, dann sag es mir einfach, aber daß ihr alle so tut, als wär’ ich gar nicht da …«

Und da lächelte Garry und sagte: »Hallo. Ja. Ich bin Garry Perunu. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich glaube nicht«, sagte Richard kalt, und dann ging er hinaus und ließ seinen Aktenkoffer zurück.



Richards Büro befand sich im dritten Stock eines großen, alten, ziemlich zugigen Gebäudes in einer Seitenstraße des Strand.

Jessica arbeitete etwa auf halber Höhe eines großen, gläsernen, verspiegelten Baus in der City of London, fünfzehn Minuten zu Fuß die Straße hoch.

Richard machte sich auf den Weg.

Er war in zehn Minuten beim Stockton-Gebäude, ging einfach an den uniformierten Sicherheitsleuten vorbei die im Erdgeschoß Dienst schoben, betrat den Aufzug und fuhr hoch.

Das Innere des Aufzugs war verspiegelt, und Richard betrachtete sich beim Hochfahren. Seine Krawatte war halb gelöst und hing schief, sein Mantel war zerfetzt, seine Hose zerrissen, sein Haar verschwitzt und ungekämmt … Gott, er sah schrecklich aus.

Ein flötender Ton erklang, und die Aufzugtür öffnete sich.

Die Etage des Stockton-Gebäudes, in der Jessica arbeitete, wirkte auf eine unterdekorierte Art und Weise ziemlich nobel.

Neben dem Aufzug saß eine Empfangsdame, ein erhabenes und elegantes Wesen, das aussah, als würde sein Nettogehalt Richards um Längen schlagen. Sie las Cosmopolitan. Als Richard auf sie zuging, blickte sie nicht auf.

»Ich möchte zu Jessica Bartram«, sagte Richard. »Es ist wichtig. Ich muß sie sprechen.«

Die Empfangsdame ignorierte ihn.

Richard ging den Korridor bis zu Jessicas Büro hinunter. Er öffnete die Tür und trat ein. Sie stand vor drei großen Plakaten, die alle für ›Engel über England – Eine Wanderausstellung‹ warben, jedes mit einer anderen Darstellung eines Engels. Sie drehte sich um, als er hereinkam, und sie lächelte ihn warm an.

»Jessica. Gott sei Dank! Hör zu, ich glaube, ich werde verrückt oder so was. Es fing damit an, daß ich heute morgen kein Taxi bekommen konnte, und dann das Büro und die U-Bahn und – « Er zeigte ihr seinen zerfetzten Ärmel. »Es ist, als sei ich eine Art Unperson geworden.«

Sie lächelte ihn immer noch aufmunternd an.

»Paß auf«, sagte Richard. »Das mit vorgestern abend tut mir leid. Na ja, nicht, was ich getan habe, aber daß ich dich so verärgert habe, und … also, es tut mir leid, aber es ist alles so verrückt, und ich weiß ehrlich nicht mehr, was ich tun soll.«

Und Jessica nickte und fuhr fort zu lächeln, und sie sagte: »Sie werden mich für furchtbar unhöflich halten, aber ich habe ein ganz schlechtes Namensgedächtnis. Geben Sie mir nur einen Moment, es fällt mir bestimmt gleich ein.«

Und da wußte Richard, daß es Wirklichkeit war. Daß all die verrückten Dinge, die ihm heute widerfuhren, wirklich passierten.

»Schon gut«, sagte er. »Vergiß es.«

Und er ging fort, aus der Tür hinaus und den Korridor entlang. Er war fast beim Aufzug, als sie seinen Namen rief.

»Richard!«

Er drehte sich um. Es war doch ein Scherz gewesen. Irgendeine fiese kleine Rache. Etwas, das er erklären konnte. »Richard … Maybury?« Sie schien stolz darauf zu sein, daß sie sich so weit erinnerte.

»Mayhew«, sagte Richard, und er trat in den Aufzug, und die Türen sangen traurig einen absteigenden Flötentriller, als sie sich hinter ihm schlossen.



Richard ging zurück zu seiner Wohnung, aufgebracht und verwirrt und wütend. Manchmal winkte er einem Taxi, aber er hatte eigentlich keine Hoffnung, daß es anhalten würde, und es hielt auch keins.

Seine Füße taten weh, und seine Augen brannten, und er wußte, daß er schon bald von dem heutigen Tag erwachen und ein richtiger Montag, ein vernünftiger Montag, ein anständiger, ehrlicher Montag anbrechen würde.

Er ließ heißes Wasser in die Badewanne, legte seine Sachen aufs Bett und stieg in die Wanne.

Er war beinahe eingedöst, als er hörte, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde, eine Tür sich öffnete und schloß und eine zuckersüße männliche Stimme sagte:

»Sie sind natürlich die ersten, denen ich heute die Wohnung zeige, aber ich habe eine ellenlange Liste von Interessenten.«

»Sie ist nicht so groß, wie es in den Unterlagen den Anschein hatte«, sagte eine Frau.

»Sie ist kompakt, ja. Aber ich finde, das ist eher ein Vorteil.«

Richard hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Badezimmertür zu schließen. Schließlich war er allein in der Wohnung.

Eine barschere, rauhere männliche Stimme sagte: »Ich dachte, Sie hätten gesagt, es sei eine unmöblierte Wohnung. Mir sieht sie verdammt möbliert aus.«

»Der Vormieter muß seine Wohnungseinrichtung zum Teil hiergelassen haben. Komisch. Davon hat mir niemand etwas gesagt.«

Richard erhob sich in der Wanne. Dann setzte er sich wieder hin, denn er war nackt, und sie konnten jeden Moment hereinkommen. Und dann schaute er sich ziemlich verzweifelt im Badezimmer nach einem Handtuch um.

»Oh, schau mal, George«, sagte die Frau im Flur. »Da hat jemand ein Handtuch auf dem Stuhl liegenlassen.«

Richard zog eine Loofah-Gurke, eine halbleere Shampooflasche und eine kleine gelbe Gummiente als Handtuch-Alternativen in Betracht und verwarf alle als ungeeignet.

»Wie ist das Badezimmer?« fragte die Frau.

Richard schnappte sich einen Waschlappen und drapierte ihn vor seinem Schoß. Dann stand er auf, mit dem Rücken zur Wand, und machte sich auf eine entsetzliche Peinlichkeit gefaßt.

Die Tür wurde aufgestoßen. Drei Menschen kamen ins Badezimmer: ein junger Mann in einem Kamelhaarmantel und ein Paar mittleren Alters. Richard fragte sich, ob ihnen die Situation ebenso unangenehm war wie ihm.

»Ein bißchen klein«, sagte die Frau.

»Kompakt«, berichtigte der Kamelhaarmantel zuckersüß. »Leicht sauberzuhalten.«

Die Frau fuhr mit dem Finger am Waschbeckenrand entlang und rümpfte die Nase.

»Ich glaube, wir haben alles gesehen«, sagte der Mann mittleren Alters.

Sie verließen das Badezimmer.

»Es wäre wirklich in jeder Hinsicht ziemlich praktisch«, sagte die Frau. Das Gespräch wurde in leiserer Tonlage fortgeführt. Richard stieg aus der Wanne und schlich hinüber zur Tür. Er entdeckte das Handtuch auf dem Stuhl im Flur, und er beugte sich hinaus und schnappte es sich.

»Wir nehmen sie«, sagte die Frau.

»Ach ja?« fragte der Kamelhaarmantel.

»Sie ist genau das, was wir suchen«, erklärte sie. »Wird sie zumindest sein, wenn wir sie erst mal eingerichtet haben. Könnte sie bis Mittwoch bezugsfertig sein?«

»Natürlich, morgen werden wir den ganzen Müll hier wegräumen, kein Problem.«

Richard, frierend und tropfend in sein Handtuch gewickelt, funkelte sie vom Eingang aus wütend an.

»Das ist kein Müll«, sagte er. »Das sind meine Sachen.«

»Dann holen wir die Schlüssel bei Ihnen im Büro ab.«

Auf dem Weg zur Wohnungstür drängelten sich die drei an Richard vorbei.

»Hat mich gefreut«, sagte der Kamelhaarmantel.

»Können Sie … kann mich hier irgend jemand hören? Das ist meine Wohnung. Ich wohne hier.«

»Wenn Sie mir den Vertrag ins Büro faxen würden – « sagte der barsche Mann, dann schlug die Tür hinter ihnen zu, und Richard stand im Flur seiner ehemaligen Wohnung, und er schauderte in der Stille vor Kälte.

»Das«, verkündete Richard, ungeachtet dessen, was er mit eigenen Augen und Ohren wahrgenommen hatte, »kann nicht wahr sein.«

Das Batfon schrillte, und seine Scheinwerfer blinkten. Richard nahm mißtrauisch den Hörer ab.

»Hallo?«

In der Leitung zischte und knackte es, als käme der Anruf von ganz weit her. Die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte er nicht.

»Mister Mayhew?« fragte der Anrufer. »Mister Richard Mayhew?«

»Ja«, sagte er. Und dann, erfreut: »Sie können mich hören ! Gott sei Dank. Wer ist da?«

»Mein Partner und ich waren am Samstag bei Ihnen, Mister Mayhew. Ich habe Sie über den Aufenthaltsort einer gewissen jungen Dame befragt. Erinnern Sie sich?« Der Tonfall war schmierig, eklig, füchsisch verschlagen.

»Oh. Ja. Sie sind das.«

»Mister Mayhew. Sie sagten, Door sei nicht bei Ihnen. Wir haben Grund zu der Annahme, daß Sie die Wahrheit mehr als nur ein wenig verschleiert haben.«

»Na ja, sie haben immerhin gesagt, Sie wären ihr Bruder. «

»Alle Menschen sind Brüder, Mister Mayhew.«

»Sie ist nicht mehr hier. Und ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Das ist uns bekannt, Mister Mayhew. Diese beiden Tatsachen sind uns durchaus nicht entgangen. Und, um ganz offen mit Ihnen zu sprechen, Mister Mayhew, und ich bin sicher, daran ist Ihnen gelegen, nicht wahr: Wenn ich Sie wäre, würde ich aufhören, mir Sorgen um die junge Dame zu machen. Doors Tage sind gezählt, und die fragliche Zahl ist noch nicht einmal zweistellig.«

»Hören Sie, warum haben Sie mich angerufen?«

»Mister Mayhew«, sagte Mr. Croup zuvorkommend, »wissen Sie, wie Ihre eigene Leber schmeckt?«

Richard erwiderte nichts.

»Mister Vandemar hat mir nämlich versprochen, daß er sie Ihnen persönlich herausschneiden und ins Maul stopfen wird, bevor er Ihnen Ihre armselige kleine Kehle durchschneidet. Sie werden es also noch erfahren, nicht wahr?«

»Ich rufe die Polizei. Ich lasse mich nicht bedrohen.«

»Mister Mayhew. Sie können anrufen, wen Sie wollen. Doch ich würde es außerordentlich bedauern, wenn Sie glaubten, wir würden Sie bedrohen. Weder ich noch Mister Vandemar haben Sie bedroht, nicht wahr, Mister Vandemar?«

»Nein? Was zum Teufel tun Sie dann?«

»Wir machen Ihnen Versprechungen«, sagte Mr. Croup durch das Knistern und den Hall und das Zischen hindurch. »Und wir wissen, wo Sie wohnen.«

Und er hängte ein.

Richard umklammerte das Batfon und starrte es an, dann drückte er dreimal die Neun-Taste.

»Notrufzentrale. Wen möchten Sie sprechen?«

»Können Sie mich bitte mit der Polizei verbinden? Mir hat gerade ein Mann gedroht, mich umzubringen, und ich glaube nicht, daß das ein Witz war.«

Einen Moment war es still. Er hoffte, er würde zur Polizei durchgestellt. Nach einer Weile sagte die Stimme: »Notrufzentrale. Hallo? Ist da jemand? Hallo?«

Und da legte Richard den Hörer auf und ging in sein Schlafzimmer und zog sich an, weil er fror und nackt war und Angst hatte, und weil es sonst eigentlich nichts gab, was er tun konnte.



Er zog die schwarze Sporttasche unter dem Bett hervor und packte Socken hinein. Unterhosen. Ein paar T-Shirts. Seinen Ausweis. Seine Brieftasche.

Er trug Jeans, Turnschuhe, einen dicken Pullover.

Ihm fiel wieder ein, wie das Mädchen, das sich Door nannte, sich von ihm verabschiedet hatte. Wie sie gezögert hatte. Wie sie gesagt hatte, es täte ihr leid …

»Du hast es gewußt«, sagte er zu der leeren Wohnung. »Du hast gewußt, daß das passieren würde.«

Er ging in die Küche, nahm etwas Obst aus der Schale und steckte es in die Tasche. Dann zog er den Reißverschluß zu und ging hinaus auf die dunkle Straße.

Der Geldautomat schluckte seine Karte mit einem Surren. BITTE GEBEN SIE IHRE GEHEIMZAHL EIN, stand auf dem Bildschirm.

Richard tippte seine Geheimzahl ein.

Die Schrift verschwand. Dann stand da: BITTE WARTEN SIE.

Der Bildschirm war leer. Irgendwo in den Tiefen des Geräts grummelte und knurrte es.

DIESE KARTE IST UNGÜLTIG. BITTE WENDEN SIE SICH AN IHRE BANK.

Mit einem Schnarren glitt die Karte wieder heraus.

»Haben Sie etwas Kleingeld?« fragte eine dünne Stimme hinter ihm.

Richard reichte dem Mann seine Bankkarte.

»Hier«, sagte er. »Die können Sie behalten. Da sind ungefähr fünfzehnhundert Pfund drauf, wenn Sie es schaffen, da ranzukommen.«

Der Mann, der groß und dünn war und einen borstigen hellen Bart und Hände voller Straßenschmutz hatte, nahm die Karte, schaute sie an, drehte sie um und sagte trocken: »Danke. Wenn Sie noch sechzig Pence drauflegen, krieg’ ich dafür ’ne schöne Tasse Kaffee.« Er gab Richard seine Karte zurück. Richard nahm seine Tasche. Und dann wandte er sich wieder zu dem Mann um und sagte: »Moment mal. Sie können mich sehen.«

»Ich hab’ doch Augen im Kopf«, erwiderte der Mann.

»Sagen Sie mal«, sagte Richard, »haben Sie schon mal was von einem Ort namens ›Wandermarkt‹ gehört? Da muß ich hin. Es gibt da ein Mädchen namens Door …«

Doch der Mann wich nervös vor Richard zurück.

»Hören Sie, ich brauche wirklich Hilfe«, sagte Richard. »Bitte!«

Der Mann starrte ihn an.

Richard seufzte. »Schon gut«, sagte er. »Tut mir leid, daß ich Sie belästigt habe.«

Er wandte sich ab, umklammerte den Griff seiner Tasche mit beiden Händen, so daß sie kaum noch zitterten, und begann, die High Street hinunterzugehen.

»Hey«, zischte der Mann.

Richard schaute sich um. Der Mann winkte ihn zu sich. »Kommen Sie, hier runter, aber schnell!«

Der Mann eilte neben der Straße ein paar Stufen hinunter – Stufen voller Müll, wie sie normalerweise zu verlassenen Souterrainwohnungen hinabführen. Richard stolperte hinter ihm her. Am Fuß der Treppe befand sich eine Tür. Der Mann stieß sie auf, wartete, bis Richard hindurchgegangen war, und schloß die Tür hinter ihnen.

Sie standen im Dunkeln.

Ein Kratzen war zu hören und das Geräusch eines aufflammenden Streichholzes. Der Mann hielt das Streichholz an den Docht einer alten Eisenbahnerlampe, der Feuer fing und etwas weniger Licht abgab als vorher das Streichholz, und sie gingen zusammen durch die Finsternis.

Es roch muffig, nach feuchten, alten Backsteinen, nach Moder und der Dunkelheit.

»Wo sind wir?« flüsterte Richard.

Sein Führer bedeutete ihm, er solle still sein.

Sie kamen zu einer weiteren Tür in einer Wand.

Der Mann klopfte einen bestimmten Rhythmus an die Tür. Stille.

Die Tür ging auf.

Einen Moment lang war Richard von dem plötzlichen Licht geblendet. Er stand in einem riesigen, gewölbten Raum, einem unterirdischen Saal, von Flammen erleuchtet und voller Rauch. Kleine Feuer brannten ringsum an den Wänden. Schattenhafte Menschen standen an den Feuern und rösteten kleine Tiere auf Spießen. Leute huschten von Feuer zu Feuer.

Es erinnerte ihn an die Hölle. Oder vielmehr daran, wie er sich als Schuljunge die Hölle vorgestellt hatte.

Der Rauch kratzte in seinem Hals, und er hustete.

Hundert Augen starrten ihn an. Hundert Augen, starr und unfreundlich.

Ein Mann trippelte auf ihn zu. Er hatte langes Haar, einen zerrupften Bart, und seine zerlumpte Kleidung schien Richard mit Pelz gesäumt zu sein – mit orange und weißem und schwarzem Pelz, einer Art Katzenfell. Er war groß, doch er ging gebückt, die Hände vor der Brust.

»Was? Was ist los? Was soll das?« fragte er Richards Führer. »Wen bringst du uns da, Iliaster? Sprich-sprich-sprich. «

»Er kommt von der Oberseite«, sagte sein Führer. (Iliaster? dachte Richard.) »Hat nach Lady Door gefragt. Und nach dem Wandermarkt. Hab’ ihn lieber zu Ihnen gebracht, Lord Rattensprecher. Dachte mir, Sie wüßten bestimmt, was mit ihm zu tun ist.«

Jetzt waren sie von über einem Dutzend pelzgesäumter Menschen umringt. Frauen und Männern, und sogar ein paar Kindern. Sie huschten in abgehackten Bewegungen umher: Augenblicke der Unbeweglichkeit wechselten sich mit abruptem Vorpreschen ab.

Lord Rattensprecher griff in seine pelzgesäumten Lumpen und zog einen gefährlich aussehenden, etwa zwanzig Zentimeter langen Glassplitter hervor. Ein um die untere Hälfte gewickeltes schlecht gegerbtes Fell bildete einen improvisierten Griff.

Das Licht der Flammen glitzerte in der gläsernen Klinge.

Lord Rattensprecher setzte Richard die Scherbenklinge an die Kehle.

»Oh ja. Ja-ja-ja«, fiepte er keckernd. »Ich weiß genau, was mit ihm zu tun ist.«


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