Kapitel Eins

Sie war jetzt vier Tage lang gerannt, planlos durch Gänge und Tunnel geflohen. Sie war hungrig und erschöpft, und die Türen ließen sich immer schwerer öffnen.

Sie fand ein Versteck, eine winzige steinerne Höhle unter der Welt, in der sie in Sicherheit war, zumindest betete sie darum, und endlich schlief sie.



Mr. Croup hatte Ross auf dem letzten Wandermarkt engagiert, der in der Westminster Abbey abgehalten wurde. »Betrachten Sie ihn«, sagte er zu Mr. Vandemar, »als Kanarienvogel. «

»Singt er?« fragte Mr. Vandemar. »Da habe ich meine Zweifel, da habe ich allergrößte Zweifel. Nein, mein feiner Freund, das war metaphorisch gemeint: Ich dachte eher an die Vögel, die man mit ins Bergwerk nimmt, um das Gas zu bemerken.«

Vandemar nickte.

Abgesehen davon hatte Mr. Ross keine Ähnlichkeit mit einem Kanarienvogel: Er war riesengroß – fast so groß wie Mr. Vandemar – und schmutzig, und er sagte sehr wenig, hatte ihnen jedoch ausdrücklich erklärt, daß er gern töte und diese seine Sache gut mache; und darüber amüsierten sich Mr. Croup und Mr. Vandemar, wie etwa Dschingis-Khan sich über das Geprahle eines jungen Mongolen amüsiert haben mag, der gerade sein erstes Dorf geplündert oder seine erste Jurte in Brand gesteckt hatte. Er war ein Kanarienvogel, ohne es zu wissen. Mr. Ross ging also voran, in seinem dreckigen T-Shirt und seinen verkrusteten Jeans, und Croup und Vandemar folgten ihm in ihren eleganten schwarzen Anzügen.

Es raschelte in der Dunkelheit des Tunnels; Mr. Vandemars Messer war in seiner Hand, und dann war es nicht mehr in seiner Hand, sondern zitterte leise in fast zehn Meter Entfernung.

Er ging hinüber und hob es auf. Die Klinge hatte eine Ratte durchbohrt. Ihr Maul öffnete und schloß sich hilflos, während sie ihr Leben aushauchte. Er zerquetschte ihren Schädel zwischen Daumen und Finger.

»Na, wenigstens eine Ratte, die nicht mehr Mäuschen spielen wird«, sagte Mr. Croup. Er lachte leise über seinen eigenen Witz.

Mr. Vandemar sagte nichts.

»Ratte. Mäuschen. Kapiert?«

Mr. Vandemar zog die Ratte von der Klinge und begann nachdenklich daran zu kauen.

Mr. Croup schlug sie ihm aus den Händen. »Lassen Sie das«, sagte er. Mr. Vandemar steckte etwas verdrossen sein Messer weg.

»Kopf hoch!« zischte Mr. Croup ermutigend. »Das wird nicht die letzte Ratte gewesen sein. Und jetzt weiter! Wir haben zu tun. Leuten zu schaden.«



Drei Jahre in London hatten zwar Richard nicht verändert, aber den Eindruck, den er von der Stadt hatte.

Gleich nach seiner Ankunft war London ihm riesig erschienen, seltsam, zutiefst unbegreiflich. Allein der U-Bahn-Plan verlieh der Stadt einen Anschein von Ordnung.

Nach und nach war ihm klargeworden, daß der U-Bahn-Plan eine praktische Fiktion war, die einem zwar das Leben erleichterte, jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit der Realität aufwies: Wie die Mitgliedschaft in einer politischen Partei, hatte er einmal stolz gedacht und sich dann, nachdem er auf einer Party einem Häuflein perplexer fremder Leute die Ähnlichkeit zwischen dem U-Bahn-Plan und der Politik zu erklären versucht hatte, entschlossen, politische Kommentare in Zukunft anderen zu überlassen.

Mit der Zeit stellte er fest, daß London ihm selbstverständlich geworden war; nach einer Weile begann er stolz darauf zu sein, daß er keine der Londoner Sehenswürdigkeiten besichtigt hatte (außer dem Tower of London, als seine Tante Maud für ein Wochenende in der Stadt war und Richard widerwillig den Fremdenführer für sie spielen mußte).

Mit Jessica änderte sich all das. Zu seinem Erstaunen begleitete Richard sie an ansonsten vernünftigen Wochenenden an Orte wie die National Gallery und die Tate, wo er lernte, daß einem die Füße wehtun, wenn man zu lange in Galerien herumläuft, daß die großen Kunstschätze der Welt nach einer Weile alle miteinander verschwimmen und daß es beinahe die Grenzen des menschlichen Vorstellungsvermögens überschreitet, wieviel in einer Museumscafeteria ein Stück Kuchen und eine Tasse Tee kosten.

»Hier, dein Tee und dein Eclair«, sagte er. »Es wäre billiger gewesen, einen von diesen Tintorettos zu kaufen.«

»Übertreib nicht«, erwiderte Jessica munter. »Außerdem gibt es in der Tate keine Tintorettos.«

»Ich hätte doch so ein Stück Kirschkuchen nehmen sollen«, meinte Richard. »Dann könnten sie sich jetzt noch einen van Gogh leisten.«

»Nein«, sagte Jessica völlig richtig, »könnten sie nicht.«

Richard hatte Jessica in Frankreich kennengelernt, auf einem Wochenendtrip nach Paris vor zwei Jahren; ausgerechnet im Louvre, wo er auf der Suche nach seinen Kollegen, die die Reise organisiert hatten, rückwärts in Jessica hineingelaufen war, die gerade einen extrem großen, historisch bedeutenden Diamanten betrachtete. Er versuchte, sich auf Französisch bei ihr zu entschuldigen, gab auf und begann, sich auf Englisch zu entschuldigen, und dann versuchte er, sich auf Französisch dafür zu entschuldigen, daß er sich auf Englisch entschuldigen mußte, bis er merkte, daß Jessica so englisch war, wie man nur irgend sein konnte, und dann ließ sie sich von ihm als Entschuldigung ein teures französisches Sandwich kaufen und einen moussierenden Apfelsaft zu einem horrenden Preis, und, tja, so fing eigentlich alles an.

Danach war es ihm nicht mehr gelungen, Jessica davon zu überzeugen, daß er nicht der Typ war, der in Kunstgalerien ging.

Richard war von Jessica, die schön war und oft recht witzig und es mit Sicherheit zu etwas bringen würde, zutiefst beeindruckt. Und Jessica sah in Richard ein enormes Potential, das ihn, wenn es von der richtigen Frau entsprechend genutzt wurde, zum perfekten Ehe-Accessoire machen würde. Wenn er nur ein bißchen zielstrebiger wäre, pflegte sie vor sich hin zu murmeln, und so schenkte sie ihm Bücher mit Titeln wie Dress for Success und Hundertfünfundzwanzig Tips erfolgreicher Männer und andere über die Kunst, ein Geschäft wie einen militärischen Feldzug zu leiten, und Richard bedankte sich immer und nahm sich immer vor, sie zu lesen. Sie kaufte ihm die Kleidung, die er ihrer Meinung nach tragen sollte – und er trug sie, unter der Woche; und eines Tages, als sie den Zeitpunkt für gekommen hielt, sagte sie ihm, sie würden jetzt einen Verlobungsring kaufen gehen.

»Warum bist du mit ihr zusammen?« fragte Garry aus der Buchhaltung achtzehn Monate später. »Sie ist doch schrecklich.«

Richard schüttelte den Kopf. »Wenn man sie erst mal richtig kennenlernt, ist sie wirklich nett.«

Garry stellte den Troll, den er von Richards Schreibtisch genommen hatte, wieder hin. »Wundert mich bloß, daß sie dich hiermit noch spielen läßt.«

»Das Thema ist nie zur Sprache gekommen«, sagte Richard. Das Thema war sehr wohl zur Sprache gekommen. Jessica hatte sich jedoch eingeredet, Richards Trollsammlung sei ein Zeichen liebenswürdiger Exzentrik, vergleichbar mit Mr. Stocktons Engelsammlung. Jessica war gerade dabei, eine Wanderausstellung von Mr. Stocktons Engelsammlung zu organisieren, und sie war zu dem Schluß gekommen, daß große Männer immer irgend etwas sammeln.

Eigentlich sammelte Richard gar keine Trolle. In Wirklichkeit hatte er bloß in einem schwachen und ziemlich erfolglosen Versuch, seiner Arbeitswelt ein wenig Persönlichkeit einzuhauchen, an strategisch wichtigen Punkten seines Schreibtischs Plastiktrolle verteilt. Außerdem stand da ein Foto von Jessica. Heute klebte ein gelber Post-it-Zettel daran.

Es war Freitag nachmittag.

Richard hatte festgestellt, daß Ereignisse Feiglinge waren : Sie traten nicht einzeln auf, sondern in Rudeln, und stürzten alle auf einmal über ihn herein. Zum Beispiel an diesem Freitag. Es war, wie ihm Jessica im letzten Monat mindestens ein Dutzend Mal erklärt hatte, der wichtigste Tag seines Lebens. Natürlich nicht der wichtigste Tag ihres Lebens. Das würde irgendein Tag in der Zukunft sein, wenn sie, woran Richard nicht zweifelte, Premierministerin, Königin oder Gott würde. Doch es war ohne Frage der wichtigste Tag seines Lebens. Und so war es Pech, daß Richard ihn, trotz des Post-it-Zettels zu Hause an seiner Kühlschranktür und trotz des anderen Post-it-Zettels an dem Foto von Jessica auf seinem Schreibtisch, total vergessen hatte.

Außerdem hatte er den Kopf mit dem längst überfälligen Wandsworth-Bericht voll. Richard prüfte eine weitere Zahlenreihe; dann bemerkte er, daß Seite siebzehn verschwunden war, und ließ sie noch mal ausdrucken; kontrollierte noch eine Seite, und er wußte, wenn man ihn nur in Ruhe arbeiten ließe … wenn, Wunder über Wunder, das Telefon nicht klingelte …

Es klingelte. Er schaltete auf Lautsprecher.

»Hallo? Richard? Der Chef möchte wissen, wann er den Bericht bekommt.«

Richard schaute auf seine Armbanduhr. »In fünf Minuten, Sylvia. Ich bin fast fertig. Es fehlt nur noch die Gewinn-und-Verlust-Prognose. «

»Danke, Dick. Ich hol’s mir gleich ab.«

Sylvia war, wie sie gern erklärte, »die persönliche Assistentin des Geschäftsführers«, und sie verbreitete eine Atmosphäre knackig frischer Effizienz.

Er drückte noch einmal auf den Knopf, und das Telefon klingelte sofort wieder.

»Richard«, sagte der Lautsprecher mit Jessicas Stimme, »hier ist Jessica. Du hast es doch nicht vergessen, oder?«

»Vergessen?« Er versuchte sich zu erinnern, was er vergessen haben könnte. Hilfesuchend schaute er Jessicas Foto an und fand die benötigte Hilfe in Form eines gelben Post-it-Zettels, der an ihrer Stirn klebte. »Richard? Nimm den Hörer ab.« Er nahm den Hörer ab und las dabei den Post-it-Zettel. »Tut mir leid, Jess. Nein, ich hab’s nicht vergessen. Heute abend um sieben, im Ma Maison Italiano. Treffen wir uns da?«

»Jessica, Richard. Nicht Jess.« Sie zögerte einen Moment. »Nach allem, was letztesmal passiert ist? Lieber nicht. Du würdest dich sogar in deinem eigenen Garten verlaufen, Richard.«

Richard wollte sie gerade darauf hinweisen, daß schließlich jeder die National Gallery mal mit der National Portrait Gallery hätte verwechseln können und daß es schließlich nicht sie gewesen war, die den ganzen Tag im Regen gestanden hatte (was seiner Meinung nach ein ebenso großes Vergnügen war, wie in einer der beiden Galerien herumzulaufen, bis ihm die Füße wehtaten), doch er besann sich eines Besseren.

»Ich hol’ dich bei dir zu Hause ab«, sagte Jessica. »Wir können zusammen zu Fuß hingehen.«

»Okay, Jess. Jessica – ’tschuldigung.«

»Du hast doch unsere Reservierung bestätigt, oder, Richard?«

»Ja«, log Richard überzeugend. Das andere Telefon auf seinem Schreibtisch hatte begonnen, schrill zu klingeln. »Jessica, hör mal, ich …«

»Gut«, sagte Jessica, und sie unterbrach die Verbindung.

Die größte Summe, die Richard je für etwas ausgegeben hatte, hatte er vor achtzehn Monaten für Jessicas Verlobungsring bezahlt.

Er nahm das andere Telefon ab.

»Hi, Dick«, sagte Garry. »Ich bin’s, Garry.«

Garry saß ein paar Tische von Richard entfernt. Er winkte Richard von seinem leuchtend trollfreien Schreibtisch aus zu. »Bleibt es dabei, daß wir noch einen zusammen trinken? Du hast gesagt, wir könnten die Merstham-Sache noch mal durchgehen.«

»Geh aus der verdammten Leitung, Garry. Natürlich bleibt es dabei.«

Richard legte auf. Am unteren Ende des Post-it-Zettels stand eine Telefonnummer; Richard hatte sich die Notiz vor ein paar Wochen selbst geschrieben. Und er hatte einen Tisch reserviert; da war er fast sicher. Aber er hatte die Reservierung nicht bestätigt. Er hatte es immer vorgehabt, aber es gab so viel zu tun, und Richard wußte, daß der Termin noch lange hin war. Doch Ereignisse treten in Rudeln auf …

Sylvia stand jetzt neben ihm. »Dick? Der Wandsworth-Bericht ?«

»Fast fertig, Sylvia. Eine Sekunde noch, ja?«

Er tippte die Nummer zu Ende ein und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als jemand abnahm. »Ma Maison. Sie wünschen bitte?«

»Einen Dreiertisch für heute abend«, sagte Richard. »Ich glaube, ich habe schon einen reservieren lassen. Wenn ja, möchte ich hiermit die Reservierung bestätigen. Wenn nein, würde ich gerne einen reservieren. Bitte.«

Nein, sie hatten keinen Vermerk über einen Tisch für heute abend auf den Namen Mayhew. Oder Stockton. Oder Bartram – Jessicas Nachname. Und was eine Reservierung anging …

Es waren nicht die Worte, die Richard unfreundlich fand, es war der Ton, in dem die Information vermittelt wurde. Ein Tisch für heute abend hätte auf jeden Fall schon vor Jahren gebucht werden müssen, vielleicht von Richards Eltern. Heute abend könne er unmöglich einen Tisch bekommen: Wenn der Papst, der Premierminister und der französische Präsident heute abend ohne eine bestätigte Reservierung ankämen, würden sogar sie vor die Tür gesetzt.

»Aber es ist für den Chef meiner Verlobten. Ich weiß, ich hätte früher anrufen müssen. Wir sind doch nur zu dritt, könnten Sie nicht bitte …«

Man hatte aufgelegt.

»Richard?« sagte Sylvia. »Der Chef wartet.«

»Glauben Sie«, fragte Richard, »daß sie mir einen Tisch geben, wenn ich noch mal anrufe und ihnen Geld dafür biete?«



In ihrem Traum waren sie alle zusammen im Haus. Ihre Eltern, ihr Bruder, ihre Schwester. Sie standen im Ballsaal. Sie waren alle so blaß, so ernst. Portia, ihre Mutter, berührte ihre Wange und sagte ihr, sie sei in Gefahr. In ihrem Traum lachte Door und erwiderte, das wisse sie. Ihre Mutter schüttelte den Kopf: Nein, nein – jetzt sei sie in Gefahr. Jetzt.

Door öffnete die Augen. Die Tür ging auf, ganz leise; sie hielt den Atem an.

Leise Schritte auf den Steinen. Vielleicht bemerkt er mich nicht, dachte sie. Vielleicht geht er wieder. Und dann dachte sie verzweifelt: Ich habe Hunger.

Die Schritte hielten inne. Sie war gut versteckt, das wußte sie, unter einem Haufen Zeitungen und Lumpen. Und es war möglich, daß der Eindringling ihr nichts Böses wollte. Kann er mein Herz nicht klopfen hören? Und dann kamen die Schritte näher, und sie wußte, was sie zu tun hatte, und das machte ihr angst.

Eine Hand zog weg, worunter sie sich verbarg, und sie blickte in ein ausdrucksloses Gesicht, das sich zu einem bösartigen Lächeln verzog. Sie rollte sich zur Seite und krümmte sich, und die Messerklinge, die auf ihre Brust gezielt hatte, traf sie in den Oberarm.

Bis zu diesem Moment hätte sie nie geglaubt, daß sie es tun könnte. Hätte nie geglaubt, daß sie mutig genug sein würde oder ängstlich genug oder verzweifelt genug, sich das zu trauen. Aber sie streckte eine Hand nach seiner Brust aus, und sie öffnete …

Es war naß und warm und glitschig, und sie schob sich unter dem Mann hervor, erhob sich schwankend und stolperte aus dem Raum.

In dem engen, niedrigen Tunnel draußen sackte sie gegen die Wand und versuchte keuchend und schluchzend wieder zu Atem zu kommen.

Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sie konnte nicht mehr. In ihrer Schulter begann es zu pochen. Das Messer, dachte sie. Doch sie war in Sicherheit.

»Ach, du meine Güte«, sagte zu ihrer Rechten eine Stimme aus der Dunkelheit. »Sie hat Mr. Ross überlebt. Das ist ja allerhand, Mister Vandemar.« Die Stimme klang so, wie brauner Schleim sich anfühlt.

»Das ist auch allerhand, Mister Croup«, sagte eine ausdruckslose Stimme zu ihrer Linken.

Ein Licht wurde angezündet und flackerte. »Uns jedoch«, sagte Mr. Croup, und seine Augen leuchteten in der Dunkelheit unter der Erde, »wird sie nicht überleben. «

Door stieß ihm kräftig das Knie in die Leistengegend: Sie spürte, wie sich unter dem Stoff etwas krümmte, und sie rannte los, die rechte Hand auf der linken Schulter.

Und sie rannte.

»Dick?«

Richard wischte die Unterbrechung mit einer Handbewegung weg. Er hatte das Leben jetzt fast unter Kontrolle. Nur noch einen Moment …

Garry wiederholte seinen Namen noch mal. »Dick? Es ist halb sieben.«

»Es ist was?«

Papiere und Stifte und Kalkulationstabellen und Trolle landeten in Richards Aktentasche. Er ließ die Tasche zuschnappen und rannte los.

Seinen Mantel zog er im Gehen an. Garry folgte ihm. »Gehen wir denn nun einen trinken?«

»Einen trinken?«

»Wir wollten eigentlich heute abend über die Merstham-Sache reden. Weißt du noch?«

Das war heute? Richard hielt einen Moment inne. Wenn Desorganisation, beschloß er, jemals zu einer olympischen Disziplin würde, könnte er darin für England antreten.

»Garry«, sagte er. »Tut mir leid. Meine Schuld. Ich muß mich heute mit Jessica treffen. Wir gehen mit ihrem Chef essen.«

»Mister Stockton? Von Stockton’s? Der Stockton?« Richard nickte.

Sie eilten die Treppe hinunter.

»Da wirst du dich bestimmt gut amüsieren«, sagte Garry. »Und wie geht’s dem Schrecken vom Amazonas?«

»Jessica kommt aus Ilford, Garry. Und sie ist immer noch das Licht und die Liebe meines Lebens, danke der Nachfrage.«

Damit waren sie in der Lobby angekommen, und Richard schoß auf die Automatiktür zu, die auf sensationelle Weise geschlossen blieb.

»Es ist nach sechs, Mister Mayhew«, sagte Mr. Figgis, der Pförtner des Gebäudes. »Sie müssen sich aus der Anwesenheitsliste austragen, wenn Sie gehen wollen.«

»Das hat mir noch gefehlt«, sagte Richards zu niemandem im Besonderen, »das hat mir wirklich noch gefehlt.«

Mr. Figgis roch schwach nach Hustensaft und besaß weitverbreiteten Gerüchten zufolge eine umfassende Sammlung von Softcore-Pornographie. Er bewachte die Türen mit einer Sorgfalt, die an Irrsinn grenzte, denn er hatte es nie richtig wiedergutmachen können, daß sich eines Abends die Computerausrüstung eines gesamten Stockwerks verabschiedet hatte, zusammen mit zwei Topfpalmen und dem Axminster-Teppich des Geschäftsführers.

»Aus unserem Drink wird also nichts?«

»Tut mir leid, Garry. Paßt es dir am Montag?«

»Klar. Montag ist mir recht. Bis Montag.«

Mr. Figgis inspizierte ihre Unterschriften und vergewisserte sich, daß sie keine Computer, Topfpalmen oder Teppiche mit sich führten, dann drückte er einen Knopf unter seinem Schreibtisch, und die Tür glitt auf.

»Türen«, sagte Richard.



Die Unterführung verzweigte und teilte sich; ohne zu überlegen, in welche Richtung, lief sie immer weiter, in Tunnel abtauchend und stolpernd und Haken schlagend.

Hinter ihr schlenderten Mr. Croup und Mr. Vandemar, so ruhig und heiter, als sähen sie sich die Ausstellung im Crystal Palace an.

Wenn sie zu einer Kreuzung kamen, kniete Mr. Croup sich hin, suchte den nächsten Blutfleck, und dem folgten sie dann. Wie Hyänen hetzten sie ihre Beute, damit sie müde wurde. Sie konnten warten. Sie hatten alle Zeit der Welt.



Zur Abwechslung war das Glück mal auf Richards Seite. Er fand ein Taxi mit einem besonders engagierten Fahrer, der Richard auf einer unglaublichen Route nach Hause brachte, durch Straßen, die Richard nie zuvor bemerkt hatte. Er sprang aus dem Wagen, ließ ein Trinkgeld und seine Aktentasche zurück, schaffte es, das Taxi noch einmal anzuhalten, bevor es die Hauptstraße erreicht hatte, bekam seine Aktentasche wieder und lief dann die Treppe hinauf in seine Wohnung.

Kaum daß er den Korridor betreten hatte, fing er an, sich auszuziehen: Seine Aktentasche wirbelte durch den Raum und machte eine Bruchlandung auf dem Sofa; er nahm seine Schlüssel und plazierte sie sorgfältig auf dem Flurtischchen, damit er sie später nicht vergaß.

Dann stürmte er ins Schlafzimmer. Die Türklingel summte.

Richard stürzte, zu drei Vierteln in seinem besten Anzug, zur Gegensprechanlage.

»Richard? Hier ist Jessica. Ich hoffe, du bist soweit.«

»Oh. Ja. Bin gleich unten.«

Er zog einen Mantel an, schlug die Tür hinter sich zu und rannte los.

Jessica wartete am Fuß der Treppe auf ihn. Dort wartete sie immer auf ihn. Jessica mochte Richards Wohnung nicht: Sie fühlte sich darin auf unangenehme Weise weiblich. Es bestand dort immer die Möglichkeit, daß man irgendwo auf eine Unterhose stieß, ganz zu schweigen von den wandernden Klumpen eingetrockneter Zahnpasta im Waschbecken: Nein, das war kein Ort für Jessica.

Jessica war sehr schön; so schön, daß Richard sich gelegentlich dabei ertappte, wie er sie anstarrte und sich fragte : Wie ist sie nur an mich geraten?

Und wenn sie miteinander schliefen – was sie in Jessicas Wohnung in Barbican taten, in Jessicas Messingbett mit den steifen weißen Leinenlaken (denn Jessicas Eltern hatten ihr gesagt, Federbetten seien dekadent) –, umarmte sie ihn hinterher in der Dunkelheit sehr fest, und ihre langen braunen Locken fielen auf seine Brust, und sie flüsterte ihm ins Ohr, wie sehr sie ihn liebe, und er sagte ihr, daß er sie auch liebe und immer bei ihr bleiben wolle, und beide glaubten, das sei die Wahrheit.



»Potz Blitz, Mister Vandemar. Sie wird langsamer.«

»Wird langsamer, Mister Croup.«

»Sie muß viel Blut verlieren, Mister V.«

»Schönes Blut, Mister C. Schönes nasses Blut.«

»Aber nicht mehr lange.«

Ein Klicken: das Geräusch eines sich öffnenden Schnappmessers, leer und einsam und dunkel.



»Richard? Was tust du da?« fragte Jessica.

»Nichts, Jessica.«

»Du hast doch nicht schon wieder deinen Schlüssel vergessen, oder?«

»Nein, Jessica.«

Richard hörte auf, sich abzuklopfen, und steckte die Hände tief in seine Manteltaschen.

»Also, wenn du heute abend Mister Stockton kennenlernst«, sagte Jessica, »mußt du dir darüber im klaren sein, daß er nicht nur ein sehr bedeutender Mann ist. Er ist auch eine Art eigenes Wirtschaftsunternehmen.«

»Ich kann’s kaum erwarten«, seufzte Richard.

»Wie bitte?«

»Ich kann’s kaum erwarten«, sagte Richard enthusiastisch.

»Kannst du denn nicht schneller gehen?« fragte Jessica, die begann, eine Aura zu verströmen, die man bei einer einfacheren Frau beinahe als Nervosität hätte bezeichnen können. »Wir dürfen Mister Stockton nicht warten lassen.«

»Nein, Jess.«

»Nenn mich nicht so, Richard. Ich hasse Kosenamen. Sie sind so erniedrigend.«

»Haben Sie etwas Kleingeld übrig?« Der Mann saß auf einer Türschwelle, mit einem handgeschriebenen Schild auf der Brust, das der Welt mitteilte, er sei obdachlos und hungrig. Dafür bedurfte es keines Schildes, das sah man auch so, und schon hatte Richard die Hand in der Tasche und tastete nach einer Münze.

»Richard. Dafür haben wir keine Zeit«, sagte Jessica, die für Wohlfahrtsorganisationen spendete und ihr Geld ethisch korrekt anlegte. »Also, ich will, daß du als mein Verlobter einen guten Eindruck machst. Es ist ungeheuer wichtig, daß ein zukünftiger Ehemann einen guten Eindruck macht.« Und dann verzog sie das Gesicht, und sie umarmte ihn einen Moment lang und sagte: »Ach, Richard. Ich liebe dich wirklich. Das weißt du doch, oder?«

Und Richard nickte. Ja, das wußte er.

Jessica sah auf die Uhr und beschleunigte ihren Schritt.

Richard schnippte dem Mann auf der Türschwelle diskret eine Pfundmünze zu – die dieser mit einer schmutzigen Hand auffing.

»Du hattest doch keine Schwierigkeiten bei der Reservierung, oder?« fragte Jessica.

Und Richard, der nur schlecht lügen konnte, wenn ihm eine direkte Frage gestellt wurde, sagte: »Ah.«



Sie hatte den falschen Weg genommen. Der Gang endete an einer glatten Wand. Normalerweise hätte sie das kaum aufgehalten, doch sie war so müde, so hungrig, hatte solche Schmerzen …

Sie schluckte Luft, bekam einen Schluckauf und schluchzte. Ihr Arm war kalt, und ihre linke Hand war taub.

»Ach, bei meiner kleinen schwarzen Seele, Mister Vandemar, sehen Sie auch, was ich sehe?« Die Stimme klang leise und nah, sie mußten dichter an ihr dran gewesen sein, als sie gedacht hatte. »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist – «

»In einer Minute tot, Mister Croup«, sagte eine Stimme über ihr.

»Unser Auftraggeber wird entzückt sein.«

Und sie raffte alles zusammen, was sie trotz des Schmerzes, des Leids und der Angst noch tief in ihrer Seele finden konnte. Sie war am Ende, ausgebrannt und furchtbar erschöpft. Sie konnte nirgendwo hin, hatte keine Kraft mehr, keine Zeit.

»Und wenn das die letzte Tür ist, die ich öffne«, betete sie stumm zum Temple und zum Arch. »Irgendwohin … ganz egal, wo … wo es sicher ist … «, und dann dachte sie: »Zu irgend jemandem.«

Und sie versuchte, eine Tür zu öffnen.

Während die Dunkelheit sie aufnahm, hörte sie Mr. Croups Stimme wie von ganz weit her.

Er sagte: »Mist.«



»Du willst also wirklich sagen, daß du ihnen für unseren Tisch heute abend fünfzig Pfund extra versprechen mußtest ? Du bist ein Idiot, Richard.« Jessica fand das gar nicht witzig. »Sie konnten meine Reservierung nicht finden. Und sie sagten, es sei alles ausgebucht.«

»Wahrscheinlich setzen sie uns neben die Küche«, seufzte Jessica. »Oder die Tür. Hast du ihnen gesagt, daß es für Mister Stockton ist?«

»Ja.«

Sie seufzte wieder.

Eine Tür öffnete sich in der Wand, ein kleines Stück vor ihnen, und jemand trat heraus, stand einen langen, schrecklichen Moment schwankend da und brach dann auf dem Beton zusammen.

Richard erschauerte.

»Also, wenn du mit Mister Stockton sprichst, paß auf, daß du ihn nicht unterbrichst. Und ihm nicht widersprichst – er mag es nicht, wenn man ihm widerspricht. Wenn er einen Witz macht, lach. Wenn du dir nicht sicher bist, ob er einen Witz gemacht hat oder nicht, sieh mich an. Ich … hmm, klopfe dann mit dem Zeigefinger auf den Tisch.«

Sie hatten die Person auf dem Gehweg erreicht. Jessica stieg darüber hinweg. Richard zögerte. »Jessica?«

»Du hast recht. Dann denkt er vielleicht, ich würde mich langweilen. Wenn er einen Witz macht, reibe ich mir das Ohrläppchen.«

»Jessica?«

»Was?«

»Schau mal.« Er zeigte auf den Gehsteig. Die Person lag mit dem Gesicht nach unten. Sie war in weite Sachen gehüllt. Jessica nahm seinen Arm und zog ihn zu sich.

»Wenn du denen auch nur die geringste Beachtung schenkst, Richard, kannst du dich vor ihnen nicht mehr retten. In Wirklichkeit haben die doch alle ein Zuhause. Wenn sie erst mal ihren Rausch ausgeschlafen hat, geht es ihr bestimmt wieder gut.«

Sie? Richard blickte nach unten. Es war tatsächlich ein Mädchen.

Jessica fuhr fort: »Also, ich habe Mister Stockton gesagt, daß wir …« Richard kniete am Boden. »Richard? Was tust du da?«

»Sie ist nicht betrunken«, sagte Richard. »Sie ist verletzt. « Er musterte seine Fingerspitzen. »Sie blutet.«

Jessica schaute nervös und verunsichert zu ihm herab. »Wir kommen zu spät«, stellte sie fest.

»Sie ist verletzt.«

Jessica sah noch einmal das Mädchen auf dem Gehsteig an. Prioritäten: Richard hatte keine Prioritäten.

Das Gesicht des Mädchens war schmutzverkrustet, und ihre Kleidung war blutdurchtränkt.

»Richard. Wir kommen zu spät.«

»Sie ist verletzt«, sagte er einfach. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, den Jessica noch nie gesehen hatte.

»Richard«, warnte sie, und dann wurde sie ein bißchen weich und bot einen Kompromiß an. »Dann ruf einen Krankenwagen. Aber schnell.«

Die Augen des Mädchens öffneten sich, weiß und weit aufgerissen in einem Gesicht, das kaum mehr als ein einziger Schmutz- und Blutfleck war. »Nicht ins Krankenhaus, bitte. Dort finden sie mich. Bring mich irgendwo in Sicherheit. Bitte.« Ihre Stimme war schwach.

»Du blutest«, sagte Richard. Er sah nach, wo sie hergekommen war; doch die Mauer war glatt und steinern und unbeschädigt.

»Hilfst du mir?« flüsterte sie, und ihre Augen schlossen sich.

»Wenn du den Notarzt anrufst«, sagte Jessica, »sag nicht deinen Namen. Nachher mußt du noch eine Aussage machen oder so, und ich lasse mir diesen Abend nicht verderben … Richard? Was tust du da?«

Richard hatte das Mädchen aufgehoben und hielt es in seinen Armen. Es war überraschend leicht. »Ich bringe sie in meine Wohnung, Jess. Ich kann sie nicht einfach hierlassen. Sag Mister Stockton, es täte mir wirklich leid, aber es sei ein Notfall gewesen. Das versteht er bestimmt.«

»Richard Oliver Mayhew«, sagte Jessica kalt. »Du legst dieses junge Ding hin und kommst sofort wieder her. Oder unsere Verlobung ist ab sofort gelöst. Ich warne dich.«

Richard spürte die klebrige Wärme des Blutes, das sein Hemd durchnäßte. Manchmal kann man einfach nichts machen.

Er ging davon.

Jessica stand da auf dem Gehweg, sah zu, wie er ihr ihren großen Abend verdarb, und Tränen brannten in ihren Augen. Nach einer Weile war er außer Sichtweite, und da, erst da, sagte sie laut und deutlich: »Scheiße!« und schleuderte ihre Handtasche mit aller Kraft auf den Boden, mit soviel Kraft, daß ihr Handy und ihr Lippenstift und ihr Terminkalender und eine Handvoll Tampons auf das Pflaster flogen. Und dann hob sie, da es sonst nichts zu tun gab, alles wieder auf, steckte es in ihre Handtasche und ging zum Restaurant, um auf Mr. Stockton zu warten.

Während sie an ihrem Weißwein nippte, versuchte sie sich plausible Gründe dafür einfallen zu lassen, warum ihr Verlobter nicht bei ihr war, und stellte fest, daß sie verzweifelt überlegte, ob sie nicht einfach behaupten könnte, Richard sei tot.

»Es geschah ganz plötzlich«, raunte Jessica versonnen.



Während des gesamten Weges faßte Richard keinen einzigen klaren Gedanken. Seine Willenskraft hatte keinen Einfluß auf das, was er tat. Irgendwo im logisch denkenden Teil seines Kopfes sagte ihm jemand – ein normaler, vernünftiger Richard Mayhew –, wie absurd er sich verhielt, daß er einfach die Polizei hätte rufen sollen, oder einen Krankenwagen; daß es gefährlich ist, eine verletzte Person hochzuheben; daß er Jessica wirklich ernsthaft verärgert hatte; daß er heute auf dem Sofa würde schlafen müssen; daß er seinen einzigen guten Anzug verdarb; daß das Mädchen fürchterlich roch … doch ohne es zu wollen, setzte Richard einen Fuß vor den anderen, und er ging einfach immer weiter, mit eingeschlafenen Armen und Rückenschmerzen, und ignorierte die Blicke der Passanten. Und dann war er an seiner Haustür, und er schleppte sich die Treppe hinauf, und dann stand er vor seiner Wohnungstür, und ihm fiel ein, daß er den Schlüssel drinnen auf dem Flurtischchen vergessen hatte …

Das Mädchen streckte eine schmutzige Hand nach der Tür aus, und sie ging auf.

Hätte nie gedacht, daß ich mal froh sein würde, daß die Tür nicht richtig zu war, dachte Richard, und er trug das Mädchen hinein, schloß die Tür hinter sich mit dem Fuß und legte es auf sein Bett.

Sein Hemd war blutig rot.

Sie schien halb bewußtlos. Ihre Lider flatterten.

Er schälte sie aus ihrer Lederjacke. Ihr linker Oberarm und die Schulter wiesen eine lange Schnittwunde auf. Richard schnappte nach Luft.

»Hör mal, ich rufe jetzt einen Arzt«, sagte er leise. »Hörst du mich?«

Ihre Augen öffneten sich weit und angstvoll. »Bitte nicht. Das wird schon wieder. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich brauche nur Schlaf. Keinen Arzt.«

»Aber dein Arm – deine Schulter – «

»Morgen geht’s mir wieder gut. Ja?« Es war kaum mehr als ein Flüstern.

»Ähm, na dann, okay«, und da seine Vernunft langsam wieder die Oberhand bekam, fragte er: »Sag mal, kann ich dich was fragen – ?«

Aber sie war eingeschlafen.

Er schlich sich auf Zehenspitzen hinaus und schloß die Tür hinter sich. Dann setzte er sich aufs Sofa, vor den Fernseher, und fragte sich, was er getan hatte.


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