Selene: Friedenskonferenz

Drei Tage nach dem Chrysallis-Massaker fand eine Konferenz in Doug Stavengers persönlichem Büro statt — oben in der Turmsuite, in der Selenes Regierungsmitglieder und Bürokraten residierten. Das kleine, private Büro glich nun einem Hochsicherheitstrakt.

Es saßen nur vier Menschen am runden Tisch in der Mitte des Büros: Pancho, Humphries, Nobuhiko Yamagata und Douglas Stavenger. Keine Adjutanten, keine Assistenten, keine Nachrichtenreporter oder sonst jemand. Sicherheitsbeamte von Selene waren vor der Tür postiert und patrouillierten in den Korridoren. Der ganze Trakt war nach Abhörgeräten untersucht worden.

Nachdem die vier Platz genommen hatten, eröffnete Stavenger die Sitzung: »Diese Unterredung unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Nur wir vier werden wissen, was hier gesprochen wurde.«

Die anderen nickten.

»Niemand von uns wird diesen Raum verlassen, bis wir eine Vereinbarung zur Beendigung dieses Kriegs getroffen haben«, ergänzte Stavenger mit todernstem Gesicht. »Es werden keine Sonderkonditionen gewährt und keine Ausflüchte akzeptiert. Hinter dieser Tür ist eine Toilette«, sagte er und wies in die entsprechende Richtung, »aber der einzige Weg nach draußen ist durch die Tür zum Gang. Und es wird niemand gehen, bis ich mir sicher bin, dass wir eine verbindliche Übereinkunft erzielt haben.«

»Was gibt Ihnen eigentlich das Recht …«, echauffierte Humphries sich.

»Mehrere tausend Tote, die im Asteroidengürtel verstreut sind«, sagte Stavenger schroff. »Ich bin ihr Sachwalter. Sie werden entweder mit diesem verdammten Krieg aufhören, oder Sie werden hier an diesem Tisch verhungern. Es gibt keine dritte Option.«

Yamagata lächelte unbehaglich. »Ich bin auf Ihr Ersuchen und aus freien Stücken hier erschienen, Mr. Stavenger. Das ist keine Art und Weise, einen Gast zu behandeln.«

Stavenger wies in Panchos Richtung und erwiderte: »Ms. Lane war doch auch Ihr Gast in der Nairobi-Basis im Shackleton-Krater, nicht wahr? Und Sie hätten sie, verdammt noch mal, fast getötet.«

Nobuhikos Brauen zogen sich kurz zu einem Strich zusammen. »Ich könnte auch um Hilfe rufen, wissen Sie.«

»Nur dass keine Möglichkeit besteht, eine Nachricht aus diesem Raum zu senden«, sagte Stavenger mit unveränderter Miene. »Die Signale Ihrer Mobiltelefone werden diese Wände nicht durchdringen.«

Pancho lehnte sich auf dem Stuhl zurück und streckte die Beine unterm Tisch aus. »Also gut. Reden wir.«


Harbin hatte die drei Tage seit dem Angriff auf Chrysallis in einem stetig an- und abschwellenden Drogenrausch zugebracht. Sein Erster Offizier führte das Schiff, während er schlief und von bizarren Albträumen heimgesucht wurde, die jedes Mal in Mord und Totschlag endeten.

Als sie Vesta erreichten, gingen ihm die Drogen aus, und er kam allmählich wieder zur Besinnung.

Er wusch sich gerade die verquollenen Augen, als es an der Tür klopfte.

»Herein«, rief er und trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. Der Erste Offizier schob die Tür auf und betrat seine Kabine. Harbin wurde sich bewusst, dass das Bett von Schweiß getränkt und völlig zerwühlt war und die enge Kabine roch wie ein stinkiger Turnschuh.

»Wir gehen gleich in einen Park-Orbit um Vesta, Sir«, sagte sie steif.

»Die Basis ist wieder einsatzbereit?«, fragte er. Doch während er die Worte noch sprach, wurde er sich bewusst, dass es ihm egal war, ob die Basis wieder arbeitete. Es bedeutete ihm nichts, weder auf die eine noch die andere Art.

»Ja, Sir. Die Nanomaschinen-Attacke war hauptsächlich auf die Oberflächen-Installationen beschränkt. Es wurde niemand getötet und nicht einmal jemand verletzt.«

Harbin sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass das aber noch nicht alles war. »Was denn noch?«

»Ich habe die Anweisung erhalten, Sie Ihres Kommandos zu entheben. Mr. Humphries hat persönlich angerufen und wollte wissen, wer für die Vernichtung des Habitats Chrysallis verantwortlich war. Als er erfuhr, dass Sie es waren, bekam er einen Wutanfall. Anscheinend ist er so etwas schon von Ihnen gewohnt.«

Harbin hatte das Gefühl, als ob er diese Szene aus großer Entfernung beobachtete. Als ob er nicht mehr in seinem Körper wäre, sondern frei schwebte — allein, unberührt, unantastbar.

»Reden Sie weiter«, hörte er sich sagen.

»Er will, dass Sie in Selene wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden«, sagte der Erste Offizier steif und mit spröder Stimme.

»Kriegsverbrechen.«

»Das Chrysallis-Massaker. Er sagte auch, dass Sie vor ein paar Jahren eine seiner Angestellten ermordet hätten.«

»Ich verstehe.«

»Ich habe die Anordnung erhalten, Sie Ihres Kommandos zu entheben und in Ihrer Kabine unter Arrest zu stellen. Sir.«

Harbin lächelte sie fast an. »Dann sollten Sie die Anordnung auch befolgen.«

Sie drehte sich um und ergriff den Türknauf. »Es kommt auf allen Nachrichtennetzen«, sagte sie noch, bevor sie auf den Gang hinaus trat. »Sie senden es seit zwei Tagen.«

Sie verließ ihn und schob die Tür zu. Es gab kein Schloss an der Tür. Egal, sagte Harbin sich. Auch in verschlossenem Zustand war die Faltschiebetür so labil, dass er sie leicht durchbrechen konnte. Wenn er es denn wollte.

Harbin stand für einen Moment in seiner muffigen, engen Kabine, dann zuckte er die Achseln. Der bleiche Finger schreibt, sagte er sich. Und all deine Tränen löschen kein Wort davon aus.

Wieso fühle ich nichts, fragte er sich. Ich bin wie eine Statue aus Eis. Das Chrysallis-Massaker, so hat sie es genannt. Massaker?

Achselzuckend wies er den Wandbildschirm an, die Nachrichten zu zeigen.

Das entsetzte Gesicht einer Frau mit leerem Blick erschien auf dem Schirm; ihr Name — Edith Elgin — wurde unterm Bild eingeblendet. Sie trug kein Make-up, ihre Frisur war derangiert und ihre Stimme kaum mehr als ein zittriges Flüstern.

»… sind nun schon seit mehreren Stunden auf der Suche nach Überlebenden«, sagte sie. »Bisher ist noch niemand gefunden worden.«

Die Szene änderte sich plötzlich, und das Wrack des Habitats Chrysallis wurde abgebildet: Abgerissene, zerknitterte Metall-Zylinder glitzerten vor der Schwärze des Raums. Gezackte Trümmerstücke und aufgedunsene Leichen drifteten überall umher.

Und Edith Elgins Stimme — vor Leid und Entsetzen erstickt — sagte fast schluchzend: »Es hatten fast elfhundert Menschen im Habitat gelebt, als es angegriffen wurde. Sie hatten keine Waffen, keine Verteidigung. Sie wurden von ihrem unbekannten Angreifer methodisch abgeschlachtet.«

Harbin sank auf sein Bett und starrte auf den Bildschirm. Der eisige Panzer, der ihn umhüllt hatte, begann zu tauen. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte er Emotionen. Er verspürte Schmerz.


»Die Yamagata Corporation ist für die Chrysallis-Tragödie nicht verantwortlich«, sagte Nobuhiko ernst. »Unsere Angestellten hatten einen Dienstvertrag mit Humphries Space Systems.«

»Ich habe nie befohlen, das Habitat anzugreifen«, erwiderte Humphries hitzig. »Ich wollte nur, dass sie Fuchs ausfindig machen.«

»Lars ist nun irgendwo im Gürtel«, sagte Pancho. »Sie werden ihn nie finden.«

»Und ob ich das werde. Er hat versucht, mich zu töten!«

»Damit habe ich nichts zu tun«, sagte Pancho.

Stavenger schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und brachte sie so zum Schweigen. »Es ist mir egal, wer wem was angetan tat. Das ist Vergangenheit und Schnee von gestern. Wir sind hier, um zu verhindern, dass solche Dinge wieder geschehen. Ich will, dass diese Kämpfe aufhören.«

»Sicher«, sagte Humphries leichthin. »Ich bin bereit, damit aufzuhören. Aber ich will den Kopf von Fuchs auf einem silbernen Tablett.«

»Was Sie wollen«, sagte Pancho, »ist die totale Kontrolle des Gürtels und all seiner Ressourcen.«

»Wollen Sie das nicht auch?«, konterte Humphries. »Und Sie doch auch?«, fügte er an Yamagata gewandt hinzu.

»Wo Sie nun dafür gesorgt haben, dass Nanomaschinen die Ausbeutung der Asteroiden betreiben, wäre es in ökonomischer Hinsicht durchaus sinnvoll, wenn ein Unternehmen ein Monopol im Gürtel hat.«

»Aber welches Unternehmen?«, fragte Humphries.

Die drei starrten sich an.

»Einen Moment«, sagte Stavenger. »Sie alle haben einen wichtigen Aspekt vergessen.«

Sie wandten sich ihm zu.

»Bei der Ausbeutung der Asteroiden geht es um mehr als bloßes Gewinnstreben«, sagte er. »Um mehr als Machtzuwachs.«

Humphries grinste blöde. »Ich wüsste nicht, was das sein sollte.«

Doch Panchos Gesicht hellte sich auf. »Das, was Dan Randolph von vornherein wollte! Damals, als wir in der alten Starpower zum Gürtel geflogen sind.«

»Und was war das?«, fragte Nobuhiko.

»Den Menschen auf der Erde zu helfen«, sagte Pancho. »Ihnen zu helfen, sich von der Klimakatastrophe zu erholen. Sie mit Rohstoffen für den Wiederaufbau zu versorgen. Ihnen den Brennstoff für Fusionskraftwerke zu liefern. Das ist es, was Dan tun wollte!«

»Und was wir ganz aus den Augen verloren haben«, sagte Stavenger.

»Gut, dann sind wir uns in dieser Hinsicht einig«, sagte Humphries. »Aber das bedeutet nicht …«

Pancho fiel ihm ins Wort. »Wir sollten die Erze von den Asteroiden zum niedrigstmöglichen Preis verkaufen. Und den Fusionsbrennstoff auch.«

»Und mehr Solarkraftwerks-Satelliten bauen«, fügte Stavenger hinzu.

»Beim Wiederaufbau von Japan helfen«, murmelte Yamagata.

»Beim Wiederaufbau der Welt helfen«, sagte Pancho.

Stavenger lächelte zufrieden. »Und dabei zu helfen, neue menschliche Habitats auf dem Mond und anderswo im Weltraum zu errichten.«

»Wir können das schaffen!«, pflichtete Pancho ihm bei.

»Aber nicht, wenn ihr drei euch gegenseitig den Hals durchschneidet«, sagte Stavenger.

»Nur ein Unternehmen sollte die Ressourcen des Gürtels verwalten«, sagte Yamagata bestimmt. »Konkurrenz hat keinen Sinn mehr, wenn Nanoverarbeitung die Preise für Asteroidenerz reduziert.«

»Keine Erze«, erinnerte Humphries ihn. »Die Nanomaschinen erzeugen reine Metalle.«

»Und Minerale«, ergänzte Pancho.

Humphries nickte ihr übertrieben zu.

»Aber welche Firma soll das Monopol bekommen?«, fragte Yamagata.

»Jedenfalls keine Ihrer Firmen«, sagte Stavenger.

»Was?«, blaffte Humphries. »Es muss einer von uns sein. Es hat sonst niemand die entsprechenden Kapazitäten.«

»Selene hat sie«, sagte Pancho und schaute Stavenger in die Augen. Sie erriet seine Absicht.

Er erwiderte ihren Blick. »Das ist richtig«, sagte er. »Selene wird den Laden schmeißen.«

Humphries explodierte. »Wenn Sie glauben, dass Sie mir nehmen könnten, was mir rechtmäßig zusteht …«

»Ihnen rechtmäßig zusteht?«, sagte Stavenger unwirsch. »Ein Standgericht und ein Exekutionskommando sind das, was Ihnen rechtmäßig zusteht. Es gibt nur eine Körperschaft, die fähig ist, die Ressourcen des Gürtels zu erschließen, und diese Körperschaft ist Selene. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, so wird es gemacht.«

»Nur weil Sie es sagen?«, fragte Humphries aggressiv.

»Stimmt. Weil ich es sage. Ich habe untätig zugesehen, wie Sie den Gürtel in ein Schlachtfeld verwandelt haben. Damit hat es nun ein Ende! Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Selene die Kontrolle über Ihre sämtlichen Operationen im Gürtel übernimmt. Basta.«

Yamagata und Humphries nörgelten und quengelten.

Pancho gebot ihnen zu schweigen. »Machen Sie sich nicht ins Hemd, meine Herren. Ich weiß, wie wir das hinkriegen und unsere Aktionäre trotzdem bei Laune halten.«

»Ich wüsste nicht, wie das funktionieren soll«, grummelte Humphries.

»Ich auch nicht«, sagte Nobuhiko.

Grinsend verschränkte Pancho die Hände und legte sie auf den Konferenztisch. »Das ist doch ganz einfach. Jeder von uns unterzeichnet einen Vertrag mit Selene, wonach sie unser Asteroiden-Geschäft betreiben. Wir streichen die Gewinne ein, minus ein paar Prozente für Selene.«

»Eine Provision«, sagte Stavenger.

»Richtig«, pflichtete Pancho ihm bei. »Selene führt unser Geschäft und legt die Marktpreise für die Asteroiden-Produkte fest. Und wir drei lehnen uns zurück und sacken die Gewinne ein.«

Yamagata atmete tief durch. »Ich vermute, dass Selene die Preise so niedrig wie möglich ansetzen wird«, sagte er.

»Sehr wahrscheinlich«, sagte Stavenger. »Die Menschen auf der Erde brauchen die Ressourcen. Machtgelüste müssen hinter die Bedürfnisse der Allgemeinheit zurücktreten.«

»Machtgelüste?«, knurrte Humphries. »Sie haben doch dann die ganze Macht.«

»Stimmt!«, erwiderte Stavenger ernst. »Ich habe die ganze Macht. Ich habe zwar vermeiden wollen, sie zu gebrauchen, aber ihr habt mich dazu gezwungen. Also werden wir nun nach meinen Regeln spielen.«

»Ist okay für mich«, sagte Pancho.

»Selene wird der ›ehrliche Makler‹ für das Sonnensystem sein«, fuhr Stavenger fort. »Keine Konkurrenz mehr. Kein Töten mehr. Nie mehr Krieg.«

»Das gefällt mir nicht«, sagte Humphries.

»Das hatte ich auch nicht von Ihnen erwartet. Aber Sie werden sich damit abfinden müssen.«

»Kann man Selene eine solche Macht überhaupt anvertrauen?«, fragte Yamagata.

»Oder einem der hier Anwesenden?«, erwiderte Stavenger.

Beredtes Schweigen senkte sich über den Konferenztisch.

Schließlich sagte Pancho: »Ich bin bereit, es zu versuchen — auf fünf Jahre befristet. So müssten wir den Vertrag nach Ablauf nicht erneuern, falls wir mit Selenes Leistung nicht zufrieden sein sollten.«

»Aber nur, wenn zwei von den drei Unternehmen gegen eine Verlängerung sind«, sagte Stavenger. »Eine einzelne Firma kann nicht aus dem Vertrag aussteigen. Es ist eine Mehrheit erforderlich.«

»Einverstanden«, sagte Pancho.

»Ich möchte erst meine Leute auf der Erde fragen, bevor ich zustimme«, sagte Yamagata.

»Das gefällt mir trotzdem nicht«, schimpfte Humphries.

»Kommen Sie schon, Martin.« Pancho streckte den Arm aus und rüttelte ihn leicht an der Schulter. »Es wird Ihnen das Leben viel leichter machen. Sie werden immer noch der reichste Macker im Sonnensystem sein. Sie müssen sich nur noch zurücklehnen und den Profit einstreichen. Keinen Stress mehr.«

»Keine Gemetzel mehr«, sagte Stavenger mit todernstem Gesicht. »Auch wenn es nicht Ihre Absicht war, Martin — es waren Ihre Befehle, die letztlich zum Chrysallis-Massaker führten.«

»Das hätte vor Gericht keinen Bestand.«

»Seien Sie sich da nicht zu sicher. Bei Kriegsverbrechen verstehen die Gerichte keinen Spaß.«

Humphries lehnte sich auf dem Stuhl zurück, presste die Lippen zusammen und schloss die Augen. Schließlich setzte er sich wieder gerade hin und fragte Stavenger: »Wollen Sie mich noch immer verbannen?«

Stavenger lächelte. »Nein, ich glaube nicht, dass das nötig ist, Martin. Sie dürfen Ihr Anwesen unten wiederaufbauen. Außerdem hätte ich Sie lieber in meiner Nähe, wo ich ein Auge auf Sie haben kann.«

Загрузка...